Obwohl Sorkas Eltern die Freundschaft ihrer Tochter mit Sean Connell stillschweigend mißbilligten, fand das Mädchen immer wieder einen Anlaß, um sich weiter mit ihm zu treffen. Sein Mißtrauen ihr gegenüber hatte sich inzwischen etwas gelegt, allerdings stellte sie fest, daß seine Familie von dieser Freundschaft merkwürdigerweise ebensowenig begeistert war wie die ihre. Das verlieh der Sache einen gewissen Reiz.
Sie waren beide fasziniert von jenem Geschöpf und seinem Gelege, und das war es, was sie verband. Sorka beobachtete das Nest stets gemeinsam mit Sean, einerseits weil sie sichergehen wollte, daß es ihm nicht gelang, das Tierchen zu fangen, aber auch um das Ausschlüpfen der Brut nicht zu versäumen.
An diesem Morgen - einem Ruhetag - hatte sich Sorka auf eine lange Wache eingerichtet und einen Rucksack voll Sandwiches mitgenommen, genug, um sie mit Sean zu teilen. Die beiden Kinder hatten sich am Rand des Küstenfelsens an einer Stelle im Unterholz versteckt, wo sie das Nest im Blickfeld hatten. Das kleine goldene Tier sonnte sich am Strand und bewachte die Eier; sie konnten seine Augen glitzern sehen.
»Genau wie eine Eidechse«, murmelte Sean, und sein Atem kitzelte Sorkas Ohr.
»Ganz und gar nicht«, protestierte Sorka, und dabei fielen ihr die Illustrationen in einem alten Märchenbuch ein. »Eher wie ein kleiner Drache. Ein Zwergdrache«, sagte sie fast aggressiv. Sie fand, ›Eidechse‹ passe überhaupt nicht zu einem so prachtvollen Geschöpf.
Vorsichtig schob sie ein vielbeiniges Insekt beiseite, das den dreigeteilten Körper eilig durch das Unterholz schob. Felicia Grant, die Botaniklehrerin der Kinder, hatte diese Tiere als eine Art von Tausendfüßlern bezeichnet und sich sehr gefreut, sie zu sehen. Sie hatte der Klasse auch ihren Fortpflanzungszyklus erklärt: die Erwachsenen produzierten Junge, die mit den Eltern verbunden blieben, bis sie die gleiche Größe erreicht hatten, daraufhin wurden sie abgestoßen. Oft wurden gleich zwei halbwüchsige Sprößlinge mitgeschleppt.
Sean baute gelangweilt einen Damm aus Blättern, um das Insekt von sich abzulenken. »Die Schlangen fressen viele von denen, und die Wherries fressen die Schlangen.«
»Die Wherries fressen auch Wherries«, sagte Sorka empört, denn sie erinnerte sich, wie sie die Räuber bei ihrem Tun beobachtet hatte.
Sie lagen in der Mittagshitze und waren fast am Eindösen, als ein leises Gurren sie aufhorchen ließ. Der kleine goldene Zwergdrache breitete die Schwingen aus.
»Sie will sie beschützen«, sagte Sorka.
»Nein, begrüßen.«
Sean hatte die Angewohnheit, bei allen Diskussionen genau das Gegenteil zu behaupten. Sorka hatte sich inzwischen daran gewöhnt und erwartete gar nichts anderes mehr.
»Vielleicht beides«, meinte sie friedfertig.
Sean schnaubte nur verächtlich. »Wetten, daß dieser Walzenkäfer vor Schlangen davongelaufen ist?«
Sorka unterdrückte ein Schaudern. Sean durfte nicht merken, wie sehr sie die glitschigen Tiere verabscheute. »Du hast recht.
Es ist eine Begrüßung.« Sorka riß die Augen auf. »Sie singt!«
Sean lächelte, als der Gesang immer jauchzender wurde. Das kleine Geschöpf legte den Kopf schief und sie sahen seine Kehle vibrieren.
Plötzlich wimmelte es über dem Felsen von Zwergdrachen. Überrascht griff Sean nach Sorkas Arm, um sie zum Schweigen zu veranlassen. Aber Sorka war so verblüfft, daß sie ohnehin keinen Laut hervorgebracht hätte, und starrte die Versammlung nur verzückt an. Blaue, braune und bronzefarbene Zwergdrachen schwebten in der Luft und stimmten in den Gesang der kleinen Goldenen ein.
»Es müssen Hunderte sein, Sean.« Die blitzschnell umherschwirrenden Tiere schienen den Himmel wie eine Wolke zu verdunkeln.«
»Es sind nur zwölf Eidechsen«, entgegnete Sean ungerührt. »Nein, sechzehn.«
»Zwergdrachen.« Sorka ließ sich nicht von dieser Bezeichnung abbringen.
Sean schien sie gar nicht gehört zu haben. »Ich möchte nur wissen, warum.«
»Schau!« Sie zeigte auf einen neuen Schwarm von Zwergdrachen, die plötzlich aufgetaucht waren und tropfnasse Seetangsträhnen hinter sich herzogen. Es wurden immer mehr, nun hatten sie etwas Zappelndes im Maul und legten es auf dem Seetang ab, der einen unregelmäßigen Kreis um das Nest herum bildete. »Wie ein Damm«, murmelte Sorka staunend. Weitere Fluggeschöpfe, vielleicht auch dieselben auf dem Rückweg, brachten Walzenkäfer und Sandwürmer, die über den Tang hüpften oder sich hineinwühlten.
Dann sahen Sorka und Sean, wie das erste Ei einen Sprung bekam und ein kleiner nasser Kopf sich hindurchzwängte, und klammerten sich vor Aufregung aneinander. Die fliegenden Wesen hörten auf zu sammeln und trillerten eine komplizierte Melodie.
»Siehst du, sie begrüßen das Kleine!« Sean wußte, daß er die ganze Zeit über recht gehabt hatte.
»Nein! Sie wollen es beschützen!« Sorka zeigte auf zwei riesige gefleckte Schlangen mit stumpfen Köpfen auf der anderen Seite des Dickichts.
Sobald die Flieger die Eindringlinge entdeckt hatten, stieß ein halbes Dutzend von ihnen auf die sich vorschiebenden Köpfe hinab. Vier Zwergdrachen verfolgten sie bis in das Unterholz hinein, und die Äste schwankten heftig, bis die Angreifer laut schnatternd wieder auftauchten. In dieser kurzen Zeit waren vier weitere Eier aufgebrochen. Die erwachsenen Tiere bildeten eine lebende Versorgungskette, als das erste Junge sich aus der Schale befreite und jämmerlich kreischend herumstolperte. Seine Mutter trieb es mit Flügelschlägen und ermutigendem Zirpen auf einen anderen Zwergdrachen zu, der dem Kleinen ein zuckendes Fischlein entgegenhielt.
Eine Felsenschlange hatte sich im Sand versteckt und versuchte nun, an der Felswand hinaufzukriechen und sich einen weiteren Nestling zu schnappen. Sie stemmte sich mit den mittleren Gliedmaßen ein, hob den Kopf und wollte sich mit weit aufgerissenem Maul auf ihre Beute stürzen. Sofort wurde sie aus der Luft angegriffen. Das Junge hatte bereits einen recht gut ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb und tapste unbeholfen über die dammähnliche Tangmauer auf das Gebüsch zu, unter dem sich Sorka und Sean versteckten.
»Geh weg!« murmelte Sean mit zusammengebissenen Zähnen und wollte das winselnde Junge mit einer Handbewegung verscheuchen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, daß die erwachsenen Verwandten nun ihn attackierten.
»Es hat Hunger, Sean«, sagte Sorka und tastete nach dem Paket mit den Sandwiches. »Spürst du nicht, wie hungrig es ist?«
»Komm ja nicht auf die Idee, es zu bemuttern!« murmelte er, obwohl auch er die Gier des kleinen Wesens spürte. Aber er hatte gesehen, wie die Flieger mit ihren scharfen Klauen die Fische zerrissen hatten, und wollte lieber nicht ihr nächstes Opfer sein.
Ehe er Sorka zurückhalten konnte, hatte sie ein Stück Brot auf den Felsen geworfen. Es landete direkt vor dem hin- und herschwankenden schreienden Nestling, und der stürzte sich darauf und verschlang es gierig. Jetzt klang sein Geschrei verzweifelt und fordernd, und er wackelte zielbewußt auf die Stelle zu, von der das Futter gekommen war. Zwei weitere kleine Wesen hoben die Köpfe und wandten sich in die gleiche Richtung, obwohl ihre Mutter sich alle Mühe gab, sie zu den Erwachsenen zu treiben, die ihnen saftige Meerestiere entgegenstreckten.
»Jetzt ist es passiert«, stöhnte Sean.
»Aber es hat doch solchen Hunger.« Sorka brach noch mehr Brot ab und warf es den drei Nestlingen zu.
Die beiden anderen kamen hastig näher, um sich ihren Anteil zu holen. Sean sah bestürzt, daß Sorka aus ihrem Versteck gekrochen war und dem vordersten Nestling ein Stück Brot direkt aus der Hand reichte. Sean wollte sie zurückreißen, verfehlte sie aber und schlug sich am Felsen das Kinn auf.
Sorkas Tierchen nahm das Brotstück, kletterte dann auf ihre Hand und schniefte kläglich.
»O Sean, sieh doch, wie niedlich! Und es ist bestimmt keine Eidechse. Es ist warm und fühlt sich weich an. Komm, nimm doch auch ein Sandwich und füttere die anderen! Sie sind am Verhungern.«
Sean warf einen kurzen Blick auf die Mutter und sah erleichtert, daß sie viel zu sehr damit beschäftigt war, die anderen sattzubekommen, um den drei Ausreißern zu folgen. Die Tierchen faszinierten ihn so, daß er seine Vorsicht vergaß. Er griff nach einem Sandwich, kniete neben Sorka nieder und lockte einen der braunen Zwergdrachen zu sich. Als der zweite hörte, wie sich die Schreie seines Geschwisterchens veränderten, breitete er seine feuchten Flügel aus, kreischte schrill und stürzte hektisch heran. Sean mußte zugeben, daß Sorka recht hatte: die Tiere hatten eine weiche Haut und fühlten sich warm an, ganz anders als Eidechsen.
Bald waren die Brote verschwunden, die Nestlinge hatten dicke Bäuche, und Sorka und Sean hatten, ohne sich dessen bewußt zu sein, Freunde fürs Leben gewonnen. Sie waren mit ihren dreien so beschäftigt gewesen, daß sie gar nicht bemerkt hatten, wie die anderen verschwunden waren. Nur die leeren Eierschalen in der Felssenke zeugten noch von dem Ereignis, das eben stattgefunden hatte.
»Wir können sie nicht allein zurücklassen. Ihre Mutter ist fort«, sagte Sorka, überrascht, daß die Zwergdrachenverwandtschaft so einfach abgezogen war.
»Ich hätte die meinen auf keinen Fall hiergelassen«, sagte Sean ein wenig spöttisch. Sorkas Ratlosigkeit amüsierte ihn. »Ich will sie behalten, und du kannst mir auch deins geben, wenn du es nicht mit nach Landing nehmen willst. Deine Mutter wird sicher nicht erlauben, daß du ein wildes Tier aufnimmst.«
»Es ist nicht wild«, entgegnete Sorka gekränkt und streichelte mit dem Zeigefinger die winzige bronzefarbene Eidechse, die sich in ihre Armbeuge kuschelte. Das Kleine regte sich, drückte sich fester an sie und stieß einen Laut aus, der große Ähnlichkeit mit einem Schnurren hatte.
»Meine Mutter kann phantastisch mit Babys umgehen. Früher hat sie immer die Lämmer gerettet, die sogar mein Vater aufgegeben hatte.«
Sean gab sich zufrieden. Er hatte die Braunen in sein Hemd gesteckt und zog nun den Ledergürtel strammer, den er aus dem Magazin angefordert hatte. Daß ihm das so ohne weiteres gelungen war, hatte ihm Vertrauen zu Sorka eingeflößt, und es hatte seinem Vater bewiesen, daß die ›anderen‹ die vielen Dinge, die mit den Raumschiffen nach Pern geschafft worden waren, gerecht verteilten.
Zwei Tage, nachdem er sich den Gürtel besorgt hatte, sah Sean richtige Kochtöpfe anstelle der alten Blechbüchsen über dem Lagerfeuer hängen, und seine Mutter und seine drei Schwestern trugen neue Hemden und Schuhe.
Die braunen Zwergdrachen lagen warm an seiner Haut, ihre winzigen Stacheln kratzten ein wenig, aber er war mehr als zufrieden mit seinem Erfolg. Sie hatten nur drei Zehen, die vordere lag zurückgeklappt zwischen den beiden hinteren.
Im Lager seines Vaters hatten alle am Strand nach Eidechsennestern - na schön, nach Zwergdrachennestern und Schlangenlöchern gesucht. Nach Spuren der legendären Eidechsen suchten sie zum Spaß, die Schlangen jagten sie aus Sicherheitsgründen. Die räuberischen Reptilien waren eine Gefahr für die Menschen, die in primitiven Unterständen aus geflochtenen Zweigen und breitblättrigen Wedeln wohnten. Sie waren bis ins Innere der Behausungen vorgedrungen und hatten in Decken gehüllte schlafende Kinder gebissen. Nichts war vor ihnen sicher. Und essen konnte man sie nicht.
Seans Vater hatte verschiedene Schlangen gefangen, abgehäutet und gebraten. Von jeder Sorte hatte er einen winzigen Bissen gekostet und sich sofort den Mund ausspülen müssen, weil das Schlangenfleisch brannte und die Mundhöhle anschwellen ließ.
So war an alle im Lager die Anweisung ergangen, das Ungeziefer zu fangen und zu töten. Wenn sie natürlich erst einmal Terrier oder Frettchen in die Löcher schicken konnten, würden sie mit dieser Plage kurzen Prozeß machen. Porrig Connell war sehr aufgebracht, weil die anderen Mitglieder der Expedition nicht zu begreifen schienen, wie dringend seine Leute Hunde brauchten. Es waren keine Schoßtiere - sie waren für die Lebensweise seines Volkes unerläßlich. Auf Pern würde es also nicht anders sein als auf der Erde: die Connels waren die letzten, die brauchbare Dinge bekamen, und die ersten, denen man mit dem Knüppel drohte. Immerhin hatte er jede seiner fünf Familien für einen Hund vormerken lassen.
»Dein Dad wird sich freuen«, sagte Sorka, die ihre Begeisterung irgendwie loswerden mußte. »Nicht wahr, Sean? Wetten, daß sie bei der Schlangenjagd sogar noch besser sind als Hunde? Denk nur daran, wie sie auf die Gefleckten losgegangen sind.«
Sean schnaubte verächtlich. »Doch nur, weil die Nestlinge angegriffen wurden.«
»Ich glaube nicht, daß es nur daran lag. Ich habe fast gespürt, wie sie die Schlangen haßten.« Sie wollte ganz einfach daran glauben, daß die Flugechsen ungewöhnlich waren, genau wie sie ihren rötlichgelben Kater Duke immer für den besten Jäger im ganzen Tal und den alten Chip für den besten Hirtenhund in ganz Tipperary gehalten hatte. Aber plötzlich kamen ihr Zweifel. »Vielleicht sollten wir sie doch lieber hier lassen, damit ihre Mutter sie findet.«
Sean runzelte die Stirn. »Die anderen hat sie aber ganz schnell ins Meer gescheucht.«
Sie standen gleichzeitig auf und gingen mit vorsichtigen Schritten, um ihre schlafenden Schützlinge nicht zu wecken, auf die Landspitze zu.
»Sieh doch nur!« rief Sorka und deutete erregt auf das Wasser hinaus, wo gerade der zerfetzte Körper eines Nestlings hinuntergezogen wurde. »Oh, wie schrecklich!« Sean sah mit ausdrucksloser Miene zu, aber Sorka wandte sich ab und ballte die Fäuste. »Sie ist doch keine gute Mutter.«
»Nur die Besten überleben«, sagte Sean. »Unsere drei sind in Sicherheit, weil sie schlau genug waren, zu uns zu kommen!« Dann drehte er sich um, legte den Kopf schief und sah sie aus schmalen Augen an. »Wird dein Junges in Landing auch in Sicherheit sein? Die sitzen uns nämlich dauernd im Nacken, wir sollen ihnen Tiere bringen, weil mein Dad sich so gut aufs Fallenstellen und Schlingenlegen versteht.«
Sorka drückte ihren schlafenden Schützling fester an sich. »Mein Vater würde nicht zulassen, daß dem Kerlchen hier etwas geschieht. Das weiß ich ganz sicher. «
Zynisch bemerkte Sean: »Ja, aber er ist nicht der Leiter seiner Gruppe, oder? Wenn er einen Befehl bekommt, muß er gehorchen.«
»Die wollen sich die Lebensformen doch nur ansehen, nicht etwa aufschneiden oder so was.«
Sean war nicht überzeugt, aber er folgte Sorka, als sie sich vom Meer abwandte und sich durch das Unterholz zum Rand des Plateaus vorkämpfte.
»Sehen wir uns morgen?« fragte Sean. Plötzlich fürchtete er, sie müßten ihre Treffen aufgeben, weil die gemeinsame Wache nun zu Ende war.
»Na ja, morgen muß ich arbeiten, aber könnten wir uns nicht abends treffen.« Sorka zögerte keinen Augenblick mit ihrer Antwort. Die strengen Sitten der Erde hatten keine Gültigkeit mehr, hier konnte sie kommen und gehen, wie sie wollte. Allmählich hielt sie es für ebenso selbstverständlich, daß ihr auf Pern keine Gefahr drohte, wie sie es als ihre Pflicht ansah, für die Zukunft des Planeten zu arbeiten. Auch Sean trug zu diesem Gefühl der Sicherheit bei, trotz seines tief verwurzelten Mißtrauens gegenüber jedem, der nicht zu seinen eigenen Leuten gehörte. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, er und sie waren nach dem kurzen Erlebnis auf dem Felsenkopf auf ganz besondere Weise miteinander verbunden.
»Glaubst du wirklich, daß sie Schlangen jagen?« fragte Porrig Connell, als er eine von Seans schlafenden Neuerwerbungen untersuchte. Das Tierchen regte sich nicht, als er einen der schlaffen Flügel auseinanderzog.
»Wenn sie Hunger haben«, antwortete Sean und hielt den Atem an, weil er Angst hatte, sein Vater könnte die kleine Echse aus Unachtsamkeit verletzen.
Porrig war nicht überzeugt. »Wir werden sehen. Wenigstens stammt es von hier. Immer noch besser, als bei lebendigem Leibe aufgefressen zu werden. Eine von den Blaugefleckten hat gestern nacht einen ganzen Brocken Fleisch aus Sineads Baby rausgebissen.«
»Sorka sagt, in ihr Haus kommen keine Schlangen rein. Das Plastik hält sie ab.«
Porrig knurrte wieder skeptisch, dann nickte er zu dem schlafenden Nestling hin. »Du hast sie angeschleppt. Jetzt kümmere dich auch darum.«
In Haus Vierzehn am Asienplatz wurde Sorkas kleines Geschöpf mit sehr viel mehr Begeisterung empfangen. Mairi schickte als erstes Brian los, damit er seinen Vater aus dem Veterinärschuppen holte. Dann kleidete sie einen der Körbe, die sie aus den zähen Binsen von Pern geflochten hatte, mit getrockneten Pflanzenfasern aus, hob das Tierchen ganz vorsichtig von Sorkas Arm und legte es in sein neues Bett. Es rollte sich sofort zusammen, seufzte so tief, daß der Brustkorb so dick wurde wie der Bauch, und schlief weiter.
»Es ist keine richtige Eidechse, oder?« fragte Mairi und streichelte sanft die warme Haut. »Es fühlt sich an wie gutes Wildleder. Eidechsen sind trocken und hart. Und es lächelt. Siehst du?«
Gehorsam schaute Sorka hinunter und lächelte ebenfalls. »Du hättest sehen sollen, wie es die Sandwiches verschlungen hat.«
»Soll das heißen, daß du den ganzen Tag nichts zu essen bekommen hast?« Bestürzt machte sich Mairi sofort daran, diesem Umstand abzuhelfen.
Obwohl die Gemeinschaftsküche die meisten der sechstausend Stammbewohner von Landing versorgte, gingen immer mehr Familien dazu über, ihr Essen selbst zuzubereiten und nur die Abendmahlzeit zusammen mit den anderen einzunehmen. Die Hanrahans hatten eine typische Familienwohnung: ein mittelgroßes und zwei kleinere Schlafzimmer, ein größerer Wohnraum und winziges Badezimmer. Bis auf die kostbare Brauttruhe aus Rosenholz stammten alle Möbel aus den Kolonistenschiffen oder waren von Red in seiner unregelmäßigen Freizeit selbst gebaut worden. In einer Ecke des großen Raumes befand sich eine kleine, aber ausreichende Küchenzeile. Mairi war stolz auf ihre Kochkünste und experimentierte gerne mit den neuen Nahrungsmitteln.
Sorka war bei ihrem dritten Sandwich angelangt, als Red Hanrahan mit dem Zoologen Pol Nietro und der Mikrobiologin Bay Harkenon eintraf.
»Weckt mir das kleine Ding ja nicht auf!« warnte Mairi sofort.
Fast ehrfürchtig betrachteten die drei die schlafende Echse. Red Hanrahan überließ sie den Spezialisten, während er seine Tochter umarmte und küßte und ihr mit liebevollem Stolz durchs Haar fuhr. »Du bist doch mein kluges Mädchen!« rief er.
Er setzte sich an den Tisch, streckte die langen Beine aus, schob die Hände in die Taschen und sah zu, wie die beiden anderen über dem ersten einheimischen Wesen von Pern gluckten.
»Wirklich ein erstaunliches Exemplar«, bemerkte Pol zu Bay, als sie sich aufrichteten.
»Einer Eidechse sehr ähnlich«, antwortete diese und lächelte Sorka zu. »Könntest du uns bitte genau erzählen, wie du es zu dir gelockt hast?«
Sorka zögerte kurz, aber als ihr Vater ihr beruhigend zunickte, erzählte sie alles, was sie über die Eidechsen wußte, von ihrer ersten Begegnung mit dem kleinen goldenen Tier, das seine Eier bewachte, bis zu dem Moment, als sie das bronzefarbene Junge dazu gebracht hatte, ihr aus der Hand zu fressen. Sean Connell erwähnte sie nicht, doch aus den Blicken, die ihre Eltern wechselten, erkannte sie, daß diese bereits vermuteten, wer bei ihr gewesen war.
»Bist du der einzige Glückspilz?« fragte ihr Vater leise, während die beiden Biologen das schlafende Geschöpf fotografierten.
»Sean hat zwei Braune mit nach Hause genommen. Sie haben in ihrem Lager furchtbar unter Schlangen zu leiden.«
»Am Kanadaplatz stehen Häuser für sie bereit«, erinnerte ihr Vater. »Sie hätten den ganzen Platz für sich allein.«
Sämtliche Nomadengruppen der Kolonie hatten Unterkünfte zugewiesen bekommen, und zwar aufmerksamerweise am Rand von Landung, damit sie sich nicht so eingeschlossen fühlen sollten. Aber nach ein paar Tagen waren sie alle fort gewesen, hatten sich in den unerforschten Gebieten außerhalb der Siedlung verstreut. Sorka hob die Schultern.
Dann bombardierten Pol und Bay sie zum zweiten Mal mit Fragen, um auch die letzten Unklarheiten auszuräumen.
»Sorka, wir möchten uns deine Neuerwerbung gern für ein paar Stunden ausborgen.« Bay betonte das Wort ›ausborgen‹. »Ich versichere dir, daß wir ihm kein - nun, kein Fleckchen Haut ankratzen werden. Wir können eine Menge feststellen, indem wir Tiere einfach beobachten oder behutsam mit den Händen untersuchen.«
Sorka sah ihre Eltern ängstlich an.
»Warum soll es sich nicht erst einmal an Sorka gewöhnen?« fragte Red beiläufig und legte leicht eine Hand auf die geballten Fäuste seiner Tochter. »Sorka kann sehr gut mit Tieren umgehen, sie scheinen Vertrauen zu ihr zu haben. Und ich halte es im Moment für weit wichtiger, diesen bissigen Burschen zu beruhigen, als herauszufinden, wie er tickt.« Sorka wagte wieder zu atmen und entspannte sich. Sie wußte, daß auf ihren Vater Verlaß war. »Wir wollen ihn doch nicht verscheuchen. Er ist erst heute morgen geschlüpft.«
»Mein Berufseifer geht mit mir durch.« Bay Harkenon lächelte reumütig. »Du hast natürlich recht, Red. Wir müssen ihn Sorkas fähigen Händen überlassen.« Die Frau schickte sich zum Gehen an, als ihr Kollege sich räusperte.
»Wenn Sorka allerdings darauf achten könnte, wieviel er frißt, wie oft, was er am liebsten mag…«, begann Pol.
»Außer belegten Broten«, lachte Mairi.
»… würde uns das sehr viel weiterhelfen.« Wenn Pol so charmant lächelte, sah er viel weniger grau und ungepflegt aus. »Und du sagst, du brauchtest nicht mehr zu tun, als ihn mit Futter zu locken?«
Sorka sah plötzlich im Geist vor sich, wie der ziemlich gebückt gehende, unsportliche Pol Nietro mit einem Korb voll Leckerbissen in einem Gebüsch lauerte und Eidechsen anlockte.
»Ich glaube, das lag daran, daß er nach dem Ausschlüpfen so schrecklich hungrig war«, sagte sie nachdenklich. »Ich meine, ich war während der ganzen Woche jeden Tag am Strand und hatte Sandwiches in der Tasche, aber die Mutter ist nie in meine Nähe gekommen, um zu betteln.«
»Hmm. Nicht von der Hand zu weisen. Wenn sie frisch ausgeschlüpft sind, sind sie gefräßig.« Pol brummelte weiter vor sich hin, während er diese Information geistig verarbeitete. »Und die Erwachsenen haben tatsächlich den Nestlingen Nahrung gebracht?« murmelte Bay. »Fische und Insekten? Hmm. Vielleicht eine Art Prägungsritual? Die Jungen konnten fliegen, sobald die Flügel trocken waren? Hmm. Ja. Faszinierend. Das Meer wäre die nächstgelegene Nahrungsquelle.« Sie sammelte ihre Notizen ein und bedankte sich bei Sorka und ihren Eltern. Dann verließen die beiden Spezialisten das Haus.
»Ich muß auch wieder an die Arbeit, meine Lieben«, sagte Red. »Gut gemacht, Sorka! Da sieht man wieder, was die alten Iren so alles fertigbringen.«
»Peter Oliver Plunkett Hanrahan«, schimpfte seine Frau. »Fang endlich an, pernesisch zu denken. Pernesisch. Pernesisch«, wiederholte sie mit gespielter Strenge immer lauter.
»Perner, nicht Iren. Wir sind Perner«, leierte Red gehorsam, grinste keineswegs reumütig und tänzelte im Takt zu ›pernesisch, pernesisch‹ aus dem Haus.
An diesem Abend wurde Sorka aufgefordert, das Feuer anzuzünden, was sie sehr überraschte und in Verlegenheit brachte und bei ihrem Bruder heftige Eifersucht auslöste. Als Pol Nietro verkündete, warum die Wahl auf sie gefallen war, gab es allseits Jubel und stürmischen Beifall. Sorka sah erstaunt, daß Admiral Benden und Gouverneurin Boll, die es sich nicht hatten nehmen lassen, dieser kleinen abendlichen Zeremonie beizuwohnen, genau wie alle anderen schrien und klatschten.
»Ich war nicht allein«, sagte Sorka laut mit klarer Stimme, als ihr der Bürgermeister von Landing feierlich die Fackel überreichte. »Sean Connell hat zwei braune Echsen, nur ist er heute abend nicht hier. Sie sollten aber wissen, daß er das Nest als erster gefunden hat, und dann haben wir es beide beobachtet.«
Sie wußte, daß es Sean Connell nicht kümmerte, ob er die ihm gebührende Anerkennung bekam oder nicht, aber ihr war es nicht egal. Mit diesem Gedanken stieß sie die brennende Fackel mitten in den Holzstoß hinein. Als das trockene Material Feuer fing und hell aufloderte, sprang sie schnell zurück.
»Gut gemacht, Sorka«, sagte ihr Vater und legte ihr leicht die Hände auf die Schultern. »Gut gemacht.«
Sorka und Sean blieben fast eine ganze Woche lang die einzigen stolzen Besitzer der hübschen Echsen, obwohl allabendlich ein Sturm auf die Strände und Landspitzen einsetzte. Aber dann wurde ein Nest nach dem anderen entdeckt und scharf bewacht. Mit Hilfe des Verfahrens, das Sorka so exakt beschrieben hatte, gelang es schließlich noch einigen Leuten, eine Reihe der kleinen Geschöpfe an sich zu binden. Und Sorkas Bezeichnung - Zwergdrachen - wurde allgemein übernommen.
Der Besitz eines solchen Tierchens war, wie Sorka bald feststellen mußte, kein ungetrübtes Vergnügen. Ihr kleiner Zwergdrache, den sie zur Erinnerung an ihren alten rötlichgelben Kater Duke getauft hatte, war gefräßig. Er fraß alles, was sie ihm gab, in dreistündigen Abständen, und in der ersten Nacht weckte er mit seinem Hungergeschrei den ganzen Platz auf. Zwischen den Fütterungen schlief er. Als Sorka bemerkte, daß seine Haut Risse bekam, verordnete ihr Vater eine Salbe, die er mit Hilfe eines Kinderarztes und eines Biologen aus dem Tran einheimischer Fische zusammengerührt hatte. Der Kinderarzt war von dem Ergebnis so begeistert, daß er den Apotheker beauftragte, größere Mengen davon als Allheilmittel gegen trockene Haut herzustellen.
»Duke wächst, und seine Haut dehnt sich«, lautete Reds Diagnose.
Duke als Männchen zu bezeichnen, war reine Willkür, denn bisher hatte niemand das Geschöpf genau genug untersuchen können, um sein Geschlecht festzustellen, falls es überhaupt eines hatte. Da die goldenen Zwergdrachen Eier legten, neigte man dazu, sie für Weibchen zu halten, freilich wies einer der Biologen einschränkend darauf hin, daß sich bei manchen Gattungen auf der Erde die Männchen um die Eier kümmerten. Die abgestreiften Hautteile wurden eifrig gesammelt und analysiert. Es war den wissensdurstigen Zoologen bisher nicht gelungen, Duke zu röntgen, denn er schien es sofort zu merken, wenn jemand etwas mit ihm vorhatte. Am zweiten Tag nach seiner Ankunft hatten die Zoologen versucht, ihn unter das Gerät zu legen, während Sorka nervös im Nebenraum wartete.
»Das ist doch nicht zu fassen!«
»Was?«
Sorka hörte die erschrockenen Ausrufe von Pol und Bay, und im gleichen Augenblick tauchte Duke ziemlich außer sich über ihrem Kopf auf. Er stieß ein teils erleichtertes, teils erbostes Kreischen aus, landete auf ihrer Schulter, wickelte den Schwanz fest um ihren Hals und krallte die Klauen in ihr Haar, dabei zeterte er wütend, und die Facettenaugen schillerten rot und gelb vor Zorn.
Hinter Sorka öffnete sich plötzlich die Tür, und Pol und Bay stürmten mit erstaunt aufgerissenen Augen in den Raum.
»Er ist eben aufgetaucht«, erklärte das Mädchen den beiden Wissenschaftlern, und sie beruhigten sich allmählich und sahen sich verwundert an. Schließlich verzog sich Pols breites Gesicht zu einem Lächeln, und auch Bay schien sehr erfreut.
»Die Amigs sind also doch nicht die einzigen, die telekinetische Fähigkeiten besitzen«, stellte Bay mit selbstzufriedendem Lächeln fest. »Ich habe immer behauptet, Pol, daß sie nicht einmalig in der Galaxis sein können.«
»Wie hat er das geschafft?« fragte Sorka ein wenig unsicher, denn es war schon öfter vorgekommen, daß Duke verwirrend schnell verschwunden war.
»Er hat sich wohl vor dem Röntgenapparat gefürchtet. Er ist ziemlich klein, und das Ding sieht wirklich bedrohlich aus«, erklärte Bay. »Und deshalb ist er teleportiert, glücklicherweise zu dir, weil er dich als seine Beschützerin ansieht. Die Amigs setzen Teleportation ein, wenn sie sich bedroht fühlen. Eine sehr nützliche Fähigkeit.«
»Ob wir wohl herausfinden können, wie die kleinen Kerle das machen?« überlegte Pol.
»Wir könnten es mit den Gleichungen der Eridani versuchen«, schlug Bay vor.
Pol sah Duke an. Die Augen der Echse waren noch immer rot vor Zorn, und sie klammerte sich weiterhin fest an Sorka, hatte jetzt aber die Flügel angelegt.
»Um sie auszuprobieren, müssen wir mehr über den Burschen und seine Spezies wissen. Vielleicht könntest du ihn festhalten, Sorka.«
Doch auch als Sorka ihn sanft beruhigte, ließ sich Duke nicht unter das Röntgengerät legen. Nach einer halben Stunde gaben Pol und Bay widerwillig auf und gaben ihr sich heftig sträubendes Versuchsobjekt frei.
Bei jedem Schritt beschwichtigend auf die immer noch empörte Echse einredend, trug Sorka sie zu ihrem Geburtsort. Sean lag im Schatten der Büsche, und seine beiden Braunen kuschelten sich an seinen Hals. Als sie Sorka kommen hörten, blinzelten sie mit schwach blaugrün funkelnden Augen zu ihr auf. Duke begrüßte sie zirpend, und sie antworteten mit ähnlichen Lauten.
»Ich wollte gerade ein bißchen schlafen«, murmelte Sean verdrießlich, ohne auch nur die Augen zu öffnen. »Mein Dad hat mich zu den Babys reingelegt, weil er sehen wollte, ob die Burschen hier die Schlangen verjagen.«
»Und, haben sie's getan?« fragte Sorka, ehe er wieder einschlafen konnte.
»Ja.« Sean gähnte herzhaft und schlug lässig nach einem Insekt. Sofort schnappte es einer der Braunen aus der Luft und verschlang es.
»Sie fressen alles.« Sorka sagte es bewundernd. »Dr. Marceau sagt, sie sind Omnivoren.« Sie setzte sich neben Sean auf den Felsen. »Und sie können zwischen verschiedenen Orten wechseln, wenn sie Angst haben. Dr. Nietro hat versucht, Duke zu röntgen, und er hat mich aus dem Zimmer geschickt. Ich war kaum draußen, als Duke schon wieder an mir hing und sich festklammerte, als wolle er nie wieder loslassen. Sie sagen, er kann teleportieren. Er verwendet Telekinese.« Sie war stolz, daß sie all diese schwierigen Worte ohne Stocken herausgebracht hatte.
Sean öffnete ein Auge, legte den Kopf schief und schaute zu ihr auf. »Und was heißt das?«
»Er kann sich sofort außer Gefahr bringen.«
Sean gähnte wieder. »Na und? Wir haben doch beide schon gesehen, wie sie diese Nummer abgezogen haben. Und sie tun es nicht nur, wenn sie in Gefahr sind.« Erneutes Gähnen. »Du warst ganz schön schlau, daß du nur einen genommen hast. Wenn einer satt ist, hat der andere Hunger. Die beiden und die Babys, auf die ich aufpassen muß, schaffen mich vollkommen.« Er schloß auch das eine Auge wieder, faltete die Hände vor der Brust und schlief weiter.
»Dann spiele ich eben goldene Echse und bewache dich, damit nicht eine große, garstige, gefleckte Stumpfnase kommt und dich beißt!«
Sie weckte ihn auch nicht, als sie eine Schar der Echsen am Himmel kreisen und herabstoßen sah, ein atemberaubendes akrobatisches Schauspiel. Duke beobachtete den Schwarm ebenfalls und gurrte dabei leise vor sich hin, aber entgegen ihrer anfänglichen Befürchtung, er wolle sich vielleicht den anderen anschließen, löste er nicht einmal den Schwanz von ihrem Hals. Ehe Sorka nach Hause ging, stellte sie Sean noch eine Büchse mit der Salbe hin, die für Dukes rissige Haut hergestellt worden war.
Sorka war an diesem Tag nicht die einzige, die auf Pern akrobatische Kunststücke in der Luft beobachtete. Einen halben Kontinent weiter südwestlich sah Sallah Telgar mit klopfendem Herzen zu, wie Drake Bonneau den kleinen Luftschlitten aus einer Thermik heraus über den großen Binnensee zog, für den er unbedingt den Namen Drake-See durchsetzen wollte. Von dem kleinen Bergwerksteam hatte niemand etwas dagegen, aber Drake neigte dazu, jedes Thema totzureden. Außerdem konnte er es nicht lassen, sich mit seinen Flugkünsten aufzuspielen. Seine Kapriolen sind törichte Treibstoffvergeudung, dachte Sallah, und sicher nicht der richtige Weg, um ihr Herz und ihre Achtung zu gewinnen. In letzter Zeit trieb er sich ständig um ihre Unterkunft herum, hatte aber bisher keinen nennenswerten Erfolg damit.
Ozzie Munson und Cobber Alhinwa tauchten aus der Hütte auf, wo sie eben ihre Sachen verstaut hatten, blieben neben Sallah stehen und folgten ihrem Blick.
»Du meine Güte, jetzt ist er schon wieder dabei!« stöhnte Ozzie und grinste Sallah boshaft an.
»Der knallt noch mal runter«, fügte Cobber kopfschüttelnd hinzu, »und dieser verdammte See ist so tief, daß wir ihn nie finden werden. Und den Schlitten auch nicht. Dabei brauchen wir den.«
Als Sallah Svenda Olubushtu kommen sah, drehte sie sich hastig um und ging auf die größte Hütte des kleinen Erzsucherlagers zu. Auf Svendas spöttische, eifersüchtige Kommentare konnte sie verzichten. Es war ja nicht so, als ob sie Drake Bonneau ermuntert hätte, ganz im Gegenteil, sie hatte mit allem Nachdruck mehrmals öffentlich ihr Desinteresse kundgetan.
Vielleicht packe ich es falsch an, dachte sie. Wenn ich ihm nachliefe, ständig an seinen Lippen hinge und ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit auflauerte wie Svenda, würde er mich vielleicht eher in Ruhe lassen.
In der großen Hütte war Tarvi Andiyar bereits dabei, die Funde dieses Tages auf dem großen Bildschirm zu markieren. Seine Spinnenfinger flogen so schnell über die Tastatur, daß das Textverarbeitungsprogramm kaum Schritt halten konnte, und dabei murmelte er ununterbrochen vor sich hin. Seine Selbstgespräche verstand niemand, denn er führte sie in seiner Muttersprache, einem unbekannten indischen Dialekt. Wenn man ihn auf diesen Tick ansprach, pflegte er mit seinem zu Herzen gehenden Lächeln zu antworten:
»Auch andere Ohren sollen diese herrlich schmelzende Sprache hören, auf daß sie auch hier auf Pern gesprochen werde, solange noch ein Mensch lebt, der sie nach so vielen Jahrhunderten noch fließend beherrscht. Klingt sie nicht wunderbar, so rhythmisch und melodisch, ein Genuß für jedes Ohr?«
Tarvi war ein hochspezialisierter Bergbauingenieur mit einer besonderen Begabung. Man sagte ihm nach, er könne auch schwer faßbare Adern durch viele unterirdische Schichten und Verwerfungen hindurch verfolgen.
Der Pernexpedition hatte er sich angeschlossen, weil man, wie er sich ausdrückte, ›Mutter Erde bereits all ihr Blut und ihre Tränen entrissen hatte‹. Auch auf First hatte er geschürft, aber auf die fremden Metalle hatten seine Fähigkeiten nicht angesprochen, und so war er quer durch eine ganze Galaxis gereist, um an seinem ›Lebensabend‹, wie er es nannte, sein Handwerk weiter auszuüben.
Da Tarvi Andiyar erst sein sechstes Jahrzehnt erreicht hatte, wurde er daraufhin von wohlmeinenden Menschen stets beschwichtigt, von denen, die ihn kannten, erntete er dagegen nur höhnisches Gelächter. Sallah mochte seine feine Ironie, die sich stets gegen die eigenen Schwächen richtete. Er wäre nie auf die Idee gekommen, jemand anderen damit zu kränken.
Seit sie ihn nach dem Kälteschlaf zum ersten Mal getroffen hatte, hatte der hochgewachsene, fast ausgemergelt wirkende Mann kein Gramm zugenommen. »In meiner Familie gab es so viele Generationen von Gurus und Mahatmas, die ganz versessen darauf waren, zur Läuterung ihrer Seelen und zur Entschlackung ihrer Eingeweide zu fasten, daß es eine erbliche Eigenschaft aller Andiyars geworden ist, so dürr zu sein wie eine Zaunlatte. Aber ich bin nicht schwach. Um stark zu sein, braucht man weder schwellende Muskeln noch einen gewaltigen Leibesumfang. Von der Kraft her kann ich es mit jedem Sumo-Ringer aufnehmen.« Wer ihn den ganzen Tag ohne Pause mit Ozzie und Cobber hatte arbeiten sehen, wußte, daß dies keine leere Prahlerei war.
Sallah fühlte sich von dem schlaksigen Ingenieur mehr angezogen als von jedem anderen Mann in der Kolonie. Aber wie sie Drake Bonneau nicht klarmachen konnte, wie wenig ihr an ihm lag, so war sie auch unfähig, Tarvi näherzukommen.
»Wie sieht es aus, Tarvi?« fragte sie und nickte Valli Lieb zu, die sich bereits bei einem Glas Quikal entspannte.
Mit das erste Anliegen menschlicher Siedler auf einer neuen Welt war offenbar stets die Suche nach gärungsfähigen Stoffen, um möglichst schnell alkoholische Getränke zu entwickeln. Jedes Labor in Landing, ganz gleich, was seine eigentliche Aufgabe war, hatte sich daran versucht, den Saft einheimischer Früchte zu destillieren oder zu vergären, um trinkbaren Alkohol herzustellen. Die Quikal-Destille war das erste Gerät, das aufgestellt wurde, als die Erzsucher ihr Basislager errichteten, und niemand hatte Einwände erhoben, als Cobber und Ozzie den ganzen ersten Tag damit verbrachten, die mitgebrachten vergorenen Säfte zu verarbeiten. Nur Svenda hatte sie heftig beschimpft, während Tarvi und Sallah einfach die Vermessung allein fortgesetzt hatten. Der Drink an jenem ersten Abend im Lager war mehr gewesen als eine Tradition: man hatte ihn sich erarbeitet.
Als Svenda die Hütte betrat, schenkte sich Sallah gerade ein Glas Quikal ein. Valli machte ihr auf der Bank Platz. Die Geologin hatte sich gewaschen und sah sehr viel besser aus als am Nachmittag, als sie, mit zähem Schleim bedeckt, aber mit ein paar sehr interessanten Proben für die Analyse, aus dem Gestrüpp aufgetaucht war.
In diesem Augenblick hörten sie draußen den Schlitten landen. Svenda verrenkte sich den Hals, um Drake vom Landeplatz kommen zu sehen; Ozzie und Cobber mußten sich an ihr vorbeidrängen, um die Hütte betreten zu können.
»Wie war die Analyse, Valli?« fragte Sallah.
»Verheißungsvoll, sehr verheißungsvoll«, sagte die Geologin, und das Gesicht glühte ihr vor Stolz. »Bauxit ist so vielseitig verwendbar! Allein für diesen Fund hat sich die Expedition gelohnt.«
»Aber es wäre viel einfacher«, - Cobber verneigte sich förmlich vor Valli -, »den Fund im Tagebau auszubeuten.«
»Ha! Es lohnt sich auch unter Tage«, sagte Ozzie. »Hochwertiges Erz wird immer gebraucht.«
»Und«, schaltete sich Tarvi ein und setzte sich zu ihnen an den Tisch, lehnte aber den Drink ab, den Svenda ihm wie immer anbot, »in nicht allzu großer Entfernung gibt es so viel Kupfer und Zinn, daß es sich auszahlen würde, an diesem herrlichen See eine Bergarbeiterstadt zu bauen. Die Wasserfälle könnten Strom für die Verhüttung des Erzes liefern, und die Fertigprodukte könnte man auf dem Wasserweg zur Küste und von dort nach Landing befördern.«
»Also«, strahlte Svenda, »ist die Gegend hier ergiebig?« Sallah fand ihren Besitzerstolz etwas verfrüht. Die erste Wahl hatten die Konzessionäre, dann erst kamen die Kontraktoren und Experten an die Reihe.
»Empfehlen werde ich sie sicher«, sagte Tarvi und lächelte auf seine onkelhafte Art, die Sallah immer ärgerte. Er war nicht alt. Er war sehr attraktiv, aber wie sollte sie ihn dazu bringen, sie überhaupt einmal richtig anzusehen, wenn er sich ständig wie jedermanns Onkel benahm? »Ich habe sie sogar schon empfohlen«, fuhr er fort. »Besonders, nachdem der Schleim, in den Sie heute reingefallen sind, Valli, sich als hochwertiges Mineralöl herausgestellt hat.« Als der Jubel sich gelegt hatte, schüttelte er den Kopf. »Metalle ja, Petroleum nein. Das wißt ihr alle. Wenn unsere Kolonie lebensfähig sein soll, müssen wir lernen, uns mit einem niedrigeren technologischen Niveau zu begnügen. Hier kommt das Können ins Spiel, man muß sich auf alte Techniken besinnen.«
»In diesem Punkt sind nicht alle einer Meinung mit unseren Führern«, sagte Svenda mit finsterer Miene.
»Wir haben die Verfassung unterzeichnet, und wir haben alle versprochen, uns daran zu halten«, sagte Valli und warf einen schnellen Blick auf die anderen, um zu sehen, ob sich noch jemand auf Svendas Seite stellte.
»Ihr seid eben Dummköpfe«, spottete das blonde Mädchen, goß sich noch einen Schuß Quikal in den Becher und verließ die Hütte.
Tarvi sah ihr nach, sein lebhaftes Gesicht wirkte beunruhigt.
»Nichts als dummes Geschwätz«, sagte Sallah leise.
Er zog die Augenbrauen hoch, seine dunklen Augen ruhten einen Moment lang ausdruckslos auf ihr, dann kehrte sein gewohntes Lächeln zurück, und er klopfte ihr auf die Schulter leider nur so wie einem braven Kind. »Ach, da kommt Drake mit den Vorräten und mit Nachrichten von unseren Kameraden.«
»He, wo seid ihr denn alle?« fragte Drake, sobald er, mit Paketen beladen, eingetreten war. »Im Schlitten ist noch mehr davon.«
Sallah senkte den Kopf, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. »Es gibt etwas zu feiern, Drake«, sagte Valli und brachte ihm ein Glas Quikal. »Zwei neue Funde, groß und leicht abzubauen. Das Geschäft läuft.«
»Die Bergbau- und Hüttenwerke Drake-See können also eröffnet werden?«
Alle lachten, und als er sein Glas zu einem Toast erhob, hatte niemand etwas gegen den Namen einzuwenden.
»Ich habe auch Neuigkeiten für euch«, sagte er, nachdem er getrunken hatte. »In drei Tagen sollen wir alle nach Landing zurückkehren.«
Diese Ankündigung wurde mit großer Bestürzung aufgenommen. Grinsend hob Drake die freie Hand und bat um Schweigen. »Zu einer Dankfeier.«
»Dafür? Das kann doch noch gar keiner wissen«, staunte Valli.
»So etwas müßte doch eigentlich im Herbst stattfinden, nach der Ernte«, meinte Sallah.
»Warum?« fragte Tarvi schlicht.
»Weil der Start in unser neues Leben so erfreulich begonnen hat. Die letzte Ladung von den Raumschiffen ist in Landing angekommen. Damit sind wir offiziell gelandet.«
»Und deshalb so ein Theater?« fragte Sallah.
»Nicht jeder ist so arbeitssüchtig wie du, meine schöne Sallah«, stichelte Drake und faßte ihr zärtlich unter das Kinn.
Als sie merkte, daß er sie gleich küssen würde, zog sie den Kopf weg, grinste aber dabei, um der Abfuhr den Stachel zu nehmen. Er schmollte. »Unsere edlen Führer haben so entschieden, und außerdem sollen bei dem Fest viele wundersame Dinge verkündet werden. Alle Forschungsteams werden zurückgerufen, das ganze Volk soll in Freude schwelgen.«
Sallah war fast verstimmt. »Wir sind doch erst letzte Woche hergekommen!«
Um mehreren unangenehmen, aber nicht zu beweisenden Schlüssen zu entgehen, die sie gezogen hatte, hatte sie sich dazu gemeldet, die Geologen und Bergbauspezialisten zu dem gewaltigen Binnensee zu fliegen, wo es dem EV-Bericht zufolge reiche Erzvorkommen geben sollte. Sie hatte gehofft, ein wenig Abstand zu gewinnen, um das, was sie beobachtet hatte, objektiver beurteilen zu können.
Vor etwa einer Woche war sie eines Abends zur Mariposa gegangen, um nach einem Band zu suchen, das sie während ihrer ersten Einsätze als Pilotin für Admiral Benden an Bord gelassen hatte, und da hatte sie Kenjo mit zwei Säcken in jeder Hand hinten aus der kleinen, Wartungsluke kommen sehen. Er war hastig in die Dunkelheit davongeeilt, und sie war ihm neugierig nachgegangen. Dann war er plötzlich verschwunden. Sie hatte sich hinter einem Busch versteckt und gewartet, bis er mit leeren Händen wieder auftauchte. Dann war sie seinen Spuren gefolgt, um herauszufinden, wo er seine Last abgestellt hatte.
Nachdem sie eine Weile herumgestolpert war und sich die Schienbeine angeschlagen und die Hand abgeschürft hatte, war sie auf eine Höhle gestoßen - und hatte mit Entsetzen festgestellt, welche Mengen an Treibstoff Kenjo beiseite geschafft hatte. Insgesamt waren es mehrere Tonnen, schätzte sie, nachdem sie auf einem Etikett die Menge nachgelesen hatte, alles in leicht zu transportierenden Säcken verpackt. Die Felsspalte befand sich am äußersten Ende des Landegitters, gut versteckt hinter den stacheligen Dornenbüschen, die die Farmer auf ihren Äckern ausgruben und hier aufhäuften.
Zwei Abende später hatte sie ein sehr merkwürdiges Gespräch zwischen Avril und Stev Kimmer belauscht, jenem Bergbauingenieur, der an dem Tag, an dem der Landeplatz bekanntgegeben worden war, mit der Astrogatorin an einem Tisch gesessen hatte.
»Schau, diese Insel strotzt nur so von Edelsteinen«, sagte Avril gerade, als Sallah sich in den Schatten des Deltaflügels der Fähre drückte, hörte sie, wie eine Plasfolie entrollt wurde. »Hier ist die Kopie des ursprünglichen EV-Berichts, und ich brauche kein Bergbauspezialist zu sein, um mir auszurechnen, was diese rätselhaften Zeichen bedeuten.« Die Plasfolie knisterte, als Avril mit dem Finger auf verschiedene Stellen zeigte. »Ein Vermögen, das man sich nur zu holen braucht!« Ein triumphierender Unterton schwang in ihrer Stimme mit. »Und ich habe die Absicht, es mir zu holen.«
»Nun ja, ich gebe zu, daß Kupfer, Gold und Platin auf jeder zivilisierten Welt gebraucht werden«, begann Stev.
»Ich rede nicht von industrieller Nutzung, Kimmer«, sagte Avril scharf. »Und auch nicht von kleinen Steinchen. Dieser Rubin war nur eine Kostprobe. Hier, lies Shavvas Notizen!«
Kimmer schnaubte geringschätzig. »Sie hat übertrieben, um ihre Prämie zu steigern.«
»Nun, ich besitze eine Übertreibung in der Größenordnung von fünfundvierzig Karat, mein Lieber, und du hast sie gesehen. Wenn du nicht mitspielen willst, findet sich bestimmt ein anderer, der eine solche Herausforderung mit Freuden annimmt.«
Avril wußte jedenfalls, wie man die Leute an die Angel bekam, dachte Sallah grimmig.
»Diese Insel steht noch jahrelang nicht auf dem Plan«, erklärte Stev.
Avril lachte leise. »Ich kann mehr als Raumschiffe steuern, Stev. Ich habe mir einen Schlitten geben lassen, schließlich habe ich wie jeder andere auf diesem Klumpen Dreck das Recht, mir die paar kümmerlichen Morgen Land auszusuchen, auf die ich als Kontraktor Anspruch habe. Aber du bist Konzessionär, und wenn wir unsere Parzellen zusammenlegen, könnte uns die ganze Insel gehören.«
Sallah hörte, wie Kimmer scharf die Luft einzog. »Ich dachte, die Fischer wollen die Insel wegen der Hafenbucht.«
»Die sind nur am Hafen interessiert, nicht an der Insel. Es sind Fischer, für sie sind die Delphine wichtig. Mit dem Land können sie nichts anfangen.«
Er murmelte etwas und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
»Wer sollte es denn schon erfahren?« fragte Avril mit seidenweicher Stimme. »Wir könnten am Wochenende hinfliegen, uns erst einmal das Zeug holen, das am leichtesten zugänglich ist, und es in einer Höhle lagern. Es gibt so viele Inseln, daß man jahrelang suchen könnte, ohne je die richtige zu finden. Und wir brauchen ja auch niemanden mit der Nase draufzustoßen, indem wir unseren Anspruch offiziell anmelden, es sei denn, man zwingt uns dazu.«
»Aber du hast gesagt, im Großen Westgebirge gäbe es auch Vorkommen?«
»Das stimmt«, lachte Avril leise. »Ich weiß sogar, wo. Nur ein Katzensprung von der Insel entfernt.«
»Du hast alles geplant, wie?« Kimmers Stimme klang leicht sarkastisch.
»Natürlich«, gab Avril ungerührt zu. »Ich denke nicht daran, den Rest meines Lebens hier in der Provinz zu verbringen, wenn ich eine Möglichkeit gefunden habe, ein Leben zu führen, das ich bei weitem vorziehe.« Wieder war ihr perlendes Lachen zu hören, und dann trat Stille ein, nur von einem Schmatzen unterbrochen, als feuchte Lippen sich voneinander lösten. »Aber solange wir beide hier sind, Klimmer, wollen wir das Beste daraus machen. Hier und jetzt unter den Sternen.«
Verlegen und angewidert von Avrils aufdringlicher Sexualität hatte sich Sallah davongeschlichen. Kein Wunder, daß Paul Benden diese Frau nicht in seinem Bett behalten hatte. Er war zwar ein sinnlicher Mann, dachte Sallah, aber an Avrils primitiver Hemmungslosigkeit konnte er wohl nicht lange Gefallen finden. Die elegante ausgeglichene Ju Adjai paßte viel besser zu ihm, obwohl sie es beide offenbar nicht eilig hatten, ihre Verbindung öffentlich bekanntzugeben.
Avrils Stimme hatte nur so getrieft vor unersättlicher Habgier. Hatte Stev Kimmer das auch gehört? Oder hatte Avril ihm völlig die Sinne vernebelt? Sallah hatte immer gewußt, daß Pern reich an Edelsteinen war. Der Shavva-Rubin gehörte ebenso zur Legende um den Planeten wie der Liu-Nugget. Nur die Entfernung Perns von den übrigen Welten verhinderte, daß die Habgierigen allzusehr in Versuchung gerieten. Sollte es jedoch jemandem gelingen, mit einer Schiffsladung Edelsteine zur Erde zurückzukehren, dann konnte er oder sie zweifellos bis ans Ende seiner Tage in Saus und Braus leben.
Avrils Pläne würden Perns Bodenschätze wohl kaum erschöpfen. Sallah machte sich vor allem Sorgen, wie die Astrogatorin sich den Treibstoff für eine solche Reise beschaffen wollte. Sallah wußte, daß in der Admirals-Gig, der Mariposa, noch Treibstoff vorhanden war. Das war nicht allgemein bekannt, aber als Pilotin hatte Avril sicher Zugang zu dieser Information. Aufgrund der Berechnungen, die Avril damals auf der Yokohama durchgeführt hatte, wußte Sallah, daß die Frau tatsächlich ein unbewohntes System erreichen konnte. Aber was dann?
Sallah hatte es Spaß gemacht, mit Ozzie, Cobber und den anderen die Gegend zu vermessen, und bisher war sie immer zu müde gewesen, um über ihr Dilemma nachzudenken. Aber jetzt, da die Rückkehr nach Landing unmittelbar bevorstand, stürmten die Fragen wieder auf sie ein. Sie hatte zwar keine Skrupel, Avril anzuzeigen, aber ihr war klar, daß sie dann auch von Kenjos Aktivitäten berichten mußte. Sie hätte gern gewußt, warum Kenjo den Treibstoff zurückgehalten hatte. Hatte er den verrückten Plan, die beiden Monde zu erforschen? Oder den unberechenbaren Planeten, der in etwa acht Jahren Perns Orbit kreuzen würde?
Daß Kenjo sich mit jemandem wie Avril Bitra eingelassen haben sollte, schien ausgeschlossen. Sallah war überzeugt, daß die für jedermann sichtbare Feindseligkeit zwischen den beiden nicht gespielt war. Für Kenjo war das Fliegen vermutlich so etwas wie eine Religion und gleichzeitig wie eine unheilbare Krankheit. Aber er konnte doch über ganz Pern herumkreuzen und das jahrzehntelang, wenn er mit den Energiezellen, mit denen die Luftschlitten der Kolonie betrieben wurden, schonend umging.
Was Sallah am meisten Sorgen machte, war die wenn auch noch so entfernte Möglichkeit, daß Avril Kenjos Hort entdeckte. Sie hatte überlegt, ob sie sich einem der anderen Piloten anvertrauen sollte, aber Barr Hamil konnte ein solches Problem nicht bewältigen, Drake würde es nicht ernstnehmen, und Jiro, Kenjos Kopilot, würde seinen Vorgesetzten niemals verraten. Die anderen kannte sie nicht gut genug, um ihre Reaktionen auf eine solche Enthüllung abschätzen zu können. Geh ganz nach oben! sagte sie sich. Dort sind solche Dinge am besten aufgehoben. Ongola würde sie sicher anhören, und er konnte ihr auch sagen, ob sie mit ihrem Verdacht an Paul und Emily herantreten sollte oder nicht.
Verdammt! Sallah ballte die Fäuste. Derlei kleinliche Intrigen und Ränke sollte es auf Pern eigentlich nicht geben. Wir haben doch alle ein gemeinsames Ziel, dachte sie. Eine Zukunft in Sicherheit und Wohlstand und ohne Vorurteile. Warum muß jemand wie Avril diese herrliche Vision mit ihrer mürrischen Egozentrik trüben?
Dann berührte Ozzie sie am Arm und riß sie aus ihren bedrückenden Gedanken.
»Tanzen Sie auch mal mit mir, Sallah?« fragte er mit seiner leicht näselnden Stimme, und seine Augen funkelten sie herausfordernd an.
Sallah versprach es lächelnd. Sobald sie in Landing eingetroffen war, würde sie Ongola aufsuchen und ihm alles erzählen. Danach konnte sie guten Gewissens das Tanzbein schwingen.
»Und dann«, Ozzie war nicht mehr zu bändigen, »soll Tarvi mit Ihnen tanzen, damit sich meine armen Zehen wieder erholen können.«
Tarvi erklärte sich mit einem wehmütigen Blick einverstanden. Bei so vielen Zeugen und ohne eine Chance, sich eine Ausrede zu überlegen, blieb ihm auch kaum etwas anderes übrig, das war Sallah schon klar. Trotzdem war sie dem gerissenen alten Ozzie dankbar.
Als der Bergbautrupp Landing erreichte, schlugen die Flammen auf dem Freudenfeuerplatz schon hoch, und das Fest kam allmählich in Schwung. Als Sallah den Schlitten an die Grenzlinie heranflog und auf dem Landestreifen aufsetzte, hätte sie die so sehr auf Zweckmäßigkeit ausgerichtete Siedlung von oben fast nicht wiedererkannt. In fast allen Fenstern brannte Licht, und alle Straßenlaternen waren eingeschaltet. Auf einer Seite des Freudenfeuerplatzes hatte man ein Podium errichtet und mit bunten Lämpchen dekoriert. Drake hatte erzählt, jeder, der ein Instrument spielen könne, sei aufgerufen worden, an diesem Abend etwas zum Besten zu geben. Überall auf dem Podium standen alte weiße Plastikkartons als Sitzgelegenheit für die Musiker.
Aus den Wohnungen hatte man Tische und Stühle geholt und sie auf einem frischgemähten Viereck hinter dem Platz aufgestellt. In Feuergruben garten riesige Wherries, auf kleineren Spießen bräunten die letzten, noch von der Erde stammenden Fleischstücke zusammen mit anderen Köstlichkeiten. Der Duft nach Braten und Grillfleisch ließ einem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die Kolonisten hatten sich in Schale geworfen. Alles eilte geschäftig umher, half mit, schleppte, rückte zurecht und bereitete die letzten Leckerbissen zu, die noch von der alten Welt stammten und für dieses letzte große Schlemmermahl in der neuen Heimat aufgespart worden waren.
Sallah stellte ihren Schlitten schräg auf dem Landegitter ab, denn sie dachte, wenn noch mehr Fahrzeuge kreuz und quer auf dem Streifen parkten, würde die Mariposa, die am anderen Ende des Feldes stand, nicht genug Platz zum Starten haben. Aber wie lange würden in Landing so viele Schlitten sein?
»He, beeilen Sie sich, Sallah!« schrie Ozzie, als er und Cobber aus dem Schlitten sprangen.
»Ich muß mich noch beim Tower melden«, sagte sie und winkte ihnen fröhlich zu, sie sollten schon vorausgehen.
»Ach, das können Sie sich doch heute mal sparen«, drängte Cobber, aber sie ließ sich nicht umstimmen.
Als sie den Wetterbeobachtungsturm erreichte, wollte Ongola gerade gehen. Mit einem resignierten Nicken öffnete er die Tür und bemerkte dabei, wie sie ihren Schlitten geparkt hatte. »Ist das klug, Sallah, ihn so stehenzulassen?«
»Ja. Eine Vorsichtsmaßnahme, Kommandant«, sagte sie ernst, um ihn darauf vorzubereiten, daß sie in einer wichtigen Angelegenheit gekommen war.
Er setzte sich erst, als sie ihm ihre Geschichte bereits zur Hälfte erzählt hatte, und dann ließ er sich so müde in seinen Stuhl sinken, daß sie es schon bereute, überhaupt den Mund geöffnet zu haben.
»Gewarnt sein heißt gewappnet sein, Sir«, sagte sie abschließend.
»Damit haben Sie recht, Telgar.« Sein tiefer Seufzer zeigte, daß seine Zweifel zurückgekehrt waren. Er winkte ihr, sich zu setzen. »Wieviel Treibstoff?«
Als sie ihm zögernd die genauen Zahlen nannte, war er überrascht und besorgt.
»Könnte Avril von Kenjos Vorrat wissen?« Ongola richtete sich schnell auf, und daran merkte sie, daß ihn ihr Verdacht auf die Astrogatorin viel mehr beunruhigte als Kenjos Diebstahl. »Nein, nein!« verbesserte er sich mit einer schnellen, abwehrenden Handbewegung. »Die beiderseitige Abneigung ist echt. Ich werde den Admiral und die Gouverneurin informieren.«
»Aber nicht heute abend, Sir!« bat Sallah und hob unwillkürlich protestierend die Hand. »Ich bin doch nur gekommen, weil dies für mich die erste Gelegenheit war, Sie darauf anzusprechen…«
»Gewarnt sein heißt gewappnet sein, Sallah. Haben Sie irgend jemandem sonst von Ihrem Verdacht erzählt?«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Sir! Es ist schlimm genug, wenn man Maden im Fleisch vermutet, man muß nicht auch noch anderen einen Bissen davon anbieten.«
»Richtig! Und Eden wird wieder einmal von der Habgier der Menschen verdorben.«
»Es geht nur um einen Menschen«, glaubte sie sagen zu müssen.
Er hob bedeutungsvoll zwei Finger. »Mindestens um zwei, vergessen Sie Kimmer nicht. Und mit wem hat sie an Bord sonst noch gesprochen?«
»Mit Kimmer, Bart Lemos, Nabhi Nabol und zwei anderen Männern, die ich nicht kenne.«
Ongola schien nicht überrascht. Er holte tief Luft und seufzte, dann stützte er beide Hände auf die Oberschenkel und richtete sich zu voller Höhe auf. »Ich bin Ihnen sehr dankbar und weiß, daß der Admiral und die Gouverneurin der gleichen Ansicht sein werden.«
»Dankbar?« Sallah stand auf, aber sie empfand nicht die Erleichterung, die sie sich von diesem Gespräch mit ihrem Vorgesetzten erhofft hatte.
»Wir hatten damit gerechnet, daß es einige Probleme geben würde, wenn die Leute allmählich merken, daß sie jetzt hier sind«, sagte Ongola und deutete mit seinem langen Zeigefinger nach unten, »und nirgendwo anders mehr hinkönnen. Die Euphorie der Reise ist vorüber; die heutige Feier soll den Schock dämpfen, den diese Erkenntnis auslösen wird. Mit vollem Bauch, leicht angeheitert und müde vom Tanzen plant man keinen Aufruhr.«
Ongola öffnete die Tür und ließ ihr höflich den Vortritt. Auf Pern wurde keine Tür versperrt, nicht einmal dann, wenn sie in ein offizielles Verwaltungsgebäude führte. Sallah war auf diesen Grundsatz stolz gewesen, aber jetzt machte sie sich Sorgen.
»So dumm sind wir auch wieder nicht, Sallah«, sagte Ongola, als habe er ihre Gedanken gelesen, und klopfte sich an die Stirn. »Das hier ist immer noch die beste Datenbank, die je erfunden wurde.«
Sie seufzte erleichtert, und ihr Gesicht hellte sich ein wenig auf.
»Es gibt trotzdem sehr vieles auf Pern, wofür wir dankbar sein sollten«, mahnte er.
»Das bin ich doch auch!« entgegnete sie und dachte an ihren Tanz mit Tarvi.
Als sie sich gewaschen, sich feingemacht und den Freudenfeuerplatz erreicht hatte, war das Fest in vollem Gange, und das improvisierte Orchester spielte eine Polka. Sallah blieb außerhalb von Licht und Lärm im Dunkeln stehen und betrachtete staunend die unerwartet große Zahl von Musikern, die mit den Füßen den Takt klopften, während sie warteten, bis sie an die Reihe kamen.
Die Musik wechselte ständig, immer neue Musiker traten auf. Verblüfft sah Sallah, daß sogar Tarvi Andiyar eine Panflöte hervorholte und eine fremdartige kleine Melodie spielte, sehr eindringlich und ruhig, eine Abwechslung nach der lauten Fröhlichkeit der anderen Stücke.
Die Tanzmusik wurde nun von Solodarbietungen abgelöst, und die Amateurkapelle forderte das Publikum auf, die alten Hits mitzusingen. Emily Boll ging ans Keybord, Ezra Keroon fiedelte begeistert ein Potpourrie von alten englischen Hornpipes, und alle stampften mit den Füßen den Takt, während mehrere Paare eine komische Version des traditionellen Seemannstanzes vorführten.
Sallah hatte nicht nur einen, sondern sogar zwei Tänze mit Tarvi hinter sich. Mitten im zweiten, sie wiegten sich gerade im Dreivierteltakt zu einer alten Weise, blieb ihr fast das Herz stehen, denn es schien, als ließe auch Pern sich von den neuen Melodien mitreißen. Das Geschirr auf den langen Tischen klapperte, die Tänzer gerieten aus dem Rhythmus, und die Sitzenden spürten, wie ihre Stühle schwankten.
Das Beben dauerte keine zwei Herzschläge lang, und darauf folgte tiefe Stille.
»Pern will also mittanzen, wie?« ertönte belustigt Paul Bendens Stimme. Er sprang mit ausgebreiteten Armen auf die Plattform, als hielte er das Beben für eine etwas ausgefallene Form der Begrüßung. Seine Bemerkung rief Geflüster und Gemurmel hervor, aber sie löste die Spannung. Während Paul den Musikern ein Zeichen gab, sie sollten weiterspielen, suchte er im Publikum nach bestimmten Gesichtern.
Tarvi, der neben Sallah stand, nickte fast unmerklich mit dem Kopf und ließ die Arme sinken. »Kommen Sie, diesen Tanz müssen wir uns genauer ansehen.«
Sallah bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. Das Beben hatte Vorrang. Sie hatte noch nie einen Erdstoß erlebt, trotzdem hatte sie sofort begriffen, was eben geschehen war. Als sie mit Tarvi die Tanzfläche verließ, bewegte sie sich ganz vorsichtig, als erwarte sie jeden Moment eine neue Erschütterung.
Jim Tillek sammelte seine Seeleute um sich, um nachzuprüfen, ob die Boote innerhalb des neu gebauten Wellenbrechers sicher vertäut waren. Er hoffte, daß der Tsunami, sollte es einer gewesen sein, seine Kraft an den vorgelagerten Inseln austoben würde. Die Delphinwärter, ausgenommen Gus, den man zum Bleiben drängte, damit er weiter Akkordeon spielte, begaben sich zum Hafen, um mit den Meeressäugetieren zu sprechen, die ihnen melden würden, wenn der Tsunami sich näherte, und die auch abschätzen konnten, wie verheerend er sich auswirken würde.
Patrice de Broglie zog mit einer Gruppe ab, um seismische Untersuchungen durchzuführen, aber seiner Ansicht nach war es nur ein sehr schwacher Stoß gewesen, der Ausläufer eines weit entfernten Epizentrums.
Sallah konnte ihren Tanz mit Tarvi doch noch beenden, wenn auch nur, weil man ihm sagte, die Leute könnten unruhig werden, wenn zu viele Spezialisten verschwanden.
Am nächsten Morgen hatte man das Epizentrum festgestellt, es lag in östlicher bis nordöstlicher Richtung weit draußen im Ozean, wo schon das EV-Team vulkanische Aktivität festgestellt hatte. Da keine weiteren Stöße das Festland erschütterten, konnten die Geologen die leichte Unsicherheit zerstreuen, die das Dankfest getrübt hatte.
Als Tarvi sich bei Patrice meldete, um bei der Untersuchung des Epizentrums mitzuwirken, erklärte sich Sallah sofort bereit, den großen Schlitten zu fliegen. Es störte sie nicht einmal, daß die Maschine vollgepackt war mit neugierigen Geologen und ihren Geräten. Sie sorgte nur dafür, daß Tarvi den Sitz zur rechten Hand des Piloten einnahm.
Nach dem Dankfest kehrten die Kolonisten wieder an ihre Routinearbeiten zurück. Die Delphine hatten den größten Spaß dabei, die Tsunami-Welle zu verfolgen; wie Tarvi prophezeit hatte, war sie über das Nordmeer gerast und hatte ihre Gewalt größtenteils an den östlichen Vulkanhängen und an der Westspitze des Nordkontinents sowie auf der großen Insel ausgetobt. Jim Tilleks Hafenbucht hatte keinen Schaden gelitten, große Brecher hatten lediglich ein leuchtend rotes Stück Seetang weit auf den Strand hinaufgeschleudert. Etwas wie diese Tiefseepflanze hatte man bisher noch nicht entdeckt, und man brachte sofort Proben zur Analyse ins Labor. Eine eßbare Meerespflanze wäre sehr erwünscht gewesen.
Die Delphine waren äußerst erregt über das Erdbeben, denn die Reaktionen der größeren Meereslebewesen, die sich hastig in Sicherheit brachten, hatten es ihnen schon vorher angekündigt, und sie freuten sich, daß die Lebensformen in ihren neuen Ozeanen ein Gespür für derartige Gefahren zeigten. Teresa beklagte sich in entrüsteten Schnalz- und Zischlauten bei Efram, daß sie immer wieder die am Ende der Mole angebrachte Meeresglocke geläutet hätten, ohne daß jemand gekommen sei. Die Meeresaufseher hatten Mühe, die blauweißen Delphine und Tümmler zu beruhigen und zu beschwichtigen.
»Was hatte denn die ganze Mentasynthese für einen Sinn«, fragte Teresa, der größte der Blauweißen, »wenn ihr Menschen euch dann nicht einmal anhört, was wir euch zu sagen haben?«
Inzwischen wurden im Norden, am Fuß eines mächtigen Gebirgszugs Vorkommen von hochwertigem Kupfer-, Zinn- und Vanadiumerz analysiert. Zufällig befand sich der Fundort dicht an einem schiffbaren Fluß mit einer breiten Mündung, auf dem das Erz bis zum Meer gebracht werden konnte. Tarvi, inzwischen Leiter des gesamten Bergbauwesens auf Pern, hatte sich die Stelle zusammen mit dem Führer des betreffenden Teams angesehen, und die beiden hatten dem Rat empfohlen, dort eine zweite Siedlung zu errichten. Man konnte das Erz an Ort und Stelle aufbereiten und flußabwärts weiterbefördern, was viel Zeit, Mühe und Schwierigkeiten ersparen würde. Das Komitee für Energieversorgung hatte außerdem festgestellt, daß man aus den nahegelegenen Wasserfällen genügend Strom gewinnen konnte. Der Rat beschloß, die Sache bei der nächsten Monatsversammlung vorzutragen. Bis dahin sollten die Geologenteams die beiden Kontinente weiter erkunden.
Zu Land und zu Wasser gingen die Arbeiten gut voran. Weizen und Gerste gediehen; die meisten Knollengewächse entwickelten sich gut; zwar gab es Probleme mit mehreren Kürbissorten, aber das ließ sich durch Besprühen mit Nährlösung in Grenzen halten. Leider schienen die Wurzeln der Gurken und aller bis auf zwei Flaschenkürbisse für einen auf Pern heimischen Pilzwurm anfällig zu sein, und wenn es den Agronomen nicht gelang, ihn mit eigens gezüchteten Schmarotzern zu bekämpfen, würde man vielleicht die gesamte Familie der Cucurbitaceae verlieren. Die Technologen befaßten sich bereits mit diesem Problem.
Die Obstbäume hatten bis auf ein paar Exemplare von jeder Gattung geblüht und standen gut im Laub. Transplantate von zwei pernesischen Obstbaumsorten schienen sich in der Nähe der terrestrischen Exemplare besonders wohl zu fühlen, und die Technologen hofften auf eine Symbiose. Bei zwei pernesischen Nutzpflanzen gab es Anzeichen, daß sie von einem von den Menschen eingeschleppten Virus befallen waren, aber man konnte noch nicht sagen, ob sich daraus eine Symbiose oder eine Schädigung entwickeln würde. Für den Reisanbau geeignetes Land hatte man noch immer nicht gefunden, aber der Kartograph der Kolonie, der eifrig damit beschäftigt war, Sondenaufnahmen auf Landkarten zu übertragen, hielt es für möglich, daß man vielleicht in den südlichen Sumpfgebieten Erfolg haben könnte.
Joel Lilienkamp, der Magazinverwalter, meldete keine Probleme und bedankte sich bei allen, besonders bei den Kindern, weil sie so großartig gearbeitet und so viele eßbare Dinge herangeschafft hatten. Auch den Seeleuten sprach er seinen Dank aus. Einige der auf Pern heimischen fischähnlichen Wesen waren trotz ihres abstoßenden Aussehens sehr wohlschmeckend. Von neuem warnte er die Leute, sich vor den Flossen der Tiere in acht zu nehmen, die sie ›Packschwänze‹ getauft hatten, weil sich jede kleine Wunde sofort infizierte, wenn man damit in Berührung kam. Er würde gerne Handschuhe zur Verfügung stellen, nachdem die Plastikgruppe jetzt in der Lage war, eine feste, dünne Folie dafür zu produzieren.
Von der Zoologenfront berichteten Pol Nietro und Chuck Havers zurückhaltend über ihre Erfolge bei der Befruchtung und Paarung. Von jeder großen Tierart waren einige Exemplare trächtig, die ersten Truthahneier hatten allerdings nicht überlebt. Drei Hündinnen konnten jeden Augenblick werfen, und vier Kätzinnen hatten insgesamt siebzehn Junge zur Welt gebracht. Sechs weitere Hündinnen und die anderen Kätzinnen würden bald läufig beziehungsweise rollig sein, und dann würde man sie künstlich befruchten oder ihnen Embryos einpflanzen. Man hatte mit Bedauern darauf verzichtet, die Eridani-Techniken, besonders die Mentasynthese, auf die Hunde anzuwenden, weil es auf der Erde bei solchen Versuchen große Probleme gegeben hatte. Ein Teil des Tierbestandes und auch viele Menschen hatten Vorfahren, die auf diese Weise ›verändert‹ worden waren, und ihre Nachkommen zeigten noch immer eine starke empathische Veranlagung, was für Hunde offenbar unerträglich war.
Gänse, Enten und Hühner legten regelmäßig und bereiteten keine Schwierigkeiten. Man hielt sie in Freigehegen, denn sie waren noch zu wertvoll, um sie frei herumlaufen zu lassen, und die Gehege wurden von Erwachsenen wie von Kindern gerne besucht. Es dauerte fast sechs Wochen, bis die allesfressenden Wherries, wie das EV-Team die plumpen Flugwesen getauft hatte, diese neue Nahrungsquelle entdeckten und bis der Hunger die Oberhand über ihre Vorsicht - manche nannten es auch Feigheit - gewann. Aber als der Angriff schließlich erfolgte, war er verheerend.
Zum Glück befanden sich zu dieser Zeit dreißig der kleinen Zwergdrachen in Landing. Obwohl sie kleiner waren als ihre Gegner, waren sie in der Luft beweglicher und schienen sich irgendwie untereinander verständigen zu können.
Sobald ein Wherry vertrieben war, begleitete ihn ein Zwergdrache, im allgemeinen ein großer Bronzedrache, um sicher zu sein, daß er auch wirklich abzog, während die anderen Tiere ihren Genossen halfen, den nächsten Angreifer abzuwehren.
Sorka stand in der Zuschauermenge, und ihr fiel bei der standhaften Verteidigung der Zwergdrachen etwas sehr Merkwürdiges auf: Es sah fast so aus, als habe ihr Duke einen besonders aggressiven Wherry mit einer kleinen Flamme angegriffen. Jedenfalls stieg zwischen den Kämpfenden Rauch auf, und der Wherry ließ plötzlich von Duke ab und ergriff die Flucht. Es ging so schnell, daß sie nicht ganz sicher war, was sie wirklich gesehen hatte, und so sprach sie mit niemandem über das Phänomen.
Die Wherries waren stets von einer Wolke von Gestank begleitet, der an den Schwefelgeruch der Flußmündung oder der Schlammebenen erinnerte. Wenn sie gegen den Wind flogen, bemerkte man sie schon von weitem. Die Zwergdrachen rochen sauber nach Meer und Salz und manchmal, wie Sorka feststellte, wenn Duke sich auf ihrem Kissen zusammengerollt hatte, ein wenig nach Zimt und Muskat. Diese Gewürze würden freilich bald nur noch Erinnerungen sein, wenn man in den Treibhäusern keine besseren Resultate erzielte.
Für die Kolonisten war es keine Frage, daß die Zwergdrachen das Geflügel gerettet hatten.
»Bei allem, was mir heilig ist! Was wären das für Krieger«, erklärte Admiral Benden beeindruckt. Er und Emily Boll hatten den Angriff vom Wetterbeobachtungsturm aus gesehen und waren herbeigeeilt, um bei der Verteidigung zu helfen.
Obwohl die Siedler überrascht wurden, hatten sie sich Besen, Harken und Stöcke geschnappt - was eben zur Hand war - und waren zu den Gehegen geeilt. Die Feuerwehrleute - sie waren gut ausgebildet und hatten schon mehrere kleinere Brände löschen müssen - verjagten mit ihren Wasserschläuchen die wenigen Wherries, die den kleinen Verteidigern entkommen waren. Erwachsene und Kinder trieben das quäkende, verängstigte Federvieh in die Hütten zurück. Einen komischen Anblick, so erzählte Sorka später Sean, boten die würdigen Wissenschaftler bei ihren Bemühungen, die Küken zu fangen. Ein paar Leute trugen von den Klauen der Wherries Kratzer davon, aber es hätte mehr - und wahrscheinlich schlimmere Verletzungen gegeben, wenn die Zwergdrachen nicht eingegriffen hätten.
»Ein Jammer, daß sie nicht größer sind«, bemerkte der Admiral, »sie würden gute Wächter abgeben. Vielleicht könnten unsere Biogenetiker ein paar fliegende Hunde züchten.« Er deutete mit einer respektvollen Kopfbewegung auf Kitti und Windblüte Fing. Kitti Fing nickte frostig. »Diese Zwergdrachen haben nicht nur von sich aus die Initiative ergriffen, sondern, und das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist, sie haben sich auch untereinander verständigt. Habt ihr gesehen, wie sie eine Grenzwache aufgestellt haben? Und wie sie ihre Angriffe aufeinander abstimmten? Eine großartige Taktik. Ich selbst hätte es nicht besser machen können.«
Pol Nietro war von dem Vorfall ebenfalls beeindruckt. Er hatte gerade eine Phase eines geplanten Projekts abgeschlossen und war nicht der Typ, der sich dem Müßiggang hingab. Als daher wieder Ruhe eingekehrt war und man zuverlässige junge Kolonisten als Wachtposten eingesetzt hatte, falls sich der Angriff wiederholen sollte, machte er mit Boy einen Besuch am Asienplatz.
Mairi Hanrahan empfing ihn lächelnd. »Du hast Glück, Pol, sie ist zufällig zu Hause. Duke bekommt gerade eine Extramahlzeit als Belohnung, weil er den Geflügelhof so tapfer verteidigt hat.«
»Dann war er also dabei.«
»Sorka behauptet, daß er den Zwergdrachenschwarm anführte«, sagte Mairi leise, und mütterlicher Stolz ließ ihre Augen leuchten. Sie führte den Zoologen ins Wohnzimmer, das jetzt mit seinen hellen Vorhängen und den blühenden Topfpflanzen, einige einheimisch und andere offensichtlich aus irdischen Samen gezogen, sehr gemütlich wirkte. Mehrere Kupferstiche ließen die Wände weniger kahl erscheinen, und bunte Kissen machten die Plastikstühle bequemer.
»Ein Schwarm Zwergdrachen? So wie ein Rudel Löwen oder eine Herde Gänse? Ja, das ist eine gute Beschreibung«, sagte Pol Nietro und sah Mutter und Tochter mit funkelnden Augen an. »Bei einem ganz gewöhnlichen Schwarm von Iren gäbe es diese Art von Zusammenarbeit allerdings nicht.«
»Pol Nietro, wenn du hier irgendwie die Iren verunglimpfen willst…« grinste Mairi.
»Verunglimpfen, Mairi? Das ist doch gar nicht meine Art.« Pol zwinkerte ihr verschmitzt zu. »Aber dieser Zwergdrachenschwarm hat sich als sehr nützlich erwiesen. Es sah in der Tat so aus, als arbeiteten sie koordiniert auf ein gemeinsames Ziel hin. Besonders Paul Benden ist dies aufgefallen, und er will, daß Kitti und ich…«
Mairi packte ihn am Arm, ihr Gesicht verdüsterte sich. »Ihr werdet doch nicht…«
»Natürlich nicht, meine Liebe.« Er tätschelte ihr beruhigend die Hand.
»Aber ich glaube, Sorka und Duke könnten uns helfen, wenn sie wollen. Wir haben bereits eine ganze Menge Informationen über unsere kleinen Freunde zusammengetragen, aber eben haben wir erlebt, daß noch viel mehr in ihnen steckt. Wir wissen noch immer viel zuwenig. Geschöpfe, die so tückische Lufträuber wie die Wherries abwehren könnten, haben wir nicht mitgebracht.«
Sorka war dabei, den schon fast gesättigten Duke zu füttern, der aufrecht auf dem Tisch saß. Sein Schwanz lag auf der Platte, und die Spitze zuckte jedesmal sehr entschlossen, wenn er säuberlich einen Krümel entgegennahm, den Sorka ihm reichte. Er verströmte einen eigenartigen, nicht sonderlich angenehmen Duft, den sie mit Rücksicht auf seine Heldentaten zu ignorieren versuchte.
»Aha, der Diener erhält seinen Lohn«, sagte Pol.
Sorka sah ihn nachdenklich an. »Ich will ja nicht unverschämt sein, Sir, aber ich sehe Duke keineswegs als einen Diener an. Er hat doch wohl bewiesen, daß er uns ein wahrer Freund ist!« Sie machte eine Handbewegung, die die gesamte Siedlung einschloß.
»Er und seine… Heerscharen«, sagte Pol taktvoll, »haben uns heute ganz sicher ihre Freundschaft bewiesen.« Er setzte sich neben Sorka und beobachtete, wie der kleine Kerl das nächste Stückchen zwischen die Klauen nahm. Duke betrachtete den Krümel von allen Seiten, beschnüffelte ihn, leckte daran und nahm schließlich einen kleinen Bissen. Pol sah ihm bewundernd zu.
Sorka mußte lachen. »Er ist voll bis oben hin, aber einen Bissen abzulehnen, das kommt nicht in Frage.« Dann fügte sie hinzu: »Aber so viel wie früher frißt er nicht mehr. Jetzt braucht er nur noch eine Mahlzeit pro Tag, es könnte also sein, daß er bald ausgewachsen ist. Ich habe mir Notizen über sein Wachstum gemacht, Sir, er scheint tatsächlich genauso groß zu sein wie seine wilden Artgenossen.«
»Interessant. Bitte gib mir deine Aufzeichnungen, ich werde sie zu den Akten nehmen.« Pol rutschte ein wenig näher. »Weißt du, die Evolution hier ist wirklich faszinierend. Besonders, wenn sich herausstellen sollte, daß diese Planktonfresser, von denen die Delphine berichten, tatsächlich so etwas wie gemeinsame Vorfahren der Tunnelschlangen und der Zwergdrachen sind.«
Mairi war überrascht.
»Tunnelschlangen und Zwergdrachen?«
»Hmm, ja, denn hier auf Pern hat sich das Leben ebenso aus dem Meer entwickelt wie auf der Erde. Natürlich mit einigen Abweichungen.« Pol war fröhlich ins Dozieren geraten, und sein Publikum hörte ihm aufmerksam, wenn auch etwas ungläubig zu. »Ja, ein im Wasser lebender, aalähnlicher Vorfahre. Mit sechs Gliedmaßen. Die beiden vorderen«, - er zeigte auf den Zwergdrachen, der immer noch mit den Krallen seinen Krümel festhielt -, »waren ursprünglich als Fangnetze ausgebildet. Man sieht noch, wie sich die Vorderklaue gegen die statischen Hinterklauen bewegt. Bei den Zwergdrachen wurden die Netze durch drei Finger ersetzt, sie haben sich auch für Flügel entschieden anstelle der stabilisierenden Mittelflossen, während das hintere Gliedmaßenpaar der Vorwärtsbewegung dient. Bei unserer Tunnelschlange, die sich an das Leben auf dem Trockenen angepaßt hat, entwickelten sich aus den vorderen Gliedmaßen Grabwerkzeuge, das mittlere Paar dient weiterhin der Stabilisierung, und mit den hinteren Gliedmaßen steuert sie oder hält sich fest. Ja, ich bin ziemlich sicher, daß die Planktonfresser den Vorfahren unserer lieben Freunde hier sehr ähnlich sind.« Pol strahlte Duke an, der gemächlich einen neuen Krümel von Sorka entgegennahm. »Aber…« Er zögerte.
Sorka wartete höflich, sie wußte ja, daß der Zoologe mit seinem Besuch einen bestimmten Zweck verfolgte.
»Kennst du vielleicht zufällig ein unberührtes Nest?« fragte er schließlich.
»Ja, Sir, aber es ist kein großes Gelege, und die Eier sind kleiner als viele andere, die ich gesehen habe.«
»Na ja, vielleicht gehören sie einem der kleineren grünen Weibchen«, meinte Pol. »Nun, da die Grünen nicht so besorgt um ihre Nester sind wie die Goldenen, wird sie nicht allzusehr darunter leiden, wenn wir uns ein paar Eier ausborgen. Aber ich wollte dich noch um einen zweiten, größeren Gefallen bitten. Ich kann mich gut daran erinnern, daß du erzählt hast, du hättest den Körper eines Nestlings im Wasser gesehen. Passiert so etwas häufig?«
Sorka überlegte und begann dann in dem gleichen sachlichen Tonfall zu erklären: »Ich glaube schon. Manche von den Nestlingen schaffen es einfach nicht. Entweder bekommen sie nicht genug zu fressen, um das Trauma des Ausschlüpfens zu überwinden -« Sie war so vertieft, daß sie gar nicht bemerkte, wie ein schwaches Lächeln um Pol Nietros Mundwinkel zuckte. »- oder sie werden von Wherries getötet. Kurz vor dem Ausschlüpfen bringen die älteren Zwergdrachen nämlich Seetang und bauen damit einen Ringwall um das Gelege, und dann bieten sie den Nestlingen Fische und Krabbelgetier an und alles, was sie sonst finden können.«
»Hm, das ist eindeutig eine Prägung«, murmelte Pol.
»Wenn die Kleinen ihren Bauch gefüllt haben, sind auch die Flügel trocken, und sie können mit dem Rest des Schwarms davonfliegen. Die älteren Zwergdrachen halten inzwischen alle Schlangen und die Wherries fern, um den Kleinen eine Chance zu geben. Aber einmal hat Sean ein aalähnliches Wesen gesehen, das bei Flut aus dem Meer heraus angriff. Dieser Nestling hatte keine Chance.«
»Sean ist dein so schwer zu fassender, aber oft erwähnter Verbündeter?«
»Ja, Sir. Wir beide haben gemeinsam das erste Nest entdeckt und es bewacht.«
»Meinst du, er würde uns helfen, Nester und… die Nestlinge zu finden?«
Sorka sah den Zoologen lange prüfend an. Er hatte bisher immer sein Wort gehalten, und an jenem ersten Tag, als sie Duke nach Hause brachte, war er sehr rücksichtsvoll gewesen. Sie entschied, daß er vertrauenswürdig sei, aber sie dachte auch daran, daß er in Landing großen Einfluß hatte und vielleicht einiges für Sean tun konnte.
»Wenn Sie mir versprechen, versprechen - ich müßte mich für Sie verbürgen -, daß seine Familie eines der ersten Pferde bekommt, wird er Ihnen fast nichts abschlagen.«
»Sorka!« Mairi schämte sich für ihre Tochter. Das Mädchen verbrachte wirklich zuviel Zeit mit diesem Jungen, und er hatte einen schlechten Einfluß auf sie. Zu ihrer Verwunderung lächelte Pol jedoch belustigt und streichelte Sorkas Arm.
»Laß gut sein, Mairi, deine Tochter hat einen wachen Instinkt. Solche Tauschgeschäfte sind auf Pern allgemein üblich.« Er wandte sich mit gebührendem Ernst wieder an Sorka. »Er ist einer von den Connells, nicht wahr?« Als sie feierlich nickte, fuhr er energisch fort: »Ich kann dir versichern, daß ihr Name als erster auf der Liste derer steht, die Pferde erhalten sollen. Oder Ochsen, wenn ihnen das lieber ist.«
»Pferde. Sie haben immer Pferde gehabt«, erklärte Sorka eifrig.
»Und wann kann ich mit diesem jungen Mann ein paar Worte sprechen?«
»Wann immer Sie wollen, Sir. Wäre Ihnen heute abend recht? Ich weiß, wo Sean dann wahrscheinlich ist.« Wie sie es ihr ganzen Leben lang gewohnt war, bat sie ihre Mutter mit einem Blick um Erlaubnis. Mairi nickte.
Auf Befragen erklärte auch Sean, daß es in der Nähe nur Eier von Grünen gebe, deutete aber an, daß man gut daran täte, ziemlich weit von Landings vielbegangenen Stränden entfernt die Küste abzusuchen. Sorka hatte ihn am Felsenkopf gefunden, wo seine beiden Zwergdrachen in den seichten Tümpeln nach Fingerfischen suchten, die dort oft von der Flut angespült wurden.
»Dürfen wir dich bei diesem Unternehmen um deine Hilfe bitten, Sean Connell?« fragte Pol Nietro höflich.
Sean legte lässig den Kopf schief und sah den Zoologen lange und abschätzend an. »Was springt für mich heraus, wenn ich auf Eidechsenjagd gehe?«
»Zwergdrachen«, verbesserte Sorka entschieden.
Sean beachtete sie nicht. »Hier gibt es kein Geld, und mein Dad braucht mich im Lager.«
Sorka trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, sie war nicht sicher, ob der Wissenschaftler sich der Situation gewachsen zeigen würde. Aber Pol war nicht umsonst Leiter einer prestigeträchtigen Zoologieabteilung der riesigen Universität auf First gewesen, er hatte gelernt, mit empfindlichen, rechthaberischen Menschen umzugehen. Der junge Schurke, der ihn jetzt mit uralter, ererbter Skepsis beäugte, stellte nur eine etwas andere Facette eines wohlbekannten Problems dar. Jedem anderen Burschen hätte der Zoologe vielleicht angeboten, das abendliche Freudenfeuer zu entzünden, ein inzwischen heiß begehrtes Privileg, aber er wußte, daß Sean sich daraus nichts machen würde.
»Hattest du auf der Erde ein eigenes Pony?« fragte Pol, lehnte sich gegen einen Felsen und verschränkte seine kurzen Arme vor der Brust.
Sean nickte; die unerwartete Frage hatte seine Aufmerksamkeit geweckt.
»Erzähl mir von ihm!«
»Was gibt es da zu erzählen? Es ist schon lange geschlachtet worden, und wahrscheinlich sind auch die, die das Fleisch gegessen haben, jetzt ein Fraß für die Würmer.«
»War es in irgendeiner Weise ungewöhnlich? Außer für dich?«
Sean sah ihn von der Seite her nachdenklich an, dann warf er einen kurzen Blick auf Sorka, die keine Miene verzog. Sie würde sich nicht weiter einmischen; sie hatte bereits ein etwas schlechtes Gewissen, weil sie Pol Seans größten Wunsch verraten hatte.
»Es war ein Welsh Mountain mit einem Schuß Connemarablut. Von der Sorte gibt es nicht mehr viele.«
»Wie groß?«
»Vierzehn Handbreiten.« Sean sagte es fast mürrisch.
»Farbe?«
»Stahlgrau.« Sean runzelte die Stirn, sein Mißtrauen wuchs. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Weißt du, was ich auf diesem Planeten mache?«
»Tiere aufschneiden.«
»Das natürlich auch, aber daneben kombiniere ich verschiedene Dinge, darunter bestimmte Merkmale, Farbe, Geschlecht. Damit beschäftigen wir, meine Kollegen und ich, uns hauptsächlich. Durch eine gezielte Veränderung der Genstrukturen können wir herstellen, was der Kunde -« Pol deutete auf Sean, »- wünscht.«
Sean starrte ihn an, er verstand die Begriffe nicht ganz und wagte nicht zu hoffen, was Pol Nietro anzudeuten schien.
»Du könntest Cricket wiederbekommen, hier auf Pern«, sagte Sorka leise mit leuchtenden Augen. »Und er kann es wirklich. Er kann dir ein Pony verschaffen, das genauso ist wie Cricket.«
Sean hielt den Atem an, und sein Blick huschte hin und her zwischen ihr und dem alten Zoologen, der ihn mit größter Gelassenheit beobachtete. Dann deutete er mit dem Daumen auf Sorka. »Hat sie recht?«
»Damit, daß ich ein graues Pferd herstellen könnte - du gestattest mir vielleicht die Bemerkung, daß du für ein Pony inzwischen zu groß bist - mit allen körperlichen Merkmalen deines Cricket, ja, damit hat sie recht. Wir haben sowohl Sperma als auch befruchtete Eier von einer Vielzahl terrestrischer Pferderassen mitgebracht.
Ich weiß, daß wir die Genotypen sowohl der Welsh Mountains wie der Connemaras zur Verfügung haben. Beides sind ausdauernde, sehr anpassungsfähige Rassen. Die Sache ist ganz einfach.«
»Nur, damit ich Echseneier suche?« Seans angeborenes Mißtrauen war nicht so leicht einzuschläfern.
»Zwergdracheneier«, verbesserte ihn Sorka hartnäckig. Er sah sie finster an.
»Wir tauschen Eier gegen Eier, junger Mann. Ein faires Geschäft, inbegriffen ist ein Reitpferd aus deinem Ei, nach deinen Angaben maßgeschneidert, als Gegenleistung für die Zeit und die Mühe, die die Suche dich kostet.«
Sean warf noch einen Blick auf Sorka, die ihm ermunternd zunickte. Dann spuckte er in seine rechte Hand und reichte sie Pol Nietro. Ohne Zögern besiegelte der Zoologe den Handel.
Die Geschwindigkeit, mit der Pol Nietro eine Expedition organisierte, raubte vielen seiner Kollegen ebenso wie dem Verwaltungspersonal den Atem. Am nächsten Morgen hatte Jim Tillek sich bereiterklärt, ihnen unter der Bedingung, daß er als Kapitän mitfuhr, die Southern Cross zu überlassen. Man bat ihn, sie mit Vorräten für eine Küstenfahrt von längstens einer Woche auszurüsten; die Hanrahans und Porrig Connell hatten erlaubt, daß Sorka und Sean mitkamen; und Pol hatte Bay Harkenon überredet, ihr tragbares Mikroskop und einige Präparatenkästen, Objektträger und ähnliches Zubehör mitzunehmen. Zu Sorkas Überraschung und Seans Belustigung stand Admiral Benden an der Mole, um ihnen zu ihrem Unternehmen viel Glück zu wünschen, und half der Besatzung, die Heckleinen loszuwerfen. Mit diesem offiziellen Segen glitt die Southern Cross, von einer schönen, frischen Brise getrieben, aus der Bucht.
Für den auf dem Festland aufgewachsenen Sean war seine erste Seereise keineswegs ein Vergnügen, aber es gelang ihm, Angst und Übelkeit zu unterdrücken, weil er entschlossen war, sich sein Pferd zu verdienen und vor Sorka, die allem Anschein nach das Abenteuer genoß, keine Schwäche zu zeigen. Fast die ganze Reise über saß er mit dem Rücken an den Mast gelehnt auf Deck, das Gesicht nach vorne gerichtet, und streichelte seine braunen Zwergdrachen, die wohlig ausgestreckt auf den sonnenwarmen Brettern schliefen. Sorkas Duke blieb auf ihrer Schulter und stützte sich mit einer Klaue elegant gegen ihr Ohr, um das Gleichgewicht zu halten, während sein Schwanz leicht, aber fest um ihren Hals gewickelt war. Von Zeit zu Zeit drückte sie ihn beruhigend an sich, oder er gurrte ihr etwas ins Ohr, als sei er überzeugt, daß sie ihn verstand.
Die zwölf Meter lange Schaluppe Southern Cross konnte mit einer dreiköpfigen Besatzung gefahren werden, besaß acht Kojen und war sowohl als Forschungsschiff wie als schnelles Kurierboot zu verwenden. Jim Tillek war bereits in westlicher Richtung bis zu dem Fluß gesegelt, den sie ›Jordan‹ getauft hatten, und nach Osten, zusammen mit einer Gruppe, die die Vulkantätigkeit messen sollte, bis zu dem Inselvulkan, dessen Eruption das Dankfest gestört hatte. Er hoffte auf die Erlaubnis, eine noch längere Fahrt zu der großen Insel vor dem Nordkontinent unternehmen und das Delta des Flusses erforschen zu dürfen, auf dem das Erz oder das fertige Metall von dem geplanten Bergwerk zur See befördert werden sollte. Wie er der gebannt lauschenden Sorka erzählte, hatte er alle Meere und Ozeane der Erde befahren, wenn er als Kapitän eines Handelsschiffes im Asteroidengürtel Urlaub hatte, und war alle schiffbaren Flüsse hinaufgesegelt: den Nil, die Themse, den Amazonas, den Mississippi, den Lorenzstrom, den Columbia, den Rhein, die Wolga, den Jangtse und andere, weniger bekannte Wasserstraßen.
»Natürlich habe ich das alles nicht berufsmäßig gemacht, und auf First hatte man noch keine Verwendung für einen Segler, deshalb war diese Expedition für mich sozusagen die Chance, mein Hobby zum Beruf zu machen«, vertraute er ihr an. »Ich bin verdammt froh, daß ich hier bin!« Er nahm einen tiefen Atemzug. »Die Luft ist phantastisch. Wie früher auf der Erde. Wir dachten immer, es sei das Ozon! Atme mal tief durch!«
Sorka gehorchte gern. In diesem Augenblick kam Bay Harkenon aus der Kajüte; sie sah viel besser aus als vorhin, als sie hastig hinuntergestiegen war, um mit ihrer Übelkeit allein zu sein.
»Die Tablette hat also gewirkt?« erkundigte sich Jim Tillek besorgt.
»Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden«, sagte die Mikrobiologin mit einem zittrigen, aber dankbaren Lächeln. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß ich anfällig für Kinetose bin.«
»Sind Sie schon mal gesegelt?«
Bay schüttelte den Kopf, daß die dichten, grauen Locken um ihre Schultern schwangen.
»Woher sollten Sie es dann auch wissen?« fragte er liebenswürdig. Er blinzelte in die Ferne, wo bereits die Halbinsel und die Mündung des Jordanflusses zu erkennen waren. Backbord beherrschte der hoch aufragende Mount Garben - nach dem Senator benannt, der so tatkräftig mitgeholfen hatte, der Expedition die Wege durch das Labyrinth der Bürokratie der Konföderation Vernunftbegabter Rassen zu ebnen - die Landschaft, sein Kegel zeichnete sich scharf vor dem hellen Morgenhimmel ab. Es gab Bestrebungen, seine drei kleineren Gefährten nach Shavva, Liu und Turnien zu nennen, den Angehörigen des ersten EV-Landeteams, aber bisher war bei den monatlichen Namensgebungsversammlungen, die nach den förmlicheren, offiziellen Sitzungen des Rates am abendlichen Lagerfeuer abgehalten wurden, noch keine Entscheidung gefallen.
Kapitän Tillek wandte sich den Karten zu und maß mit seinem Stechzirkel den Abstand von der Mole bis zur Flußmündung und von dort bis zum Festland dahinter.
»Warum hören die Farben hier auf?« fragte Sorka, als sie bemerkte, daß der größte Teil der Karte nicht koloriert war.
Mit anerkennendem Grinsen klopfte er auf das Blatt. »Die hat Fremlich nach den Sondenbildern für mich gezeichnet, und bisher hat sie bis auf den letzten Zentimeter gestimmt, aber wenn wir selbst über das Festland gehen oder an der Küste entlang segeln, setze ich die jeweils passenden Farben ein. Eine gute Möglichkeit, um festzuhalten, wo wir schon gewesen sind und was noch aussteht. Ich habe Anmerkungen über die vorherrschenden Winde und die Strömungsgeschwindigkeiten hinzugefügt, die vielleicht einem Seemann nützlich sein könnten.«
Erst jetzt bemerkte Sorka auch diese Zeichen. »Sehen ist eine Sache, Wissen eine andere, nicht wahr?«
Er zog an einem ihrer tizianroten Zöpfe. »Eigentlich ist das entscheidende, dortgewesen zu sein.«
»Und wir sind - hier - wirklich die ersten Menschen?« Sie deutete mit der Spitze ihres Zeigefingers auf die Halbinsel.
»Ganz bestimmt«, versicherte Tillek tief zufrieden.
Jim Tillek war in seinem Leben, das bereits sechs Jahrzehnte umfaßte, noch nie so ausgefüllt und glücklich gewesen. Seine Liebe zur See und zu Schiffen hatte ihn in der High-Tech-Gesellschaft stets zum Außenseiter gemacht, und die monotone Asteroidengürtelstrecke - zu mehr hatte er es dank seines Mangels an Takt oder dank seiner unerschütterlichen Aufrichtigkeit nie gebracht - hatte ihn gelangweilt. Für Tillek war Pern genau richtig, und jetzt bekam alles noch einen zusätzlichen Reiz, weil er als einer der ersten die Ozeane befahren und ihre Besonderheiten entdecken durfte. Er war ein kräftiger, mittelgroßer Mann mit hellblauen, scharfen Augen und sah mit seiner Schirmmütze, die er bis über die Ohren heruntergezogen hatte, und in dem alten Pullover aus Guernsey-Wolle, den er gegen den kräftigen, etwas kühlen Morgenwind trug, wie das Urbild eines Seekapitäns aus. Obwohl er die Southern Cross auf Knopfdruck elektronisch aus dem Cockpit hätte steuern können, zog er das Ruder vor und verließ sich lieber auf sein Gefühl für den Wind, wenn es darum ging, die Segel zu brassen. Seine Besatzung war vorne, machte auf den Plasiplex-Decks klar Schiff und erledigte die sonstigen auf dem kleinen Boot anfallenden Routinearbeiten.
»Wir werden in der Abenddämmerung anlegen, wahrscheinlich etwa hier, wo auf der Karte eine tief eingeschnittene Hafenbucht verzeichnet ist. Wieder etwas zum Anmalen. Vielleicht finden wir dort auch, was wir suchen.« Er zwinkerte Sorka und Bay Harkenon zu.
Als die Southern Cross in sechs Faden Tiefe verankert war, brachte Jim Tillek den Trupp mit dem kleinen Motorboot ans Ufer. Sean, der für eine Weile von der Gesellschaft der anderen genug hatte, schickte Sorka nach Osten auf die Suche nach Zwergdrachennestern, während er selbst am Strand entlang nach Westen ging. Seine beiden Braunen kreisten über seinem Kopf und stießen fröhliche Schreie aus. Jim Tillek war verärgert, weil Sean das Mädchen so herumkommandierte, und wollte sich den Burschen schon vornehmen, aber Pol Nietro warf ihm einen warnenden Blick zu, und der Kapitän fügte sich. Sean verschwand schon in den dichten Büschen, die den Strand säumten.
»Wenn ihr zurückkommt, gibt es eine warme Mahlzeit«, rief Pol den beiden Kindern nach. Sorka winkte zurück.
Als sie in der Abenddämmerung zu dem versprochenen Essen zurückkehrten, hatten beide Erfolge zu melden.
»Ich glaube, die ersten drei, die ich gefunden habe, sind nur von Grünen«, sagte Sorka ruhig, aber bestimmt. »Für eine Goldene sind sie viel zu dicht am Wasser. Duke ist der gleichen Meinung. Er mag die Grünen anscheinend nicht. Aber das Gelege, das am weitesten weg war, liegt hoch über der Hochwasserlinie, und die Eier sind größer. Ich glaube, sie werden bald ausschlüpfen, weil sie schon so hart sind.«
»Zwei grüne Gelege, und bei zweien bin ich sicher, daß es goldene sind«, sagte Sean knapp, machte sich über das Essen her und hielt nur inne, um seinen beiden Braunen ihren Anteil zu geben. »Es sind auch viele in der Gegend. Wollen Sie alle mitnehmen, die Sie finden können?«
»Du lieber Himmel, nein!« Pol warf bestürzte beide Hände hoch. Sein weißes Haar, drahtig und dicht, stand wie ein Heiligenschein um seinen Kopf und ließ ihn so gütig aussehen, wie er auch tatsächlich war. »Diesen Fehler werden wir auf Pern nicht machen.«
»O nein, niemals«, bestätigte Bay Harkenon und beugte sich zu Sean, als wolle sie ihm beruhigend auf die Schulter klopfen.
»Bei unseren Untersuchungsmethoden brauchen wir nämlich nicht mehr unzählige Exemplare, um unsere Schlußfolgerungen zu bestätigen.«
»Exemplare?« Sean runzelte die Stirn, und Sorka machte ein ängstliches Gesicht.
»Vertreter wäre vielleicht ein besserer Ausdruck.«
»Und wir würden die Eier verwenden… natürlich von der Grünen«, fügte Pol schnell hinzu, »da die grünen Weibchen keine so starken mütterlichen Gefühle zu haben scheinen wie die goldenen.«
Sean war verwirrt. »Sie wollen gar keine Eier von einer Goldenen?«
»Nicht alle«, wiederholte Bay eindringlich. »Und nur einen toten Nestling von den anderen Farben, wenn das möglich ist. Von den Grünen sind mehr als genug umgekommen.«
»Die kriegt man auch erst, wenn sie tot sind«, murmelte Sean.
»Wahrscheinlich hast du recht«, seufzte Bay. Sie war eine stattliche Frau Ende der Fünfzig, aber noch kräftig und beweglich genug, um die Expedition nicht zu behindern. »Ich habe noch nie eine enge Beziehung zu einem Tier aufbauen können.« Sie betrachtete wehmütig Sorkas Bronzedrachen, der völlig entspannt um den Hals des Mädchens lag und schlief, seine Beine hingen vor ihrem Oberkörper herab, und der schlaffe Schwanz reichte ihr fast bis zur Taille.
»Wenn ein Zwergdrache geboren wird, ist er so hungrig, daß er Futter nimmt, wo immer er es herbekommt«, sagte Sean betont taktlos.
»Oh, ich glaube nicht, daß ich jemanden so berauben…«
»Angeblich sind wir hier doch alle gleich, oder nicht?« fragte Sean. »Dann haben Sie auch die gleichen Rechte wie jeder andere.«
»Gut gesagt, Kleiner«, lobte Jim Tillek. »Gut gesagt!«
»Wenn die Zwergdrachen nur ein wenig größer wären«, murmelte Pol, mehr zu sich selbst als zu den anderen, und dann seufzte er.
»Was wäre, wenn die Zwergdrachen ein wenig größer wären?« fragte Tillek.
»Dann wären sie den Wherries gewachsen.«
»Das sind sie jetzt auch!« behauptete Sean loyal und streichelte einen von seinen Braunen. Wenn er ihnen Namen gegeben hatte, so behielt er sie für sich. Er hatte ihnen beigebracht, verschiedene Pfiffe zu verstehen und sie auch zu befolgen. Sorka wagte nicht, ihn zu fragen, wie er das gemacht hatte. Nicht, daß Duke jemals ungehorsam gewesen wäre - er mußte nur erst einmal begreifen, was sie von ihm wollte.
»Vielleicht hast du recht«, sagte Pol mit leichtem Kopfschütteln.
»Man sollte nicht leichtfertig herumpfuschen. Du weißt, wie viele Versuche fehlschlagen oder zu Mißgeburten führen.« Bay lächelte, um ihren Worten den Stachel zu nehmen.
»Mißgeburt?« Sean horchte auf.
»Sie hat doch nicht dich gemeint, Dummkopf«, flüsterte Sorka.
»Warum sollte man Wesen… äh… manipulieren«, fragte Jim Tillek, »die es jahrhundertelang recht gut geschafft haben, sich zu verteidigen. Und jetzt auch uns.«
»Aus dem ganzen Eintopf der Schöpfung überleben nur wenige Arten, und oft sind es nicht die offensichtlich besser konstruierten oder an die Umwelt angepaßten«, erklärte Pol mit einem langen, geduldigen Seufzer. »Es erstaunt mich immer wieder, wenn ich sehe, wer das Evolutionsrennen gewinnt und der Vorfahre einer großen, neuen Gruppe wird. Ich hätte auf einem anderen Planeten nie eine Lebensform erwartet, die unseren Wirbeltieren so nahesteht wie die Wherries oder die Zwergdrachen. Aber der merkwürdigste Zufall ist doch, daß unsere Geschichtenerzähler sich so oft ein vierbeiniges Geschöpf mit zwei Flügeln ausgemalt haben, obwohl es auf der Erde niemals existierte. Hier ist es, Hunderte von Lichtjahren entfernt von den Leuten, die es sich nur vorgestellt haben.« Er deutete auf den schlafenden Duke. »Bemerkenswert. Und nicht so schlecht konstruiert wie die alten chinesischen Drachen.«
»Schlecht konstruiert?« fragte der Seemann belustigt.
»Na, sehen Sie ihn doch an. Sowohl Vordergliedmaßen als auch Flügel zu haben, ist eine Redundanz. Die Vögel auf der Erde haben ihre Vordergliedmaßen zugunsten von Flügeln aufgegeben, nur ein paar haben noch rudimentäre Klauen, wo einst die Zeigefinger waren, ehe das Glied sich zu einem Flügel entwickelte. Ich gebe zu, daß ein gewölbtes Hinterglied nützlich ist, um vom Boden abzuspringen - und die Hinterbeine der Zwergdrachen sind sehr kräftig, ihre Muskeln reichen bis zum Rücken und stützen ihn -, aber dieser lange Rücken ist verwundbar. Ich frage mich, wie sie es mit ihrem Körperbau vereinbaren können, so lange reglos aufrecht zu sitzen.« Pol betrachtete den schlafenden Duke und berührte seinen schlaffen Schwanz. »Eine leichte Verbesserung gibt es: die Ausscheidungsöffnung liegt in der Schwanzgabel anstatt darunter. Und die Nüstern und die Lungen sind rückenständig, unbedingt ein Vorteil. Wir Menschen sind nämlich sehr schlecht konstruiert«, fuhr er fort, glücklich, einer gebannt lauschenden Zuhörerschaft seine Lieblingsklage vorführen zu können.
»Ich meine, Sie begreifen doch sicher, wie absurd es ist, eine Luftröhre zu haben«, - er griff sich an die Nase -, »die die Speiseröhre kreuzt.« Er berührte seinen sehr ausgeprägten Adamsapfel. »Ständig ersticken Menschen. Und einen verletzlichen Schädel: ein ordentlicher Schlag, und die Gehirnerschütterung kann zu dauernder Behinderung, wenn nicht zum Tode führen. Bei den Weganern liegt das Gehirn in einem festen Sack in der Bauchhöhle und ist gut geschützt. Ein Weganer kann nie eine Gehirnerschütterung bekommen.«
»Ich habe aber in der Mitte lieber Bauchschmerzen, als Kopfschmerzen«, scherzte Tillek. »Außerdem sind nach allem, was ich gesehen habe, ein paar andere Dinge bei den Weganern äußerst unpraktisch angelegt, besonders die Sexual- und Fortpflanzungsorgane.«
Pol schnaubte verächtlich. »Sie finden es also vernünftiger, die Spielwiese zwischen den Kloaken anzusiedeln?«
»Das habe ich nicht gesagt, Pol«, antwortete Jim mit einem hastigen Blick auf die beiden Kinder, die freilich die Erwachsenen gar nicht beachteten. »Für uns ist es aber doch etwas handlicher.«
»Und verletzlicher. Ach du meine Güte, jetzt bin ich schon wieder mitten im Dozieren. Aber es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie man uns Menschen entscheidend verbessern könnte…«
»Aber das tun wir doch, nicht wahr, mein lieber Pol?« fragte Bay freundlich.
»O ja, mit den Mitteln der Kybernetik und in vitro können wir gewisse grobe genetische Fehler korrigieren. Sicher, wir dürfen die Mentasynthese der Eridani verwenden, obwohl ich persönlich nicht sicher bin, ob unsere Reaktion darauf ein Segen ist oder nicht. Die Leute fühlen sich zu sehr in ihre Versuchstiere ein. Aber natürlich können wir dank der Gesetze, die die Fraktion Reinrassiger Menschen erzwungen hat, um drastische Veränderungen auszuschließen, noch nicht viel machen.«
»Wer würde das auch wollen?« fragte Tillek stirnrunzelnd.
»Wir bestimmt nicht«, versicherte Bay ihm hastig. »Dafür besteht auf dieser Welt kein Bedarf. Aber ich finde manchmal, die Fraktion Reinrassiger Menschen hat einen Fehler gemacht, als sie sich gegen Veränderungen stellte, die es den Menschen gestattet hätten, auf den Wasserwelten in Ceti IV zu leben. Lungen gegen Kiemen auszutauschen und Schwimmhäute an Händen und Füßen zu erzeugen, ist keine so entscheidende und gotteslästerliche Veränderung. Der Foetus durchläuft in utero eine ähnliche Phase, und es gibt stichhaltige Gründe für die Annahme, daß in der Vergangenheit auch die Erwachsenen noch viel mehr an das Leben im Wasser angepaßt waren. Man muß sich nur vorstellen, wie viele Planeten dem Menschen offenstünden, wenn wir uns nicht auf Landgebiete beschränken müßten, die unseren Anforderungen in bezug auf Schwerkraft und Atmosphäre entsprechen! Es wäre ja schon ein Fortschritt, wenn wir spezielle Enzyme für einige der gefährlicheren Gase herstellen könnten. Die Zyanide haben uns schon so viele Planeten verschlossen. Warum…« Sie rang die Hände, weil ihr die Worte fehlten.
Sean beobachtete die beiden Spezialisten mit einigem Argwohn.
»Lagerfeuergeschwätz«, erklärte Sorka weise. »Das ist nicht ernst gemeint.«
Sean schnaubte verächtlich, rückte vorsichtig seine zwei Braunen zurecht und erhob sich. »Ich möchte morgen aufstehen, ehe es hell wird. Das ist die beste Zeit, um die Zwergdrachen beim Fressen zu erwischen und zu sehen, wer die Nester bewacht.«
»Ich auch«, sagte Sorka und stand auf.
Tillek hatte weit über der Hochwasserlinie Hütten errichtet, als Schutz gegen plötzliche Windstöße, wie sie für den Frühsommer offenbar charakteristisch waren. Die Schlafsäcke waren innen mit Thermodecken ausgekleidet, und Sorka kroch dankbar hinein. Ohne aufzuwachen, paßte sich Duke ihrer neuen Stellung an. Das Einschlafen fiel ihr nicht schwer, denn der Strand schien eine Weile unter ihr zu schwanken und die Bewegung der Wellen nachzuahmen.
Ein kleines, warnendes Zirpen von Duke weckte sie. Die Erwachsenen schnarchten, aber als ihre Augen sich an die frühmorgendliche Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, wie Sean sich erhob. Sie konnte undeutlich erkennen, wie er den Kopf erst zu ihr und dann nach Westen drehte. Mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen kroch er zur erloschenen Feuerstelle, kramte leise in den Vorratssäcken und nahm mehrere Dinge heraus, die er in sein Hemd steckte.
Sorka wartete, bis er außer Sicht war, dann erhob sie sich. Sie steckte eine Schachtel mit Proviant und eine der vor dem Abendessen gesammelten Rotfrüchte ein und hinterließ den Erwachsenen auf einem Zettel die Nachricht, sie und Sean wollten nach den Nestern sehen und würden bald nach dem Morgengrauen zurückkehren, um Meldung zu machen.
Während sie am Strand entlanglief, aß sie die Rotfrucht und spuckte dabei ein verdorbenes Stück aus, wo sich Schimmel gebildet hatte, genau wie sie früher auf der Erde Falläpfel gegessen und das Braune weggeworfen hatte. Ein kleines Stück von den beiden Nestern entfernt hatte sie kleine Häufchen aus weißen, vom Wasser glattgeschliffenen Steinen aufgeschichtet, um die Gelege finden zu können, ohne hineinzutreten. Die beiden ersten entdeckte sie auch ohne Mühe, dann eilte sie zu dem dritten, das sie für das Nest eines goldenen Zwergdrachen hielt. Am östlichen Horizont zeigte sich ein schwacher Lichtschein, und sie wollte in den Büschen versteckt sein, ehe der Tag wirklich anbrach.
Es war ein herrliches Gefühl, ganz allein in einem Teil der Welt zu sein, den noch nie ein menschlicher Fuß betreten hatte und wo keine Gefahr drohte. Sorka hatte die Protokolle und Landkarten des EV-Teams oft genug studiert, um zu wissen, daß diese unerschrockenen Leute nie an diesem Strand gewesen waren. Sie war wie verzaubert und seufzte vor Glück. Ihr alter Wunsch, einem bestimmten Platz ihren Namen zu geben, war durch einen anderen Traum abgelöst worden; sie wollte den schönsten Fleck auf der neuen Welt entdecken, einen wirklich einmaligen Ort, der die Menschen später auch an sie erinnern würde. Noch besser wäre es, wenn die Kolonisten den Wunsch verspürten, einen Berg, einen Fluß oder ein Tal nach Sorka Hanrahan zu benennen, weil sie irgendeine besondere Tat vollbracht hatte.
Sie war so in ihren Träumereien gefangen, daß sie fast über den Steinhügel gestolpert und in das halbvergrabene Gelege getreten wäre. Duke warnte sie gerade noch rechtzeitig mit einem Piepsen.
Sie streichelte dankbar seinen kleinen Kopf. Wenn sie etwas an Duke verändern könnte, dann würde sie ihm die Fähigkeit zu sprechen geben. Sie hatte gelernt, seine verschiedenen Laute zutreffend zu deuten, und konnte auch verstehen, was andere Zwergdrachen zu ihren Besitzern sagten, aber es wäre noch schöner, wenn sie sich mit Duke in einer gemeinsamen Sprache verständigen könnte. Jemand hatte jedoch gesagt, Wesen mit gespaltenen Zungen seien unfähig zu sprechen, und sie wollte auch auf keinen Fall, daß Duke drastisch verändert wurde schon gar nicht seine Größe, denn dann könnte er nicht mehr so bequem auf ihrer Schulter sitzen.
Vielleicht sollte sie sich einmal mit den Meeresaufsehern unterhalten, die mit den Delphinen arbeiteten. Diese Tiere verständigten sich untereinander über komplexe Sachverhalte, und es war doch durchaus möglich, daß das auch die Zwergdrachen taten. Man brauchte sich nur anzusehen, wie sie die Wherries verjagt hatten. Sogar Admiral Benden war es aufgefallen.
Bei dem Gedanken an den Helden von Cygnus fiel ihr ein, daß auch sie Vorsicht walten lassen und ihre Spuren beseitigen mußte. Die goldenen Zwergdrachen waren sehr viel klüger als die dummen grünen. Sie suchte sich einen dicht belaubten Ast und verwischte damit ihre Fußabdrücke im trockenen Sand. Dann kroch sie ins Gestrüpp und suchte sich eine Stelle, von der sie das Nest und den Strand im Blickfeld hatte, ohne von dort gesehen zu werden.
Mit dem ersten Tageslicht ertönte ein fröhlicher Morgenchor, und ein Schwarm von Zwergdrachen stieß auf den Strand herab. Nur das goldene Weibchen näherte sich dem Nest; die anderen, Braune, Bronzefarbene und Blaue, hielten taktvoll Abstand. Ihre Körper hoben sich scharf vom weißen Sand ab, und Sorka konnte sie gut beobachten. Das goldene Weibchen war das größte, es überragte die kräftigen Bronzenen um zwei Fingerspannen. Ein oder zwei Braune reichten fast an die Bronzenen heran. Die eindeutig kleineren Blauen bewegten sich mit schnellen, nervösen Schritten, wühlten im Seetang, sortierten einige Wedel aus und zerrten andere mit zufriedenem Zirpen zum Nest. Die Bronzefarbenen und Braunen schienen murmelnd und piepsend etwas zu besprechen, während sich die Blauen offenbar nur für eßbare Dinge interessierten. Jetzt wurde das Nest mit einem Seetangwall umgeben. Als es fertig war, wurden die Braunen und Bronzefarbenen aktiv und begannen eifrig das zappelnde Meeresgetier zu sammeln, genau wie damals, als Duke ausgeschlüpft war.
Mit einem herrischen Kreischen erhob sich das goldene Weibchen vom Nest, fegte dicht über die Köpfe der Braunen und Bronzefarbenen hinweg, schlug mit den Flügeln nach den Blauen und raste auf das Meer zu. Die anderen folgten ihr flink, aber mit weniger anmutigen Bewegungen, wie Sorka fand. Sie schwebten über der sanften Brandung, stießen plötzlich mit triumphierendem Zirpen auf die Wellen hinab und schnappten nach Fischen. Auf einmal waren sie alle verschwunden. Eben waren sie noch über dem Ozean geflattert, im nächsten Augenblick war kein einziger Zwergdrachenkörper mehr am Himmel zu sehen. Sorka blinzelte verdutzt.
Dann hatte sie eine Idee: Wenn die Jungen so kurz vor dem Ausschlüpfen standen, konnte sie doch ein Ei noch rechtzeitig zu Bay Harkenon bringen. Wenn Bay das Junge dann fütterte, hätte sie endlich ein eigenes Tier. Die Wissenschaftlerin war nett und freundlich, gar nicht so verknöchert wie manche der anderen Bereichsleiter, und sie würde einen Zwergdrachen sicher wie einen Gefährten behandeln.
Sorka überlegte nicht lange. Mit einem Satz sprang sie aus ihrem Versteck zum Nest, packte das nächstgelegene Ei auf dem Stapel und rannte, so schnell sie konnte, wieder ins Unterholz.
Sie war gerade verschwunden, die Äste schwankten noch, als die Zwergdrachen zurückkamen, offenbar in noch größerer Zahl als zuvor. Die kleine Goldene landete direkt neben den Eiern, während die Bronzefarbenen, Braunen und Blauen hilflos zuckende Fische innerhalb des Seetangwalls ablegten. Plötzlich setzte der Begrüßungsgesang ein, und Sorka war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, den magischen Augenblick des Ausschlüpfens zu beobachten und der Notwendigkeit, das gestohlene Ei rechtzeitig zu Bay zu bringen. Sie hatte es unter ihren Pullover geschoben, um es zu wärmen und zu beschützen, und jetzt spürte sie, wie es sich an ihrem Körper bewegte.
»Keinen Laut, Duke!« zischte sie streng, als sie hörte, wie es in Dukes Brust zu grummeln begann. Sie nahm sein kleines Maul zwischen die Finger und starrte ihm fest in die Facettenaugen, die jetzt in fröhlichen Farben zu schillern begannen. »Sonst bringt sie mich um!«
Er hatte verstanden und schmiegte sich fester an sie, krallte sich mit seinen scharfen Klauen in ihr Haar und drückte sein Gesicht an ihren Zopf. Sie kroch rückwärts vom Strand weg, bis sie sich so weit entfernt hatte, daß sie aufzustehen wagte. Ranken und Äste wickelten sich um ihre Füße, als sie zu laufen begann, und schrecklich viele Dornbüsche und Nadelgewächse stellten sich ihr in den Weg. Aber sie ließ sich nicht entmutigen und stürmte weiter.
Als sie die Schreie der Zwergdrachen nicht mehr hören konnte, wandte sie sich nach Westen und kämpfte sich wieder zum Strand durch. Sie rannte über den Sand, so schnell sie konnte, ohne auf die Stiche in ihrer Seite zu achten; sie dachte nur an das Ei, das wild gegen ihre Rippen pochte. Duke kreiste über ihrem Kopf und jammerte ängstlich, aber mit gehorsam gedämpfter Stimme.
Jetzt konnte das Lager nicht mehr weit sein. War der Steinhügel, an dem sie eben vorübergekommen war, der erste oder der zweite? Sie stolperte, und Duke schrie erschrocken auf, ein schrilles, durchdringendes Kreischen, als litte er Höllenqualen; so hatten einst die Pfauen auf der Farm ihres Vaters geschrien. Der kleine Kerl stieß herab und zerrte energisch an ihrer Schulter, als könne er sie stützen.
Sein Geschrei hatte die Schläfer geweckt. Als erster rappelte sich Jim Tillek auf und machte, die Füße noch in den Schlafsack verwickelt, ein paar Schritte. Pol und Bay wurden erst munter, als sie Sorka erkannten.
Ohne Tilleks erregte Fragen und seine hilfreich ausgestreckten Hände zu beachten, stolperte Sorka auf die rundliche Mikrobiologin zu, ließ sich erschöpft auf die Knie fallen und zerrte ungeschickt an ihrem Pullover, um das Ei zu befreien, denn sie spürte, wie die Schale den ersten Riß bekam.
»Hier! Das ist für Sie, Bay!« keuchte sie, packte die Hände der erstaunten Frau und legte sie um das Ei.
Bays erste Reaktion war, es zu Sorka zurückzuschieben, aber das Mädchen war schon auf die Vorratssäcke zugestürzt und bemühte sich verzweifelt, ein Paket mit Proteinriegeln zu öffnen und einen davon in winzige Stücke zu brechen.
»Es reißt auf, Sorka. Pol! Was soll ich machen? Es bekommt überall Sprünge!« rief Bay unsicher.
»Es gehört Ihnen, Bay, ein Tier, das nur Sie lieben wird«, keuchte Sorka und kam mit vollen Händen zurückgetaumelt. »Er schlüpft gerade aus. Es wird Ihnen gehören. Hier, füttern Sie es damit. Pol, Kapitän, suchen Sie unter dem Seetang nach Futter. Spielen Sie Bronzedrachen. Passen Sie auf, wie Duke das macht.«
Duke zerrte begeistert zirpend einen riesigen Seetangast von der Hochwasserlinie her.
»Sie müssen den Seetang bündeln, Pol«, sagte Tillek Augenblicke später und zeigte es ihm.
»Es ist offen!« schrie Bay, halb ängstlich und halb entzückt. »Da ist ein Kopf! Sorka! Was soll ich jetzt tun?«
Zwanzig Minuten später fielen die ersten Sonnenstrahlen auf das müde, aber aufgeregte Quartett. Bay wiegte mit seligem, ungläubigem Lächeln einen reizenden goldenen Zwergdrachen auf dem Unterarm. Der Kopf lag wie ein Schmuckstück auf ihrem Handrücken, die Vorderarme umfaßten locker ihr Handgelenk. Der dick angeschwollene Bauch wurde von Bays gut gepolstertem Arm gestützt, die Hinterbeine hingen an beiden Seiten des Ellbogens herab, und der Schwanz war lose um ihren Oberarm geschlungen. Ein leichtes Geräusch, fast wie ein Schnarchen, war zu hören. Von Zeit zu Zeit streichelte Bay das schlafende Wesen. Staunend betrachtete sie die weiche Haut, die kräftigen und doch zierlichen Klauen, die durchsichtigen Flügel und den kräftigen Schwanz des Neugeborenen. Immer wieder fand sie etwas Neues, das ihr Entzücken erregte.
Jim Tillek schürte das Feuer und brachte etwas Warmes zu trinken, denn vom Meer her wehte ein kühler Wind.
»Ich glaube, wir sollten zum Nest zurückgehen, Pol«, sagte Sorka, »um zu sehen, ob… ob…«
»Einige es nicht geschafft haben?« ergänzte Jim. »Erst mußt du etwas essen.«
»Aber dann ist es zu spät.«
»Wahrscheinlich ist es jetzt schon zu spät, kleines Fräulein«, erklärte Jim entschieden. »Es war schon eine großartige Leistung, daß du uns die goldene Echse gebracht hast. Das ist die höchste Form der Gattung, nicht wahr?«
Pol nickte und betrachtete scheinbar gelassen Bays schlafenden Schützling. »Ich glaube, von den Biologen hat noch niemand so ein Exemplar. Ironie des Schicksals.«
»Die eigenen Leute sind immer die letzten, wie?« fragte Jim und zog spöttisch die Augenbrauen hoch, grinste aber dabei. »Ach, wen haben wir denn da?« Er zeigte mit seiner langen Kochgabel auf die Gestalt, die von Westen herangestapft kam. »Er hat etwas bei sich. Kannst du es mit deinen jungen Augen besser erkennen, Sorka?«
»Vielleicht bringt er noch mehr Eier, dann bekommen Pol und Jim auch eines.«
»Für so uneigennützig halte ich Sean eigentlich nicht, Sorka«, bemerkte Pol trocken. Sie errötete. »Nein, nein, Kind, das soll keine Kritik sein. Es hat eben nicht jeder die gleiche Einstellung und das gleiche Temperament.«
»Er trägt etwas, es ist größer als ein Ei, und seine beiden Drachen sind sehr aufgeregt. Nein«, verbesserte sich Sorka, »Sie sind verstört!«
Duke stellte sich auf ihrer Schulter auf die Hinterbeine und stieß einen schrillen Klageschrei aus. Sie spürte, wie er in sich zusammensackte, als er eine Antwort erhielt, und dann ließ er ein leises Jammern hören, fast ein Schluchzen, dachte sie und griff hinauf, um ihn zu streicheln. Er schmiegte sich an ihre Hand, als sei er dankbar für ihr Mitgefühl. Sie spürte die Spannung in seinem kleinen Körper, seine Klauen krallten sich heftig in ihren Pullover. Wieder einmal war sie froh, daß ihre Mutter das Gewebe verstärkt hatte, denn sonst hätte er ihr die Haut aufgerissen. Sie drehte den Kopf und rieb ihre Wange an seiner Seite.
Alle Augen waren auf Sean gerichtet, der nun ganz nahe war. Bald konnte man erkennen, daß das Bündel in seinen Händen aus Schichten von breiten Blättern bestand, die mit grünen Kletterranken fest zusammengebunden waren. Er spürte die forschenden Blicke, und er sah müde und, wie Sorka fand, traurig aus. Er ging direkt auf die beiden Wissenschaftler zu und legte sein Bündel behutsam vor Pol ab.
»Bitte sehr. Zwei. Einer ist fast unversehrt. Und ein paar von den grünen Eiern. Ich mußte beide Nester absuchen, um welche zu finden, die nicht von den Schlangen ausgesaugt waren.«
Pol legte eine Hand auf das Bündel. »Danke, Sean. Ich danke dir sehr. Sind die zwei - aus dem Gelege einer Goldenen oder einer Grünen?«
»Natürlich aus einem goldenen«, sagte Sean verächtlich. »Grüne schlüpfen selten aus. Die Schlangen hatten sie schon angefressen. Ich kam gerade noch rechtzeitig.« Er sah Sorka fast herausfordernd an.
Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Genau wie Sorka«, bemerkte Jim Tillek stolz und nickte zu Bay hin.
Erst jetzt sah Sean den schlafenden Zwergdrachen. Überraschung, Bewunderung und Ärger zuckten schnell hintereinander über sein Gesicht, dann ließ er sich unvermittelt zu Boden plumpsen.
Sorka wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen. »Du warst besser als ich«, hörte sie sich sagen. »Du hast das mitgebracht, was wir besorgen sollten. Ich nicht.«
Sean knurrte etwas, ohne eine Miene zu verziehen. Über seinem Kopf tauschten seine Braunen mit ihrem Bronzefarbenen in einem Schnellfeuer von Pieps-, Zirp- und Murmellauten Neuigkeiten aus. Dann schwebten sie herab, legten sich auf den Boden und ließen sich mit angelegten Flügeln von der Sonne wärmen.
»Essen ist fertig«, sagte Jim Tellek und begann, die Teller zu füllen. Es gab gebratenen Fisch und eine Obstart, die durch das Kochen genießbar wurde.
***
»Nun, Ongola, was gibt es Neues?« fragte Paul Benden.
Emily Boll verteilte ein wenig von Bendens kostbarem Brandy auf drei Gläser und reichte sie herum, dann nahm auch sie Platz. Ongola nutzte die Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Die drei hatten sich wie schon oft im Wetterbeobachtungsturm neben der Landebahn getroffen, die jetzt nur noch von den Schlitten und einer einzigen, zum Frachttransporter umgebauten und so selten wie möglich benützten Fähre angeflogen wurde.
Der Admiral und die Gouverneurin hatten von Natur aus eine helle Haut, aber jetzt waren sie beide fast so braun wie Ongola. Alle drei hatten schwer gearbeitet, in den Feldern, in den Bergen und auf dem Meer, und sich an allen Unternehmungen der Kolonie aktiv beteiligt.
Sobald die Kolonisten das ihnen zustehende Land in Besitz genommen und Landing damit seinen Zweck erfüllt hatte, sollten die bisherigen Führer die Rolle von Beratern einnehmen, die nicht mehr Befehlsgewalt besaßen als die anderen Grundbesitzer. Der Rat sollte regelmäßig zusammentreten, um allgemeine Themen zu besprechen und Mißstände abzustellen, die die gesamte Kolonie betrafen. Einmal im Jahr sollten in einer Generalversammlung demokratisch die Entscheidungen gefällt werden, die der Zustimmung aller bedurften. Richterin Cherry Duff sprach in Landing Recht und sollte als Anlaufstelle für Beschwerden und Streitfälle fungieren. Nach der Verfassung von Pern waren Konzessionäre wie Kontraktoren auf ihrem eigenen Besitz gleichermaßen autonom. Das mochte idealistisch gedacht sein, aber, wie Benden wiederholt betonte, gab es ausreichend Land und Bodenschätze, um allen genügend Spielraum zu gewähren.
Bisher war nur vereinzelt über Joel Lilienkamps Methoden bei der Verteilung von Vorräten und Material aus dem Magazin gemurrt worden. Alle wußten, daß die mitgebrachten Vorräte irgendwann erschöpft sein würden und sie lernen mußten, mit dem auszukommen, was sie hatten, Dinge mit eigenen Mitteln zu ersetzen oder mit den jeweiligen Handwerkern zu tauschen. Viele Leute waren stolz auf ihr Improvisationstalent, und alle gingen mit unersetzlichen Werkzeugen und Maschinen pfleglich um.
Dank der wöchentlich stattfindenden inoffiziellen Treffen und der monatlichen Massenversammlungen, bei denen über die meisten der Verwaltungsangelegenheiten demokratisch abgestimmt wurde, lief in der Kolonie alles reibungslos. Bei einer der ersten Massenversammlungen war ein Schiedskomitee bestimmt worden, dem drei ehemalige Richter, zwei frühere Gouverneure und vier Nichtjuristen angehörten. Sie alle sollten dieses Amt zwei Jahre lang innehaben. Das Komitee sollte Beschwerden nachgehen und Streitigkeiten schlichten, die etwa beim Abstecken von Parzellen oder bei vertraglichen Unklarheiten entstehen mochten. Die Kolonie verfügte über vier ausgebildete Juristen und zwei Rechtsanwälte, aber man hoffte, daß sie nur höchst selten in Anspruch genommen werden müßten.
»Kein Streit ist so erbittert, daß er nicht von einem Gremium von Unparteiischen oder von einer Gruppe Gleichgestellter geschlichtet werden könnte«, hatte Emily Boll bei einer der ersten Massenversammlungen, an denen alle einschließlich der schlafenden Säuglinge teilnahmen, die Kolonisten beschworen. »Die meisten von euch haben den Krieg am eigenen Leibe erfahren.« Sie hatte eine dramatische Pause eingelegt. »Zermürbungskriege zu Land und zu Wasser, schreckliche Vernichtungskriege direkt im Weltraum. Pern ist weit, weit weg von jenen alten Schlachtfeldern. Ihr seid hier, weil ihr euch nicht von den territorialen Machtgelüsten anstecken lassen wolltet, die die Menschen seit Anbeginn der Zeiten wie eine Seuche plagen. Wenn man einen ganzen Planeten mit den verschiedensten herrlichen Landschaften zur Verfügung hat, der Reichtum für alle verspricht, dann besteht kein Anlaß mehr, dem Nächsten seinen Besitz zu neiden. Steckt eure Parzellen ab, baut eure Häuser, lebt in Frieden mit den anderen und helft uns, diese Welt zu einem wahren Paradies zu machen.«
Ihre kraftvolle, wohlklingende Stimme und die aufrichtigen, leidenschaftlichen Worte hatten an jenem wunderbaren Abend alle angespornt, diesen Traum zu erfüllen. Emily Boll war freilich auch Realistin und wußte sehr wohl, daß es unter jenen, die ihr so höflich zugehört hatten, um ihr dann mit lautem Jubel zu applaudieren, auch Andersdenkende gab. Avril, Lemos, Nabol, Kimmer und eine Handvoll anderer waren bereits als potentielle Störenfriede identifiziert. Aber Emily hoffte inständig, die Dissidenten würden mit ihrem neuen Leben auf Pern so beschäftigt sein, daß sie wenig Zeit, Energie oder auch Gelegenheit haben würden, sich mit Intrigen zu befassen.
In die Verfassung und die Verträge war auch das Recht mit aufgenommen worden, gegen die Unterzeichner bei Verstößen gegen das Gemeinwohl disziplinarische Maßnahmen zu ergreifen. Solche Verstöße mußten allerdings erst noch definiert werden.
Emily und Paul hatten sich nicht einigen können, ob eine Notwendigkeit für einen Gesetzeskodex bestand.
Paul Benden vertrat den Standpunkt, die Strafe müsse sich am Vergehen orientieren und den Missetätern und jenen, die häufig Ruhe und Ordnung einer Gemeinde störten, eine heilsame Lehre erteilen. Er war auch dafür, daß solche Strafen sofort und in aller Öffentlichkeit verhängt wurden, um die Schuldigen zu beschämen. Sie sollten verpflichtet werden, gewisse unangenehme Aufgaben zu übernehmen, die für das Funktionieren der Kolonie erforderlich waren. Bisher war diese primitive Form der Rechtsprechung ausreichend gewesen.
Inzwischen wurden eine Reihe von Leuten weiterhin unauffällig überwacht, und Paul und Emily trafen sich von Zeit zu Zeit mit Ongola, um die allgemeine Moral in der Gemeinschaft und jene Probleme zu besprechen, die besser nicht in die Öffentlichkeit gelangten. Der Admiral und die Gouverneurin hielten es auch für wichtig, ständig für alle Kolonisten erreichbar zu sein, denn sie hofften, auf diese Weise kleine Mißhelligkeiten aus der Welt schaffen zu können, ehe sie sich zu ernsthaften Problemen auswuchsen. So hielten sie an sechs Tagen der offiziell verfügten Siebentagewoche ›Bürostunden‹ ab.
»Wir sind vielleicht nicht im überlieferten Sinne des Wortes religiös, aber es ist vernünftig, Mensch und Tier einen Ruhetag zu gönnen«, verkündete Emily in der zweiten Massenversammlung. »Die Bibel der Judäer, die einigen alten religiösen Sekten auf der Erde als Richtschnur diente, enthält eine Menge vernünftiger Vorschläge für eine ländliche Gemeinschaft und einige moralische und ethnische Traditionen, die man durchaus beibehalten sollte« - sie hob eine Hand und lächelte freundlich - »aber ohne jeden Fanatismus! Den haben wir zusammen mit dem Krieg auf der Erde zurückgelassen!«
Obwohl die beiden Führer wußten, daß selbst diese lockere Form einer demokratischen Regierung unhaltbar sein würde, sobald die Siedler Landing verlassen und sich auf ihre eigenen Besitzungen begeben hatten, hofften sie, daß ihnen bis dahin bestimmte Dinge in Fleisch und Blut übergegangen sein würden. Die ersten amerikanischen Pioniere, die den Westen des Landes erschlossen hatten, hatten einen starken Drang nach Unabhängigkeit besessen, aber gegenseitige Hilfe war selbstverständlich gewesen. Die später in Australien und Neuseeland entstandenen Gemeinden hatten trotz tyrannischer Gouverneure und trotz ihrer Isolation charakterfeste, einfallsreiche und unglaublich anpassungsfähige Menschen hervorgebracht. Auf der ersten internationalen Mondbasis waren diese Fähigkeiten Unabhängigkeit, Zusammenarbeit und Einfallsreichtum - noch weiter ausgebaut worden. Die ersten Siedler auf First waren größtenteils Nachfahren von erfinderischen Bergleuten auf dem Mond und im Asteroidengürtel gewesen, und zur Kolonie auf Pern gehörten viele Abkömmlinge jener früheren Pioniere.
Paul und Emily schlugen vor, einmal im Jahr sollten so viele Leute von den abgelegenen Siedlungen wie möglich zusammenkommen, um die Grundsätze der Kolonie neu zu bekräftigen, Fortschritte zu registrieren und zur Lösung allgemeiner Probleme viele Ideen zu sammeln. Weiterhin bot ein solches Treffen Gelegenheit, Handel zu treiben und Feste zu feiern. Cabot Francis Carter, einer der Juristen, hatte angeregt, ein bestimmtes Gebiet in der Mitte des Kontinents als Zentrum für diese jährlichen Zusammenkünfte auszuweisen.
»Es wäre die beste aller möglichen Welten«, hatte Cabot mit seiner einschmeichelnden Baßstimme verkündet, mit der er schon so manchen Obersten Gerichtshof auf der Erde und auf First zu Tränen gerührt hatte. Emily hatte einmal zu Paul geäußert, Cabot sei eigentlich der unwahrscheinlichste Konzessionär, den man sich denken könne, aber seine Juristenvereinigung hatte die Verfassung aufgesetzt und erreicht, daß sie den ganzen Instanzenweg durchlief und vom KVR-Rat ratifiziert wurde. »Vielleicht läßt sie sich nicht auf Pern verwirklichen. Aber wir können es, verdammt noch mal, versuchen!«
Allein mit Emily und Ongola, mußte Pol an diese aufrüttelnde Herausforderung denken, während er an seinen langen schwieligen Fingern Namen abzählte. »Und deshalb sollten wir Leute wie Bitra, Tashkovich, Nabol, Lemos, Olubushtu, Kung, Usuai und Kimmer weiterhin überwachen, meine ich. Im Verhältnis zu unserer Gesamtbevölkerung ist die Liste glücklicherweise nicht sehr lang. Kenjo zähle ich nicht dazu, weil er absolut keine Verbindung zu den anderen zu haben scheint.«
»Es gefällt mir trotzdem nicht. Geheime Überwachung, das riecht zu sehr nach den Praktiken, derer sich andere Regierungen in schwierigeren Zeiten bedienten«, sagte Emily grimmig. »Ich finde, es entwürdigt mich selbst und mein Amt, mit solchen Methoden zu arbeiten.«
»Es ist doch nicht entwürdigend, wenn man weiß, wer gegen einen ist«, hielt Paul dagegen. »Nachrichtendienste haben sich noch immer als unschätzbare Hilfe erwiesen.«
»In Revolutionen, Kriegen, bei Machtkämpfen, ja, aber nicht hier auf Pern.«
»Hier nicht weniger als sonstwo in der Galaxis, Em«, gab Paul heftig zurück. »Die Menschheit, ganz zu schweigen von den Nathi und in gewissem Maße auch den Eridani, hat auf vielerlei Weise bewiesen, daß Habgier ein allgemein verbreiteter Charakterzug ist. Ich bin nicht der Meinung, daß der Überfluß auf Pern daran etwas ändert.«
»Laßt doch diesen fruchtlosen alten Streit, Freunde!« mahnte Ongola mit seinem weisen, traurigen Lächeln. »Man hat bereits die erforderlichen Schritte unternommen, um die Gig funktionsunfähig zu machen. Ich habe auf Ihren Rat hin« - er nickte Paul zu -»aus der Gig mehrere kleine, aber notwendige Teile des Zündsystems entfernt, deren Fehlen sich frühzeitig bemerkbar machen würde, und im Steuermodul zwei blinde Chips eingesetzt, was nicht gleich ins Auge fällt.« Er deutete zum Fenster hinaus. »Schlitten dürfen überall auf der Landebahn parken, dadurch wird die Gig wirksam, aber unauffällig am Start gehindert. Aber ich weiß wirklich nicht, warum sie starten sollte.«
Paul Benden zuckte zusammen, und die beiden anderen wandten den Blick ab, denn sie wußten, daß er sich auf der Reise hieher unklugerweise zu sehr und zu lange mit einer gewissen Dame eingelassen hatte.
»Nun, ich würde mir größere Sorgen machen, wenn Avril über Kenjos Treibstoffhort Bescheid wüßte«, sagte Paul. »Teigars Zahlen zeigen, daß dort eine halbe Tankfüllung für die Mariposa bereitstünde.« Er verzog das Gesicht. Es war ihm schwergefallen zu glauben, daß Kenjo Fusaiyuki so viel Treibstoff beiseite geschafft haben sollte. Allein das Ausmaß des Diebstahls und besonders die Risiken, die Kenjo während all dieser treibstoffsparenden Fährenflüge erfolgreich eingegangen war, erfüllten ihn mit widerwilliger Bewunderung, auch wenn er das Motiv nicht begriff.
»Avril beehrt uns so selten mit ihrer Gesellschaft, daß ich nicht befürchte, sie könnte den Hort entdecken«, sagte Emily mit einem spöttischen Lächeln. »Außerdem habe ich Lemos, Kimmer und Nabol verschiedenen Sektionen zugewiesen, wo sie nur selten Gelegenheit haben, hierher zurückzukehren. Teile und herrsche hat einmal ein Mann gesagt.«
»Sehr unpassend, Emily«, entgegnete Paul grinsend.
»Falls, und ich betone, wie unwahrscheinlich das ist«, begann Ongola mit erhobenem Zeigefinger, »Avril Kenjos gestohlenen Treibstoff entdecken und verwenden sowie die fehlenden Teile finden und unbemerkt mit der Gig von hier starten sollte, hätte sie nur einen halbvollen Tank. Damit könnte sie nicht das letzte aus dem Schiff herausholen. Ehrlich gesagt, ich würde ihr und ihrem Begleiter, wem diese Ehre auch immer zuteil wird, keine Träne nachweinen. Ich glaube, wir machen uns um die Sache zu viele Gedanken. Die seismologischen Berichte aus dem östlichen Archipel sind weit besorgniserregender. Der Young Mountain raucht wieder und scharrt ungeduldig mit den Füßen.«
»Ganz meine Meinung.« Paul war nur zu gern bereit, sich diesem dringenderen Problem zuzuwenden.
»Ja, aber zu welchem Zweck hat Kenjo so viel Treibstoff abgezweigt?« wollte Emily wissen. »Diese Frage habt ihr mir noch nicht beantwortet. Warum sollte er seine Fahrgäste und seine Ladung in Gefahr bringen? Dabei ist er doch ein wirklich überzeugter Kolonist! Er hat sich sogar schon seine Parzelle ausgesucht.«
»Ein Pilot mit Kenjos Fähigkeiten hat gar nichts riskiert«, antwortete Paul ruhig. »Seine Fährenflüge verliefen ohne Zwischenfälle. Ich weiß, daß Fliegen sein Leben ist.«
Ongola sah den Admiral etwas überrascht an. »Hat er denn noch immer nicht genug davon?«
Paul lächelte verständnisvoll. »Kenjo nicht. Ich kann ihm sehr gut nachfühlen, daß es für ihn ein Abstieg ist, nur einen Motorschlitten zu fliegen, ein Prestige-, ein Gesichtsverlust, wenn man bedenkt, welche Maschinen er vorher hatte und wo er überall gewesen ist. Du sagst, er hat sich seinen Besitz ausgesucht, Emily? Wo?«
»In der Gegend, die mittlerweile als das Asowsche Meer bezeichnet wird, so weit weg von Landing wie nur möglich, aber auf einer recht hübschen Hochebene, den Sondendaten nach zu urteilen«, antwortete Emily. Sie hoffte, daß die Sitzung bald zu Ende sein würde. Pierre hatte ihr ein besonderes Essen versprochen, und sie schätzte diese ruhigen Mahlzeiten zu zweit inzwischen viel mehr, als sie das je für möglich gehalten hätte.
»Wie, zum Teufel, will Kenjo die vielen Tonnen Treibstoff dort hinschaffen?«
»Das werden wir wohl abwarten müssen«, antwortete Ongola mit einem schwachen Lächeln. »Es steht ihm ebenso wie jedem anderen zu, seine Habe mit Motorschlitten zu transportieren, und er hat mit den Arbeitstrupps in der Ausgabestelle ausgedehnte Verhandlungen geführt. Soll ich mich mal bei Joel erkundigen, was er alles angefordert hat?«
Emily warf Paul einen schnellen Blick zu, aber der stand unerschütterlich zu Kenjo. »Na schön, ich mag keine ungelösten Rätsel. Ich hätte gerne irgendeine Erklärung, und ich glaube, Paul, dir geht es ähnlich.« Als Benden zögernd nickte, erbot sich Emily, mit Joel Lilienkamp zu sprechen.
»Womit wir wieder bei diesem dritten Erdstoß wären«, sagte Paul Benden. »Wie geht es mit der Abstützung der Lagerhallen im Magazin und des Gebäudes mit den Medikamenten voran? Wir können es uns nicht leisten, diese unersetzlichen Dinge zu verlieren.«
Ongola sah in seinen Notizen nach. Seine kühne, eckige Schrift wirkte aus Emilys Blickwinkel wie die Verzierungen in alten Manuskripten. Alle drei hatten, ebenso wie die meisten Bereichsleiter, demonstrativ auf die Sprachprozessoren verzichtet. Die Energiezellen konnten zwar aufgeladen werden, aber nicht unbegrenzt, und mußten wesentlichen Dingen vorbehalten bleiben, deshalb wurde nun allenthalben die Kunst des Schreibens wiederentdeckt.
»Die Arbeit ist nächste Woche beendet. Das seismische Netz wurde bis zu dem tätigen Vulkan im östlichen Archipel und bis zum Drake-See ausgedehnt.«
Paul schnitt eine Grimasse. »Sollen wir ihm das durchgehen lassen?«
»Warum nicht?« grinste Emily. »Niemand hat Einwände erhoben. Drake hat den See als erster entdeckt. Wenn dort eine Siedlung entstünde, hätte sie reichlich Platz, um sich auszudehnen, und genügend Industrie für ihren Lebensunterhalt.«
»Ist dieser Punkt für die Abstimmung vorgesehen?« fragte Paul, nachdem er genüßlich einen Schluck Brandy getrunken hatte.
»Nein«, sagte Ongola wieder mit dem Anflug eines Lächelns. »Drake ist noch dabei, Stimmen zu werben. Er will keine Opposition, und inzwischen hat er auch jeden niedergeredet, der vielleicht dagegen gewesen wäre.«
Paul schnaubte verächtlich, und Emily verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen. Dann betrachtete Paul nachdenklich den Rest Brandy in seinem Glas. Während Emily zum nächsten Punkt ihrer informellen Tagesordnung überging, nahm er noch einen Schluck, den er lange im Mund behielt, um das Getränk, das bald zur Neige gehen würde, gründlich auszukosten. Quikal war zwar trinkbar, und er verschmähte es auch nicht, aber für seinen verwöhnten Gaumen war es zu scharf.
»Allgemein gesehen machen wir gute Fortschritte«, sagte Emily energisch. »Ihr habt sicher gehört, daß einer von den Delphinen gestorben ist, aber die Gruppe hat Olgas Tod erstaunlich gelassen aufgenommen. Nach allem, was Ann Gabri und Efram sagten, hatten sie mit mehr Ausfällen gerechnet. Olga war offenbar«, fügte sie grinsend hinzu, »älter, als sie zugab, aber sie hatte ihr letztes Kalb nicht allein ins Ungewisse ziehen lassen wollen.«
Alle drei lachten leise und hoben mit Paul die Gläser, als er einen Trinkspruch auf die Mutterliebe ausbrachte.
»Sogar unsere… Nomaden… haben sich eingelebt«, fuhr Emily nach einem Blick auf ihren Notizblock fort. »Oder sind vielmehr ausgeschwärmt.« Sie klopfte mit dem Bleistift auf den Block; handschriftliche Notizen waren noch immer ungewohnt, aber sie gab sich alle Mühe, sich an die altertümlichen Gedächtnishilfen zu gewöhnen. Das einzige mit der Stimme zu aktivierende Gerät, das noch existierte, war der Akustikkoppler von Pern zu den Datenspeichern auf der Yokohama, aber er wurde kaum noch benützt. »Die Nomaden haben ziemliche Mengen an Kleiderstoff angefordert, aber wenn die Vorräte erschöpft sind, ist Schluß damit, dann müssen sie sich selbst welche herstellen oder sie eintauschen wie wir anderen auch. Wir haben alle Lagerplätze ausfindig gemacht. Selbst zu Fuß kann das Kontingent der Tuareg erstaunliche Entfernungen zurücklegen, aber jetzt lagern sie erst einmal in zwei getrennten Sektoren.«
»Schließlich haben sie ja einen ganzen Planeten, auf dem sie sich verlieren können«, sagte Paul begeistert. »Haben sie sonst irgendwie Schwierigkeiten gemacht, Ongola?«
Der dunkelhäutige Mann schüttelte den Kopf und senkte die Lider über seine tiefliegenden Augen. Er war angenehm überrascht, wie reibungslos sich die Nomaden in das Leben auf Pern eingefügt hatten. Jeder Stamm schickte jede Woche einen Vertreter zu den Veterinärschuppen. Die zweiundvierzig Stuten, die die Kolonisten im Kälteschlaf mitgebracht hatten, waren ausnahmslos tragend, und die Führer der Nomaden hatten sich wohl oder übel damit abgefunden, daß sich ein Fohlen auf Pern nicht anders als auf der Erde bis zur Geburt elf Monate Zeit ließ.
»So lange die Tierärzte den Humor behalten, ist es ja gut. Aber Red Hanrahan versteht sie offenbar und kann mit ihnen umgehen.«
»Hanrahan? Hat nicht seine Tochter die Zwergdrachen gefunden?«
»Sie und ein Junge, einer von den Fahrensleuten«, antwortete Ongola. »Sie haben auch die Kadaver besorgt, mit denen sich die Bios jetzt so eifrig beschäftigen.«
»Die Tierchen könnten nützlich sein«, sagte Benden.
»Das sind sie schon«, fügte Emily resolut hinzu.
Ongola lächelte. Eines Tages, dachte er, würde er ein Nest finden, das kurz vor dem Ausschlüpfen stand, und dann würde auch er eines dieser reizenden, freundlichen, fast intelligenten Wesen als Haustier bekommen. Er hatte einmal Delphinisch gelernt, aber seine Angst, unter Wasser zu ersticken, niemals so weit überwinden können, um richtig an ihrer Welt teilzuhaben. Er brauchte freien Raum um sich. Auf der Reise nach Pern, während einer langen gemeinsamen Wache mit Paul, hatte der Admiral ihm des langen und breiten erklärt, daß die Gefahren des Tiefraums für das menschliche Leben noch sehr viel bedrohlicher seien als die der Tiefsee.
»Im Wasser gibt es zwar keine Luft«, hatte Paul gesagt, »aber es enthält Sauerstoff, und wenn der Widerstand der Fraktion der Reinrassigen gegen die genetische Veränderung von Menschen einmal gebrochen ist, falls es dazu jemals kommt, wird es Menschen geben, die ohne künstliche Hilfsmittel schwimmen können. Im Weltraum gibt es dagegen keine Spur von Sauerstoff.«
»Aber im Weltraum ist man gewichtslos. Das Wasser drückt einen hinunter. Man spürt es.«
»Wehe, wenn man den Weltraum spürt«, hatte Paul gelacht, aber nicht weiter auf seiner Ansicht beharrt.
»Und jetzt zu erfreulicheren Dingen«, sagte Paul. »Wie viele Eheverträge sollen morgen beurkundet werden?«
Lächelnd blätterte Emily in ihrem Notizblock weiter bis zum nächsten siebenten Tag, denn dies war der übliche Termin für solche Feierlichkeiten geworden. Um das Genreservoir der nächsten Generation zu vergrößern, gestattete die Verfassung Verbindungen von unterschiedlicher Länge, wobei vorrangig der Unterhalt einer schwangeren Frau und dann die ersten Jahre des aus der Verbindung hervorgegangenen Kindes gesichert werden mußten. Künftige Partner konnten sich aussuchen, welche Bedingungen ihnen zusagten, aber es gab schwere Strafen bis hin zum Verlust sämtlicher Parzellen, wenn man einen vereinbarten und vor der erforderlichen Zahl von Zeugen unterschriebenen Kontrakt nicht erfüllte.
»Drei!«
»Es läßt nach«, bemerkte Paul.
»Ich habe meine Pflicht erfüllt«, sagte Ongola mit einem vielsagenden Blick auf die beiden Führer, die immer noch solo waren.
Ongola hatte Sabra Stein so geschickt umworben, daß nicht einmal seine engsten Freunde bemerkt hatten, was vor sich ging, bis vor sechs Wochen die Namen der beiden auf dem Heiratsplan erschienen waren. Sabra war sogar schon schwanger, was Paul zu der Bemerkung veranlaßt hatte, die große Kanone schieße nicht mit Übungsmunition. Mit seinen zweideutigen Scherzen hatte er freilich nur seine Erleichterung verbergen wollen, denn er wußte, daß Ongola immer noch um die Frau und die Familie seiner Jugend trauerte. Sein Haß auf die Nathi und sein unstillbarer Rachedurst hatten Ongola den Krieg überstehen lassen. Lange Zeit hatte Paul befürchtet, sein bester Adjutant und geschätzter Raumschiffkommandant würde auch in friedlicheren Zeiten nicht imstande sein, diesen verzehrenden Haß zu überwinden.
»Emily, hat Pierre schon zugestimmt?« fragte Ongola, und ein wissendes Lächeln erhellte sein Gesicht, das auch im Glück seinen finsteren Ausdruck nicht ganz verloren hatte.
Emily war verblüfft, denn sie hatte gedacht, sie und Pierre seien äußerst diskret gewesen. Aber in letzter Zeit war ihr selbst aufgefallen, daß sie öfter lächelte und häufig ohne ersichtlichen Grund in einem Gespräch den Faden verlor.
Sie und Pierre waren ein ungewöhnliches Paar, aber das allein machte die Sache schon reizvoll. Ihre Beziehung hatte ganz unerwartet etwa in der fünften Woche nach der Landung begonnen, als Pierre sie nach ihrer Meinung zu einem nur aus einheimischen Zutaten bereiteten Schmorgericht gefragt hatte. Er hatte es übernommen, die gesamte Bevölkerung auf Pern zu verpflegen, und in Anbetracht der vielen unterschiedlichen Geschmacksrichtungen und Diätvorschriften machte er seine Sache ihrer Ansicht nach ausgezeichnet. Dann hatte Pierre de Courci angefangen, ihr besondere Gerichte zu servieren, wenn sie im großen Speisesaal aß, und schließlich hatte er ihr persönlich den bestellten Imbiß gebracht, wenn sie, was häufig vorkam, in der Mittagspause durcharbeiten mußte.
»Wenn ich egoistisch wäre, würde ich seine Kochkünste ganz für mich allein beanspruchen«, antwortete sie. »Vergeßt bitte nicht, daß ich über das gebärfähige Alter hinaus bin, da habt ihr Männer es besser. Was ist, Paul? Wirst du auch deine Pflicht tun?« Emily wußte, daß ihr Ton ein wenig bissig klang, weil sie neidisch war. Keines ihrer inzwischen erwachsenen Kinder hatte sie auf dieser Reise ohne Wiederkehr begleiten wollen.
Paul Benden ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, er lächelte nur geheimnisvoll und nippte an seinem Brandy.
***
»Höhlen!« rief Sallah, stieß Tarvi an und zeigte auf die vor ihnen im Sonnenschein liegende Felsenbarriere. In der steilen Wand waren Öffnungen zu erkennen.
Er reagierte spontan und begeistert, mit der fast unschuldigen Entdeckerfreude, die Sallah an ihm so anziehend fand. Die sich ständig weiter erschließende Schönheit von Pern hatte für Tarvi Andiyar nichts von ihrem Reiz verloren. Jedes neue Wunder wurde mit ebensoviel Interesse begrüßt wie das letzte, dessen Großartigkeit, dessen Reichtum oder dessen Möglichkeiten er eben noch gepriesen hatte. Sie hatte skrupellos alle Fäden gezogen, um ihm als Pilotin für seine Expedition zugeteilt zu werden. Dies war ihre dritte gemeinsame Reise - und zum ersten Mal waren sie allein.
Sallah ging sehr behutsam zu Werke. Sie konzentrierte sich darauf, sich für Tarvi aus beruflicher Sicht so unentbehrlich zu machen, daß er sich nicht mehr in seinen gewohnten Panzer makelloser Höflichkeit aber ebenso makelloser Unpersönlichkeit zurückziehen konnte, wenn sie schließlich Gelegenheit bekam, ihre Weiblichkeit auszuspielen. Sie hatte erlebt, wie die energischen Versuche anderer Frauen, den gutaussehenden, charmanten Geologen einzufangen, an dieser Haltung abprallten; überrascht, verwirrt und manchmal gekränkt, hatten sie zusehen müssen, wie er ihren Manövern geschickt entschlüpfte. Eine Weile hatte sich Sallah gefragt, ob Tarvi überhaupt etwas für Frauen übrighatte, aber er hatte auch kein Interesse für die männlichen Liebhaber in Landing gezeigt, die durchaus akzeptiert wurden.
Er behandelte jeden, ob Mann, Frau oder Kind, mit der gleichen charmanten, verständnisvollen Liebenswürdigkeit. Aber wo auch immer seine sexuellen Neigungen lagen, man erwartete auf jeden Fall von ihm, daß er seinen Beitrag zur nächsten Generation leistete. Sallah war bereits entschlossen, das Medium dafür zu sein, sie wartete nur noch auf den richtigen Augenblick.
Vielleicht war dieser Augenblick jetzt gekommen. Tarvi hatte eine besondere Schwäche für Höhlen, die er verschiedentlich als Körperöffnungen von Mutter Erde bezeichnet hatte, als Zugang zu den Mysterien ihrer Schöpfung und ihres Aufbaus, als Fenster zu ihrem Zauber und ihrem Überfluß. Auch hier auf Pern verehrte er das Mysterium, das bisher sein Leben beherrscht hatte.
Der Zweck dieser Reise war es, aus der Luft den Standort mehrerer Mineralvorkommen zu erkunden, die von den Metallurgiesonden entdeckt worden waren. Sie folgten im Moment dem Lauf eines Flusses in Richtung auf seine Quelle, und Sallah steuerte einen Gebirgszug an, in dem es Eisen-, Vanadium-, Mangan- und sogar Germaniumlagerstätten gab. Außerdem hatte sie ganz allgemein den Auftrag, alle ungewöhnlichen Landschaften auf der Karte zu vermerken und zu fotografieren, weil man den Leuten, die ein Anrecht auf Grundeigentum hatten, soviel Auswahl bieten wollte wie nur möglich. Erst ein Drittel hatte sich bereits für Parzellen entschieden. Man übte leichten Druck aus, um - zumindest in den ersten paar Generationen - alle auf dem Südkontinent zu halten, aber in der Verfassung war keine derartige Bestimmung zu finden. Das breite, lange Flußtal, das nun zu ihrer Rechten lag, war nach Sallahs Meinung das schönste, das sie bisher gesehen hatten.
Rene Mallibeau, der fest entschlossen war, die Kolonie mit Wein zu versorgen, war noch immer auf der Suche nach den richtigen Hängen und dem geeigneten Boden für seine Weingärten, obwohl er, um sein Projekt in Gang zu bringen, bereits einen Teil seiner in versiegelten Tanks mitgebrachten Spezialerde für Versuche freigegeben hatte. Quikal wurde als Ersatz für die herkömmlichen Alkoholika nicht allgemein akzeptiert, denn obwohl man es durch eine Reihe von Filtern mit und ohne Zusätzen laufen ließ, war es bisher nicht gelungen, den scharfen Nachgeschmack völlig zu beseitigen.
Man hatte Rene die mit Keramik ausgekleideten Treibstofftanks versprochen, die nach gründlicher Reinigung ausgezeichnete Weinfässer abgeben würden. Wenn die Eichenwälder einmal soweit herangewachsen waren, daß sie Bretter lieferten, konnten seine Nachkommen selbstverständlich wieder zu den herkömmlichen Holzfässern zurückkehren.
»Großartig, diese Wand, nicht wahr, Tarvi?« Sallah grinste ein wenig töricht, so als habe sie sich diese Aussicht als Überraschung für ihn ausgedacht.
»In der Tat. ›In Xanadu fand Kublai Khan‹«, murmelte er mit seiner vollen, tiefen Stimme.
»›Höhlen unermeßlich weit‹?« ergänzte Sallah, vermied es aber, sich mit ihren literarischen Kenntnissen zu brüsten. Tarvi zitierte oft aus obskuren Sanskrit- und Pushtu-Texten, und dann war sie stets um eine passende Antwort verlegen.
»Genau, o du Mond meines Entzückens.«
Sallah hätte fast eine Grimasse geschnitten. Tarvi redete manchmal recht zweideutig daher, aber diesmal war sie sicher, daß er nicht meinte, was seine Worte andeuteten. So plump konnte er doch nicht sein. Oder hatte sie etwa endlich den Panzer seiner Ironie durchstoßen? Sie zwang sich, das gewaltige steinerne Bollwerk zu betrachten. Seine natürlich geriffelten Säulen sahen aus wie von einem unerfahrenen oder schlampig arbeitenden Bildhauer gemeißelt, doch diese Unvollkommenheit betonte eher noch den überwältigenden Gesamteindruck.
»Das Tal ist sechs oder sieben Kilometer lang«, sagte sie leise, von diesem Naturwunder aufrichtig begeistert.
Von der schroffen, senkrecht abfallenden Wand führten steile Klippen in ziemlich gerader Linie noch etwa drei Kilometer weiter und gingen dann in eine weniger scharf gezeichnete Felsfront über, die in der Ferne bis zum Talboden hin abfiel. Sie lenkte den Schlitten nach Steuerbord, so daß sie nun flußaufwärts blickten. Hier lag der von der Sonde endeckte See, seine Oberfläche glitzerte so stark im Sonnenlicht, daß sie fast geblendet wurden.
»Nein, landen Sie hier«, sagte Tarvi schnell und so ungeduldig, daß er sogar ihren Arm ergriff. Im allgemeinen vermied er jeden Körperkontakt, und Sallah mußte sich zusammennehmen, um seine Aufregung nicht mißzuverstehen.
»Ich muß die Höhlen sehen.«
Er löste die Sicherheitsgurte und schwenkte seinen Sitz herum. Dann ging er nach hinten und kramte in den Vorräten.
»Lichter, wir brauchen Lichter, Seile, Nahrungsmittel, Wasser, Aufzeichnungsgeräte und die Ausrüstung für die Probenentnahme«, murmelte er, während er flink und geschickt zwei Rucksäcke packte. »Stiefel? Haben Sie feste Stiefel an… o ja, die sind in Ordnung, wirklich. Sie sind immer auf alles vorbereitet, Sallah.« Sein strahlendes Lächeln verschlimmerte die unabsichtliche Kränkung noch.
Wieder einmal schüttelte Sallah den Kopf über sich selbst. Warum hatte sie sich ausgerechnet einen der abweisendsten Männer ihrer Bekanntschaft aussuchen müssen? Natürlich, tröstete sie sich, was leicht zu haben ist, lohnt sich selten. Sie setzte den Schlitten am Fuß der hoch aufragenden Wand ab, so dicht an dem langen, schmalen Höhleneingang wie nur möglich.
»Klettereisen, Greifhaken - die erste Platte überragt das Geröll um etwa fünf Meter. Hier, Sallah!«
Er reichte ihr den Rucksack und wartete gerade so lange, bis sie einen Riemen in der Hand hatte, dann öffnete er das Kanzeldach, sprang hinunter und schritt auf die Wand zu. Mit einem resignierten Achselzucken schaltete Sallah das Funkfeuer, das Funksprechgerät und das Aufzeichnungsgerät für eintreffende Nachrichten ein, knöpfte ihre Jacke zu, schwang sich den ziemlich schweren Rucksack auf den Rücken und folgte ihm, nachdem sie das Kanzeldach wieder geschlossen hatte.
Er kletterte die Geröllhalde hinauf, legte dann eine Hand flach gegen den Felsen und schaute verzückt an der gewaltigen Fläche hinauf. Sanft, fast zärtlich streichelte er den Stein, bevor er sich nach allen Seiten umsah, um den besten Weg zum Höhleneingang ausfindig zu machen. Als er sie kommen sah, lächelte er in kindlicher Freude. Daß sie zu allem bereit war, hielt er für selbstverständlich.
»Gerade nach oben. Mit den Klettereisen keine große Sache.« Der Anstieg war strapaziös. Sallah hätte gerne eine Pause eingelegt, als sie auf das Felssims kroch, aber da war der Höhleneingang, und nichts konnte Tarvi davon abhalten, sofort hineinzugehen und sich in Ruhe umzusehen. Nun ja, es war gerade dreizehn Uhr. Sie hatten genügend Zeit. Sie kam auf die Beine, löste ein paar Sekunden nach ihm die Handlampe von ihrem Gürtel und war an seiner Seite, als er in die Öffnung spähte.
»Bei allen großen und kleinen Göttern!«
Er flüsterte es nur, feierlich und voll Ehrfurcht, wie ein wisperndes Echo. Die erste gewaltige Höhle war größer als der Frachtraum der Yokohama. Dieser Vergleich kam Sallah sofort in den Sinn, weil sie sich erinnerte, wie unheimlich ihr dieser riesige leere Raum bei ihrem letzten Aufenthalt vorgekommen war, und in der nächsten Sekunde fragte sie sich, wie die Höhle wohl aussehen würde, wenn sie bewohnt wäre. Sie hätte eine phantastische Große Halle abgegeben, wie man sie von den mittelalterlichen Burgen der Erde her kannte - nur noch großartiger.
Mit angehaltenem Atem streckte Tarvi zögernd seine noch nicht eingeschaltete Handlampe aus, als widerstrebe es ihm, dieses majestätische Gewölbe mit Licht zu erfüllen. Sie hörte ihn tief einatmen, fast als schicke er sich an, einen Frevel zu begehen, und dann ging das Licht an.
Geflatter war zu hören, die Schatten wichen lautlos in dunklere Winkel zurück. Sallah und Tarvi duckten sich, als die geflügelten Bewohner in Scharen dicht über ihre Köpfe hinweg aus der Höhle flüchteten, obwohl der Eingang mindestens vier Meter hoch war. Ohne darauf zu achten, trat Tarvi scheu in den riesigen Raum.
»Erstaunlich«, murmelte er, als er den Lichtstrahl auf- und abgleiten ließ und feststellte, daß die Außenwand über ihnen kaum zwei Meter dick war. »Der Fels ist sehr dünn.«
»Eine Blase«, sagte Sallah; es klang respektlos, aber sie war so überwältigt, daß sie irgendwie ihr seelisches Gleichgewicht wiederfinden mußte. »Schauen Sie, hier könnte man eine Treppe hineinschlagen.« Ihre Lampe erhellte ein Felsband, das schräg zu einem Sims hinaufführte. Darüber herrschte tiefe Dunkelheit, offenbar befand sich dort eine weitere Höhle.
Sie sprach zu tauben Ohren, denn Tarvi war schon weitergegangen, um die Breite des Eingangs und die Außenmaße der Höhle festzustellen. Sie eilte ihm nach.
Der erste Raum des gewaltigen Höhlenkomplexes maß an der breitesten Stelle siebenundfünfzig Meter und verjüngte sich links auf sechsundvierzig und rechts auf zweiundvierzig Meter. An der Rückwand befanden sich in verschiedenen Höhen unzählige unregelmäßig geformte Öffnungen; einige der unteren führten offenbar in Tunnelsysteme, deren Gänge meist so hoch waren, daß nicht einmal Tarvi mit dem Kopf an die Decke stieß. Andere Löcher befanden sich weiter oben an der Innenwand und spähten wie riesige, tote Augen auf sie herab. Tarvi war von der Entdeckung wie verzaubert, aber das setzte seine geschulte, wissenschaftliche Beobachtungsgabe nicht außer Kraft. Mit Sallahs Hilfe begann er, einen genauen Plan der Haupthöhle einschließlich der Öffnungen zu kleineren Höhlen und der nach innen führenden Tunnelsysteme zu zeichnen. In jeden Tunnel drang er bis in eine Tiefe von hundert Metern vor, durch ein Seil mit der nervösen Sallah verbunden, die ständig zur Höhlenöffnung zurückschaute, wo das ständig schwächer werdende Tageslicht ein wenig Sicherheit versprach.
Im Schein des Gaskochers ergänzte er seine Notizen, während Sallah mit dem Abendessen beschäftigt war. Tarvi hatte beschlossen, so tief in der Höhle zu lagern, daß sie vor dem frischen Wind geschützt waren, der durch das Tal blies, und weit genug links, um die natürlichen Höhlenbewohner nicht zu stören. Später sollte der kleine Gaskocher auf niedriger Flamme weiterbrennen, um die wilden Tiere Perns davon abzuhalten, sich die Eindringlinge näher anzusehen.
Sallah fühlte sich im Innern der Höhle tatsächlich wie ein Eindringling, obwohl sie das vorher nicht so empfunden hatte. Ein wahrhaft gespenstischer Ort.
Tarvi war zum Schlitten hinuntergestiegen, um Zeichenmaterial und einen Klapptisch zu holen, dann hatte er sich sofort in seine Arbeit gestürzt. Den Eintopf, den sie mit solcher Sorgfalt zubereitet hatte, hatte er kommentarlos hinuntergeschlungen und ihr dann mechanisch den Teller zum Nachfüllen hingehalten.
Sallah wußte nicht so recht, was sie von dieser Geistesabwesenheit halten sollte. Einerseits war sie eine gute Köchin und legte Wert darauf, daß ihr Können gewürdigt wurde. Andererseits war sie froh, daß er so zerstreut war. Einer der Apotheker hatte ihr ein Pulver gegeben, das angeblich ein starkes einheimisches Aphrodisiakum sein sollte, und sie hatte Tarvis Portion damit gewürzt. Sie selbst hatte es nicht nötig, seine Gegenwart hier in dieser Einsamkeit war erregend genug. Aber sie fragte sich allmählich, ob das Aphrodisiakum wohl stark genug war, um gegen Tarvis Begeisterung über die Höhle anzukommen. Da hatte sie ihn endlich einmal ein oder zwei Nächte für sich allein, und schon belegte ihn die gute alte Mutter Erde im pernesischen Gewand völlig mit Beschlag. Aber sie hatte sich nicht so lange geduldet, um eine so ausgezeichnete Gelegenheit ungenützt vorübergehen zu lassen. Sie hatte Zeit. Die ganze Nacht lang. Und den morgigen Tag. Sie hatte genug von dem Lustpulver, um ihm auch noch morgen abend etwas davon ins Essen zu tun. Vielleicht dauerte es eine Weile, bis es wirkte.
»Wirklich unglaublich, diese Ausmaße, Sallah. Hier, sehen Sie!« Er richtete sich auf und drückte die Wirbelsäule durch, um seine verkrampften Rückenmuskeln zu entlasten. Sallah trat hinter ihn, kniete nieder und begann besorgt seine Schultern zu massieren, während sie ihm über die Schulter spähte.
Die zweidimensionale Skizze war geschickt, mit kühnen Strichen gezeichnet: hinten, vorne und an den Seiten hatte er Höhenangaben eingefügt, die ehrlicherweise nicht weiter reichten, als er tatsächlich gemessen hatte. Aber das machte die Höhle nur noch beeindruckender und geheimnisvoller.
»Was wäre das in alten Zeiten für eine Festung gewesen!« Er sah in die Dunkelheit hinein, seine großen, feuchten Augen glänzten, und sein Gesicht strahlte, während er im Geist den Raum veränderte. »Ganze Stämme hätten hier Platz gefunden und wären über Jahre vor Invasionen sicher gewesen. Im dritten Tunnel links gibt es nämlich frisches Wasser. Das Tal ist natürlich an sich schon gut zu verteidigen, und dies wäre das geschützte innere Bollwerk, die Felsplatte draußen würde jeden Kletterer abschrecken. Die Hauptkammer hat nicht weniger als achtzehn verschiedene Ausgänge.«
Ihre Hände hatten seinen Halsansatz erreicht und strichen mit festen Massagebewegungen über die Trapezmuskeln und die Deltamuskeln, aber ihre Finger verharrten immer wieder an bestimmten Stellen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß hier die entspannende Wirkung am größten war.
»Ach, Sallah, Sie sind ein Engel, Sie wissen genau, wo die Verhärtungen sind.« Er drehte sich ein wenig zur Seite, nicht, um ihren suchenden, knetenden Fingern zu entgehen, sondern um sie an die schmerzenden Knoten zu führen. Dann schob er den niedrigen Tisch zur Seite, ließ die Arme locker in den Schoß fallen und drehte den Kopf hin und her. »Es gibt da eine Stelle am elften Wirbel…« Gehorsam suchte sie die Verspannung und beseitigte sie geschickt. Er seufzte genüßlich wie eine Katze, die gestreichelt wird.
Schweigend beugte sie sich ein klein wenig nach vorn, bis ihr Körper den seinen berührte. Während ihre Finger zu seinem Nacken zurückkehrten, drückte sie sich zaghaft an ihn, ihre Brüste streiften leicht seine Schulterblätter. Sie spürte, wie ihre Brustwarzen hart wurden und ihr Atem schneller ging. Ihre Finger hörten auf zu kneten und begannen zu streicheln, glitten in langgezogenen, trägen Bewegungen über seine Brust.
Er ergriff ihre Hände, und sie spürte, wie er innerlich still wurde, wie er zu atmen aufhörte und sein Körper leicht zu zittern begann.
»Vielleicht ist dies die rechte Zeit«, überlegte er, als sei er allein. »Eine bessere wird nicht kommen. Und es muß geschehen.«
Mit der Geschmeidigkeit, die ebenso ein Markenzeichen Tarvi Andiyars war wie sein unbeschreiblicher Charme, zog er sie in seine Arme, bis sie quer über seinem Schoß lag. Er betrachtete sie merkwürdig distanziert, als sähe er sie zum ersten Mal. Seine großen braunen Augen hatten noch nicht ganz den zärtlichen, liebevollen Ausdruck, den sie sich so gewünscht hätte, sondern wirkten fast traurig, doch seine makellos geformten Lippen verzogen sich zu einem unendlich sanften Lächeln - als ob, der Gedanke durchdrang störend ihr Entzücken über ihren Erfolg, er sie nicht erschrecken wollte.
»Nun, Sallah«, sagte er mit seiner vollen, leisen, sinnlichen Stimme, »du sollst es also sein.«
Sie wußte, daß sie diese rätselhafte Bemerkung eigentlich deuten sollte, aber da begann er sie zu küssen, seine Hände entwickelten plötzlich ein sehr erotisches Eigenleben, und sie vergaß alles um sich herum.
***
Vier Stuten, drei Delphine und zwölf Kühe brachten ihre Jungen exakt im gleichen Augenblick zur Welt, so stand es jedenfalls in den Zuchtprotokollen für diese Morgenstunde. Sean hatte Sorka sogar gestattet, bei der Geburt des Fohlens zuzusehen, das Pol und Bay für ihn bestimmt hatten. Er hatte sich bis zum Schluß skeptisch gegeben, was Farbe und Geschlecht des Tieres anging, obwohl er drei Tage zuvor bereits erlebt hatte, daß das erste der Zugtiere für die Gruppe seines Vaters wie gewünscht ausfiel: eine kräftige braune Stute mit weißen Fesseln und einer Stirnblesse, die bei der Geburt mehr als siebzig Kilo wog und dem schon lange verstorbenen Shire-Hengst, mit dessen Samen sie gezeugt worden war, zum Verwechseln ähnlich sein würde.
Ein Witzbold hatte gesagt, die Zuchtprotokolle von Landing würden allmählich zu den biblischen Stammbäumen der Chronik von Pern. Innerhalb von zwei Jahren war eine kräftige neue Generation entstanden, die sich täglich vermehrte. Menschliche Geburten wurden weniger penibel aufgezeichnet als die Erfolge bei den Tieren, aber mindestens ebenso stürmisch gefeiert.
Schafe und Ziegen einer nubischen Rasse, die sich irgendwie den herrschenden Bedingungen angepaßt hatte, wo andere widerstandsfähige Züchtungen versagt hatten, grasten auf Landings Wiesen und sollten bald auf die Farmen in den gemäßigten Klimazonen des Südkontinents verteilt werden. Die wachsenden Herden wurden von so großen Scharen von Zwergdrachen bewacht, daß die Ökologen allmählich befürchteten, die Tiere könnten die natürliche Fähigkeit, sich selbst zu schützen, verlieren. Die zahmen Zwergdrachen zeigten sich gegenüber den Menschen, die sie beim Ausschlüpfen an sich gebunden hatten, außerordentlich treu, obwohl der Heißhunger sich legte, wenn sie erwachsen wurden, und sie durchaus in der Lage waren, sich ihre Nahrung selbst zu suchen.
Die Biologieabteilung brachte täglich mehr über die kleinen Geschöpfe in Erfahrung. Bay Harkenon und Pol Nietro hatten ein besonders überraschendes Phänomen entdeckt. Als Bays kleine Königin sich mit einem Bronzezwergdrachen paarte, den Pol für sich gewonnen hatte, wurden sie von der starken Sinnlichkeit ihrer Schoßtiere völlig überrumpelt und stellten fest, daß sie auf sehr menschliche Weise auf den erregenden Stimulus reagierten. Nach dem ersten Schock zogen sie daraus beide den gleichen Schluß und nahmen gemeinsam eine größere Wohnung. Beeindruckt von dem empathischen Potential der Zwergdrachen, baten Bay und Pol Kitti Fing um Erlaubnis, an den vierzehn Eiern, die Bays Mariah beim Paarungsflug empfangen hatte, die Wirkung der Mentasynthese zu erproben. Sie machten um die kleine goldene Mariah viel mehr Wesens als nötig, aber weder der Zwergdrache noch sein Gelege trugen einen Schaden davon. Als Mariah schließlich ihre genetisch manipulierten Eier auf dem eigens dafür gebauten künstlichen Strand ablegte, waren Bay und Pol stolz und zufrieden mit sich und der Welt.
Durch die Anwendung der Mentasynthese, einer Technik, die ursprünglich von den Beltrae, einer sehr zurückgezogen lebenden, bienenstockähnlichen strukturierten Kultur der Eridani, entwickelt worden war, kamen latente, empathische Fähigkeiten zum Ausbruch. Die Zwergdrachen hatten schon früher gezeigt, daß diese Fähigkeiten bei ihnen vorhanden waren, mit einigen Menschen konnten sie sich sogar fast telepathisch verständigen. Die kleinen Tiere waren eindeutig ein bemerkenswertes Produkt der Evolution, die hier, ähnlich wie bei den Delphinen, ein Wesen hervorgebracht hatte, das seine Umgebung verstand - und beherrschte. Angespornt durch die Erfolge bei der Anwendung der Mentasynthese auf die Delphine, hofften Pol und Bay daher, daß die Zwergdrachen eine noch engere empathische Bindung mit den Menschen eingehen würden.
Anfänglich waren die Menschen von Beltrae, die ›beeinflußt‹ waren, natürlich mit großem Argwohn betrachtet worden, aber sobald man ihre bemerkenswerte empathische Wirkung auf Tiere und andere Menschen erkannte, verbreitete sich die Technik schnell. Mit der Zeit gab es bei vielen Bevölkerungsgruppen hochgeachtete Heiler, deren Fähigkeiten auf diese Weise verstärkt worden waren. Glücklicherweise geschah all dies lange bevor die Fraktion Reinrassiger Menschen an die Macht gelangte.
Nachdem Bay und Pol sich eingehend mit den Tunnelschlangen und den Wherries beschäftigt hatten, konnten sie das Potential der reizenden und nützlichen Zwergdrachen besser einschätzen. Dennoch waren viele Versuche mit Zwergdrachengewebe und mit mehreren Generationen der kleinen Tunnelschlangen nötig, bis man die Technik der Mentasynthese erfolgreich anwenden konnte, aber die lange Erfahrung mit anderen Gattungen wie etwa den Delphinen - und natürlich den Menschen - zahlte sich aus.
Jedermann in Landing war inzwischen einigermaßen im Bilde, was die biologischen und psychologischen Eigenschaften der Zwergdrachen anging, man hatte schließlich allen Grund, den Tierchen dankbar zu sein, und tolerierte es, wenn sie, was selten vorkam, einmal über die Stränge schlugen. Theoretisch hatte Bay durchaus gewußt, daß einige der Besitzer die ›primitiven Triebe‹ ihrer Freunde - Hunger, Furcht, Zorn und einen intensiven Paarungsdrang - mitzuempfinden schienen, sie hatte sich nur nicht vorstellen können, daß sie selbst dafür ebenso empfänglich sein würde wie ihre jüngeren Kollegen. Es war eine höchst angenehme Überraschung gewesen.
Red und Mairi Hanrahan waren froh, daß die Zwergdrachen, die Sorka und Sean an sich gebunden hatten - der Ausdruck hatte als Bezeichnung für den Akt der Prägung eines Zwergdrachen irgendwie den Weg in die Sprache gefunden -, sich sicher nicht miteinander paaren würden. Sie waren noch immer nicht begeistert von Sorkas enger Beziehung zu dem Jungen und fanden, ihre Tochter sei noch zu jung, um ein so übermächtiges sexuelles Verlangen am eigenen Leibe zu erfahren.
An diesem Morgen - seit der Landung waren fast zwölf Monate vergangen, und die Stute, die Sean sich als Mutter für sein versprochenes Fohlen ausgesucht hatte, lag in Wehen konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, daß Sorka, gerade dreizehn geworden, und Sean, zwei Jahre älter, mit ihren erwartungsvollen Drachen in engem psychischem Kontakt standen. Die beiden Braunen und der Bronzefarbene hockten auf der obersten Stange der Box, ihre Augen schillerten in wachsender Erregung, und sie gurrten ihren Geburtsgesang.
Die kleine kastanienbraune Stute ließ sich ins Stroh fallen und preßte die Vorderbeine und den Kopf des Fohlens heraus. Die Dachbalken der Scheune schienen zu wogen, denn die gesamte Zwergdrachenbevölkerung von Landing hatte sich dort niedergelassen, um das Tier mit unablässigem Gurren und Zirpen anzufeuern.
Zwergdrachen hatten ein sehr gefühlsbetontes Verhältnis zu Geburten, sie versäumten keine einzige in ganz Landing, und jedes Neugeborene wurde mit schrillen Trompetentönen begrüßt. Zum Glück waren sie wenigstens taktvoll genug, um nicht auch noch in die Wohnungen der Menschen einzudringen. Die Ärzte und Hebammen der Kolonie hatten in letzter Zeit rund um die Uhr gearbeitet, Pflegerinnen waren zwangsverpflichtet und Lehrlinge angeworben worden. Eine Ansammlung von Zwergdrachen auf einem Dach war inzwischen ein unmißverständliches Signal für eine unmittelbar bevorstehende Geburt: die Zwergdrachen irrten sich nie. An der sich steigernden Intensität ihres Begrüßungsgesangs konnten die Geburtshelfer den Stand der Wehen ablesen. Der Chor raubte den Nachbarn vielleicht den Schlaf, aber die meisten Bewohner machten gute Miene zum bösen Spiel, denn selbst die Mißgünstigsten hatten erlebt, wie die Kleinen die Herden beschützt hatten, und mußten ihren Wert anerkennen.
Wieder preßte die braune Stute, das Fohlen schob sich weiter heraus. Da die Beine, der Kopf und der vordere Teil des Körpers vom Fruchtwasser naß waren, konnte Sean die Farbe des Tieres nicht erkennen. Dann erschien der restliche Körper, beim nächsten Schub folgten die Hinterbeine. Kein Zweifel, das Fohlen war nicht nur dunkel gefleckt, sondern auch ein kleiner Hengst. Mit einem ungläubigen, freudigen Aufschrei fiel Sean neben dem Kopf des kleinen Kerls auf die Knie und begann ihn trockenzureiben, noch ehe die Stute sich um ihn kümmern konnte. Sorka liefen die Tränen über das staubige Gesicht, und sie schlang die Arme um sich. Wie aus weiter Ferne drangen die aufgeregten Kommentare der anderen Geburtshelfer in der großen Scheune zu ihr.
»Es ist das einzige Hengstfohlen«, sagte ihr Vater, als er zu Sean und Sorka zurückkam. »Wie bestellt.« Obwohl die Kolonie eigentlich so viele weibliche Tiere brauchte, wie man nur züchten konnte, hatte man Seans Wunsch nach einem Hengst tatsächlich berücksichtigt. Und ein Hengst am Ort war eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme, obwohl man mehr als genug verschiedenes Sperma in Reserve hatte. »Ein großartiger Bursche«, bemerkte Red und nickte anerkennend mit dem Kopf. »Der kommt bestimmt auf gute sechzehn Handbreiten, wenn er ausgewachsen ist. Geburtsgewicht mindestens achtundfünfzig Kilo, würde ich sagen. Ein Prachtkerl, und sie hat sich tapfer gehalten.« Er streichelte den Hals der kleinen Stute, die das nun kräftig saugende Fohlen ableckte. »Na komm, Sorka«, fuhr er fort, als er ihr tränenverschmiertes Gesicht sah, und umarmte sie tröstend. »Ich halte mein Versprechen, du bekommst auch ein Pferd.«
»Das weiß ich doch, Dad«, sagte sie und vergrub das Gesicht an seiner Brust. »Ich weine nur, weil ich mich so für Sean freue. Er hat Bay nämlich nicht geglaubt. Keinen Augenblick lang.«
Red Hanrahan lachte leise, denn Sean durfte es keinesfalls hören. Freilich hatte der Junge ohnehin nur Augen und Ohren für das Fohlen, das jetzt seinen Stummelschwanz krampfhaft hin- und herdrehte, als könne es dadurch den Milchfluß beschleunigen. Auf Seans stets mißtrauischem, oft zynischem Gesicht lag ausnahmsweise ein weicher, fast zärtlicher Ausdruck, und er schien das Fohlen mit seinen Blicken verschlingen zu wollen.
Nachdem Sorka ihren Vater dankbar umarmt hatte, trat sie zurück, und Duke flog ihr fröhlich schwatzend auf die Schulter und legte seinen Schwanz besitzergreifend um ihren Hals. Dann beugte er sich mit blau und grün funkelnden Augen vor, um das Neugeborene seinerseits genau zu begutachten. Dadurch ermutigt, flatterten Seans Braune auf die untere Stange der Fohlenbox und begannen piepsend und zirpend eine Unterhaltung mit Duke.
»Seid ihr einverstanden?« fragte Sean sie und grinste trotz seines etwas aggressiven Tonfalls.
Sie nickten energisch mit den Köpfen und spreizten die Flügel, wobei sich jeder beschwerte, daß der andere ihm im Weg sei. Schließlich legten sie die Schwingen an und versicherten Sean wortreich, sie hätten nicht das geringste auszusetzen. Er grinste.
»Er ist wirklich eine Schönheit, Sean. Genau das, was du wolltest«, sagte Sorka.
Unbegreiflicherweise schüttelte Sean den Kopf und machte ein skeptisches Gesicht. »Er ist noch zu jung, man kann noch nicht sagen, ob er an Cricket rankommt.«
»Also du bist wirklich unmöglich!« fauchte Sorka wütend, stürmte aus der Box und schlug die Stange so heftig zu, daß sie sich fast verklemmte.
»Was habe ich denn gesagt?« wollte Sean von Red Hanrahan wissen.
»Ich glaube, da mußt du selbst dahinterkommen, mein Junge!« Red klopfte ihm auf die Schulter, hin- und hergerissen zwischen Belustigung und einer gewissen Sorge um seine Tochter. »Du fütterst bitte die Stute, ehe du gehst, ja, Sean?«
Als Red Hanrahan durch die Stallgasse ging, um die anderen Neugeborenen zu besichtigen, dachte er über Sorkas Verhalten nach. Sie war erst dreizehn, aber gut entwickelt und menstruierte bereits seit fast einem Jahr. Daß sie in Sean vernarrt war, sah jeder außer Sean selbst. Er tolerierte sie nur, ebenso wie seine Familie. Main und Red hatten oft darüber gesprochen, die Herkunft des Jungen machte sie mißtrauisch, obwohl sie beide der Ansicht waren, daß es an der Zeit war, die alten Vorurteile über Bord zu werfen.
Auch Sean hatte einige beträchtliche Zugeständnisse gemacht. Vielleicht wollte er nicht hinter Sorka zurückstehen, vielleicht war es auch nur männliche Arroganz, jedenfalls hatte er sich im Lesen und Schreiben sehr verbessert und benützte häufig das Lesegerät in Reds Büro, um tiermedizinische Texte zu studieren. Red hatte die Interessen des Jungen tatkräftig gefördert und ihn ermuntert, bei den Zuchttieren mitzuhelfen. Der Junge hatte zweifellos eine Hand für alle Tiere, nicht nur für Pferde; mit den Schafen wollte er allerdings nichts zu tun haben.
»Sean sagt, Schafe sind zum Stehlen, zum Tauschen und zum Essen da«, erklärte Sorka ihrem Vater, als er sich zu diesem Phänomen äußerte.
Mairi machte sich gelegentlich Sorgen, als die beiden gemeinsam auf zoologische Expeditionen geschickt wurden, weil Sorka dabei zwangsläufig ständig mit Sean zusammen war. Aber Sorka erklärte unbekümmert, sie käme mit Sean gut aus und außerdem seien sie beide mehr daran gewöhnt, mit Haus- und Wildtieren umzugehen als in der Stadt aufgewachsene junge Leute. Solange sie ihre Pflichten für die Kolonie nicht nur erfüllten, sondern auch noch Freude daran hatten, waren sie den anderen voraus. Im übrigen leistete Sean mehr für Landing als die meisten seiner Leute. Es war eben nur, daß Sean und Sorka in ganz Landing allmählich als Pärchen angesehen wurden, bemerkte Mairi eines Abends etwas wehmütig zu Red, der sich zu seiner Überraschung plötzlich in der Rolle des Advocatus Diaboli wiederfand. Aber schließlich hatte er sich wie Sorka an Seans Art gewöhnt und wußte, worüber er hinwegsehen mußte.
Soweit es Red bekannt war, hatte sich Sorka an diesem Morgen zum ersten Mal auf typisch weibliche Art verärgert gezeigt, und er fragte sich nachdenklich, ob ihre Geduld mit Scans Begriffsstutzigkeit erschöpft war oder ob ihre Beziehung lediglich in eine neue Phase trat. Sorka war über sexuelle Dinge ausreichend aufgeklärt worden, aber bis heute hatte sie Seans Verhalten und seine Schrullen geduldig hingenommen. Er mußte bei nächster Gelegenheit mit Mairi darüber sprechen.
»Red! Reeeddd!« rief ein anderer Tierarzt besorgt.
Red rannte zu Hilfe. Erst viel später an diesem Abend dachte er wieder an das Problem Sorka und Sean, aber da schlief Mairi schon lange, und sie hatte ihre Ruhe nötig, denn die Arbeit im Kinderhort war anstrengend, und außerdem befand sie sich im zweiten Drittel einer Schwangerschaft.
***
Der nach Westen gerichtete Ausläufer des Nordkontinents zeigte direkt auf die große Insel, die lavendelblau aus dem morgendlich grauen Ozean aufragte. Avril hatte das Wüstencamp vor Tagesanbruch verlassen und nur eine Nachricht hinterlegt, daß sie sich einen Tag freinehmen wolle. Den anderen würde es nichts ausmachen, und sie hatte Ozzie Munson und Cobber Alhinwa ebenso gründlich satt wie umgekehrt.
Gestern hatten die zwei Bergleute ein paar wirklich schöne Türkise gefunden, sich aber geweigert, ihr den Fundort zu verraten. Nur einen kurzen Blick auf die schönen, himmelblau gebänderten Steine hatten sie ihr gestattet, um sie zu quälen. Als sie am Abend ins Camp gekommen war, hatte sie gleich gemerkt, wie aufgeregt die beiden über den Brocken waren, den sie wie einen Ball zwischen sich hin und her warfen. Sie hatte nur gebeten, ihn sehen zu dürfen, und war ärgerlich geworden, als die Bergleute so geheimnisvoll taten. Mit diesen beiden mußte sie vorsichtig sein, dachte sie. Die hielten sich für sehr schlau. Jedenfalls waren Türkise, obwohl sie wegen ihrer Seltenheit auf der Erde geschätzt wurden, es eigentlich nicht wert, daß sie sich diesen beiden Blödmännern an den Hals warf.
Als sie dann beim Abendessen immer noch miteinander flüsterten und mit hinterhältigem Lächeln zu ihr hinsahen, begann sie sich zu fragen, ob es wohl einen besonderen Grund gab, daß sie auf ihre höfliche und bescheidene Frage so reagierten.
Sie versuchte sich zu erinnern, ob die zwei jemals mit Bart Lemos zusammengearbeitet hatten, aber der befand sich bei Andiyars Erzberg. Über die Goldnuggets, die er mit der Pfanne aus einem Gebirgsbach oberhalb des Camps gewaschen hatte, mußte er wohl ausnahmsweise den Mund gehalten haben. Wie es der auf der Yoko geschlossene Pakt verlangte, hatte er sie ihr gegeben, und sie hatte sie in ihr Versteck in Landing gebracht. Viel von ihrem Plan hatte sie ihm nicht anvertraut, denn man brauchte Bart Lemos nur ein paar Becher Quikal einflößen, dann erzählte er jedem seine ganze Lebensgeschichte.
Vielleicht war Stev Kimmer doch kein so guter Verbündeter, wie sie zuerst gedacht hatte, als sie im letzten Jahr der endlosen Reise zu diesem gottverlassenen Planeten seine hinterhältigen, witzigen Klagen hörte. Er war attraktiver als die anderen, äußerst attraktiv sogar und, was noch wichtiger war, er besaß Temperament und war auch bereit, Wagnisse einzugehen, Eigenschaften, die der hochgepriesene Admiral Benden nie hatte erkennen lassen. Ein bißchen langweilig im Bett, der gute Admiral. Zur Hölle mit Paul Benden. Warum er sich wohl auf einmal so betont von ihr zurückgezogen hatte? Dabei hatte er ihr so stürmisch seine Zuneigung beteuert, daß sie geglaubt hatte, den Ehekontrakt bereits in der Tasche zu haben. Und dann, knapp ein Jahr von ihrem Ziel entfernt, als Rubkat in der Schwärze des Weltraums von einem Funken zu einer Kerzenflamme angewachsen war, hatte Benden sich verändert. Plötzlich hatte er keine Zeit mehr für sie gehabt. Nun, er würde schon sehen, aus welchem Holz Avril Bitra geschnitzt war. Aber dann würde es zu spät sein.
Damals auf der Erde, als der Krieg gegen die Nathi vorbei war und die Aufregung sich gelegt hatte, war ihr das Kolonistendasein als recht verlockend erschienen. Alles andere bis auf Centauri First, und das wurde, wie jedermann wußte, von den Ersten Familien und den Gründerfirmen beherrscht, war nicht besser als die Erde oder die schwerfälligen Handelsschiffe, wo man in den unteren Dienstgraden verschimmeln konnte. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, sich als Navigatorin auf ein Bergwerksschiff im Asteroidengürtel zu melden, aber dann war ohne ersichtlichen Grund die Roosevelt-Kuppel explodiert, und dabei waren bis auf eine Handvoll alle zehntausend Einwohner umgekommen. Die Chance, über eine neue Welt zu herrschen, hatte sie gereizt. Im Lauf der Jahre hatte sie genügend Erfahrung mit Psychotests gesammelt, um zu wissen, wie man seinen Puls kontrollierte und welche Antworten man auf die idiotischen Fragen geben mußte, die angeblich aufdecken sollten, was Wahrheit war und was Fiktion. So war sie als Astrogatorin für die Pern-Expedition angenommen worden.
Aber nachdem es ihr nicht gelungen war, Paul Benden einzufangen, der Perns erster Führer sein würde - ihrer Schätzung nach würde die etwas farblose Emily Boll von dem präsentableren Admiral verdrängt werden, sobald die Landung auf Pern abgeschlossen war -, fand sie die Aussicht, den Rest ihres Lebens in einem finsteren Winkel am Ende der Milchstraße zu verbringen, unerträglich. Schließlich war sie eine qualifizierte Astrogatorin, und mit einem Schiff, Sternenkarten und einem Kälteschlaftank mußte es doch möglich sein, sich zu irgendeinem zivilisierten und höher entwickelten Planeten durchzuschlagen, wo sie das Leben so genießen konnte, wie sie es sich wünschte.
Mit Stev Kimmer hatte sie eigentlich nur angebändelt, um sich darüber hinwegzutrösten, daß sie Paul Benden verloren hatte. Als sie bemerkte, daß Bart Lemos jedesmal um sie herumstrich, wenn Stev Dienst hatte, ermutigte sie auch ihn. Eines Abends stieß Nabhi Nabol zusammen mit einigen anderen zu der Gruppe. Bart und Nabhi waren Piloten, und jeder hatte noch eine zweite Ausbildung, die für ihre Pläne interessant war: Bart im Bergbauwesen und Nabhi in Comp utertechnik. Stev war Maschinenbauingenieur und ein Genie, wenn es darum ging, Computerfehler zu diagnostizieren und Chips so umzugruppieren, daß sie das Doppelte der Leistung brachten, für die sie ausgelegt waren.
Für den Plan, der in ihrem Kopf allmählich Gestalt annahm, sammelte sie noch weitere Helfer. Die meisten waren Kontraktoren wie sie selbst oder Konzessionäre mit kleinen Einlagen, die allmählich das Gefühl bekamen, zu kurz gekommen zu sein. Ganz am Rande spielte sie auch mit dem Gedanken, daß es vielleicht Spaß machen würde, die Leute so lange aufzustacheln, bis sie ihre wohlwollenden Führer stürzten, um Pern schließlich allein zu regieren, nicht nur als Lebensgefährtin von Paul Benden. Aber dazu mußte sie einen günstigen Moment abwarten, wenn die Kolonie zur Ruhe gekommen war und die Schwierigkeiten begannen.
Bis auf kleinere Hindernisse war bisher nichts passiert, was sie für ihre Zwecke hätte verwenden können. Alle waren vollauf damit beschäftigt, in der Gegend herumzulaufen, sich einzurichten, Vieh zu züchten und hierhin und dorthin zu fliegen, um sich Grundstücke anzusehen. Sie verachtete die Kolonisten für ihre Begeisterung von dieser gräßlich leeren Wüste von einer Welt mit ihrer lärmenden Tierwelt und den Tausenden von kriechenden, sich schlängelnden oder fliegenden Wesen. Auf dem ganzen Planeten gab es kein anständiges und nützliches einheimisches Tier, und sie hatte es allmählich mehr als satt, ständig nur Fisch oder Wherry zu essen, wobei die Wherries manchmal mehr nach Fisch schmeckten als das, was tatsächlich aus dem Meer kam. Selbst Pökelfleisch wäre schon eine willkommene Abwechslung gewesen.
Ihre Entschlossenheit, dieses Provinznest zu verlassen, wuchs immer mehr. Aber sie würde es in großem Stil verlassen, und alle anderen konnten zum Teufel gehen.
Auf Stev Kimmer konnte sie bei dieser Flucht nicht verzichten. Er baute ihr gerade ein Notfunkfeuer aus Teilen, die er auf der Yokohama ›gefunden‹ hatte; ohne dieses lebenswichtige Gerät hätte sie ihren Plan aufgeben müssen. Außerdem mußte sie sich Kimmer für den Augenblick warmhalten, wenn sie sich die Admirals-Gig aneignen wollte.
Wichtiger war noch seine Bereitschaft, ihr dadurch in die Hand zu arbeiten, daß er diejenigen Inselabschnitte absteckte, wo es auch wirklich Edelsteine gab. Großmutter Shavva hatte ihrer einzigen noch lebenden Nachfahrin ein Erbe hinterlassen, das es jetzt anzutreten galt.
Kimmer sollte für sieben Tage einen Schlitten anfordern, um nach einem Grundstück zu suchen, was sein gutes Recht war, und dabei durchblicken lassen, daß er sich auf dem Südkontinent umsehen wollte. Als Veteran des Nathi-Krieges war sein Anspruch doppelt so groß wie der von Avril. Daß die Konzessionäre mehr Land zugesprochen bekommen sollten als jeder Kontraktor, auch als sie selbst, die Astrogatorin, die sie alle sicher an diesen elenden Ort gebracht hatte, war eine Tatsache, die ihr noch nie so recht in den Kram gepaßt hatte.
Zum Teufel mit Munson und Alhinwa. Sie hätten ihr sagen können, wie sie den Türkis ausgebuddelt hatten. Pern war eine jungfräuliche Welt, bisher noch unberührt von rücksichtslosen Prospektoren und habgierigen Händlern, und es gab Metall und Mineralien in Hülle und Fülle, genug für alle. Auf höherentwickelten Welten würden sich passionierte Sammler um jeden großen, farblich einwandfreien Brocken dieses himmelblauen Steins reißen - je höher der Preis, den man verlangte, desto größer das Interesse der Sammler!
Warum hatte sie eigentlich von Nabhi nichts mehr gehört? Sie hatte ihn im Verdacht, sein eigenes Süppchen zu kochen und sich nicht an die Regeln zu halten, die sie aufgestellt hatte. Sie mußte ihn scharf im Auge behalten, er war ein unsicherer Kantonist, ähnlich wie sie selbst. Auf lange Sicht hatte sie als Astrogatorin freilich die besseren Karten, weil Nabhi nicht in der Lage sein würde, alleine nach Hause zu gelangen. Er brauchte sie, aber sie brauchte ihn nicht - wenn es ihr nicht paßte. Nabol war im Ganzen gesehen für ihre Zwecke nicht so geeignet wie Kimmer, aber wenn es hart auf hart ging, würde auch er genügen.
Sie hatte die Insel fast erreicht und konnte schon die Wellen gegen den Granitfelsen schlagen sehen. Sie schwenkte nach Backbord ab und suchte nach der Mündung der natürlichen Hafenbucht, wo das längst verstorbene EV-Team gelagert hatte. Kimmer sollte sie hier erwarten, denn sie fühlte sich erheblich wohler an einem Ort, wo bereits einmal Menschen gewesen waren. Das idiotische Geschwätz der Kolonisten, sie hätten dies oder jenes als ›erste‹ gesehen oder irgendwelche Gebiete als ›erste‹ betreten, oder die Streitereien über die Namengebung, die Abend für Abend am Freudenfeuer geführt wurden, fand sie unerträglich. Scheiß auf den Drake-See! Drake war ein alberner Esel! Und ein lausiger Gravballspieler!
Sie korrigierte ihren Kurs, als sie die beiden Felsspitzen entdeckte, die am Eingang der ungefähr ovalen Hafenbucht einen natürlichen Wellenbrecher bildeten. Kimmer hatte den Schlitten sicher ohnehin irgendwo versteckt, für den Fall… Sie unterbrach den Gedankengang und schnaubte belustigt, aber auch mit einer gewissen Erbitterung. Als ob auf dieser ach so tugendhaften Welt einer dem anderen nachspionieren würde!
»Wir sind hier alle gleich.« Unsere tapferen, edlen Führer haben es so bestimmt. Jeder bekommt den gleichen Anteil an Perns Reichtum. Darauf könnt ihr wetten. Nur werde ich mir meinen gleichen Anteil vor allen anderen holen, und mir dann den Staub dieses Planeten von den Füßen schütteln!
Als sie den Wellenbrecher überflog, sah sie im dichten Gebüsch auf der Steuerbordseite auf einem Sims oberhalb des Sandstrandes etwas Metallisches aufblitzen. Ganz in der Nähe stieg der Rauch von Kimmers kleinem Feuer auf. Sie setzte ihren Schlitten dicht neben dem seinen ab.
»Du hast recht gehabt mit dieser Stelle, Baby«, begrüßte er sie, hob eine Faust und schüttelte sie triumphierend. »Ich kam gestern nachmittag hierher, die ganze Strecke über herrlicher Rückenwind, hab's also in Rekordzeit geschafft. Nun sieh dir mal an, was ich als erstes gefunden habe!«
»Zeig her«, sagte sie und tat so, als könne sie ihre Neugier kaum mehr bezähmen, obwohl ihr dieser Alleingang gar nicht zusagte.
Er grinste breit, öffnete langsam die Finger und streckte die Hand aus, so daß sie den großen grauen Felsbrocken sehen konnte. Ihr Eifer schlug um in Enttäuschung, bis er den Stein ein klein wenig drehte und sie auf einer Seite, halb vergraben, ein unverkennbares grünes Glitzern entdeckte.
»Donnerwetter!« Sie riß ihm den Stein aus der Hand und drehte sich hastig in die Sonne, die inzwischen über dem Ozean aufgegangen war. Dann benetzte sie einen Finger und rieb über die grün glitzernde Stelle.
»Ich habe noch etwas gefunden«, sagte Kimmer.
Sie blickte auf und sah, daß er einen eckigen, grünen Stein in der Hand hielt, etwa so groß wie ein Löffelkopf, mit rauhen Kanten, wo er aus seinem Kalksteinbett herausgelöst worden war.
Sie hätte den Stein mit dem noch verborgenen Schatz beinahe fallen lassen, so hastig griff sie nach dem rohen Smaragd. Sie hielt ihn in die Sonne, sah eine Verunreinigung im Innern, hatte aber an dem klaren, tiefen Grün nichts auszusetzen. Sie wog ihn in der Hand. Es mußten dreißig oder vierzig Karat sein. Wenn sie einen geschickten Steinschneider fand, der die fehlerhafte Stelle aussparte, würde ein Edelstein von fünfzehn Karat übrigbleiben. Und wenn dieser Stein nur eine Kostprobe war… Die Vorstellung, bei einem Edelsteinschleifer in die Lehre zu gehen und diesen herrlichen Stein zum Üben zu benützen, erheiterte sie.
»Wo?« fragte sie heiser vor Ungeduld.
»Da drüben.« Er drehte sich um und zeigte hinauf in das dichte Pflanzengewirr. »In den Felsen gibt es eine ganze Höhle voll.«
»Du bist einfach reingegangen, und da hat er dich angefunkelt?« Sie zwang sich zu einem unbekümmerten, ein wenig spöttischen Tonfall und zu einem anerkennenden Lächeln. Er sah so verdammt selbstzufrieden aus. Sie lächelte weiter, knirschte aber dabei mit den Zähnen.
»Ich habe Klah gekocht«, sagte er und deutete auf das Feuer, über dem ein Bratspieß und eine Steinplatte für den Kessel aufgebaut waren.
»Dieses gräßliche Zeug«, rief sie. Sie hatte sich bei der Flotte eine Vorliebe für starken Kaffee angewöhnt, und der war zum letzten Mal bei dieser jämmerlichen Denkparty ausgeschenkt und verschüttet worden, als der Erdstoß die Kannen von den Ständern warf. Der letzte Kaffee von der Erde war nutzlos im Dreck von Pern versickert.
»Ach, wenn man es genug süßt, ist es gar nicht so übel.« Er schenkte ihr unaufgefordert einen Becher ein. »Angeblich soll es ebensoviel Koffein enthalten wie Kaffee oder Tee. Der Trick bestand darin, die Rinde gründlich zu trocknen, ehe man sie mahlt und aufbrüht.«
Er hatte Süßstoff in den Becher geschüttet und reichte ihn ihr, in der Erwartung, sie würde seine Aufmerksamkeit zu schätzen wissen. Sie konnte es sich nicht leisten, Kimmer zu vergraulen, auch wenn er sich noch so widerlich anerkennend wie ein braver kleiner Kolonist über die guten kolonialen Ersatzstoffe äußerte.
»Tut mir leid, Stev«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln und nahm den Becher. »Morgens ist mit mir nichts anzufangen. Und der Kaffee fehlt mir wirklich.«
Er zuckte die Achseln. »Jetzt dauert es ja nicht mehr lange, oder?«
Sie lächelte weiter und fragte sich dabei, ob er wohl wußte, wie albern er sich anhörte, wenn er nur den Mund aufmachte. Doch dann nahm sie sich zusammen. Sie hätte First Lady auf Pern werden können, wenn sie mit Paul ein wenig behutsamer umgegangen wäre. Was hatte sie eigentlich falsch gemacht? Sie hätte schwören können, daß es ihr gelingen würde, sein Interesse an ihr wachzuhalten. Alles war glattgegangen, bis sie das Rubkat-System erreichten. Dann hatte er auf einmal so getan, als gäbe es sie gar nicht mehr. Und dabei habe ich sie alle hierher gebracht!
»Avril?«
Die Ungeduld in Stev Kimmers Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. »Entschuldige!« sagte sie.
»Ich sagte, ich habe genug Proviant für heute zusammengepackt, wir können also aufbrechen, sobald du fertig bist.«
Sie kippte den Becher aus und beobachtete, wie die dunkle Flüssigkeit kurz einen dunklen Flecken in den weißen Sand zeichnete. Dann schüttelte sie auch den letzten Tropfen aus dem Becher heraus, stellte ihn mit der Öffnung nach unten neben das Feuer, wie es sich für eine brave kleine Kolonistin gehörte, stand auf und lächelte Kimmer strahlend an. »Nun, dann laß uns gehen!«