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Leute, ich sage es nur ungern, aber ich
befinde mich in einer nicht enden wollenden Prüfung. Offenbar soll
ich lernen, mit mir allein klarzukommen oder mir selbst zu genügen.
Aber das kann ich nicht. Jedenfalls nicht ununterbrochen und unter
so heiklen Umständen. Langsam werde ich ein bisschen wahnsinnig,
und ich fange an, sehr dumme Dinge zu tun. Arthur ist noch immer
bei sich drüben, also habe ich mich vorhin auf mein Bett gehockt
und erst mal eine SMS an Johannes geschickt. Von wegen, dass ich
ihn vermisse und hoffe, dass wir uns bald sehen. Ich meine, soll
ich ihn ewig schmoren lassen? Wie sich das anfühlt, durfte ich ja
gestern selbst erleben, als sich der Trollo bei mir nicht gemeldet
hat. Außerdem will ich nicht, dass er sich am Ende mit der senilen
Alina oder der Segelohr-Alice tröstet. Das würde ich nicht
überleben. Mir wird schon schlecht, wenn ich mir vorstelle, wie er
mit einer von beiden Arm in Arm herumläuft und einen auf voll
vertraut macht.
Von Johannes kam zum Glück sofort eine SMS zurück.
So nach dem Motto, dass er die ganze Nacht wach gelegen hat und mir
einen neuen Song komponiert hat. Den würde er mir gerne mal
vorspielen. Er trägt den Titel: »You are my first coffee in the
morning.« Und ich habe erleichtert zurückgeschrieben, dass ich
heute Abend zu ihm komme und wir es uns auf seiner Matratze
gemütlich machen. Und bevor ich überhaupt nachgedacht hatte, war
die SMS schon abgeschickt und von ihm kam automatisch ein
hocherfreutes »Groovy!« zurück.
Tja, man kann es sich auch schwer machen. Vor allen
Dingen, weil ja heute Abend auch noch die große Konzertsause bei
Weidemanns steigt und ich nicht weiß, wie ich Arthur verklickern
soll, dass ich danach noch mal »wohin« muss. Sollte einer von euch
eine Idee haben, wie ich mit dieser Doppelverplanung umgehen
könnte, bitte melden. Inzwischen bin ich so weit, dass ich gut und
gerne zwei Leben bräuchte, um alle Mann unter einen Hut zu
kriegen.
Von der SMS-Aktion erzähle ich Mama besser nicht.
Ich weiß sowieso schon, was die sagt: »Meine Güte, mach die Sachen
doch nicht noch komplizierter, als sie ohnehin schon sind.« Und sie
hätte recht. Ich könnte also nur blöde rumnicken oder sie ein
bisschen anschreien, von wegen, dass ich ihrer Meinung nach wohl
nie was richtig mache. Das ganze Theater würde aber nur einem Zweck
dienen: ein wenig Druck abzubauen. Und da ich diesen Mechanismus so
wunderbar durchschaue, lasse ich es echt lieber gleich
bleiben.
Hoffentlich kommt Cotsch bald mal von Helmuth
rübergeeiert, dann könnte ich wenigstens mit der über mein Problem
reden. Aber wahrscheinlich würde sie nur sagen: »Hey, genieß es!
Zwei Typen, die dir zu Füßen liegen.« Aber so bin ich nicht.
Jetzt hocke ich trübe mit Mama und Papa am
fulminant gedeckten Frühstückstisch. Die gefüllten Eier lachen mich
an und Arthur kommt einfach nicht rüber. Keine Ahnung, was der bei
sich veranstaltet. Wäsche waschen oder so. Mama reicht Papa stumm
den Brotkorb rüber, und meine Erzeuger fangen an, sich ihre
Brötchenhälften gewissenhaft mit Butter zu bestreichen. Dann
Marmelade drauf, dazu ordentlich viel Tee. Jeden Morgen essen sie
das Gleiche. Seit Jahren! Nur für Arthur und mich hat Mama eine
Ausnahme gemacht. Richtig viel Mühe hat sie sich mit den Speisen
gegeben, die hübsch angerichtet darauf warten, verspeist zu werden.
Die Butter, der Honig, die Marmelade, alles wurde von Papa
höchstpersönlich in kleine Schälchen gefüllt. Auf unserem
Frühstückstisch dürfen nämlich keine Verkaufsverpackungen stehen.
Ich finde das gut. Mama meint, wir sollen uns mal überlegen, wie
viele Leute die Verpackungen bereits im Laden mit ihren
Dreckfingern angefasst haben. Schönen Dank!
Ich nehme mir ein Mohnbrötchen und schneide es auf,
obwohl ich gar nichts essen will. Ich muss echt aufpassen, dass ich
durch den ganzen Beziehungsstress nicht in meine alten, wie man so
schön sagt, »Muster« zurückfalle und wieder anfange zu hungern. Mit
Magersüchtigen, wie ich eine bin, verhält es sich nämlich genau so
wie mit Alkoholikern oder anderen suchtkranken Existenzen: Man ist
nie wieder der, der man vor der Sucht war. Man bleibt abhängig.
Darum muss ich höllisch aufpassen, dass ich mich nicht gehen lasse.
Ich streiche also Butter auf meine untere Brötchenhälfte und beiße
rein. Dann kaue ich und ich kriege diesen zähen Brötchenklumpen
einfach nicht runtergeschluckt.
Mama sieht mich mitleidig von der Seite an und Papa
löffelt schweigend sein weiches Ei. Als er damit fertig ist, wischt
er sich den Mund mit der Serviette ab und meint: »Verdammt noch
mal, Elisabeth! Jetzt geh rüber zu Arthur und guck, wo er
bleibt.«
Ich sage: »Ich denke, als Frau soll man den Männern
nicht hinterherlaufen.«
»Tust du doch gar nicht.«
Ich gucke zu Mama rüber und die zuckt pikiert mit
den Schultern. »Ich würde warten, bis er kommt.«
Aber Papa meint sofort mit einer gewissen Empörung
in der Stimme: »Warum das denn?«
Mamas Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen.
Offenbar haben wir hier ein schwieriges
Mann-Schrägstrich-Frau-Thema angeschnitten.
Mama gießt sich noch einen Tee ein und meint dann
ziemlich spitz: »Vielleicht möchte Arthur nach der langen Reise
seine Ruhe haben. Dann sollte ihn Lelle nicht bedrängen.«
Mein Blick fliegt über die Marmeladenschälchen
zurück zu Papa. Der nickt, und ich sehe, dass er plötzlich
merkwürdig feuchte Augen hat. Manchmal und völlig unerwartet rührt
ihn das Leben so sehr, mit all seinen Komplikationen, dass sich
seine Augen blitzschnell mit Tränen füllen. Vielleicht tue ich ihm
aber auch einfach nur leid.
Er seufzt und sagt: »Und was ist mit Elisabeth? Was
ist mit ihren Bedürfnissen?«
Mama stellt ihre Teetasse mit einem lauten Klirren
auf der Untertasse ab und meint, sichtlich um innere Gelassenheit
bemüht: »Hast du dich jemals gefragt, was ich für Bedürfnisse
habe?«
Leute, jetzt haben wir hier definitv eine Ebene
gewechselt!
»Was hat das denn jetzt mit Elisabeth zu tun?«,
fragt mein Vater folgerichtig.
»Nichts, ich wundere mich nur, dass du überhaupt
fähig bist, dich um die Bedürfnisse anderer Leute zu kümmern. Meine
haben dich nämlich nie interessiert.«
»Stimmt doch gar nicht.«
Papa schüttelt den Kopf und stiert auf seinen
krümeligen Teller, wobei er sein Brotmesser fest umklammert.
Herrlich. Meine Eltern haben es wieder einmal geschafft. Wenn sie
sich jetzt nicht sofort zusammenreißen, gibt das einen astreinen
Streit, an dessen Ende Papa volle Pulle auf den Tisch haut und zu
seinen Schuhen runterrennt. Erst in einer Woche wird er überhaupt
wieder bereit sein, mit Mama ein Wort zu wechseln.
Und da sie die Situation offenbar genauso
einschätzt wie ich, atmet sie tief ein, schüttelt ihre Haare nach
hinten und meint bemüht freundlich: »Elisabeth kann sich doch auch
selbst genügen. Sie könnte ganz gemütlich ihr Brötchen essen,
danach in ihr Zimmer gehen und an ihren Skulpturen arbeiten. Und
irgendwann wird Arthur schon wieder auftauchen.«
Papa zieht die Luft durch den Mund ein und glotzt
an uns vorbei in seinen herbstlichen Garten mit dem frisch gemähten
Rasen. Er murmelt: »Tja, so kann man die Sache natürlich auch
sehen. Aber wo bleibt da die Leidenschaft?«
Mensch, Mensch, Mensch, Leute. Mir scheint,
inzwischen geht es hier gar nicht mehr um Arthur und mich, sondern
nur noch um Mama und Papa. Oder um Partnerschaft an sich? Das wird
mir jetzt fast ein bisschen zu intim, das Ganze.
Ich stehe also besser auf und verkünde: »Ich gehe
mal rüber zu Arthur und gucke, was er macht.«
Papa und Mama glotzen mir hinterher, als hätte ich
ihnen eröffnet: »So, Leute, ich fliege jetzt zum Mond.« Und bevor
noch jemand das Wort erheben kann, sprinte ich eilig raus in den
Flur und ziehe mir im Windfang meine Jacke über.
Draußen hat es schon wieder zu regnen begonnen,
und ich bin wirklich froh, dass ich es nicht weit habe. Ich
schlurfe unseren schmalen Vorgartenweg runter und dann nebenan den
schmalen Vorgartenweg wieder hoch, bis zu Arthurs maroder Haustür.
Er sollte sich wirklich mal drum kümmern, dass die frisch lackiert
wird. Sonst hetzen die Nachbarn ihm noch die Bürgerinitiative auf
den Hals. Ich knie mich auf den Fußabtreter, hebe die Briefklappe
an und sehe in sein leeres Haus rein. Ich kann bis runter in den
armselig bepflanzten Garten sehen, der Parkettboden spiegelt, im
Wohnzimmer steht nicht ein Stuhl. Nachdem Arthurs Eltern tot waren,
hat er alle Möbel abholen lassen. Bis auf sein Hochbett. Sein Vater
war Polizist, doch eines Tages hat er seinem Partner versehentlich
in den Kopf geschossen. Und weil er das nicht verkraften konnte,
hat er sich ebenfalls in den Kopf geschossen. Und weil Arthurs
Mutter das wiederum nicht verkraften konnte, ist sie krank geworden
und bald darauf gestorben.
Plötzlich war Arthur ganz allein in dem großen
Haus. Ich erinnere mich noch genau, wie Papa, bevor wir Arthur
richtig kennengelernt haben, meinte: »Der nimmt Drogen! Der raubt
uns die Bude aus, wenn wir im Urlaub sind.« Nur weil er lange Haare
hat. Aber wenn einer auf der Welt noch nie Drogen genommen hat,
dann ist das definitiv Arthur. Er ist der aufrichtigste,
vernünftigste und ehrlichste Mensch, den ich je getroffen habe. Ich
meine, er hat in seinem Leben richtig viel durchmachen müssen.
Genau wie ich. Darum passen wir auch so gut zusammen. Na ja, und
dann hat er Mama eines dämmrigen Abends mit seinem Moped über den
Haufen gefahren, als sie mal wieder auf der Suche nach Cotsch war.
Plötzlich hat es an der Tür geklingelt und Arthur stand davor, mit
Mama auf dem Arm. Ihre Arme und Beine hingen kraftlos nach unten.
Zuerst dachte ich, Mama ist tot. Doch dann hat sie ganz leise
gemurmelt: »Legt mich aufs Sofa.« Sie hatte eine kleine Schürfwunde
auf der Stirn und Arthur hat sie, wie seine Braut, über die
Türschwelle getragen und im Wohnzimmer aufs Sofa gelegt.
Das war der Beginn unserer großen Liebe.
Eineinhalb Jahre ist das jetzt her, und ich dachte
immer, dass Arthur meine einzige Liebe bleiben würde. Nun hocke ich
hier, auf dem feuchten Fußabtreter, und glotze in sein Haus, so wie
ich in den letzten Monaten öfter mal in sein Haus geglotzt habe, um
den restlichen Duft von ihm einzuatmen und mir vorzustellen, er
läge da auf seinem Hochbett und schliefe. Ganz in meiner
Nähe.
Gerade als ich die Briefklappe wieder runterlasse,
höre ich hinter mir dieses altbekannte Quäken:
»Was machst du da?«
Leute, es ist schon wieder die anhängliche Alice.
Diesmal zu Fuß, dafür mit Susanna und Rita im Schlepptau. Offenbar
haben die im Leben nichts zu tun. Wie die Orgelpfeifen haben sie
sich in Arthurs Vorgarten zwischen dem verblühten Lavendel
aufgebaut, die Fäuste in die Seiten gestemmt, und glotzen auf mich
runter. Versuchen die, ihr Taschengeld mit Geheimagententätigkeiten
aufzumotzen, oder was ist los?
Ich seufze: »Nichts Besonderes.«
Dann erhebe ich mich langsam, wobei mir etwas
schwarz vor den Augen wird. Ab und zu habe ich Probleme mit dem
Kreislauf. Vorsichtshalber stütze ich mich an Arthurs Haustür ab
und gucke grimmig. Bei den Weidemann-Ladies scheiße ich so was von
auf die Konvention. Manchmal muss man die Leute einfach spüren
lassen, dass sie stören. Und Alice und ihre Gefolgschaft stören
immer. Die haben die seltene Begabung, immer dann aufzutauchen,
wenn es mir überhaupt nicht passt. Zu allem Überfluss sehe ich auch
noch, wie im Hintergrund Cotsch und Helmuth angeeiert kommen. So,
wie ich das aus der Distanz beurteilen kann, scheint bei denen
alles wieder im Lot zu sein. Das ist doch schon mal was.
Rita macht einen Schritt nach vorne und wie jeden
Tag hat sie ihr modriges Mohnblumenkleid an. Das trägt sie seit
ungefähr zehn Jahren. Außerdem hat sie ihr blaues Halstuch umgelegt
und eine grüne olle Regenjacke drübergezogen.
Sie meint: »Wir dachten, wir kommen und begrüßen
Arthur.«
»Der schläft.«
»Und warum stehst du dann vor seiner Tür
herum?«
»Nur so.«
Leute, ich koche innerlich. Das kann ich euch
sagen. Das geht diese drei ja wohl überhaupt nichts an. Ich meine,
die kennen Arthur doch gar nicht. Die wollen nur rumschnüffeln. Und
das auf äußerst ungeschickte Weise.
Alice tritt nun auch noch einen Schritt vor und
quäkt: »Lässt er dich nicht rein oder was?«
Und Susanna meint aus dem Hintergrund: »Hast du ihm
schon gebeichtet, dass du einen neuen Freund hast?«
Bei so viel Frechheit hilft nur noch der stahlharte
Blick. Ich durchbohre die drei Grazien mit glühenden Augen und sage
mit zusammengepressten Lippen: »Ich denke, das ist meine
Angelegenheit.«
Am liebsten würde ich ihnen natürlich mit einer
raffinierten Folter drohen, bei der ich ihnen die Tasten einzeln
aus dem Klavier reiße. Ich hasse sie. Ich hasse sie so sehr. Und
weil ich nicht in Begleitung dieser Vogelscheuchen bei Arthur
klingeln möchte, quetsche ich mich einfach an ihnen vorbei, streife
an den Rabatten entlang, zurück nach Hause. In dem Moment erreichen
Cotsch und Helmuth ebenfalls - Arm in Arm - den Ort des
Geschehens.
Helmuth hebt souverän die Tennistrainerhand. »Meine
Damen, guten Morgen!«
Rita, Susanna und Alice kriegen gleich ganz rote
Wangen.
»Guten Morgen, Helmuth.«
Zu Cotsch sagen sie gar nichts. Ihr Ruf ist
bekanntlich ruiniert. Scheiß drauf. Meine Schwester und ich, wir
packen das Leben eben bei den Hörnern. Schließlich leben wir für
uns und nicht für die anderen. Wenn man denen gefallen will, kann
man sich gleich begraben lassen. Die sind doch eh alle schon
scheintot. Ist jedenfalls meine Meinung. Schnell drücke ich auf
unsere Klingel, um dem Bannkreis der Planschkühe zu entkommen. Die
verströmen echt so eine ganz ungute Atmosphäre. Doch anstatt nun
endlich das Weite zu suchen, heften sie sich direkt an Cotschs und
Helmuths Fersen, die auch zusehen, gemeinsam mit mir in unserem
Haus zu verschwinden.
Rita meint einfach nur ganz unverblümt: »Das ist ja
praktisch. Wir kommen gleich mit rein. Eure Mutter hat doch sicher
einen üppigen Sonntagsbrunch gezaubert.«
Und da reißt Mama auch schon die Haustür auf und
Rita, Susanna und Alice galoppieren an uns vorbei ins Innere.
Cotsch und Helmuth folgen ihnen zögernd bis in den Korridor. Da
geben sie Mama mit sauren Mienen einen Begrüßungskuss und noch
einen Abschiedskuss:
»Wir gehen wieder.«
Und ich sage: »Ich auch.«
Und dann drehen wir uns alle drei auf dem Absatz um
und verschwinden jeder in unsere Richtungen. Cotsch und Helmuth
zurück in ihr Liebesnest. Ich zu Arthur.
Obwohl Mama es eigentlich besser wissen müsste,
ruft sie hinter uns her: »Was, warum denn?«
Und wir rufen: »Dreimal darfst du raten! Wegen den
Scheiß-Tanten!«
Mir tut die Nummer natürlich auch ein bisschen
leid. Jetzt müssen Mama und Papa mit Rita und ihren beiden
Wunderkindern einträchtig am Frühstückstisch hocken und hilflos mit
ansehen, wie sie ihnen die Haare vom Kopf fressen. Wenn die dicke
Rita nämlich eins nicht kann, dann aufhören, alles Vorhandene in
sich reinzustopfen. Speziell, wenn sie bei anderen Leuten zu Gast
ist und das Mahl nicht selber zahlen muss. Solange noch irgendetwas
auf dem Tisch steht, gibt’s kein Halten. Cotsch meinte allerdings
neulich: »Ich sage dir, wenn Rita noch einmal zu uns kommt, um sich
durchfüttern zu lassen, dann trete ich ihr in den Arsch, bis er
platzt.«
Leider hat sie sich diese Aktion jetzt gerade
gespart - vermutlich weil sie zum ersten Mal im Leben in
friedvoller Stimmung ist. Dann soll sie die auch mal genießen.
Pikant ist nur, dass Rita beim letzten Straßenfest vor der ganzen
Nachbarschaft behauptet hat, Papa hätte ihr hinter dem
Altkleidercontainer ein unmoralisches Angebot gemacht. Diese
Fehlbehauptung hat Papa Rita natürlich nie verziehen, und darum
kriegt er jedes Mal einen Anfall, wenn die Lumpen-Tante irgendwo
auftaucht. Seit dem Geschehnis ist Papa sogar wieder dazu
übergegangen, sie zu siezen. Darüber könnten Cotsch und ich uns
volle Pulle totlachen, weil Rita zu jeder sich bietenden
Gelegenheit mit einem Sektglas angeeiert kommt und flehentlich
meint: »Bernie, lass uns doch endlich wieder ›Du‹ sagen.«
Aber Papa bleibt knallhart und meint: »Nur über
meine Leiche.«
Ich muss nicht sagen, dass das Mama total peinlich
ist. Auf der anderen Seite überlegt sie natürlich ständig, ob Papa
Rita vielleicht doch dieses unschickliche Angebot gemacht hat.
Mindestens einmal im Monat hockt sie bei meiner Schwester auf der
Bettkante und fragt mit ganz verunsichertem Gesichtsausdruck:
»Meinst du wirklich, Papa hat Rita gefragt, ob sie mit ihm ins Bett
will?«
Aber Cotsch zuckt dann nur mit den Schultern und
meint: »Ist doch scheißegal.«
Mama nickt dann stupide vor sich hin und überlegt,
ob sie Papa trauen kann oder nicht. Ich würde mich an ihrer Stelle
eher fragen, ob sie der blöden Rita über den Weg trauen kann.
Meiner Ansicht nach ist wenn dann sie die treibende Kraft.
Vermutlich hat sie Panik zu vertrocknen. Die Sorge ist nicht ganz
unberechtigt, wenn ihr mich fragt. Die sieht ja jetzt schon aus wie
ein ledriger Apfel. Oder Schrumpfkopf.