Tag 1, Montag
Da sie ihren Hausverwalter erwartete, öffnete sie die Tür, doch der Hausflur war leer.
Sie betätigte die Türsprechanlage. „Hallo?“
„Hallo Frau Becker, hier ist Biederkopf. Darf ich hereinkommen?“
„Biederkopf?“ Eine leichte Panik brach in ihr aus. Sie konnte sich schon vorstellen, welche Art von Gespräch sich da anbahnte.
Resigniert drückte sie den Türöffner. Sie konnte ihn ja schlecht draußen stehen lassen.
Der Staatsanwalt sprang die drei Stufen zum Hausflur hinauf, kam lächelnd auf sie zu und begrüßte sie herzlich.
Jenny nahm sich zusammen, lächelte schwach und bat ihn herein. Sie führte ihn in ihr lichtdurchflutetes Wohnzimmer und bot ihm einen Platz auf der beigen Ledercouch an.
Anerkennend blickte er sich um. „Schöne Wohnung. Alles so hell. Neu, oder?“
Sie nickte und fragte ihn, ob er einen Kaffee wolle.
„Sehr gerne, wenn‘s keine Umstände macht.“
„Nein, natürlich nicht. Dann kann ich mal meine neue Kaffeemaschine vorführen.“
In der Küche schaltete sie ihren Kaffeeautomaten ein. Zum Einzug hatte sie sich so ein Riesenteil gegönnt, mit dem man Milchkaffee, Latte Macchiato und was es noch alles an Kaffeevariationen gab, machen konnte.
„Toll, sowas wollte ich mir auch schon immer zulegen.“ Biederkopf war ihr leise in die Küche gefolgt und Jenny machte vor Schreck einen Satz.
„Oh, entschuldigen Sie bitte, das wollte ich nicht.“
„Macht nichts, ich bin noch etwas schreckhaft. Milchkaffee war es, oder?“
„Ja bitte.“
Sie schwiegen, während sie zwei Schalen füllte und ihm Zucker in die Hand drückte. „Gehen wir wieder ins Wohnzimmer?“
Er nickte und sie setzten sich auf die Couch, Jenny soweit von ihm entfernt wie möglich. Der Staatsanwalt war wie immer wie aus dem Ei gepellt. Dunkler Anzug mit beigem Hemd und passender Krawatte, dazu auf Hochglanz polierte schwarze Lederschuhe.
„Frau Becker, es ist eine dumme Frage, aber ich weiß sie nicht besser zu formulieren. Wie geht es Ihnen?“
Jenny blickte aus dem Fenster. Was sollte sie darauf sagen? So einfach die Frage war, so schwer war sie zu beantworten. Was wollte er hören? Das beruhigende standardmäßige ‚gut‘? Oder eine ehrliche Antwort?
„Langsam immer besser“, brachte sie mühsam heraus.
Er dachte einen Moment nach und nickte dann.
„Es ist sicher momentan wieder schlimmer durch diese unsägliche Berichterstattung in Fernsehen und Presse, oder?“
Sie nickte ebenfalls. „Ja, das ist es.“
„Nun, das wird in ein paar Tagen sicher wieder nachlassen, zumindest bis zum Prozess.“
„Ja. Dann wird wieder alles aufgewühlt.“
„Wir werden ihn für immer wegsperren, das wissen Sie doch, oder?“
Sie nickte und kam sich langsam vor wie ein Wackeldackel. „Das weiß ich, sonst wäre alles … noch viel schlimmer.“
„Ich weiß, nein, stimmt nicht, ich kann bestenfalls erahnen, wie schlimm das alles für Sie war und ist. Aber so sehr ich Klischees hasse, das Leben muss weitergehen und geht weiter. Aber die Frage, die wir uns alle stellen ist, wie geht es für Sie weiter? Geradeheraus, kommen Sie wieder zurück zu uns?“
Da war sie, die Frage, die Jenny gefürchtet hatte und die natürlich unvermeidlich gewesen war. Sie hatten ihr sogar ausgesprochen viel Zeit zugestanden, um von sich aus eine Entscheidung zu treffen.
Sie rieb sich unglücklich die Stirn und blickte im Zimmer herum.
Biederkopf räusperte sich. „Ich will Sie beileibe nicht drängen und ich gestehe Ihnen auch mehr Zeit zu, beliebig viel Zeit. Aber vom Grundsatz her muss ich wissen, wollen Sie wieder zurück?“
Jenny holte tief Luft und sah den Staatsanwalt direkt an. „Ich bin nicht sicher, Herr Biederkopf. Und nicht, dass Sie denken, ich hätte nicht drüber nachgedacht. Stunden und Stunden und Stunden. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, wieder zurückzukehren als wäre nichts gewesen. Obwohl ich immer nur Polizistin sein wollte.“
Biederkopf überlegte einen Moment. „Wovor genau haben Sie Angst?“
Jenny blickte überrascht auf, als sie die direkte Frage hörte. Sie brachte ein zaghaftes Lächeln hervor. „Sie sollten vielleicht Therapeut werden. Für diese Art von Fragen zahlt meine Krankenkasse jede Woche viel Geld.“
Biederkopf lächelte zurück. „Da sehen Sie, wie wichtig sie ist. Wollen Sie sie mir auch beantworten?“
Jenny holte tief Luft und blickte ihn entschlossen an. „Ich will es versuchen. Angst habe ich davor, meinem Job nicht mehr gewachsen zu sein. Wieder so einen gravierenden Fehler zu begehen. Was, wenn ich mich in Zukunft wieder täusche und Menschen deswegen ihr Leben verlieren? Angst habe ich aber auch vor der Reaktion der Kollegen. Sie müssen mich doch verachten und über mich lachen. Und ich will nicht die Lachnummer der Dienststelle sein, das schlechte Vorbild, das immer wieder als Beispiel herangezogen wird. Reicht das als Begründung? Ich kann einfach nicht mehr zurück kommen. Aber ich weiß auch nicht, was ich sonst machen soll…“
Biederkopf dachte eine Zeit lang gründlich nach.
„Frau Becker, ich glaube, Sie machen sich da selbst etwas vor. Wenn ich es auch gut verstehen kann, so denke ich aber, Sie müssen davon wegkommen. Vielleicht reden Sie in Zukunft nie mehr mit mir, aber ich werde jetzt meine Meinung zu dem Ganzen offen aussprechen.“
„Bitte“, meinte Jenny verwundert und fühlte sich zunehmend unbehaglicher.
„Ich habe mal genau auseinander sortiert, was Sie mir eben gesagt haben. Und ein Teil davon ist schlicht und einfach Unsinn.“
Jenny setzte sich kerzengrade hin. Wie bitte?
„Entschuldigen Sie bitte, mir ist schon bewusst, Sie sind traumatisiert und jeder spricht momentan vorsichtig und rücksichtsvoll mit Ihnen. Aber ich weiß nicht, ob es jetzt nicht langsam an der Zeit ist, Klartext zu reden.“
Jennys Gesicht verschloss sich wie eine Auster. Na, das konnte ja spannend werden.
„Sie haben beruflich einen gravierenden Fehler gemacht. Und seien Sie gewiss, hätte ich das rechtzeitig rausgefunden, hätte es ein Donnerwetter gegeben, das Ihnen Hören und Sehen vergangen wäre. Wie können Sie sich als erfahrene Beamtin, die Mitarbeiter ausbildet und Vorbildfunktion hat, mit einem Beteiligten an einem Mordfall einlassen?“
Jenny öffnete den Mund, doch Biederkopf kam ihr zuvor.
„Nein, ich will jetzt gar keine Erklärungen oder Entschuldigungen hören. Sie wissen selbst, dass das inakzeptabel war und ich will gar nicht erfahren, inwieweit Sie noch ins Verfahren eingegriffen haben. Aber sonst, liebe Frau Becker, sonst haben Sie sich absolut nichts vorzuwerfen.“
Jenny versuchte wiederum, etwas zu sagen, doch der Staatsanwalt brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„Ich bin noch nicht fertig. Anschließend können Sie mich gerne rauswerfen, aber jetzt sage ich, was ich denke. Sie machen sich zum Vorwurf, auf den Mann reingefallen zu sein? Hat Ihnen der Psychologe, den Sie selbst konsultiert haben, nicht von Anfang an gesagt, dass der Täter sich perfekt verstellen kann? Jeder ist auf ihn hereingefallen, nicht nur Sie. Ihre Kollegen, die anderen Verdächtigen, die Opfer. Glauben Sie, nur weil Sie abends auf der Couch mit ihm gekuschelt haben, hätten Sie mehr erkennen müssen? Unsinn. Wie viele Psychopathen morden jahrelang und die Ehefrau hat nicht die geringste Ahnung? Nee, Frau Becker, und jeder Ihrer Kollegen mit ein bisschen Grips weiß das auch und wird Ihnen nichts vorwerfen. Und die anderen, auf deren Meinung sch… pardon pfeifen Sie ja wohl. Ich will Ihnen sagen, was Ihr Problem ist und ich meine das keineswegs böse. Sie sind in Ihrer weiblichen Eitelkeit gekränkt. Der Mann, der sich in Sie verliebt zu haben schien, hat Sie nur benutzt. Das tut weh und darüber kommt man auch lange nicht hinweg. Aber mit Ihrer Arbeit hat das ganz und gar nichts zu tun. So, und jetzt können Sie mich rauswerfen. Kommen Sie trotzdem wieder zum Dienst?“
Jenny war völlig perplex und ihre Gedanken rasten … weibliche Eitelkeit, was für eine Frechheit! Aber der Rest ... ob noch mehr Kollegen so dachten … fast tat es gut, dass jemand mal offen mit ihr sprach … die ganze Zeit hatte sie jeder mit Samthandschuhen angefasst.
„Frau Becker? Soll ich gehen?“
Verdutzt blickte sie Biederkopf an. Er war ja auch noch da. Und wartete offensichtlich auf eine Antwort. Zunächst versuchte sie es mit einem zaghaften Kopfschütteln.
„Gut“, meinte er und lehnte sich zurück. „Meine Güte, Sie sind ja ganz blass. Haben Sie irgendwo einen Schnaps?“
Sie deutete auf ihren Wohnzimmerschrank. Tatsächlich war ihr gerade gar nicht gut, zu viel stürmte auf sie ein. Weibliche Eitelkeit, paah! Was dachte er sich dabei?
Biederkopf drückte ihr ein Glas mit Kräuterschnaps in die Hand. „Da, trinken Sie das. Tut mir leid, dass ich Sie so aus der Fassung gebracht habe. Ich bin aber auch manchmal ein Trampel. Brauchen Sie etwas? Medikamente? Soll ich einen Arzt rufen?“
Jenny trank den Schnaps auf ex und schüttelte sich. Dann starrte sie Biederkopf in die Augen. „Verdammt, ich bin nicht eitel!“
Ihm verschlug es kurz die Sprache.
„Frauen“, meinte er und schüttelte den Kopf. Dann musste er lachen.
Jenny stellte sich vor, wie die Szene auf einen Außenstehenden wirken musste.
Sie murmelte „Verdammt, ich hasse Sie!“, worauf Biederkopf schlagartig zu lachen aufhörte.
Das war zu viel für Jenny, sie schaffte es gerade noch, das Schnapsglas abzustellen, lehnte sich zurück und kicherte.
Entgeistert blickte er sie an, was sie noch mehr zum Lachen brachte.
„Sie sollten Ihr Gesicht sehen, Herr Biederkopf!“
„Soso“, lächelte er nun wieder. „Ein bisschen mehr Respekt bitte. Ich bin immer noch Ihr Vorgesetzter, oder nicht?“ Fragend sah er sie an, das ernüchterte sie sofort und sie hörte auf zu lachen. „Tut mir leid, ich glaube ich bin etwas hysterisch. Sie haben mir ganz schön zu denken gegeben.“
„Ich wollte Ihnen nicht wehtun, aber vielleicht hat es geholfen. Möchten Sie etwas mehr Bedenkzeit?“
„Ehrlich Herr Biederkopf, wie viel habe ich denn noch? Sie haben mir ja, wie ich zugeben muss, schon lange Zeit zugestanden.“
„Und das gerne, Frau Becker. Langsam bekommen wir jedoch Probleme. Wenn Sie nicht bald zurückkommen, muss ich jemanden auf Ihre Stelle beordern. Und das würde keinem von uns gefallen. Vor allem Ihren beiden Kollegen nicht. Sie sind mir fast an den Hals gesprungen. Aber auch sie müssen zugeben, dass sie mit der Arbeit kaum nachkommen, trotz Überstunden und allem.“
Jenny seufzte. Von der Warte hatte sie das Ganze noch gar nicht betrachtet. Dass sie die Kollegen ja mehr oder weniger im Stich ließ. Und einen anderen oder eine andere an ihrem Platz auf ihrem Stuhl … Nee, das konnte sie sich gar nicht vorstellen.
„Müsste ich denn sofort wieder? Ich weiß nicht, ob ich das schon schaffe.“
„Nein, natürlich können Sie sich noch etwas Zeit lassen. Oder vielleicht zunächst in Teilzeit anfangen, wäre das eine Option? Ich muss Ihnen allerdings ehrlich gestehen, dass ich noch einen anderen Grund habe, einen aktuellen sozusagen, dass ich gerade heute hierhergekommen bin.“
„So? Dann lassen Sie mal hören.“
„Ich muss Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen. Eine ehemalige Freundin von Ihnen, Wilma Markgraf, ist vorgestern tot aufgefunden worden.“
„Wilma ist tot? Mensch, sie war jünger als ich.“
„Ja, Ihr Kollege Herr Stein hat mich erst heute über die Zusammenhänge aufgeklärt. Soviel ich weiß, haben Sie keinen Kontakt mehr zu ihr?“
„Seit einigen Jahren schon nicht mehr. Was genau heißt tot aufgefunden?“
„Sie wurde eventuell ermordet, die gerichtsmedizinischen Untersuchungen laufen aber noch. Herr Stein meinte, Sie müssten das unbedingt wissen und würden vielleicht, wenn es sich als Mord herausstellt, selbst ermitteln wollen. Da Sie ja keine aktive Beziehung mit der Dame mehr pflegen, sollte das dienstrechtlich kein Problem sein.“
„Wie ist es denn passiert?“
„Eine Überdosis Schlaftabletten. Sie wurde in ihrer Wohnung gefunden, da war sie schon ein paar Tage tot.“
„Lebte sie nicht mehr mit meinem Exfreund Mario zusammen? Hat Ihnen Herr Stein davon erzählt?“
„Ja, also nein, die beiden haben sich schon vor einem Jahr wieder getrennt. Bitte, Frau Becker, missverstehen Sie das Ganze nicht. Ich will schon seit einiger Zeit mit Ihnen sprechen. Aber ich wollte Sie nicht zu früh unter Druck setzen und habe es immer wieder hinausgeschoben. Das vermutete Verbrechen an Frau Markgraf war jetzt nur der Auslöser. Und eigentlich wollte ich Sie damit gar nicht belasten. Aber Herr Stein, nun, er kennt Sie ja besser als ich, er meinte, wir dürften es Ihnen auf keinen Fall verschweigen.“
Jenny blieb einen Moment stumm. Das war doch etwas zu viel, was da in der letzten halben Stunde auf sie eingeströmt war. Der unerwartete Besuch, die Standpauke und jetzt noch die Nachricht von Wilmas Tod. Sie fühlte sich … ja wie überhaupt? Sie hatte Angst … Angst, dass sie allem nicht gewachsen war, aber sie fühlte sich auch … lebendig. Ja, lebendig war genau das richtige Wort.
Entschlossen blickte sie auf. „Gut, ich bin wieder dabei.“
Biederkopf sah sie überrascht an, dann zuckte ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Er stand auf und streckte die Hand aus.
„Das freut mich, Frau Becker, Sie glauben gar nicht, wie sehr. Ab wann wollen Sie wieder zu uns stoßen?“
Sie überlegte einen Moment. „Ich werde heute Nachmittag in der Sitzung mit meiner Therapeutin darüber sprechen. Sie muss mich ja quasi wieder arbeitsfähig schreiben. Und dann sehen wir mal. Und, Herr Biederkopf…“
„Ja, Frau Becker?“
„Ich würde wirklich gerne am Fall von Wilma mitarbeiten, wenn es denn Mord war.“
„Je nachdem, wann Sie wiederkommen, sehe ich da kein Problem. Aber bitte, lassen Sie es langsam angehen. Ich wollte Sie nicht unter Druck setzen.“
„Keine Angst“, lächelte sie, „das mache ich schon selbst.“
Ebenfalls lächelnd stand er auf. „Dann sage ich also den Kollegen, dass Sie bald wieder dabei sind. Und jetzt lasse ich Sie erst mal alleine, um das Ganze zu verdauen. Und bitte tragen Sie mir meine offenen Worte nicht nach. Ich wollte Sie nur ein bisschen … äh…“
„Beleidigen?“, meinte sie augenzwinkernd.
„Ähm, meine Güte nein, das war es nicht, was ich damit beabsichtigt habe.“
Sie grinste spitzbübisch. „Ich glaube, ich weiß, was Sie beabsichtigten. Schon gut.“
Er nickte etwas zweifelnd, aber dennoch erleichtert. „Ja dann, also bis bald. Sie rufen mich an?“
„Mach ich. Sehr bald.“
Als sich die Tür hinter ihm schloss, lehnte sich Jenny erst einmal erleichtert mit dem Rücken gegen die Wand. Obwohl sie versucht hatte, sich selbstsicher zu geben, zitterten ihr jetzt doch die Knie. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Arbeiten, und das schon bald. Nein, im Moment konnte sie einfach noch nicht darüber nachdenken, wie es sein würde, sich den Kollegen zu stellen. Hoffentlich bekam die Presse keinen Wind davon. Die Schlagzeile konnte sie sich schon vorstellen. Traumatisierte Polizistin kehrt an Arbeitsplatz zurück. Aber eines nach dem anderen. Und Wilma? Tot, vielleicht sogar ermordet. Früher waren sie mal beste Freundinnen gewesen. Schon seit der Schule kannten sie sich. Zusammen hatten sie die ersten unglücklichen Lieben durch litten. Dann die glücklichen. Und dann, zu guter Letzt, hatte sich Wilma Jennys glückliche Liebe geangelt. Sie würde nie den Tag vergessen, als sie ihren damaligen Freund im Sportstudio abholen wollte. Kurz vor Schluss wollte sie Mario überraschen. Vorne im Trainingsraum war nur noch Daniel, der Trainer, der noch etwas aufräumte.
„Geh ruhig hinter, Jenny. Mario ist noch in der Sauna.“
Sie hatte später nie nachgefragt, ob Daniel gewusst hatte, dass Mario nicht alleine war, sondern gerade Sex mit ihrer besten Freundin Wilma auf einer der Saunaliegen hatte.
Ihr Herz war nicht gebrochen. Die Beziehung war sowieso schon nicht mehr die allerbeste gewesen, auch wenn sie so etwas nicht erwartet hätte. Der Betrug ihrer besten Freundin stand dagegen auf einem ganz anderen Blatt. Mit Wilma hatte sie seitdem kein Wort mehr gewechselt und auch nie das Bedürfnis danach verspürt. Es hatte Jenny Befriedigung bereitet, die Spinne nach ihr zu benennen.
Mario, der auch bei der Polizei arbeitete, war sie noch ein paarmal begegnet. Ab und zu beruflich und natürlich, als er seine Sachen bei ihr abholte (und rein zufällig seine Vogelspinne vergaß). Sie hatten ein paar höfliche Worte gewechselt und das war‘s. Daher wusste sie auch, dass die beiden zusammengeblieben waren, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass es auf Marios Seite nicht gerade die große Liebe war. Eher war es wohl eine einfache Lösung, da er ja ziemlich plötzlich ohne Wohnung da stand.
Biederkopf meinte, sie wären schon ein Jahr getrennt gewesen. Also hatte das Ganze zwei Jahre gehalten. Und jetzt war Wilma tot. Vielleicht war es doch Selbstmord? Ihr war sie zwar nie als der Typ erschienen, der sich umbringen könnte, aber zum einen konnte man nie in die Menschen hineinschauen und zum anderen wusste sie nichts über die letzten drei Jahre ihres Lebens.
Nun, sie würde es bald erfahren. So, jetzt sollte sie sich aber zusammenreißen. Schlimm genug, dass Biederkopf sie so außer Fassung gesehen hatte. Vor ihrer Therapiesitzung wollte sie noch einkaufen und ins Autohaus. Ihr alter Golf gab langsam aber sicher den Geist auf.
Überrascht merkte Jenny, dass sie noch immer an der Wand neben der Eingangstür lehnte. Nimm dich zusammen, Jenny, das ist ja peinlich.
Sie nahm sich extra viel Zeit im Bad und war hinterher beim Blick in den Spiegel ganz zufrieden. In letzter Zeit hatte sie sich wenig für ihr Aussehen interessiert, doch wenn sie jetzt wieder arbeiten gehen würde, konnte sie sich nicht so gehen lassen.
Sie erledigte ihre Einkäufe, schaute sich ein paar Autos beim nahegelegenen Toyota-Händler an und traf pünktlich um vierzehn Uhr bei ihrer Therapeutin ein.
Bevor Frau Dr. Vollmar ihre übliche „wie geht es Ihnen“ und „wie ist es Ihnen seit unserem letzten Gespräch ergangen?“ Einleitung anbringen konnte, erzählte Jenny von ihrem Gespräch mit dem Staatsanwalt.
Frau Dr. Vollmar guckte einen Moment überrascht, fing sich aber schnell. „Hm, so bald schon?“
„Bitte?“, fragte Jenny.
„Nun, ich war mir sicher, dass Sie sich früher oder später wieder entscheiden würden, in Ihren Beruf zurückzukehren. Doch dass es so bald passieren würde, hätte ich nicht erwartet.“
„Und, wie soll ich sagen? Also, wie finden Sie es?“
Die Ärztin überlegte einen Moment.
„Prinzipiell finde ich es natürlich erfreulich, wenn Patienten schnelle Fortschritte machen. Ich bin etwas besorgt, dass Sie in Ihrem Fall vielleicht zu schnell sein könnten.“
„Sie werden mich also nicht arbeitsfähig schreiben?“
Frau Dr. Vollmar schaute sie erstaunt an. „Aber doch, natürlich. Sie sind ja schließlich erwachsen und mündig. Wenn Sie gerne arbeiten möchten und sich das zutrauen, werde ich Ihnen bestimmt nicht im Wege stehen. Ich kenne Ihre Ängste und denke nicht, dass Sie das leichtfertig entschieden haben.“
„Ganz sicher nicht. Mir ist ganz schön mulmig bei dem Gedanken.“
„Natürlich, das ist normal. Das würde auch so sein, wenn Sie noch länger warten. Ich bin sicher, Sie werden noch schwere Momente durchstehen. Zum Beispiel wenn der erste eine dumme Bemerkung macht. Oder wenn der Prozess stattfindet.“
Jenny wollte etwas sagen, doch die Ärztin kam ihr zuvor. „Ich werde Sie arbeitsfähig schreiben, aber mit einigen Auflagen. Zum einen werde ich Sie zunächst für eine Eingliederung vorsehen, wenn es Ihnen zu viel wird, können Sie dann schlicht und einfach nach Hause gehen. Zum anderen und darüber diskutiere ich nicht, will ich Sie weiterhin zweimal die Woche hier sehen UND immer wenn Sie Probleme haben. Einverstanden?“
Jenny nickte.
„Braves Mädchen. Darf ich jetzt beruhigt sein, dass Sie so einsichtig sind oder würden Sie alles sagen, um arbeiten zu dürfen?“
Jenny grinste. „Etwas von beidem würde ich sagen.“
Die Ärztin lächelte auch. „Mal im Ernst, es ist schön zu sehen, dass Sie wieder arbeiten möchten. Noch vor Kurzem war es für Sie kaum vorstellbar. Wann möchten Sie denn loslegen?“
„Normalerweise würde ich lieber noch ein bisschen warten, aber da ich gerne an dem Fall meiner früheren Freundin mitarbeiten würde, kann’s eigentlich nicht schnell genug gehen.“
„Gut, dann also ab morgen. So, und jetzt dürfen Sie ausnahmsweise gehen. Sie haben bestimmt noch genug vorzubereiten.“
Morgen? Okay, sie hatte es wohl so gewollt. Morgen war irgendwie schon so bald. Aber wenn sie an Wilmas Fall mitarbeiten wollte, ging es nicht anders.
Kaum war sie zu Hause, rief sie Biederkopf an, um ihm die Nachricht mitzuteilen. Der Staatsanwalt schien über ihr Tempo etwas überrascht, aber auch eindeutig erfreut. Er versprach, Logo und Sascha zu informieren.
Jenny verbrachte den Rest des Tages damit, zunächst ihre Garderobe und dann sich selbst auf Vordermann zu bringen. Jetzt, wo sie nur noch eine Nacht von ihrer Rückkehr zur Truppe trennte, brach langsam Panik aus und sie begann zu schwitzen. Nimm dich zusammen, dumme Kuh! Du wolltest es so. Wenn du wieder mitspielen willst, dann reiß dich jetzt am Riemen.