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Nass bis auf die Knochen, lasse ich vor Helmuths Haustür mein Rad direkt in die Vorgartenbüsche plumpsen. Zu Hause könnte ich mir das nie erlauben, weil Papa seine Büsche mindestens so liebt wie seine Töchter. Oder wie Cotsch behauptet: »Papa liebt seine Scheißbüsche mehr als uns.« Überhaupt fühlt sie sich von Papa null akzeptiert, weswegen sie einen Vaterkomplex hat. Das jedenfalls behauptet wiederum meine Therapeutin Frau Thomas, zu der ich einmal in der Woche mit der U-Bahn fahre.
Jetzt steige ich erst mal die Stufen rauf und stelle mich unter Helmuths Vordach. Manometer! Der Regen rauscht echt runter. Ich sehe nur noch graue Bindfäden, die vom Himmel stürzen. Dahinter verschwommene Häuserwände aus weißem Backstein. Ich drücke auf die Klingel, die sich unter so einem massiven Messinghebel befindet. Ziemlich hässlich das Teil. Na ja. Ist ja nicht meine Sache. Außerdem ist mir kalt und drinnen, hinter der Haustür, regt sich gar nichts. Wahrscheinlich sind Cotsch und Helmuth gerade dabei, »sich zu erforschen«. Ich klingle einfach noch mal. Hauptsache, Cotsch flippt nicht aus.
Sie ist ja auch mal zu meiner Therapeutin gegangen, aber bereits nach der zweiten Sitzung hat sie zu ihr gemeint: »Ich durchschaue Ihre billigen Psychotricks.« Da hat Frau Thomas gesagt, Cotsch sei ein hoffnungsloser Fall und es sei besser, wenn sie nicht mehr käme. Daraufhin hat meine Schwester bei uns im Wohnzimmer einen Stuhl gegen Papas heiliges Bücherregal geworfen. Mama hat vergeblich versucht, sie zu beruhigen: »Kätzchen, nun flipp doch nicht so aus!« Gleichzeitig hat sie sich bemüht, die tiefe Scharte im Holz mit dem Fingernagel irgendwie wieder zu glätten. Damit Papa nichts merkt. Bei der Gelegenheit kam dann raus, dass Cotsch sich nichts mehr wünschte, als trotzdem weiterhin zu Frau Thomas zu gurken. »Nie darf ich zur Therapie gehen! Immer nur Lelle! Ihr hasst mich doch alle!« Da allerdings war das Spiel schon aus. Frau Thomas war total tief gekränkt von Cotschs Arroganz: »So was muss ich mir nicht bieten lassen.« Und Mama meinte: »Dann suchen wir dir eben eine andere.« Aber das wollte Cotsch nicht, weil sie immer genau das haben muss, was die anderen haben. Echt verstörend!
Trotzdem klingle ich noch mal. Jetzt zweimal hintereinander. Ich finde: Therapeuten sollten solche Angriffe aushalten. Schließlich gehen die psychisch Kranken nicht umsonst zur Analyse! Im Übrigen bezweifle ich sowieso, dass Psychotherapie etwas bringt. Das äußere ich natürlich nicht laut. Hinterher wirft mich Frau Thomas auch noch raus. Wenn ich eines in meinem Leben verhindern möchte, dann, dass jemand böse auf mich ist. Das liegt daran, dass ich von Mama gelernt habe, sogar meine Gegenspieler in ihrem Verhalten zu verstehen und zu akzeptieren. Das macht es für mich manchmal ziemlich schwierig, festzustellen, was ich eigentlich will. Das ist aber dringend notwendig, weil nämlich sonst die Gefahr besteht, dass ich wieder autoaggressiv reagiere. »Und davon wollen wir ja weg!«, hat der Chefarzt Doktor Wilhelm in der Klinik beim Abschied zu mir gemeint.
Na ja. Ihr merkt schon: Was das psychologische Terrain anbelangt, bin ich echt bestens ausgebildet. Unter uns: Eigentlich könnte ich direkt mit dem Praktizieren anfangen. Psychologie interessiert mich wirklich viel mehr als Schule. Also: Warum handelt der Mensch so und nicht anders? Gibt es den »freien Willen« - ja oder nein? Aber bevor ich jetzt zu theoretisch werde, klingle ich besser noch mal bei Helmuth Sturm. Wie gesagt: Es regnet ziemlich. Wenn nicht sogar sehr! Meine Haare kleben mir feucht am Kopf, mein Pullover haftet an meinem Oberkörper und über den Feuchtigkeitsgrad meiner Jeans brauchen wir gar nicht erst zu reden. In jedem Fall fühlt es sich so an, als hätte ich mir mehrere Lagen Gipsbinden um die Gliedmaßen gewickelt.
Ich arbeite mich noch dichter an Helmuths Haustür ran, die ja wohl nun auch bald die von Cotsch sein dürfte - sollten die beiden Verliebten tatsächlich in Las Vegas heiraten. Ich fasse es nicht! Meine Schwester und der alternde Tennistrainer! Im Übrigen wohnt Helmuth nur fünf Häuser von uns entfernt, das verspricht spannend zu werden. Zukünftig werden Cotsch und Mama dann nur noch zusammen glucken und sich gegenseitig damit vollsülzen, wie schlecht es ihnen mit ihren Männern geht. Das kenne ich schon. Die beiden tun sich echt ununterbrochen leid, weil sie sich ihr Schicksal irgendwie anders vorgestellt haben. Geistvoller oder so.
Ich drücke noch mal richtig auf die Klingel und höre, wie es drinnen in Helmuths Gemächern tüchtig läutet. Endlich vernehme ich Schritte! Mit Schwung wird die Tür aufgerissen und meine Schwester steht in grünem Spitzen-BH und passendem Schlüpfer vor mir. Ich sage es besser gleich: Sie trägt dazu noch farbig passende Strumpfhalter mit Seidenstrümpfen. Sie wirkt nicht gerade begeistert, mich zu sehen.
»Was willst du?«
Offensichtlich habe ich bei einem ihrer bizarren Sexspielchen gestört. Trotzdem frage ich höflich: »Störe ich?«
»Allerdings!«
Hinter meiner Schwester ständert nun auch Helmuth in offenem Hemd und Hose herum und guckt neugierig, wer da vor seiner Tür rumlungert. Die grauen Haare stehen ihm zu Berge, und er hat, wie ich erspähe, seine obligatorischen Schweißbänder abgelegt. So »nackt« habe ich ihn noch nie gesehen.
Ich sage: »Sorry. Aber dies ist ein Notfall!«
Und meine Schwester meint: »Na hoffentlich!«
Sie wirft die Locken nach hinten über die Schulter und Helmuth voll ins Gesicht. Das merkt sie gar nicht. Offenbar hat sie bereits das Zepter in seinem Heim übernommen. Sowieso neigt meine Schwester dazu, die alleinige Herrschaft an sich zu reißen. Bei mir hat sie es in der Kindheit auch ständig versucht, aber ich wusste mich zu wehren. Zumindest einmal, als sie sich zum wiederholten Male darüber beschwert hat, dass ich beim Essenkochen zu viele Töpfe verwende. Da hat es mir gereicht und ich habe ihr einen vollen Teller Nudelsuppe über die Haare geschüttet. Noch heute finde ich: Das war richtig. Schließlich kann meine Schwester gar nicht kochen und sie wäscht auch nicht ab. Alles klar? Die kann den nötigen Aufwand also gar nicht beurteilen.
Ich hebe meine Hand zum Schwur und lächle sweet. »Ich schwöre!«
Jetzt sieht sie mich aus zusammengekniffenen Augen durchdringend an, und in ihrem Gesicht lese ich eine Mischung aus Mitleid und absoluter Genervtheit. Ich will schon klein beigeben und anbieten, dass ich später wiederkomme, da streift mein Blick noch einmal Helmuth, und ich registriere, dass er über das ganze Gesicht freudig strahlt.
»Lelle! Welcher Wind weht dich denn zu uns?«
Fast könnte man meinen, er sei ein simples Gemüt, so begeistert ist er, mich zu sehen. Tja, Leute! Er mag mich eben gern. Ich vermute, weil ich den beiden vorhin im Garten meinen Segen zwecks Hochzeit erteilt habe. Daran scheint sich Cotsch jetzt auch wieder zu erinnern. Mit einem Mal streckt sie mir ihre Hand mit einem glitzernden Diamantring entgegen und fragt mit sorgenvoller Stimme: »Lelle, was geht ab?«
Ich räuspere mich und meine Stimme bröckelt trocken über meine Lippen: »Man hat mir das Herz gebrochen.«
Cotsch grapscht nach meinem Arm und zieht mich ins warme Innere von Helmuths Heim - und Leute, ich war noch nie hier. Die Wände sind mit dunklem Holz vertäfelt, wie in einer Sauna. Überall stehen schwere Holzmöbel herum und das gesamte Untergeschoss ist mit dicken, flauschigen Teppichen ausgelegt. Aus dem Wohnzimmer dringt Mariah-Carey-Popmusik. Solche, wie meine Schwester sie gerne hört. Die kennt sich eben nicht aus mit wirklich harten Beats.
Helmuth offenbar auch nicht. Er winkt mich in seine »Gute Stube« und bemerkt echt erschüttert: »Liebesbisschen. Du bist ja vollkommen durchnässt.«
Meine Schwester schließt hinter uns die Haustür und ruft bestimmermäßig durch den Flur: »Hol ihr deinen Bademantel runter, Helmuth.«
»Geht klar, Schatz.«
Ihr Verlobter flitzt los, die Treppe rauf in den ersten Stock und lässt mich im Wohnzimmer mit den zwei gigantischen Sofas aus dicken roten Polstern zurück. Über die Sitzkissen verteilt liegt ein Haufen Kataloge, auf denen strahlende Bräute samt entzückender Blumenkinder abgebildet sind. Auf dem gläsernen Beistelltisch steht so ein Ding - eine Etagere nennt man das, glaube ich. Das ist so ein Teil, bei dem an einem Stab mehrere Teller übereinander befestigt wurden. Und auf jedem dieser Teller liegen Knabbereien: Bonbons, Nüsse und Chips. Ich glaube, ich greife da gleich mal ein bisschen zu. Ein Bonbon wäre jetzt genau das Richtige.
Cotsch kommt durch den Flur zu mir ins Wohnzimmer und klatscht in die Hände. »Ja, das ist also unser Reich!«
Sie hat sich noch schnell eine cremefarbene Pyjamahose aus Satin angezogen - was mir sehr recht ist. So muss ich nicht die ganze Zeit auf ihre grünen Dessous glotzen. Und weil Mariah Carey gerade zu einem nervenzerfetzenden Crescendo ansetzt, dreht Cotsch per Fernbedienung die Musik leiser und meint mit echtem Mitgefühl in der Stimme: »Scheiße, Lelle! Du zitterst ja total. Helmuth holt dir seinen Bademantel. Den ziehst du an und wärmst dich erst mal auf. Was gurkst du denn auch bei diesem Kack-Wetter draußen mit dem Rad rum? Bist du lebensmüde oder was?«
Ich zucke mit den Schultern, weil ich nicht weiß, wo ich mit dem Erzählen anfangen soll. Außerdem würde ich mich gerne hinsetzen, mir ist gerade ein bisschen schwummerig zumute, aber das geht ja nicht. Mit meinen quietschnassen Klamotten würde ich nur Flecken auf die mondänen Sofapolster machen. Um überhaupt erst mal ins Gespräch reinzukommen, sage ich also: »Cool, dass du und Helmuth heiraten wollt.«
Meine Schwester pflanzt sich mit rausgestreckter Brust auf die rote Sofalehne und lächelt verwegen. »Ja, nicht? Wir suchen gerade im Katalog ein adäquates Hochzeitskleid für mich aus. Mit langem Schleier und richtiger Schleppe.«
»Wollt ihr wirklich in Las Vegas heiraten?«
»Warum nicht?«
»Weil ich dann gar nicht dabei sein kann.«
»Stimmt.«
Meine Schwester lässt sich rückwärts zwischen ihre Kataloge plumpsen und macht so ein nachdenkliches Gesicht. Mehr hat sie wohl nicht zu der Thematik zu sagen. Kann ich ihr auch nicht helfen, wenn ihr das egal ist. Mich irritiert es trotzdem. Schließlich habe ich nur eine Schwester und uns verbindet eine ganze Menge Liebe. Auf der anderen Seite ist sowieso klar, dass es nicht Cotschs letzte Hochzeit sein wird. Von daher kann ich der Zukunft eigentlich ganz entspannt entgegensehen. Und dann kommt auch schon Helmuth mit einem braunen, total flauschigen Bademantel zurück ins Wohnzimmer gehetzt und hält mir das voluminöse Teil hin.
»Hier, bitte.«
Wenn ihr mich fragt: Das Ding sieht aus, als hätte Helmuth einem russischen Braunbären das Fell über die Ohren gezogen.
»Danke.«
Dieser Bademantel wiegt mindestens fünfzig Kilo, also mehr als ich.
Helmuth lächelt selig. »Sehr gern.«
Und wie ich das haarige Teil unschlüssig betaste, weist Cotsch wie so ein Feldwebel mit dem Arm in Richtung Küche und meint: »Zieh dich da drüben um und lass die nassen Klamotten einfach auf dem Boden liegen. Helmuth wäscht die dann nachher für dich durch.«
»Okay.«
Mein zweifelnder Blick streift ihren Verlobten, der sich gleich wieder zu meiner Schwester aufs Sofa gepackt hat und ihr mit stolzgeschwellter Brust den Arm um die Taille legt. Altväterlich zieht er sie zu sich ran und busselt sie so albern mit seiner Nasenspitze. Leute, für mich wäre das echt nichts. Der unterwirft sich ja total. Außerdem bemerke ich: Er hat sich seine Schweißbänder wieder an die Handgelenke angelegt. Offenbar will er cool rüberkommen. Gratuliere, Helmuth! Er scheint echt alles zu tun, um meiner Schwester zu gefallen. Allerdings kann ich ihm gleich verraten, dass das ein hoffnungsloses Unterfangen ist. Ich wette, der putzt ihr sogar die Zähne, wenn sie es wünscht.
Langsam vermute ich wirklich, dass Cotsch der schlimmste Patriarch ist, der auf unserer Erde herumrennt. Das liegt daran, dass Mama ihr schon sehr früh sämtliche klassischen Werke der Literaturgeschichte zu lesen gegeben hat, in denen es immer wieder darum ging, dass intelligente Frauen von ihren Ehemännern unterdrückt werden und darum keinen anderen Ausweg kennen, als sich umzubringen. Durch die Gabe solch doppelbödiger Literatur wollte Mama verhindern, dass ihrer »Ältesten« das gleiche Frauenschicksal widerfährt. Nun widerfährt es Helmuth, weil meine Schwester der Auffassung ist, dass er all das gutzumachen hat, was die Männer in den vergangenen Jahrhunderten an den Frauen verbrochen haben. Helmuth scheint es zu gefallen. Das tröstet mich.
Ich schlurfe rüber in die Küche, deren Einbauschränke ebenfalls vollkommen holzvertäfelt sind. Auf der Fensterbank schwimmen hundert unterschiedlich große Holzenten herum. Offenbar hat Helmuth ein Faible für Nippes. Irgendwo habe ich in letzter Zeit schon mal so eine groteske Enten-Ansammlung gesehen. Mir will beim besten Willen nicht einfallen, wo. Scheiße. Jetzt werde ich bis zu meinem Lebensende darüber nachdenken, wo das war. Jedenfalls meine ich mich zu entsinnen, dass Alina auch dabei war. Oder habe ich gerade eine Vision? Vermutlich bin ich schon vollkommen überreizt. Das ist Mamas Lieblingswort: »überreizt«. Früher hat sie ständig zu irgendwelchen Leuten gemeint: »Meine Kinder sind heute stark überreizt.« Oder sie hat es direkt zu uns gesagt: »Kinder, warum seid ihr heute nur wieder so überreizt?« Und irgendwann entsprach diese »Überreizung« Cotschs und meinem Lebensgefühl. Bis heute. Na ja. Ich will euch ja nicht langweilen. Ist ja zum Glück nicht euer Problem.
Ich pelle mir das nasse T-Shirt vom Leib, und mir fällt auf, dass auf dem Bord über der Brotschneidemaschine bemerkenswert viele Schnapsflaschen stehen. Ich hoffe, die sind ausschließlich für Gäste bestimmt. Nicht dass Helmuth am Ende ein astreiner Alkoholiker ist. Jetzt strample ich mir noch schnell meine feuchte Jeans von den Beinen und rupfe mir meine Strümpfe von den Füßen. Anschließend schlüpfe ich hurtig in den voluminösen Bademantel, und als ich mich darin so richtig eingemummelt habe, fällt mir ein, dass Helmuth den vermutlich auf nackter Haut trägt. Würg. Aber was soll ich machen? Ich kann mir ja schlecht wieder die nassen Sachen anziehen, nur weil Helmuths Penis an dem Mantel rumgerieben hat. Hauptsache, ich werde auf diesem Wege nicht von ihm schwanger. Leute, ich bin gerade etwas verunsichert? Könnte das theoretisch passieren?
Etwas angespannt stakse ich im Bademantel rüber ins Wohnzimmer und komme mir vor wie dieser seltsame Doktor Schiwago. So ein romantischer Russe, der sich im dicken Fellmantel und Fellmütze durch heftiges Schneegestöber kämpft, auf der Suche nach seiner Liebsten. Den Film zieht sich Mama ab und an auf DVD rein. Die steht auf solche heftigen Machwerke. Papa und ich schlafen dabei regelmäßig ein.
Helmuth und meine Schwester hängen entspannt auf dem Sofa rum und blättern schon wieder in ihren Hochzeitskleid-Katalogen. Zum Glück hat Cotsch in der Zwischenzeit davon abgesehen, sich an Helmuths Gemächte zu schaffen zu machen. Zuzutrauen wäre ihr so ein »Quickie« allemal. Dafür präsentiert sie mir und Helmuth ungeniert ihre prallen Dinger im grünen Spitzen-BH, als würde hier ein Oberweiten-Wettbewerb stattfinden. Den würde sie zweifellos gewinnen, ich bin nämlich flach wie ein Bügelbrett. Trotzdem reicht meiner Schwester ihr Umfang nicht aus. Darum hat sie Papa neulich um eine Stange Geld angebettelt, weil sie sich dringend operativ aufpolstern lassen wollte. Daraufhin hat Papa eine Kosten /Unkostenrechnung aufgemacht und festgestellt, dass das »rausgeschmissenes Geld« sei. Danach war das Verhältnis zwischen den beiden erst mal wieder im Eimer. Cotsch hat getobt: »Du gönnst mir echt überhaupt nichts.« Und Papa hat stumm mit den Schultern gezuckt. Mama hat - ganz entgegen ihrer sonstigen Stimmung - plötzlich zufrieden gelächelt. Sie ist nämlich total auf dem Bio-Trip und befürchtet, die Silikon-Dinger könnten in Cotschs Brustkorb implodieren. Also, ich würde mir nie etwas Derartiges einpflanzen lassen, obwohl ich echt wenig obenrum habe. Mama sagt: »Das liegt daran, dass du so viel gehungert hast. Deshalb wurden an diesen Stellen keine Fettzellen entwickelt.« Ich muss nicht sagen, dass das ein Gespräch ist, auf das ich gut verzichten kann.
Ich setze mich meiner Schwester und ihrem mit Aftershave übergossenen Verlobten gegenüber hin. Helmuth sollte echt sparsamer mit dem Duftwässerchen umgehen. Dieser edle Geruch haut den stärksten Mann aus den Latschen. Er nickt mir freundlich zu und meint mit so einer einladenden Handbewegung in Richtung Etagere: »Greif zu.«
Und da ich in der Klinik gelernt habe, dass es mich nicht umbringt, ein bisschen was zu essen, nehme ich mir zwei Erdnussflips und stecke sie mir in den Mund. »Danke.«
Und Cotsch meint: »Lelle, in Helmuths Bademantel siehst du echt aus wie Doktor Schiwago.«
Ich sage: »Witzig, genau das dachte ich auch gerade.«
Ich ziehe den Mantel noch ein wenig fester um mich herum, nicht dass er am Ende zur Seite wegrutscht und meine intimsten Stellen preisgibt. Doch dann fällt mir wieder ein, dass ich nicht von Helmuth schwanger werden will, und ich schlage schnell die Beine übereinander. Hinterher kleben an dem Frotteestoff noch Samenzellen. Ist doch möglich. Ich weiß nicht mal, wie lange die außerhalb des Körpers überleben. Wahrscheinlich drei bis acht Wochen lang. Das wäre echt so was von einem Albtraum: Meine Schwester heiratet den alten Knochen, aber ich bekomme ein Kind von ihm. Ich sage nur: sans moi. Und schon fällt mir wieder der Scheiß mit Johannes und Alina ein.
Um die Aufmerksamkeit auf meine verkrachte Existenz zu richten, gucke ich demonstrativ traurig aus dem Fenster, wo der Regen gegen die große Scheibe prasselt. Vielleicht sollte ich noch mal versuchen, Johannes auf dem Handy zu erreichen. Auf der anderen Seite spare ich mir den Versuch besser, um ihm nicht das Gefühl zu geben, dass ich irgendwie klammere oder so. »Mit solchen Aktionen darfst du gar nicht erst anfangen«, hat Cotsch mir mal geraten. Das war, als Helmuth vor unserem Haus mit einem überdimensionierten Blumenstrauß auf und ab getigert ist, nachdem sie ihn verlassen hatte. Jetzt nimmt er sich ein paar Erdnussflips von der Etagere und schnippt sie sich in seinen offenen Mund.
Cotsch fummelt ihren BH zurecht, und als sie damit fertig ist, fragt sie: »Also, was ist los?«
Ich sage: »Jetzt hat Alina gestern auch noch mit Johannes rumgeknutscht.«
»Woher weißt du das?«
»Sie hat es mir gesagt.«
»Und wo ist jetzt dieser Johannes?«
»Auf der Polizeiwache, weil sein Cousin Samuel eine volle Bierflasche auf ein fahrendes Auto geschmissen hat.«
Helmuth starrt mich mit offenem Mund an, sodass ich das Zerkaute darin sehe. »Was? Warum das denn?«
Ich sage: »Weil er eine Vollmacke hat.«
Helmuth schüttelt den Kopf, so als sei Johannes sein Sohn. »Das scheint mir aber auch so.«
Dabei fällt mir ein: Ich weiß gar nicht, ob Helmuth Kinder hat. Wenn ja, wäre meine Schwester bald eine original Stiefmutter! Schick! Möglicherweise von einem fünfundzwanzigjährigen Sohn, mit dem sie erst mal eine heiße Affäre anzettelt, wenn Helmuth gerade den alten Ladies aus der Nachbarschaft Tennisstunden erteilt. Ich frage mich echt, ob dieser Mann blickt, auf was für ein Risiko er sich da eigentlich einlassen will. Meiner Ansicht nach grenzt es sowieso schon an ein Wunder, dass er Cotsch noch mal in seine Gemächer und in sein Herz gelassen hat. Das zeugt definitiv von Größe und Vertrauen. Ich sage nur: Chapeau!
Um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen, setze ich mich aufrecht hin und frage: »Und was soll ich eurer Meinung nach jetzt machen?«
Cotsch schlägt das Bein über, sodass ich ihre rot lackierten Fußnägel bestaunen kann, und meint so ganz cool: »Habe ich dir doch vorhin schon gesagt: Schieß ihn ab.«
Und ich sage: »Aber ich liebe ihn.«
»Warum? Der Typ hat keinen Stil. Wenn er mit einer anderen rumknutscht, dann hat er einen richtigen Fehler gemacht. Ganz klar. Da gibt es kein Pardon. So einen Betrug kann man nicht verzeihen. Wo kommen wir denn da hin? Lelle! Guck verdammt noch mal in den Spiegel! Das bist du! Der Typ wagt es tatsächlich, eine Lady wie dich zu hintergehen! Scheiß die Wand an! Ich sage dir, wenn ich den treffe, dem werde ich so was von heimleuchten...«
Und während sich Cotsch vollkommen in Rage redet und dabei wahrscheinlich wieder an die unterdrückten Frauen in der Literaturgeschichte denkt, kriegt Helmuth knallrote Ohren und glotzt seine zukünftige Frau mit aufgerissenen Augen an. In so einem Zustand habe ich Helmuth noch nie erlebt. Er reibt sich mit den Händen immer wieder nervös über seine Oberschenkel, die in einer glänzend blauen Sporthose stecken, und meint plötzlich mit ganz trockener Stimme: »Constanze, vielleicht hast du vergessen, dass ich dich auch zurückgenommen habe.«
Meine Schwester wendet ihren Kopf langsam in seine Richtung. Ihre Augen sind zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. »Was willst du damit sagen?«
Oha! Dieses Gespräch könnte knifflig werden. Ich muss gestehen: Helmuth, das war ein mutiges Statement. Meine Schwester dampft so richtig aus allen Löchern. Ihre Augen blitzen, ihre Lippen sind kaum noch zu sehen. Helmuth schluckt. Jetzt erst checkt er das Ausmaß seiner Bemerkung. Ich hoffe, dass er stark bleibt. Meine Schwester verachtet nämlich Weicheier. Er scheint meine Gedanken gelesen zu haben. Denn er zuckt mit den Schultern und meint ziemlich souverän: »Ich sage nur: Gérard-Michel. Mit diesem edlen Herrn hattest du ja wohl was.«
»Das, lieber Helmuth, ist ja wohl nicht ganz das Gleiche.«
»Aha? Und warum nicht?«
»Ich bin eine emanzipierte Frau.«
»Na und? Ich bin ein Mann. Ich habe auch Gefühle. Du hast mir wehgetan, als du mit Gérard-Michel was angefangen hast.«
Nur zur Info, Leute. Gérard-Michel ist, wie der Name schon sagt, Franzose. Er wohnt Helmuth genau gegenüber, ist mit Dorle verheiratet und der Vater von Antoine. Wir erinnern uns: dem Franzosen, der meine Schwester abgesägt hat. Und eines schönen Tages haben Helmuth und ich die beiden auf frischer Tat ertappt. Nämlich als die beiden Verliebten gegenüber aus dem Haus rauskamen. Und der dusselige Gérard-Michel kam sich nicht zu blöd vor, Cotsch voll an den Hintern zu grapschen und wie ein wollüstiger Hirsch rumzuröhren. Total peinlich! Vor lauter Wut und Enttäuschung über so viel Niedertracht hat Helmuth ein paar Mal tief Luft geholt und plötzlich wie wild mit den blühenden Topfpflanzen rumgeworfen, die seine vorherige Frau bei ihm im Vorgarten zurückgelassen hatte. Dazu hat er die schlimmsten Schimpfworte geschrien, Worte, wie ich sie bisher nur aus dem Mund meiner Schwester gehört hatte. Ich will sie besser nicht wiederholen. Ich sage nur: »Du Mettwurst-Joe!« Oder: »Du treulose Tomate!«
Meine Schwester streckt übertrieben entspannt ihre Beine auf dem Beistelltisch aus und gähnt genüsslich. Diese Geste kenne ich. Die macht sie immer, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlt. Dazu meint sie auch noch so von oben herab: »Fang jetzt bitte nicht an zu heulen, Helmuth.«
Doch davon ist ihr Verlobter weit entfernt. Er nickt nur selbstvergessen. Schließlich steht er von seinem Sofaplatz auf und bemerkt so ganz freundlich: »Dies ist wahrscheinlich der richtige Augenblick, liebe Constanze, um dir zu sagen, dass ich dich sofort verlassen werde, sollte ich herausbekommen, dass du mich betrügst. Ich werde dich kein zweites Mal zurücknehmen. Hast du mich verstanden?«
Cotsch glotzt ihren zukünftigen Ehemann aus großen Augen an und nimmt augenblicklich ihre frisch lackierten Füße vom Tisch. »Hä?«
Helmuth bleibt in der Mitte des Wohnzimmers stehen, wischt sich mit seinem Schweißband über die feuchte Stirn und hinter ihm prasselt der Regen mit Wucht gegen die Scheibe. Sehr eindrucksvoll.
Meine Schwester stiert wütend in der Gegend rum und ruft: »Hallo! Was soll das jetzt bitte wieder heißen?«
»Du hast mich schon verstanden.«
Meine Schwester fummelt erneut ihren BH zurecht, als sei er ihre einzige Sorge. Als sie damit so weit alles geregelt hat, legt sie ihre Beine zurück auf den Beistelltisch und bemerkt plötzlich wie eine eiserne Geschäftsfrau: »Natürlich habe ich dich verstanden, lieber Helmuth. Aber das heißt ja nicht, dass ich mich daran halten muss. Es wäre viel eher angebracht, dass du dir überlegst, ob du mich wirklich heiraten möchtest, auch wenn klar ist, dass ich nie werde treu sein können.«
Meine Herren! Das ist jetzt eine klassische Patt-Situation. Hier treffen zwei vollkommen unterschiedliche Lebensentwürfe aufeinander, die definitiv nicht zusammenpassen. In jedem Fall würde ich Helmuth den Rat geben, meine Schwester unter diesen Umständen besser nicht zu heiraten. Das kann nur nach hinten losgehen. Sie wird ihm wieder und wieder das Herz brechen, bis davon nur noch ein paar Krümel übrig bleiben. Und meiner Schwester wiederum würde ich den dringenden Rat geben, sich schleunigst anzugewöhnen, sich auf einen Mann zu konzentrieren. Ich meine, aus welchem Grund hat sie es nötig, sich ständig irgendwelchen Typen an den Hals zu werfen? Sie ist der heißeste Feger in town. Ist das eine Art Sucht oder was? Vielleicht muss sie auch mal in der Klinik behandelt werden, damit dieses ständige Rumgemache aufhört.
Helmuth hat sich inzwischen in Richtung Hausbar geschoben. Vielleicht ist er doch Alkoholiker? Seelenruhig sucht er eine Flasche heraus und gießt sich einen ordentlichen Schluck in ein geschliffenes Kristallglas ein. Dazu lässt er ein paar Eiswürfel hineinplumpsen, die er mit einer silbernen Eiszange aus so einem Stahlbehälter fischt. Ich muss echt sagen: Helmuth hat Stil.
Er meint: »Constanze, ich bin froh, dass wir so ehrlich miteinander reden können. Dieses Gespräch hat mir die Augen geöffnet …«
Meine Schwester verschränkt siegessicher die Arme hinter dem Kopf und gähnt. »Das freut mich. Dann hol mir doch aus der Küche bitte ein paar Stück Ananas.«
Doch ihr Helmuth lächelt einfach nur selig weiter und bemerkt: »Was ich sagen wollte, ist, dass ich es für besser halte, wenn wir uns trennen. Ich habe nämlich nicht das Bedürfnis, mit einer Frau zusammenzuleben, die mich mit jedem dahergelaufenen Gigolo betrügt.«
Bravo! Bravo, könnte ich jetzt rufen! Dieser Helmuth hat wirklich echte Klasse. Der weiß, wie der Hase läuft. Der lässt sich nichts bieten. Und genauso unerbittlich werde ich mir nachher Johannes zur Brust nehmen, vorausgesetzt, er meldet sich noch mal bei mir. Hinterher war diese »Glaswurfsache« nur eine faule Ausrede, weil er eigentlich gar keinen Bock mehr auf mich hat. Leider muss ich auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen.
Cotsch nimmt nun wieder ihre langen Beine vom Beistelltisch. »Hallo? Helmuth! Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Dass ich dich verlasse.«
Ihr Tennistrainer gießt sich noch einen Drink ein, ich schätze, in seinem Leben war er noch nie so gut drauf wie jetzt. Allerdings muss ich sagen, er fühlt sich etwas zu sicher. Er dreht meiner Schwester den Rücken zu! Leute, das sollte er besser nicht tun! Plötzlich springt sie vom Sofa, stürmt von hinten auf ihn zu und wirft sich mit einem Kampfesschrei auf seinen Rücken. Dazu brüllt sie: »Wag es nicht! Wag es ja nicht!«
Und mitten in dieser eindrucksvollen Rangelei, bei der Helmuth und meine Schwester quer durchs Wohnzimmer kreiseln, klingelt mein Handy in der Bademanteltasche. Ich ziehe es hervor. Auf dem Display leuchtet wieder mal Johannes’ Name. Ich halte mir das eine Ohr zu und hebe ab.
Und während Helmuth im Hintergrund versucht, meine leidenschaftliche Schwester abzuschütteln, sage ich: »Ja, bitte?«