Heute


Lächelnd lehnte sich Paul Gascon auf seiner Pritsche im kanadischen Untersuchungsgefängnis zurück.

Nun, auch dem perfekten Künstler passierten Fehler.

Vielleicht hatte auch das Schicksal gesprochen.

Schließlich hatte es gerade begonnen, ihm langweilig zu werden.

Und wenn es ihm langweilig war, tendierte er dazu, anderen weh zu tun.

Und um Jenny wäre es wirklich schade gewesen.

Lebendig hatte er sie viel lieber.

Der Gedanke, dass sie jederzeit an ihn dachte, ergötzte ihn ungemein.

Und er würde dafür sorgen, dass sie ihn nie vergessen würde….


Jenny saß auf der weißen Bank im Garten der Reha-Klinik. Sie beobachtete die anderen Patienten, die teils mit Gehhilfen durch den Garten humpelten, teils von Pflegern oder Angehörigen im Rollstuhl geschoben wurden.

Morgen würde sie entlassen werden und nach Hause können. Ihr Arm schmerzte zwar immer noch, aber die tägliche Krankengymnastik hatte ihm fast die alte Beweglichkeit zurückgegeben. Anders war es mit der Verletzung an ihrer Hüfte. Noch lange würde sie das Bein leicht nachziehen, aber auch das war nicht wirklich wichtig.

Wie so oft, wenn sie ohne Beschäftigung da saß, drängten sich Bilder in ihren Kopf. Bilder der Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass sie heute hier im Sanatorium saß.

Vor morgen fürchtete sich. Hier in der Klinik war sie zumindest die meiste Zeit beschäftigt. Krankengymnastik, Massagen und Gesprächstherapien hatten den größten Teil ihres Tages ausgefüllt. Die Besuchszeiten waren zum Glück kurz und streng reglementiert und sie hatte sich bis heute geweigert, ihre Kollegen zu sehen. Sie schämte sich zu sehr.

Was sollte sie den ganzen Tag zu Hause machen? Würde sie ihren Dienst wieder antreten können? Ihre Therapeutin hatte ihr geraten, sich Zeit zu lassen, doch Zeit, freie Zeit, hieß Grübeln und Selbstvorwürfe.

Sie liebte ihren Beruf! Doch was, wenn sie sich wieder so täuschen ließ wie letztes Mal?

Langsam stand sie auf und humpelte auf ihre Gehhilfe gestützt ins Zimmer zurück.

Auf einem Tisch neben dem Bett standen Blumen und Genesungskarten. Fast alle von Kollegen aus dem Präsidium und guten Bekannten. Enge Freunde hatte sie keine mehr, seit ihre ehemals beste Freundin Wilma sie mit Jennys damaligem Freund Mario betrogen hatte. Und jetzt das! Wie sollte sie jemals wieder jemandem vertrauen?

Auf ihrem Bett lag die aufgeschlagene Zeitung von heute. Zum Glück waren die Schlagzeilen vom „Sagenmörder“ selten geworden. Paul würde voraussichtlich in einigen Wochen nach Deutschland ausgeliefert werden und im Untersuchungsgefängnis Darmstadt-Weiterstadt auf seinen Prozess warten. Bei der Durchsuchung seines Hauses auf dem Lerchesberg hatte man noch mehr Beweise gegen ihn gefunden. Im Garten konnte noch die Stelle ausgemacht werden, wo der Kopf seiner Frau jahrelang unentdeckt vergraben war. Jenny wurde übel bei dem Gedanken, wie oft sie dagestanden und das Gemüsebeet betrachtet hatte, das als Grab diente. Und die Tomaten, die dort besonders prächtig gediehen, hatte sie sogar gegessen.

Zumindest würden die Beweise ausreichen, um ihn lebenslang hinter Gitter zu bringen, ohne Chance auf vorzeitige Entlassung. Hoffentlich fand sich nicht ein gewissenloser Gutachter, der ihm verminderte Schuldfähigkeit bescheinigte. Natürlich war er geisteskrank, aber sie war sich sicher, dass er vollständig in der Lage war, zu begreifen, was er getan hatte.

Am nächsten Morgen frühstückte Jenny zeitig und packte ihre Sachen. Um neun hatte sie noch eine abschließende Untersuchung beim Stationsarzt. Er war sehr zufrieden mit ihren Fortschritten und verordnete weitere Krankengymnastik. Schmerzmittel sollte sie nur noch bei Bedarf nehmen.

Und lassen Sie es langsam angehen. Arbeiten ist noch nicht. Erst, wenn Sie völlig wiederhergestellt sind. Haben Sie jemanden, der Ihnen zu Hause zur Hand geht?“

Ja natürlich“, log Jenny und lächelte ihn freundlich an, „da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“

Er nickte beruhigt und wünschte ihr alles Gute.

Schwieriger war das Entlassungsgespräch mit der Psychologin der Klinik.

Ich kann mich doch darauf verlassen, dass Sie die Kollegin aufsuchen, die ich Ihnen empfohlen habe?“

Ja, sicher“, murmelte Jenny und schaute zur Seite.

Frau Becker, ich meine das sehr ernst. Sie haben viel durchgemacht. Mehr als manch einer verkraften kann. Davon erholt man sich nicht alleine. Sie brauchen professionelle Hilfe. Sie wollen doch irgendwann wieder ein normales Leben führen? Ich werde bei meiner Kollegin nachfragen, ob Sie zu ihr gehen.“

Jenny nickte ergeben und verabschiedete sich kurz.

Endlich frei, schoss ihr kurz durch den Kopf. Wobei, eingesperrt hatte sie sich hier eigentlich gar nicht gefühlt, eher sicher. Und nun? Sie humpelte zur Anmeldung und zog ihren Koffer hinter sich her.

Entschuldigen Sie, ich wurde gerade entlassen, können Sie mir bitte ein Taxi rufen?“ Irgendwo hatte sie zwar ihr Handy, aber das war seit Wochen nicht eingeschaltet und wo das Ladegerät war, hm, das musste irgendwo sein.

Jenny, entschuldige, ich bin zu spät.“

Erschrocken drehte sie sich um. Ihr Kollege von der Mordkommission, Logo Stein, stand hinter ihr. „Was machst du denn hier?“

Dich abholen. Ich hab mich erkundigt, wann du entlassen wirst. Irgendwie hab ich vermutet, dass du niemandem Bescheid sagen würdest.“

Früher wäre Jenny bei diesem unterschwelligen Vorwurf errötet, doch jetzt ließ sie alles seltsam unberührt. „Ich wollte mir eben ein Taxi bestellen.“

Ich möchte dich aber heimfahren. Bitte! Die ganzen Wochen hast du mich, vielmehr uns alle, ferngehalten. Ich will mich ja nicht aufdrängen, aber ich glaube, es ist besser, wenn ich dich fahre und schaue, dass du alles hast. Dann verschwinde ich wieder, okay?“

Jenny zögerte. Dann nickte sie. „Gut, danke.“

Logo nahm ihr den Koffer ab und ging voran zum Auto. Sie war ihm dankbar, dass er nicht versuchte, ihr bei der Treppe oder beim Einsteigen zu helfen.

Hast du noch arge Schmerzen?“, fragte er nach dem Losfahren.

Nein, fast gar nicht mehr. Nur manche Bewegungen tun noch weh.“

Gut.“

Ungemütliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während sie über die Autobahn von Bad Homburg nach Frankfurt fuhren.

Du, Jenny?

Nein“, fuhr sie auf. „Bitte“, sie blickte ihn entschuldigend an. „Ich will nicht darüber sprechen. Ich kann nicht, noch nicht.“

Logo zögerte einen Moment. „Gut, klar. Ich verstehe. Ich lass dich in Ruhe. Aber vielleicht ist es besser, wenn du darüber sprichst? Also wenn du soweit bist, meine ich.“

Mehr als ein Nicken brachte sie nicht zustande.

Logo wechselte mehr oder weniger elegant das Thema. „Wer hat sich denn um deine Wohnung gekümmert in den letzten sechs Wochen?“

Niemand.“

Niemand?“, echote Logo erschrocken. „Aber die Post. Und Wilma, deine Spinne?“

Wilma habe ich schon vor dem Urlaub zu Sandra gebracht, einer Bekannten. Und die Post ...“ Sie zuckte die Schultern. Doch dann fiel es ihr wieder ein. „Sandra wollte sich auch darum kümmern. Sie hat am Anfang in der Klinik angerufen. An die Zeit erinnere ich mich aber nur verschwommen.“

Logo schaute jetzt wirklich besorgt, sagte aber nichts. Nach einer halben Stunde hielten sie vor dem Haus in Sachsenhausen, in dem Jenny eine kleine Eigentumswohnung mit Garten hatte.

Bevor er ihre Seite des Autos erreicht hatte, war sie schon mühsam allein ausgestiegen und kramte in ihren Taschen nach dem Schlüssel. Unaufgefordert folgte Logo ihr in die Wohnung, die leicht muffig roch. Einen Moment blieb Jenny hilflos im Flur stehen und blickte sich um. Hier hatte Paul sie zum ersten Mal geküsst. Schnell verscheuchte sie den Gedanken wieder und trat an den Tisch.

Siehst du“, sagte sie, „Sandra hat sich wirklich um die Post gekümmert.“

Da liegen zwei Stapel mit Zetteln oben drauf. Zu erledigen und Werbung. Und ein Brief.“

Jenny griff langsam danach. „Willkommen zu Hause Jenny. Ich hätte dich gerne abgeholt, aber ich konnte nicht herausfinden, wann du entlassen wirst. Für alle Fälle hab ich schon mal deinen Kühlschrank mit haltbaren Sachen aufgefüllt. Bitte melde dich, sobald dir danach ist. Sandra.“

Logo, sei mir nicht böse. Ich muss jetzt alleine sein.“

Er zögerte, nickte aber dann. „Verstehe, klar, wenn ich wirklich nichts mehr für dich tun kann?“

Sie schüttelte den Kopf. „Und Logo?“

Ja?“

Bitte, ich will niemanden sehen. Kannst du das den Kollegen irgendwie schonend beibringen?“

Er seufzte. „Ich werde ihnen die Wahrheit sagen, dass es dir noch nicht gut geht.“

Kurz wollte sie etwas antworten, überlegte es sich dann aber und nickte nur dankbar.

Tschüss dann.“ Logo wollte ihr zum Abschied über den Arm streichen, aber sie zuckte zurück.

Tschuldigung.“

Er ging und zum ersten Mal seit langem war sie in ihrer Wohnung allein.

Langsam humpelte sie durch alle Zimmer. Immer standen ihr die Bilder von Paul vor Augen. Wie er ihr in der Küche half, sich auf ihrer Couch räkelte, sie die Treppe ins Schlafzimmer hinauftrug. Sie verbot sich, weiter zu denken.

Im Schlafzimmer setzte sie sich aufs Bett und strich mit der Hand über die Kissen. Ihr Blick fiel auf ein Bild auf dem Nachttisch, das sie und Paul bei einem Ausflug an den Rhein zeigte. Sie nahm es und warf es gegen die Wand, so dass das Glas in tausend Stücke zersprang. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte das erste Mal seit jenem Moment, als sie erkannt hatte, dass Paul, ihr geliebter Paul, der Serienmörder war, den sie so lange gesucht hatten.

Am nächsten Morgen erwachte sie angezogen auf ihrem Bett. Irgendwann, während sie geweint hatte, war sie wohl eingeschlafen. Müde rappelte sie sich auf und humpelte ins Bad, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Hoffentlich war noch Kaffee in der Küche. Ein Glück, die Dose war noch halb voll, auch wenn das Kaffeepulver nicht mehr viel Aroma aufwies, und sie kochte sich eine große Kanne.

Mit der Tasse in der Hand setzte sie sich an den Küchentisch und starrte in den Garten.

Erstaunlicherweise fühlte sie sich etwas besser. Das Weinen war wohl nötig und schon lange überfällig gewesen. Das würde der Psychologin bestimmt gefallen. Sie schüttelte den Kopf. Da musste sie als Erstes anrufen, denn sie traute der Klinikärztin zu, hier auf der Matte zu stehen.

Es war ja nicht so, dass sie nicht selbst die Notwendigkeit einer Gesprächstherapie erkannte. Jedem anderen hätte sie in ihrer Situation dringend dazu geraten. Aber selbst da zu sitzen und über Dinge zu reden, über die sie nicht reden wollte, ja über die sie eigentlich nicht einmal nachdenken wollte … das war nicht einfach.

Wie sollte ihr Leben weitergehen? Sie konnte nicht mehr in ihren Job zurückkehren. Nicht dorthin, wo sie auf ganzer Linie versagt hatte. Meine Güte, eine Kommissarin, die sich den Serienmörder, den sie wochenlang sucht, zum Liebhaber nimmt und es nicht mal merkt. So jemand war untragbar. Aber zu Hause untätig rumsitzen konnte sie auch nicht, da würde sie verrückt werden. Wenn sie es nicht schon war.

Sie war sich durchaus bewusst, dass ihre Ärztin die Befürchtung hatte, sie könne sich etwas antun, sobald sie aus der Obhut der Klinik entlassen war. Aber da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Sie war nicht feige und sie würde Paul nicht die Genugtuung geben, sie zu guter Letzt doch noch in den Tod getrieben zu haben. Nicht nachdem sie es unglaublichem Glück zu verdanken hatte, dass sie überhaupt überlebt hatte. Wenn er sie in Kanada umgebracht hätte, wäre ihre Leiche wohl niemals aufgetaucht.

Überrascht merkte sie, wie Wut in ihr aufstieg. Das war eine Empfindung, die sie lange nicht wahrgenommen hatte. Ja, wenn sie recht überlegte, hatte sie gar nicht viel wahrgenommen. Gerade die ersten Wochen waren wie in einem Nebel vergangen. Wie viel davon auf den Schock zurückzuführen war und wie viel auf die Medikamente, die ihr verabreicht wurden, konnte sie nur vermuten.

Gut, damit war es jetzt vorbei. Sie musste ihr Leben wieder in den Griff bekommen, wie auch immer. Und zwar ohne Tabletten. Auch wenn es verdammt wehtat und damit meinte sie nicht ihre Hüfte.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es schon nach neun war. Sie humpelte in den Flur und suchte in ihren Sachen die Visitenkarte der Psychologin. Telefonisch vereinbarte sie einen Termin für den nächsten Tag.

Als nächstes packte sie ihre Tasche aus und lüftete die Wohnung. Kurz zögerte sie, dann griff sie nochmal zum Telefon und rief Sandra an. Sie verabredeten, dass Jenny am nächsten Tag Wilma bei ihr abholen würde.

Zu Sandra konnte sie unbesorgt fahren, sie wusste, dass ihre Freundin sie nicht mit Fragen quälen würde. Irgendwas musste sie noch als Dankeschön besorgen. Wer sonst kümmerte sich schon freiwillig um eine Vogelspinne, so pflegeleicht sie auch war?

Die zwei Telefongespräche hatten sie ganz schön angestrengt. Aber immerhin hatte sie die Aktivität vom Grübeln abgehalten. Das Grübeln war das Schlimmste. Wenn die Gedanken sich immer nur um eines drehten. Beziehungsweise um einen, Paul. Sie hasste den Namen. Zukünftig würde sie es vermeiden, ihn zu benutzen.

Mit Ach und Krach brachte sie den Tag herum. Sie versuchte zu lesen, gab es jedoch auf, nachdem sie eine Seite zum vierten Mal gelesen hatte, ohne auch nur einen Satz verstanden zu haben. Dann machte sie den Fernseher an, zappte jedoch nur durch die Programme. Überall Werbung oder Liebesfilme mit turtelnden Pärchen. Krimis waren auch nicht gerade das, was sie sehen wollte. Abends um neun legte sie sich wieder ins Bett und versuchte zu schlafen. Im Gegensatz zu gestern stellte sich der Schlaf heute nicht so leicht ein. Um dreiundzwanzig Uhr gab sie es auf und nahm eine der Schlaftabletten, die sie in der Klinik bekommen hatte. Eine halbe Stunde später schlief sie traumlos und wachte erst auf, als um halb neun der Wecker klingelte. Kaum den zweiten Tag zu Hause, fing der Stress wieder an.

Kurz vor zehn kraxelte sie die Treppe zur Krankengymnastik-Praxis am Südbahnhof hinauf. Sie sollte so viel wie möglich Treppen laufen, auch wenn‘s weh tat. Schwer stützte sie sich auf ihre Gehhilfe, als sie zur Anmeldung kam.

Eine Stunde später war sie überzeugt, dass Krankengymnasten ihre Berufswahl angeborenem Sadismus verdankten und nahm den Aufzug nach unten. Sie wollte es nicht übertreiben. In einem kleinen Geschäft kaufte sie noch Kaffee und ein paar Brötchen und fuhr mit dem Bus wieder nach Hause.

Vor ihrem Therapietermin hatte sie noch Zeit für ein spätes Frühstück. Appetit hatte sie zwar nicht wirklich, aber Lust auf einen richtigen Kaffee, in der Klinik war er eher mäßig gewesen.

Gegen vierzehn Uhr brach sie auf und versuchte vorher erfolglos, Sandra telefonisch zu erreichen. Jenny machte das Handy aus, als sie die Praxis der Psychologin betrat, die sich ab jetzt um sie kümmern sollte. Die Klinikärztin hatte ihr erzählt, dass Frau Doktor Vollmar nicht nur Psychologin, sondern auch ausgebildete Neurologin war.

Jenny war von der sympathischen Frau Anfang fünfzig, die die leicht ergrauten Haare in einem schicken Kurzhaarschnitt trug, angenehm überrascht. Selbst das Gespräch war nicht so schwierig wie erwartet. Sie erzählte von ihrem Weinanfall am vorigen Abend und Frau Vollmar sah das als gutes Zeichen.

Das ist oft der erste Schritt zu einer Genesung. Man verdrängt nicht mehr, sondern das Erlebte verliert langsam die Macht über den Menschen, so dass man sich damit auseinandersetzen und eben auch trauern kann. Oder wütend werden. Das ist der erste Schritt, so ein entsetzliches Erlebnis zu verarbeiten. Und Sie werden es verarbeiten, auch wenn Sie jetzt selbst noch nicht daran glauben.“

Jenny fühlte sich durchschaut und lächelte verlegen.

Ich würde Sie gerne zweimal die Woche sehen. Und dazwischen versuchen Sie bitte, ganz bewusst zur Normalität überzugehen. Vergraben Sie sich nicht, gehen Sie hinaus, machen Sie ganz alltägliche Sachen wie einkaufen, spazieren gehen, irgendwo einen Kaffee trinken und wenn Sie bereit sind, reden Sie mit Freunden. Gut, dann sehen wir uns am Donnerstag.“

Okay, damit konnte Jenny umgehen. Praktische Lebenshilfe statt esoterischem Geschwätz. Normal Leben, wie ging das nochmal? Wie war das früher, vor P…, vor IHM. Irgendwann hatte sie ein normales Leben gehabt, kein perfektes, aber doch ein angenehmes. Doch sowas konnte man doch nicht einfach wieder anfangen, als wäre nichts passiert. Naja, was hatte Frau Vollmar noch gesagt? Einen Schritt nach dem anderen. Dann würde sie jetzt erst mal einkaufen, dann zu Sandra fahren und Wilma abholen.

Froh, wieder zu Hause zu sein, schleppte sie das Terrarium hinein und stellte es auf seinen Platz im Arbeitszimmer. Doch sofort setzten die Erinnerungen wieder ein. ER, wie sie ihm die Vogelspinne vorstellte und sein entsetztes Gesicht. ER, wie er lachend vorschlug ….

Sie hasste ihn, oh und wie sie ihn hasste. Aber gleichzeitig, und das machte ihr am meisten Schwierigkeiten, vermisste sie ihn. Nicht Paul, den Mörder, aber den liebevollen Paul, der sie auf Händen getragen und zum Lachen gebracht hatte. Wie konnte ein Mensch zwei so unterschiedliche Gesichter haben?

Ihr Anrufbeantworter blinkte. Logo erkundigte sich nach ihrem Befinden und ob sie etwas brauche. Und er grüßte sie von den Kollegen, vor allem von Sascha. Ja sicher, sie vermissten sie bestimmt alle, die Polizistin, die mit dem Serienmörder schlief. Wütend hieb sie mit der Hand auf den Schreibtisch. Au, der falsche Arm. So etwas sollte sie wenn schon mit ihrem gesunden machen.

Was sollte sie nun mit dem restlichen Tag anfangen? Immerhin war es erst später Nachmittag. In der Klinik hätte es jetzt Gesprächstherapie gegeben, danach Abendessen und dann wäre sie bald vor dem Fernseher eingeschlafen. Dafür hatten die Medikamente gesorgt.

Aber, und das wusste sie sicher, es war Zeit, die Medikamente zu reduzieren und bald ganz abzusetzen. Gerade jetzt war die Versuchung wieder groß, sich seliges Vergessen zu verschaffen.

Stattdessen würde sie ein paar Übungen machen, die die Krankengymnastin ihr heute Morgen gezeigt hatte. Umso schneller würde sie wieder auf die Beine kommen. Nie hatte sie sich körperlich so angreifbar gefühlt wie jetzt, wo sie nur unsicher laufen konnte und ihr Arm noch nicht ganz einwandfrei funktionierte.

Das brachte sie auf eine Idee. Sie humpelte ohne Krücken ins Schlafzimmer, öffnete ihren kleinen Wandsafe und nahm ihre Waffe heraus. Eigentlich hätte sie eingezogen werden müssen, solange sie offiziell als beurlaubt galt, doch wahrscheinlich hatte niemand sie in der Klinik belästigen wollen. Sie hielt die Sig Sauer einen Moment in der Hand und überlegte, ob sie sie die nächste Zeit lieber mit sich führen sollte. Dann schalt sie sich jedoch selbst. Nimm dich zusammen! Der einzige, der dir etwas tun wollte, ist im Gefängnis und kommt hoffentlich nie mehr raus.

Sie schloss die Waffe wieder ein, humpelte zurück ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher an. Zu den Geschichten wohnungsuchender Möchtegernprominenter absolvierte sie mit Ächzen und Fluchen ihre Übungen. Wohnung, das war es. Früher hatte sie ihre Wohnung geliebt, doch jetzt bedeutete sie nur noch traurige Erinnerungen. Gleich morgen würde sie den netten Makler anrufen, über den sie sie damals gekauft hatte und ihn beauftragen, ihr eine andere Wohnung, am besten in einem anderen Stadtteil, zu suchen. Und diese hier sollte er so schnell wie möglich verkaufen. Das Geld würde sie sowieso brauchen, um die neue anzuzahlen.

Schnaufend blieb sie einen Moment auf dem Teppich sitzen. Es stimmte, sobald man sein Leben selbst in die Hand nahm, fühlte man sich besser. Musste wohl etwas mit Kontrolle zu tun haben.

So, genug Anstrengungen für heute. Sie aß lustlos einen Teller Eintopf und starrte weiter auf den Fernseher.

Ach was, warum bis morgen warten, sie könnte ja schon mal im Internet nach Wohnungen schauen. Ihren Laptop musste sie erst mal entstauben. Für den nächsten Tag war eine Staubwisch-Aktion angesagt. So, Wohnungen … drei Zimmer sollten es schon sein, Terrasse oder Garten auch. Was, dachte Jenny, die sind wohl verrückt. Für die Preise müsste man eigentlich ein Haus bekommen. Was würde jetzt wohl aus SEINEM Traumhaus werden…? Schnell verbot sie sich, den Gedankengang weiterzuführen. Tja, der Traum vom Reichtum war auch ausgeträumt. Sie musste zugeben, dass sie den Ausflug in den Luxus genossen hatte. Naja, vorbei und erledigt.

Die Wohnungssuche sollte sie doch lieber dem Makler überlassen, überlegte Jenny. Handeln konnte sie noch nie und sie ließ sich viel zu leicht zu einem Kauf überreden, wenn der Verkäufer nett war. Am Ende kam sie die Maklergebühr wahrscheinlich billiger.

Na gut, heute war nochmal eine Schlaftablette drin. Sonst bräuchte sie gar nicht ins Bett zu gehen, so aufgewühlt wie sie war. Ob das irgendwann aufhören würde?

Ihr graute vor allem, was auf sie zukam. Irgendwann würde sie sich den Kollegen stellen müssen. Sich vielleicht einen neuen Job suchen. Und dann stand auch noch der Prozess an. In dem sie natürlich aussagen musste. Und IHN sehen. Wie sollte sie das durchstehen?

Eine Stunde später schlief sie tief und fest und auch die Albträume weckten sie erst gegen Morgen.

Die nächsten zwei Wochen waren eine Mischung aus angenehmer Routine und aufregenden Umstellungen. Langsam kehrte sie zurück zu früheren Gewohnheiten und fand Trost in alltäglichen Handgriffen und Unternehmungen. Aufregend und in gewisser Weise aufbauend waren die Änderungen, die sie anstrebte. Gleich am nächsten Morgen hatte sie mit ihrem Makler telefoniert und er war noch am gleichen Tag vorbeigekommen, um sich ihre Wohnung anzuschauen. Erfreulicherweise waren die Wohnungspreise in Sachsenhausen in den letzten Jahren stark gestiegen, so dass sie einen guten Gewinn beim Verkauf machen würde. Somit gestaltete sich die Suche nach einer neuen Wohnung einfacher und sie hatte schon zwei in die nähere Auswahl genommen.

Ihr Favorit war eine Maisonette-Wohnung, die etwas abgelegen in einer kleinen Sackgasse im Frankfurter Stadtteil Sossenheim, gleich gegenüber den Obstwiesen lag. Ebenso wie ihre jetzige Wohnung verfügte sie über einen eigenen kleinen Garten und einen Stellplatz.

Die Verkaufsverhandlungen liefen gut und sie würde schon bald umziehen können. Sie sehnte den Tag herbei. Das wäre dann wirklich ein Neuanfang, ohne Erinnerungen, die sie auf Schritt und Tritt verfolgten.

Vor einer anderen Entscheidung drückte sie sich weiterhin. Obwohl sie mittlerweile schon ganz passabel lief und die Gehhilfen nur noch auf längeren Wegen benutzte, war sie noch immer krankgeschrieben. Anrufe aus dem Präsidium beantwortete sie nur, wenn sie musste. Wenn also ihr Chef anrief und auch dann nur kurz. Bequemerweise konnte sie vorschieben, dass sie sich noch immer unwohl fühlte. Logo war etwas hartnäckiger, hielt ihr jedoch wie versprochen die anderen Kollegen vom Hals. Sie nahm an, dass sie es mittlerweile aufgegeben hatten, sie anrufen zu wollen.

Die Gesprächstherapie war nach wie vor belastend, half ihr jedoch auch. Frau Dr. Vollmar hielt nichts davon, ihr schweigend zuzuhören, ab und zu „hm zu sagen oder die Augenbraue zu heben.

Nein, sie scheute vor praktischen Tipps und handfester Lebenshilfe nicht zurück. Vor allem verstand sie Jennys Wut auf Paul und die Wut auf sich selbst.

Es ist nicht falsch, wütend zu sein und es ist Ihr gutes Recht. Sie müssen nur aufpassen, dass die Wut Sie nicht auffrisst. Vor allem die auf sich selbst. Jeder wäre auf diesen Mann hereingefallen. Das ist keine Schande. Auch, wenn Sie Polizistin sind. Ihre Kollegen haben ihn schließlich auch nicht für den Täter gehalten. Und die hat er nicht umworben und verwöhnt. Stehen Sie dazu, dass Sie ein Mensch sind und Menschen täuschen sich nun mal ab und zu. Seien Sie nicht so streng mit sich selbst.“

Das war leichter gesagt als getan. Bei der Erinnerung brannten ihre Wangen und sie schämte sich in Grund und Boden. Nicht dran denken, ablenken, nur das half. Und die Tabletten. Aber die wollte sie nicht mehr nehmen.

Auch ihre Ärztin redete ihr ins Gewissen, dass sie ihre Zukunft planen müsse. Anders als sie war sie der Meinung, sie sollte in den Polizeidienst zurückkehren, aber der Gedanke löste bei Jenny Panik aus.

Am nächsten Morgen rief ihr Makler an und unterbreitete ihr ein Angebot für die neue Wohnung, das angemessen war und das sie ohne großes Zögern annahm. An den Umzug durfte sie gar nicht denken. Wobei, die Möbel wollte sie sowieso nicht mitnehmen. Auch daran knüpften sich zu viele Erinnerungen.

Wenn schon neu anfangen, dann aber richtig. Und so wusste sie schon, was sie die nächsten Tage zu tun hatte. Shoppen gehen. Und zum Friseur.


Die ganze Planerei tat ihr gut und sie dachte tagsüber immer weniger an die zurückliegenden Erlebnisse. Nur die Nächte waren nach wie vor schlimm.

Als Logo ein paar Tage später anrief, begrüßte sie ihn fast freundlich und erzählte ihm vom bevorstehenden Umzug.

Aber Jenny, warum hast du nichts gesagt? Ich kann dir doch helfen. Wann geht das Ganze denn über die Bühne? Muss du nichts renovieren?“

Die Wohnung wurde erst letztes Jahr renoviert und muss nur gestrichen werden, damit hab ich eine Firma beauftragt. Aber nett von dir, deine Hilfe anzubieten.“

Und beim Umzug? Kann ich dir da wenigstens helfen? Sascha würde bestimmt auch gerne.“

Jenny wurde es immer ungemütlicher.

Du, ich nehm fast nichts mit. Gar keine Möbel, nur meine persönlichen Sachen.“

Naja, aber das sind doch sicher ne Menge Kisten. Hast du schon neue Möbel?“

Ja, größtenteils. Die werden Mitte des Monats geliefert und dann zieh ich direkt um. Die restlichen Sachen bring ich nach und nach rüber. Ich hab ja die alte Wohnung noch eine Weile. Verkauft ist sie zwar schon, aber die Übergabe ist erst übernächsten Monat.“

Logo seufzte. „Hör mal Jenny. Ich freu mich, dass es dir besser geht. Aber du musst doch nicht alles alleine machen. Warum willst du nichts mit mir zu tun haben? Hab ich irgendetwas gemacht?“

Jenny schluckte. „Quatsch, das hat gar nichts mit dir zu tun, nur mit mir. Ich kann immer noch nicht so gut mit … äh ... Leuten. Also mit niemandem meine ich. Ich fühl mich so … ich kann’s nicht beschreiben, tut mir leid.“

Schon gut, ich wollt dich nicht bedrängen. Ich versteh ja, dass du noch nicht wieder zur Arbeit kommen willst, aber dass du mich nicht mal sehen willst … Ich meine, ich mache dir natürlich keinen Vorwurf. Ich bin einfach traurig darüber. Und unser Kleiner übrigens auch. Den musste ich schon ein paar Mal davon abhalten, dich anzurufen oder gar zu besuchen. Und dein Lieblingsstaatsanwalt Biederkopf fragt auch dauernd nach dir. Ich hab ihm gesagt, du brauchst noch ein bisschen. Sag mal Jenny, du kommst doch wieder, oder?“

Es war lange still. Dann räusperte sie sich. „Logo, ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Im Moment kann ich‘s mir nicht vorstellen.“

Aber, ich meine, was ist genau der Grund? Hast du Angst davor?“

Jenny überlegte einen Moment. „Angst? Ein bisschen vielleicht. Aber mehr Wut. Und vor allem Scham.“

Aber wofür schämst du dich denn?“

Ich bin schließlich auf ihn reingefallen. Ich habe als Polizistin total versagt.“ Ihre Stimme brach. „Sorry, du, aber … ich kann noch nicht. Ich muss jetzt aufhören.“

Tschuldige Jenny. Ich wollte dich nicht unter Druck setzen. Du hast dir absolut nichts vorzuwerfen. Und so denken hier alle. Zumindest alle, die ein bisschen Hirn haben.“

Jenny war sich ihrer Stimme nicht ganz sicher, als sie murmelte. „Danke Logo, aber ich muss jetzt wirklich auflegen.“

Zitternd schenkte sie sich einen Magenbitter ein und setzte sich aufs Sofa. Sie war einfach noch nicht weit genug für solche Gespräche. Ja, sie vermisste Logo und den Kleinen auch. Aber bei jedem Treffen würde es unweigerlich zu solchen Gesprächen kommen. Und die ertrug sie einfach nicht. Es reichte, dass sie jede Woche zweimal bei der Therapeutin ihre Seele entblößen musste.

Entschlossen stellte sie das Glas ab. Eins nach dem anderen. Erst mal der Umzug. Dann würde sie weiter sehen.

Zwei Wochen später war die Wohnung gestrichen und die meisten Möbel waren geliefert. Endlose Stunden hatte sie in Einrichtungshäusern verbracht und Kissen, Geschirr und sonstiges Zubehör gekauft. Selbst eingekleidet hatte sie sich fast komplett neu. Alles, was sie jemals getragen hatte, wenn sie mit P…. nein IHM zusammen gewesen war. All das war in die Altkleidersammlung gewandert, zusammen mit der Bettwäsche, mit Kissenbezügen, Tischdecken und Handtüchern. Sie versuchte, alle stofflichen Erinnerungen auszuradieren. Nur Bücher und persönliche Dinge nahm sie mit und so waren es am Ende nur ein paar Kisten, die sie in die neue Wohnung zu transportieren hatte.

Die alte Wohnung schloss sie einfach zu und gab den Schlüssel einem Entrümpler, der die verwertbaren Sachen anrechnete.

Die neue Wohnung war ein Traum, keine Erinnerungen mehr, außer denen, die sie in sich trug. Neue Gesichter in der Nachbarschaft. Neue Geschäfte, in denen sie einkaufte. Und bewusst eine neue Telefonnummer, die sie nur Logo und Sandra mitteilte.

Trotz aller entsetzlichen Erlebnisse, die sie durchgemacht hatte, tat das Leben, was es immer machte. Es ging weiter und langsam aber sicher verblassten die Erinnerungen und alles normalisierte sich.

Nach einer Woche in der neuen Wohnung schlief Jenny das erste Mal durch und wachte nicht schweißgebadet aus einem Albtraum auf.

Bald darauf ertappte sie sich, wie sie bei einer Folge des Supertalents lächelte, als ein Kandidat sich besonders zum Affen machte. Konnte es sein, dass es doch eine Art Gesundung gab, auch nach so einem Horror?

Doch dann wurde ER nach Deutschland überstellt und das Grauen ging von vorne los. Der Fall hatte Schlagzeilen in ganz Deutschland gemacht und Berichte über die Überführung wurden in allen Nachrichten gebracht, ebenso in allen wichtigen und unwichtigen Zeitungen.

Wo Jenny hinblickte sah sie SEIN Gesicht. Sie verzichtete komplett auf Fernsehen und verließ ihre Wohnung kaum.

Bis es eines Morgens gegen zehn Uhr klingelte.