Tag 2, Dienstag


In der Nacht schlief sie wenig und unruhig und am nächsten Morgen bog sie schon um Viertel vor acht auf den Parkplatz des Polizeipräsidiums ein.

Den Beamten an der Schranke kannte sie zum Glück kaum. Sie parkte etwas abseits und schaute ein letztes Mal in den Spiegel. Los geht’s, sagte sie sich.

Entschlossen öffnete sie die Wagentür und stieg aus. Während sie zügigen Schrittes und ohne sich nach links und rechts umzuschauen Richtung Eingang eilte, hörte sie eine Parkreihe weiter eine Autotür zuschlagen.

Frau Becker, warten Sie!“

Biederkopf. Es war kein Auto mit ihr hinein gefahren. Hatte er im Wagen gewartet, bis sie erschienen war? Ach was, das war bestimmt Zufall.

Guten Morgen, Herr Biederkopf.“

Schön, Sie wieder hier zu sehen. Kommen Sie, lassen Sie uns gemeinsam reingehen. Wir haben ja den gleichen Weg.“

Dann musste er umgezogen sein. Als sie das letzte Mal hier war, befand sich sein Büro auf einem anderen Stockwerk und an einem ganz anderen Ende des Gebäudes.

Sollen wir die Treppe nehmen? Oder geht das noch nicht mit dem Bein?“

Doch doch, ich soll sogar Treppen steigen. Und ich habe auch kaum noch Beschwerden beim Laufen. Allerdings wird das Hinken noch etwas bleiben.“

Man sieht es kaum. Hauptsache, Sie haben keine Schmerzen mehr.“

Sie nickte und klappte ihren neuen Stock auf. Besser, alle gewöhnten sich gleich an ihren Anblick mit Gehhilfe. Treppen steigen oder ähnliches sollte sie nicht ohne Hilfsmittel, um sich keinen schiefen Gang anzugewöhnen. Damit sie nicht ständig so ein sperriges Ding mit sich herumschleppen musste, hatte sie sich einen schmalen aber extrem stabilen ausziehbaren Stock zugelegt. Den konnte sie in die Handtasche oder sogar in die Hosentasche stecken.

Taktvoll ignorierte Biederkopf den Stock und zu ihrer Erleichterung bot er ihr auch nicht an, ihr zu helfen.

Allzu schnell traten sie aus dem Treppenhaus in den Gang zu ihrem Büro und die ersten Kollegen bemerkten sie. Wie erwartet, begegnete ihr alles vom lauten Hallo bis zu verstohlenen Blicken. Doch die Anwesenheit des Staatsanwaltes hinderte alle daran, sie zu sehr zu bedrängen. Das war wahrscheinlich auch die Absicht seiner Begleitung.

Als sie an die Tür ihres Büros kamen, klopfte er kurz und stieß sie schwungvoll auf.

Tamtaratam. Da ist sie wieder, ihre Chefin. Ich habe doch versprochen, sie zurückzubringen.“

Jenny musste unwillkürlich lachen und das Eis war gebrochen.

Logo sprang auf, kam auf sie zu und nahm sie kurz in den Arm. Sein junger schlaksiger Kollege Sascha hüpfte hinter ihm auf und ab wie ein Gummiball.

Das ist toll Jenny, dass du wieder da bist.“

Danke, Sascha, ich freu mich auch.“

Biederkopf räusperte sich. „So, dann wünsche ich den Herrschaften einen schönen Tag. Und bitte halten Sie mich auf dem Laufenden in Sachen Wilma Markgraf.“

Jenny nickte ihm zu und sagte leise: „Danke.“

Er nickte und verließ den Raum.

Einen Moment machte sich ungemütliches Schweigen breit. Logo und Sascha standen mitten im Raum, schauten sie an und wussten wohl nicht recht, was als Nächstes geschehen sollte. Nun, sie würde ruck, zuck für Normalität sorgen.

Gibt’s Kaffee? Ist der Bericht von der Spusi da? Und den vom Prof brauch ich auch! Und dann will ich alles wissen, was in den letzten Monaten passiert ist.“

Ihre Kollegen lachten erleichtert. Sascha beeilte sich, ihr eine Tasse Kaffee zu holen, während Logo sich an seinen Schreibtisch setzte und die Berichte zusammenschob.

Jenny setzte sich an ihren Platz und stellte fest, dass alles völlig unverändert war. Nicht mal ihre persönlichen Sachen waren beiseite geräumt worden, als wäre immer klar gewesen, dass sie nur eine kurze Auszeit nähme. Oder hatten sie alles schnell wieder hingestellt? Nee, dagegen sprach die Staubschicht auf ihren Stiften. Nur das Foto von IHM war verschwunden und sie würde nicht fragen, wohin.

Während sie ihren Kaffee trank, informierte Logo sie über die Vorkommnisse der letzten Monate. Außergewöhnliches war nicht passiert. Ein Beziehungsmord, bei dem der Täter, der Ehemann, noch am Tatort festgenommen werden konnte. Zwei Morde im Rotlichtmilieu, bei denen die vermeintlichen Täter bekannt waren, es ihnen allerdings nicht bewiesen werden konnte.

Vor zwei Tagen war ein Einbrecher auf frischer Tat erwischt und vom Wohnungseigentümer erschossen worden. Der Einbrecher hatte sich ausgerechnet das Haus eines Kollegen von der Verkehrsabteilung ausgesucht. Das war ihm schlecht bekommen. Natürlich wurde der Fall von der Internen untersucht, doch schien es sich um Notwehr zu handeln.

Und eben Wilmas Tod. Der Bericht der Gerichtsmedizin war erst vor einer halben Stunde eingetroffen. Der Fall war nicht einfach. In Wilmas Magen war eine große Menge Schlaftabletten gefunden worden. Auch die Art, wie sie in ihrer Wohnung aufgefunden worden war, sprach für Selbstmord. Allerdings existierte kein Abschiedsbrief und auch in ihrem Umfeld hatte niemand Hinweise auf drohenden Selbstmord wahrgenommen. Sie hatte weder den Job verloren noch sonst ein dramatisches Erlebnis gehabt. Zumindest soweit sie bisher wussten. Ihre letzte feste Beziehung schien die mit Mario gewesen zu sein.

Doch auf den Prof war Verlass. Er hatte winzig kleine Druckstellen gefunden, die sich links und rechts der Kieferwinkel befanden. Sie wiesen eindeutig darauf hin, dass jemand Wilmas Mund gewaltsam aufgedrückt hatte, um ihr etwas einzuflößen.

Nachdem die Druckstellen aufgefallen waren, fand man weitere an anderen Körperstellen. Sie bewiesen, dass man sie festgehalten hatte. Festgehalten, bis sie die tödliche Dosis geschluckt hatte und die Wirkung eingetreten war, was laut Prof etwa eine halbe Stunde gedauert haben dürfte.

Die Mordkommission ging aufgrund der Indizienlage fortan von Mord aus und die Spurensicherung stellte die Wohnung nochmal intensiv auf den Kopf. Sie waren gerade vor Ort.

Der Todeszeitpunkt wurde auf etwa 22 Uhr abends geschätzt. Bisher gab es keinerlei Hinweise, was Wilma an dem Abend vorgehabt hatte.

Mit Fragen und Antworten zum Fall überbrückten die drei Kollegen die nächste Stunde, ohne dass es zu irgendwelchen persönlichen Bemerkungen kam.

Dann jedoch war Jennys Schonfrist vorbei. Offensichtlich war eine Stunde die Anstandszeit, die nach allgemeiner Ansicht eingehalten werden musste. Ab neun Uhr gaben sich die Kollegen die Tür in die Hand. Gute Bekannte wollten Hallo sagen und sich nach Jennys Befinden erkundigen. Manche drückten ihre Freude aus, dass sie wieder da war. Doch es gab auch die andere Gruppe. Kollegen, die sie kaum kannten, und die sich das Recht herausnahmen, sie nach ihren Erlebnissen zu fragen. Sie erkundigten sich mit einem Gesichtsausdruck nach ihrem Befinden, in dem deutlich die Frage, was sie hier eigentlich wolle, zu lesen war. Manche machten dumme Witze in der Art, sie solle männliche Verdächtige lieber erst mal den Kollegen überlassen und einer, Kollege Frost, fragte sie allen Ernstes, wie es denn gewesen sei, mit einem Mörder zu schlafen.

Das war der Moment, in dem Logo einschritt, den Trottel am Kragen packte und einfach vor die Tür setzte.

Jenny, die anfangs alle Fragen und Ratschläge kurz und unverbindlich beantwortet hatte, war mittlerweile den Tränen nahe. Genau so hatte sie sich das vorgestellt. Nur hatte sie erwartet, dass die Kollegen hinter ihrem Rücken reden würden. Dass sie dumme Witze von Angesicht zu Angesicht machten, hätte sie sich kaum vorstellen können. Auch wenn sie wusste, dass es in Polizeikreisen neben den netten sowohl schlichte als auch missgünstige Gemüter gab.

Logo kam wieder ins Zimmer und rieb sich die Hände. „So ein Vollpfosten. Fragt mich noch, was er so Schlimmes gesagt habe. Mach dir nichts draus Jenny, das sind Volldeppen, die meinen das nicht mal böse.“

Jenny seufzte. „Ich hab‘s ja erwartet. Ein Grund, warum ich nicht zurückkommen wollte. Und weißt du, was das Schlimmste ist? Ich versteh es gut. Sie haben ja mit allem recht.“

Schwachsinn“, ertönte es plötzlich vom anderen Schreibtisch. Jenny und Logo schauten erschrocken zu Sascha, der aufgestanden war und auf den Tisch gehauen hatte.

So ein Unsinn. Nichts haben die. Nicht mal Benehmen und vor allem nicht Recht. Und der Nächste, der hier so einen blöden Spruch loslässt, kriegt eins auf die Nase.“

Jenny guckte ihn völlig entgeistert an. Sowas war sie von ihrem jungen Kollegen gar nicht gewohnt.

Logo grinste. „Da siehst du mal, Jenny, wir stehen voll hinter dir. Wenn du das Benehmen von denen ignorierst, geht das am schnellsten vorbei.“

Jenny guckte ihn groß an. „Na, ihr seid ja die Richtigen. Wer hat denn Kollege Frost rausgeworfen und wer haut hier fast das Mobiliar kaputt?“

Die beiden blickten sich etwas zerknirscht an. Logo wechselte wenig elegant das Thema. „Okay, lass uns einfach zum Fall zurückkehren. Wie gehen wir weiter vor?“

Wir müssen uns die Lebensumstände von Wilma genau anschauen und unbedingt mit allen Bekannten und auch mit ihrer Mutter sprechen. Hat Wilma immer noch bei dieser Bank im Nordwest-Zentrum gearbeitet?“

Ja, aber da haben wir noch mit niemandem gesprochen. Ihre Mutter sagte, sie habe keine engere Freundin gehabt, seit…“

Seit sie mit meinem Freund ins Bett ist? Versuch bitte nicht drumherum zu reden. Das ist ewig her und ich bin längst drüber weg. Außerdem kommt mir das richtiggehend harmlos vor nach allem was….“

Verstehe schon. Also wie gesagt. Keine enge Freundin. Ein paar Bekannte, mit denen sie mal essen oder ins Kino ging. Inwieweit sie ihrer Mutter alles erzählt hat, weiß ich natürlich nicht.“

Ich denk mal, eher weniger. Ihre Mutter ist zwar ganz nett, aber sie war schon immer neugierig und geschwätzig. Und sie wollte Wilma immer unter die Haube bringen. So nach dem Motto, sie wünsche sich Enkelkinder und so weiter. Also genau das, was eine Single-Frau hören will.“

Logo überlegte. „Dann hätte sie ihrer Mutter bestimmt nicht gleich erzählt, wenn sie jemanden kennenlernt hat. Nicht bevor sie sicher gewesen wäre, dass es etwas Festes ist.“

Genau. Aber vielleicht einer Bekannten oder einer Kollegin. Wie war denn die Beziehung zu Mario? Manchmal wird ja aus dem Verflossenen der beste Freund.“

Keine Ahnung.“

Also jemand muss mit ihm reden, soll ich das machen?“

Ist dir das nicht unangenehm, Jenny?“

Ach was, wie gesagt, lange her. Und ich kann vielleicht offener mit ihm reden als ihr. Und zu ihrer Mutter geh ich auch, die mochte mich immer. Nehmt ihr euch die Bank vor? War sie nicht auch in einem Sportverein? Früher hat sie mal Yoga gemacht.“

Darüber wissen wir bisher nichts. Die Spusi nimmt heut ihren PC mit und dann sehen wir, was sie da finden. Ihr Terminkalender könnte auch interessant sein.“

Hat sie immer noch in Bornheim in der Nähe der Berger Straße gewohnt?“

Ja, im Musikantenweg. Hat sie dort eigentlich mit Mario zusammen gelebt?“

Am Anfang ist er auf jeden Fall zu ihr gezogen. Ich hab ihn ganz schnell vor die Tür gesetzt und irgendwo musste er ja hin.“

Die große Liebe scheint’s wohl nicht gewesen zu sein zwischen denen?“

Das denke ich auch. Von seiner Seite ging‘s bestimmt nur um Sex. Er brauchte das als eine Art Bestätigung seiner Männlichkeit. Wilma hat wahrscheinlich gedacht, ihm liegt wirklich was an ihr.“

Hattest du seitdem gar keinen Kontakt mehr zu ihr?“

Nachdem sie mit meinem Freund ins Bett ist? Nee, da hatte ich keinen Bedarf mehr. Sie hat zwar noch ein paar Mal versucht, mich anzurufen, aber ich bin einfach nicht dran gegangen.“

Logo nickte zustimmend. „Dann machen wir uns mal auf zur Bank. Oder soll ich dich lieber begleiten?“

Nein, je eher ich wieder lerne, alleine zurechtzukommen, desto besser.“

Gut, aber pass auf dich auf und übernimm dich nicht gleich.“

Ja, Mama.“

Logo schnaubte, griff sich seine Jacke und verließ mit Sascha im Schlepptau das Büro.

Jenny ließ sich noch ein bisschen Zeit. Nachdem Logo den besonders taktvollen Kollegen Frost vor die Tür gesetzt hatte, war Ruhe eingekehrt. Offensichtlich traute sich erst mal niemand mehr herein. Sie trank in Ruhe noch einen Kaffee und blickte sich um. Alles sah aus wie vor einigen Monaten, als sie das letzte Mal hier gesessen hatte. Aber hier waren die Erinnerungen anders als in ihrer alten Wohnung. Hier dachte sie weniger an ihr Versagen und mehr an die unzähligen Fälle, die sie mit ihren Kollegen meist erfolgreich, manchmal leider auch ohne Erfolg, bearbeitet hatte.

Trotz allem war die Entscheidung gut gewesen, wieder hier zu arbeiten. Und damit würde sie jetzt loslegen. Sie freute sich nicht gerade darauf, mit Wilmas Mutter zu sprechen, denn sie konnte sich einige unangenehme Wendungen im Gesprächsverlauf vorstellen. Aber immerhin kannte sie die Frau persönlich und ihr gegenüber würde sie sich vielleicht eher öffnen.

Sie nahm ihren eigenen Wagen und fuhr in ihre alte Heimat, nach Sachsenhausen, wo Frau Markgraf in der Nähe der Darmstädter Landstraße wohnte.

Der Wohnblock war so trist, wie sie ihn von früher in Erinnerung hatte. Nullachtfünfzehn Wohnungen, immer acht in einem Hausteil, mit winzigen Balkonen, auf denen nie jemand saß. Überall Satellitenschüsseln und Wäsche.

Im Norden ragte der Henninger Turm über den Häusern empor. Das alte, in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegen den Protest der Anwohner erbaute Getreidesilo der Traditionsbrauerei beherbergte früher im obersten Geschoss ein Drehrestaurant. Heute war er wegen Baufälligkeit gesperrt und eine Bürgerinitiative kämpfte gegen den drohenden Abriss.

Als sie an Frau Markgrafs Wohnung klingelte, bewegte sich der Vorhang in der rechten Erdgeschosswohnung. Die neugierige Nachbarin, die Jenny immer heimlich Else Kling genannt hatte, wohnte offensichtlich auch noch hier. Jenny winkte freundlich und drückte gegen die Tür, als der Summer ertönte.

Im altbekannten Mief aus Katzenurin und Putzmittel stieg sie die Treppe in den zweiten Stock hinauf, wo Frau Markgraf neugierig aus der Tür spähte.

Jennifer?“, rief sie erstaunt. „Bist du das wirklich?“

Jenny nickte. „Ja, Frau Markgraf, ist ganz schön lange her, was? Kann ich bitte einen Moment reinkommen?“

Die Frau, die verhärmt aussah und zwanzig Jahre älter als sie nach Jennys Rechnung sein musste, öffnete die Tür.

Natürlich Kind, komm nur rein.“

Jenny fühlte sich unwillkürlich in die Zeit vor fünfunddreißig Jahren zurückversetzt, als sie mit Wilma durch dieselbe Tür gegangen war, um am Resopal-Küchentisch Plätzchen zu essen und dünnen Kakao zu trinken. Einen Herrn Markgraf hatte es schon früher nicht gegeben. Der hatte schon das Weite gesucht, als Wilmas Mutter schwanger wurde.

Viel hatte sich nicht verändert. Hier und da ein neues Möbelstück. Einige neue Tapeten, die nicht viel anders aussahen als die alten. Und überall Bilder von Wilma.

Komm mit in die Küche, da warst du doch immer am liebsten.“

Das war eigentlich der einzige Raum, den sie damals kennengelernt hatte, außer der Toilette natürlich. Das Wohnzimmer war die gute Stube, in die man nur abends oder mal am Sonntag ging. Und das Schlafzimmer? Eine anständige Frau hätte nie jemanden ins Schlafzimmer schauen lassen, auch kein Kind, und Frau Markgraf hielt sich für eine anständige Frau.

Und Wilma schämte sich schon immer für ihr winziges Zimmer, in das man mit Mühe ein Bett und einen schmalen Schrank hatte quetschen können.

Setz dich doch. Möchtest du einen Kakao, oder, äh, vielleicht doch lieber einen Kaffee?“

Ja, gerne, einen Kaffee. Und … es tut mir sehr leid, was mit Wilma passiert ist. Auch wenn wir uns nicht mehr gesehen haben. Trotzdem, mein Beileid.“

Frau Markgraf stieß einen Schluchzer aus und suchte in der Kitteltasche nach einem Taschentuch.

Ja, danke, das hab ich nie verstanden, dass ihr euch gestritten habt. Wo ihr doch so gute Freundinnen wart. Und nur, weil sich dein Freund in sie verliebt hat. Da konnte sie ja nichts dafür. Wo die Liebe halt hinfällt.“

Nun, das hatte Jenny etwas anders in Erinnerung, aber es nutzte jetzt niemandem mehr, es richtig zu stellen.

Neugierig war sie allerdings, ob Wilma ihrer Mutter wirklich eine so geschönte Version der damaligen Geschehnisse erzählt hatte oder ob sich Frau Margraf eine für sie angenehme Version zurecht gedichtet hatte.

Frau Markgraf hatte sich wieder gefasst und servierte zwei Tassen dünnen Kaffee. Immer noch schnüffelnd setzte sie sich an den Tisch.

Wer macht sowas bloß? Ich wusste gleich, dass sie sich nicht umgebracht hat. Ich war entsetzt. Wie kann man denn auf sowas kommen? Sowas würde mein Mädchen nie tun. Gerade, wo sie so glücklich war. Aber wer macht denn sowas, sie ermorden?“

Das versuchen wir herauszufinden, deshalb bin ich hier. Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?“

Hier? Wie meinst du das, deshalb bist du hier?“

Erinnern Sie sich denn nicht? Ich bin doch bei der Polizei, ich bin mit dem Fall betraut worden.“

Du? Aber schicken die denn keinen richtigen Polizisten? Also, ich meine, kommt denn da kein Mann? So einer, wie schon mal da war? Als sie dachten, sie hätte sich umgebracht?“

Ähm, also Frau Markgraf, das ist heute nicht mehr so. Ich bin Kommissarin der Mordkommission und Chef meiner eigenen Abteilung.“

Ach Gott, die Zeiten ändern sich ja. Also mir wäre wirklich lieber … War da nicht irgendwas mit dir in der Zeitung?“

Jenny erstarrte. „Ja aber das tut jetzt nichts zur Sache. Frau Markgraf, ich hab Wilma in den letzten Jahren nicht mehr gesehen. Können Sie mir ein bisschen über sie erzählen? Was sie machte, mit wem sie zusammen war? Alles, was Ihnen einfällt.“

Naja, also mal sehen. Also sie hatte ja endlich ihre große Liebe gefunden. Und sie wollten bald heiraten, bestimmt. Also es gab noch keinen Termin, aber sie wollten. Ich bin ja vielleicht altmodisch, aber wenn man Kinder will….“

Jenny war jetzt völlig verwirrt. „Heiraten? Ja, wen denn?“

Frau Markgraf blickte sie entrüstet an. „Na, Mario natürlich. Das war die große Liebe zwischen denen. Für dich tut mir das ja leid. Aber sie wollten heiraten und Kinder. Wurde ja auch Zeit. Ich weiß ja, dass heut alle erst mal so zusammenleben, aber so lange.“

Ähm, also sie lebten noch zusammen. Und heiraten wollten sie auch und Kinder? Sie war aber doch fast so alt wie ich, fünfundvierzig.“

Na und? Der Frauenarzt hat gesagt, bis fünfzig geht das locker. Und sie hat mir Enkelkinder versprochen. Und warum fragst du immer nach Mario? Mit wem soll sie denn sonst zusammen gewesen sein? Sie fliegt doch nicht rum. Treue und Beständigkeit ist wichtig in einer Beziehung.“

Sie musste es ja wissen. Ihre Beziehung zu Wilmas Vater hatte ungefähr vier Wochen gedauert. Aber egal.

War Mario denn oft hier?“

Ach, der hat ja so viel gearbeitet. Er war schon lange nicht mehr hier. Er hat ja sogar extra Überstunden gemacht, damit sie sich nach der Heirat ein Haus kaufen konnten. Und Wilma war auch nicht oft da. Sie musste auch so viel arbeiten und hatte ja so viele Interessen nebenher.“

Welche denn?“

Ich weiß auch nicht genau, aber immer wenn sie angerufen hat, hat sie erzählt, sie sei so beschäftigt. Ich glaube, sie hat viel Kurse gemacht. Sie hat auch immer was von Computern erzählt. Ich finde das ja nicht gut, wenn eine Frau sowas macht, aber zum Glück konnte sie auch kochen und ihre Wohnung war immer tip-top. Kommst du eigentlich zur Beerdigung am Freitag? Wir gehen danach hierher zu Schnittchen. Du kannst gerne mitkommen.“

Äh, zur Beerdigung werde ich auf jeden Fall kommen. Ob ich hinterher noch Zeit habe, hängt von unserer Arbeit ab. Gut, wenn Ihnen jetzt nichts mehr einfällt, war‘s das auch schon.“

Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum jemand meinem Mädchen so etwas antun sollte.“ Dabei fing sie wieder an zu schnüffeln und nach ihrem mehrfach benutzten Taschentuch zu kramen. „Was meinst du, soll ich Thunfischschnittchen nehmen oder rohen Schinken? Aber der Schinken ist ja so teuer geworden.“

Ach, Thunfisch ist völlig in Ordnung. So, Frau Markgraf, nochmal mein Beileid, ich muss dann los.“

Geschickt vermied sie, Frau Markgraf die Hand zu drücken, und beeilte sich aus der Wohnung zu kommen. Puh, das zog einen herunter. Jetzt war sie aber besonders gespannt auf das Gespräch mit Mario. Ob ihm wohl auch bekannt war, dass er bald heiraten würde?

Obwohl sie es eilig hatte, hier wegzukommen, klappte sie doch ihren Stock aus, um die Hüfte zu entlasten. Sie merkte jetzt schon, dass sie keine körperliche Belastung mehr gewohnt war. Trotz der Krankengymnastik.

Als sie das Haus verließ, bewegte sich wieder der Vorhang in der Erdgeschosswohnung und Jenny winkte abermals freundlich, bevor sie sich ins Auto setzte.

Marios neue Adresse lag in Eckenheim, einem Stadtteil, in den es sie selten verschlagen hatte.

Sie nahm sich nochmal den Stadtplan vor und prägte sich den Weg ein. Manchmal wär ein Navi doch toll.

Da sie quer durch die Innenstadt musste, wurde es Nachmittag, als sie vor dem Haus einen Parkplatz fand. Mario arbeitete nach wie vor im Personenschutz. Sie hatte sich vorher erkundigt, wie sein Schichtplan heute war. Da er Nachtdienst hinter sich hatte, standen die Chancen gut, ihn zu Hause anzutreffen.

Er bewohnte ein Einzimmerappartement in einem modernen Wohnhaus mit viel Glas, das zu ihrer Erleichterung einen Aufzug besaß.

Im Gegensatz zu Frau Markgraf war Mario nicht sonderlich überrascht, sie zu sehen.

Jenny, komm rein. Haben sie dir den Fall übertragen?“, sagte er, als er die Tür öffnete.

Lange schien er noch nicht wach zu sein. Das dunkelbraune Haar war verstrubbelt und er trug ein ausgeleiertes weißes T-Shirt über einer Trainingshose.

Immer noch Kaffee-Junkie wie früher?“, fragte er und ging ihr voran in die Küchennische.

Klar, manche Dinge ändern sich nie. Wie geht’s dir?“

Er gähnte. „Weißt ja, am Tag nach dem Nachtdienst kann man nix mit mir anfangen.“

Sie nickte. Daran konnte sie sich noch gut erinnern. Eine Zeit lang fand sie seine strubblige missgelaunte Unausgeschlafenheit sogar erotisch. Jetzt fand sie nichts mehr an ihm erotisch. Aber immerhin war der Kaffee gut.

So“, sagte Mario, “Wilma ist also ermordet worden? Sonst wärst du ja wohl nicht hier, oder? Soviel ich weiß, bist du doch immer noch bei der Mordkommission?“

Ja, da hat sich nichts geändert.“

Als dein Kollege gestern bei mir war, vermuteten sie noch Selbstmord. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, warum ihr überhaupt zu mir kommt. Ich hab sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen.“

Ihre Mutter hat mir gerade erzählt, ihr hättet heiraten wollen und Kinderchen in die Welt setzen.“

Was?“ Er blickte sie entgeistert an. „Was ist das denn für ein Blödsinn? Die Alte spinnt doch. Mit mir und Wilma, das war doch schon lange vorbei.“

Jenny lächelte. „Naja, so ganz in der Reihe war sie ja noch nie. Hat sich auch mehr Gedanken darum gemacht, welche Schnittchen sie beim Leichenschmaus serviert, als darum, wer ihre Tochter umgebracht hat. Also ist zwischen euch tatsächlich schon seit einem Jahr Schluss?“

Klar, wenn ich ehrlich bin, so lange hätt das gar nicht gehen sollen. Damals, sorry, wenn ich drüber spreche, aber das war doch für mich nur ein One-Night-Stand. Aber ich bin sie einfach nicht mehr losgeworden. Und ich hatte ja auch keine Wohnung. Da hab ich den Fehler gemacht, bei ihr einzuziehen. Eigentlich wollte ich nur bei ihr bleiben, bis ich was Eigenes gefunden hatte. Aber jedes Mal, wenn ich davon anfing auszuziehen, hat sie fast nen hysterischen Anfall bekommen.“

So schlimm hab ich Wilma gar nicht in Erinnerung. Sie wollte zwar unbedingt einen Mann und Kinder….“

Das wurde immer schlimmer. Am Ende war es echt krankhaft. Ich habe ihr sogar geraten, deswegen zum Arzt zu gehen. Als ich mitbekommen habe, dass sie einfach die Pille abgesetzt hat, war‘s das für mich. Da hab ich von einer Minute auf die andere meine Sachen gepackt und bin bei einem Freund untergekommen.“

Offensichtlich hat keiner daran gedacht, das ihrer Mutter mitzuteilen.“

Die hab ich sowieso nur zwei oder dreimal gesehen, wenn sich’s halt nicht vermeiden ließ. Sie redete schon beim ersten Mal von Hochzeit. Und immer diese Enkelgeschichte. Meine Güte, Wilma war damals schon fast Mitte vierzig.“

Das hört sich tatsächlich so an, als hätte sie Hilfe gebraucht. Wie hat sie denn reagiert, als du ausgezogen bist?“

Na wie wohl, völlig hysterisch! Ich habe ihr gar nicht erst gesagt, wo ich wohne. Und nachdem sie dauernd anrief, hab ich mir eine neue Handynummer besorgt. Im Büro habe ich mich verleugnen lassen, dann hat sie mir vor der Tür aufgelauert. Das war echt schlimm. Aber irgendwann hat‘s dann aufgehört. Ich habe angenommen, dass sie jemanden kennen gelernt hat.“

Erzählt hat sie von niemandem? Vielleicht so nach dem Motto, ätsch, guck mal, mit wem ich jetzt ausgehe?“

Nee, ich habe von niemandem gehört.“

Kennst du irgendeine Freundin von ihr oder eine Bekannte, mit der sie sich traf?“

Wenn ich Nachtdienst hatte, ist sie manchmal mit einer Kollegin ausgegangen. Sie kam dann immer ziemlich angeheitert nach Hause. Sie heißt Gerlinde, den Nachnamen kenn ich nicht.“

Und weißt du, in welche Läden sie sind?“

In verschiedene Bars und Discos, je nachdem was gerade in war. Einmal waren sie auf einer Ü-30 Party im Südbahnhof. Aber frag diese Gerlinde doch selbst. Die müsste sich ja finden lassen in der Bank.“

Stimmt. Gut, dann lass ich dich mal weiter aufwachen. Wenn dir noch was einfällt, kannst du mich ja anrufen, okay?“

Mach ich. Tschau.“

Er brachte sie zur Tür und sie verabschiedeten sich. Jenny zögerte einen Moment vor dem Fahrstuhl. Genug Anstrengung für heute beschloss sie und drückte den Knopf. Sie fühlte sich erschöpft und schließlich war sie ja auf Eingliederung. Das würde sie jetzt nutzen und nach Hause fahren. Sie konnte Logo auch telefonisch mitteilen, was sie herausgefunden hatte. Kurz prüfte sie sich selbst, ob dahinter der Wunsch stand, nicht mehr ins Präsidium und zu den Kollegen zurückkehren zu müssen, aber nein, sie war einfach nur müde.

Gegen achtzehn Uhr war sie zu Hause. Nach einer schnellen Dusche machte sie sich noch einen Rest eingefrorenes Chili warm und ließ sich dann auf die Couch plumpsen. Puh, sie war wirklich nichts mehr gewohnt. Aber alles in allem war der Tag gar nicht so übel gewesen.

Wilmas Fall fesselte sie natürlich. Wie hatte sich ihre Freundin so verändern können? War sie von Torschlusspanik überwältigt worden? Hatte die biologische Uhr so laut getickt? Und die Mutter erst! Deren Erwartungshaltung hatte die Probleme sicher noch verstärkt.

Wilma schien den Bezug zur Realität verloren zu haben. Schon zu glauben, dass die Affäre mit Mario etwas Ernstes und Dauerhaftes war. Jenny selbst hatte damals auch nicht gedacht, dass ihre Beziehung so schnell und unschön zu Ende gehen würde, aber niemals hatte sie sich eingebildet, dass das mit Mario die große Liebe und sie beide bald glücklich verheiratet im Eigenheim wären.

Und sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er Wilma nicht das Blaue vom Himmel versprochen hatte. Gerade diese animalische Wortkargheit hatte sie ja, wenn sie ehrlich war, angemacht. Es musste ja nicht jede Beziehung auf Ewigkeit ausgerichtet sein. Manchmal durfte man auch einfach ein bisschen Spaß haben.

So, und jetzt würde sie sich bilden und Tatort gucken. Da konnte man klasse bei einschlafen.


Ob sie mittlerweile wieder Dienst machte? Er würde es herausfinden.

Sicher vermisste sie ihn. Sie würde ihn nie aus ihrem Kopf bekommen. Und schon gar nicht aus ihrem Leben…

Es wurde Zeit, sich in Erinnerung zu bringen…