10
Okay, Leute. Es geht los. Ich sitze neben
Papa im Auto und wir fahren Richtung Flughafen. Draußen dämmert es
hinter den sich wiegenden Pappeln und ich bin müde und gleichzeitig
hypernervös. Meine Hände sind weiß und kalt, und ich quetsche sie
zwischen meine Oberschenkel, um sie irgendwie zu wärmen. Meine
Zähne klappern aufeinander und Papa schielt mich aus den
Augenwinkeln an.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, mir ist nur ein bisschen kalt.«
Und schon greift er nach hinten und zieht seinen
hellbraunen Lederblouson vom Rücksitz, den er schon als Student
getragen hat. Fürsorglich wirft er ihn mir über die Knie.
»Besser?«
»Ja, danke.«
Ich ziehe das Ding über meine Schultern und rieche
Papas Geruch. Gleich erinnere ich mich an früher, wie es war, wenn
wir aus den Sommerferien kamen und Papa mir genau diese Jacke
übergelegt hat, wenn ich im Auto eingeschlafen war. Und immer hat
die Jacke genauso gerochen wie jetzt. Ein guter, heimeliger Geruch.
Sofort wird mir wärmer und ich sehe vorne aus der Windschutzscheibe
auf die leere Fahrbahn, unter den Reifen rauscht der graue Asphalt
und Papa dreht das Radio an. Beim Autofahren hört er am liebsten
experimentelle Klavierklänge, durchmischt mit wildem Getrommel.
Keine Ahnung, was er an solchen Psycho-Stücken findet. Die sind
einfach nur total nervig. Besonders wenn man selbst schon neben der
Spur ist. Aber ich sage nichts. Ich halte es aus, denn immerhin ist
Papa extra früh ausgestanden, um mich zum Flughafen zu bringen und
unseren Entwicklungshelfer abzuholen. Normalerweise muss Mama bei
solchen Gelegenheiten hinters Steuer, weil Papa meint, dass er
nicht der Familienchauffeur ist. Na ja. Aber er mag mich und darum
hat er jetzt die Fuhre übernommen.
Es ist kurz vor halb sieben, als wir auf den
unterirdischen Parkplatz rollen. Über uns surren die Neonröhren,
und Papa und ich rennen los, ins Flughafengebäude rein, hin zum
Gate. Ich hechte voraus, Papa hinterher, und als wir ankommen,
schlurfen schon die ersten Flugpassagiere mit ihren Koffern durch
die gläserne Schiebetür und gucken trübe umher, um zu überprüfen,
ob sie ihre Angehörigen irgendwo erblicken. Um uns herum fallen
sich die Leute in die Arme, drücken und küssen sich und sagen:
»Mein Gott! Habe ich dich vermisst!« Die Menschen sind echt
komisch.
Ich stehe neben meinem Vater an dem geschlossenen
Informationsschalter und wir sind ganz stumm, so sehr konzentrieren
wir uns auf die Glastür und das Geschehen dahinter. Ab und an
erspähen wir hinter dem Passkontrollenhäuschen einen Flugreisenden,
der seinen Koffer vom Rollband zieht, aber nirgendwo ist Arthur.
Und plötzlich habe ich ihn wieder ganz genau vor Augen. Meinen
Arthur. Sein Lächeln. Seine braunen, leuchtenden Augen. Seine
Stimme. Ich versuche, ruhig zu atmen. Aber in mir bebt es.
Papa stellt sich auf die Zehenspitzen, um besser zu
sehen, in seiner Hand hängt der Autoschlüssel mit dem dazugehörigen
kleinen Ledertäschchen. Auf seiner Stirn glänzen kleine
Schweißperlen.
Er murmelt: »Mensch, wo ist er denn?«
Jetzt stelle ich mich auch auf die Zehenspitzen und
mein Herz schlägt bis zum Hals. Immer mehr Flugreisende kommen
durch die gläserne Schiebetür und die Abholer um uns herum werden
weniger. Bis wir alleine dastehen. Ich denke schon, Arthur
erscheint nicht mehr, als die Glastür noch ein letztes Mal aufgeht.
Leute! Es ist Arthur! In seinem geringelten T-Shirt, die Haare bis
zum Kinn. Er ist ziemlich braun gebrannt.
Papa gibt mir von hinten einen kräftigen Schubs.
»Na, los! Geh schon.«
Ich mache einen Schritt nach vorne, werde schneller
und noch schneller. Arthur kommt direkt auf mich zu, mit seiner
großen Sporttasche um die Schulter und meinem Arthur-Lächeln. Auch
er wird immer schneller, grinst immer doller und dann endlich
breitet er seine gebräunten Arme aus. Er schlingt sie um mich und
küsst mich mitten auf den Mund. Ich küsse zurück und mein Arthur
flüstert immer wieder warm und vertraut in mein Ohr: »Meine Lelle,
meine Lelle. Endlich, endlich habe ich dich wieder.«
Hand in Hand gehen wir hinter Papa her, der uns an
den leeren Terminals und den noch geschlossenen Flughafenshops
vorbei zurück zum Auto führt. Immer wieder drückt Arthur glücklich
meine Hand, so sehr freut er sich, mich zu sehen. Klar, jeder freut
sich, mich zu sehen. Kleiner Scherz am Abgrund. Ich lächle so ein
bisschen zurück, um ihm ein gutes Gefühl zu geben. Aber in mir
drin, da wird die Schuld immer schwerer. Leute, ich glaube, ich
habe wirklich Mist gebaut! In jedem Fall muss ich feststellen:
Arthur sieht verdammt gut aus. Seine Hände sind kräftiger geworden.
Kein Wunder. Unermüdlich hat er für arme Kinder Hütten und Brunnen
gebaut, um ihnen das ärmliche Leben angenehmer zu gestalten. Er hat
versucht, ihnen genügend Essen zu beschaffen, während ich - umgeben
von Wohlstand - das Essen verweigert habe. Die Welt ist schon
verrückt, findet ihr nicht?
In meinem Kopf wird dieses dämliche Rauschen wieder
lauter. Ich würde so gerne etwas Lustiges sagen, damit alles so
unschuldig ist wie früher. Als es nur uns beide gab. Arthur und
mich. Doch diese Unschuld kommt nie mehr wieder. Ich weiß es.
Papa streckt seine Hand plus Autoschlüssel in
Richtung Wagen aus und öffnet per Fernsteuerung die Türen. Die
Rücklichter blinken auf und Arthur wirft seine Reisetasche in den
Kofferraum. Anschließend haut Papa die Klappe wieder zu. Einmal hat
er die Mama aus Versehen voll auf den Kopf geknallt. Das war krass.
Sie ist direkt in die Knie gegangen und musste sich zittrig an
Papas Hosenbeinen festhalten, um nicht vollends auf den Boden zu
rutschen. Weil Papa die Angelegenheit total peinlich war, hat er
aus Reflex gebrüllt: »Was stehst du denn da auch so dusselig rum?«
Und Mama hat rumgestottert: »Tut mir leid, Berni.«
Arthur und ich steigen hinten ein und Papa vorne.
Als er den Zündschlüssel ins Loch geprokelt hat, dreht er sich zu
uns um und meint, um gute Stimmung bemüht: »Ladys and Gentlemen.
Bitte anschnallen. Es geht los.«
Das machen wir. Arthur grinst mich volle Pulle an,
als hätte ich ihm gerade gesagt, dass wir ein Baby erwarten, und
für mich wird es zunehmend mühsamer, entspannt zu lächeln.
Inzwischen müsste mein Gesicht aussehen wie eine
Halloween-Gummifratze. Ich meine, ich halte diese innere
Zerrissenheit nicht mehr aus. Ich kann doch nicht gemütlich mit
Arthur auf der Rückbank sitzen, meinen Kopf auf seine Schulter
betten und so tun, als hätte ich jungfräulich auf ihn gewartet,
während mein anderer Freund unruhig zu Hause auf meinen Anruf
wartet, damit ich ihm mitteile, ob es das nun schon wieder mit uns
war. Doch bevor ich nicht weiß, wie der Hase läuft, kann ich ja
schlecht Johannes eine definitive Absage rüberreichen, noch sollte
ich bei Arthur »die Pferde scheu machen«, wie Papa sagen würde.
Also krame ich in meinem Kopf nach einem adäquaten Gesprächsstoff
und bemerke schließlich: »Stell dir vor: Cotsch will
heiraten.«
Arthur reißt die Augen auf. »Was? Wen denn?«
»Helmuth.«
»Welchen Helmuth?«
»Na, den Tennistrainer-Helmuth.«
»Ich denke, der ist schon verheiratet.«
»Jetzt nicht mehr. Er hat für Cotsch seine Frau
verlassen.«
»Aha. Und was sagt seine Frau dazu?«
»Die ist fertig mit den Nerven.«
Arthur nickt verständnisvoll, als könne er die
Situation von Helmuths Exfrau total gut nachempfinden. Das zum
Thema »adäquater Gesprächsstoff«. Dann lächelt er mich wieder an
und meint mit diesem weichen Unterton: »Also, ich würde dich nie
für eine andere verlassen. Wenn man sich einmal entschieden hat,
sollte man dabei bleiben.«
Leute, diese Info hat mir gerade noch gefehlt.
Jetzt habe ich einen ziemlich dicken Klumpen im Hals, an dem ich
vermutlich gleich ersticken werde. Ich schlucke und schlucke, um
irgendwie wieder atmen zu können, wahrscheinlich bin ich schon
total blau im Gesicht. Krampfig ziehe ich die Mundwinkel nach oben
und in meinen Augen steigen brennende Tränen auf.
Ich presse hervor: »Du hast also keine neue
Freundin?«
»Hä?«
Arthur glotzt mich mit weit aufgerissenen Augen an
und lässt meine Hand los. »Wieso sollte ich eine neue Freundin
haben? Ich habe doch dich!«
Tja, Leute. Was sagt man dazu? Langsam frage ich
mich, wie ich überhaupt jemals auf die bescheuerte Idee kommen
konnte, mich anderweitig zu orientieren. Für Arthur scheint die
Lage wesentlich geklärter gewesen zu sein. Zu meiner Verteidigung
kann ich lediglich sagen, dass ich - für meinen Teil - nie wusste,
wann und ob er jemals wiederkommt. Ich meine, er wäre nicht der
Erste, der in dem großen afrikanischen Land verschollen ging.
Einmal durch die Wüste marschiert und schon in das nächste Sandloch
gefallen, in Treibsand geraten oder von einer Wanderdüne überrollt.
Oder schlicht in der Hitze des Tages verdurstet, während er voller
Verzweiflung noch versucht, aus den Sandkörnchen Wasser zu pressen.
Ist alles schon vorgekommen.
Wie auch immer. Vermutlich hätte er sogar erwartet,
dass ich, falls er von einem Löwen verspeist worden wäre oder von
einem Kamel zertrampelt, bis an mein Lebensende keinen anderen Mann
angeguckt hätte. Excusez-moi, aber ich bin doch keine
Soldatenwitwe! Allerdings wurde mein geliebter Arthur weder von
einer Wanderdüne überrollt noch von einem Krokodil gefressen,
sondern sitzt herrlich gebräunt und gestählt neben mir und erklärt
mir ganz nebenbei, wie wichtig und selbstverständlich er Treue
findet. Schittenhausen. Was mache ich bloß? Lächeln. Einfach nur
lächeln.
Papa guckt mit hochgezogenen Augenbrauen in den
Rückspiegel und ich glotze ihm direkt in die Pupillen. Mit dem
Finger schnippt er den Blinker an und meint: »Wie lange warst du
jetzt weg, Arthur?«
»Ein halbes Jahr.«
»Und wie lange hast du vor, hierzubleiben?«
Mein Freund zuckt mit den Schultern. »Ich fahre
nicht mehr weg.«
Und Papa schnippt den Blinker wieder zurück. »Das
heißt, du bleibst hier?«
»Ja?«
Arthur nickt und mein Vater nickt. Das wäre also
schon mal geklärt. Danke, Papa! Manchmal schnallt er eben doch, wie
er mir helfen kann.
Arthur stupst mich mit der Nase leicht an der Wange
an und murmelt in mein Haar: »Freust du dich gar nicht, dass ich
wieder da bin?«
Ich lächle noch ein bisschen gequälter, obwohl ich
dachte, dass das schon nicht mehr möglich ist, und flöte mit
hochgepitchter Stimme: »Natürlich freue ich mich, dass du wieder da
bist. Ich muss mich nur erst wieder daran gewöhnen.«
Er atmet tief ein, und dann guckt er aus dem
Seitenfenster, raus zur grauen Schallschutzmauer, die sich entlang
der Schnellstraße zieht. Dann dreht er mir plötzlich wieder sein
Gesicht zu und fragt mit ganz ruhiger Stimme: »Und? Hast du einen
neuen Freund?«
Leute, es ist gerade so, als würde mein gesamter
Kopf mit kleinen Kieselsteinen aufgefüllt werden. Bis oben hin. Das
klickert aber lustig! Ich kann absolut keinen klaren Gedanken mehr
fassen. Meine Zunge liegt wie gelähmt in meinem Mund, und ich weiß,
dass mir der Verrat auf die Stirn geschrieben steht. Jetzt wäre die
Gelegenheit günstig, ganz offen über alles zu sprechen, ohne Lüge.
Ganz aufrichtig und ehrlich. Vor Papa. Was Angenehmeres kann ich
mir kaum vorstellen. Doch da ich mich sowieso viel zu sehr schäme
und Sorge habe, Arthur zu verletzen und ihn anschließend zu
verlieren, schüttle ich hektisch meinen kieselgefüllten Kopf und
stammle: »Wie kommst du denn darauf?«
»Ich weiß nicht. Du wirkst etwas angespannt.«
»Ist das ein Wunder? Ich bin eben erst aus der
Klinik gekommen.«
Jetzt reicht’s mir aber! Ein bisschen Rücksicht auf
meinen labilen Zustand kann ich wohl erwarten, oder?
Arthur hebt beschwichtigend die Hände. »Ist ja
schon gut. Erzählst du mir nachher ein bisschen davon?«
»Klaro.«
Ich lächle schon wieder so bescheuert rum und
greife nach seinem kleinen Finger. Ich versuche ja, mich so
unauffällig und normal wie möglich zu benehmen, aber ganz offenbar
bin ich nicht so abgebrüht, wie es momentan vonnöten wäre. Ich
lehne mich an seine Schulter und wünsche mir nichts sehnlicher, als
dass die Verhältnisse geklärt wären und ich nie und nimmer Johannes
kennengelernt hätte. In dem Fall wüsste ich nämlich gar nicht, dass
es ihn gibt. Was mir momentan sehr recht wäre. Dann hätte ich echt
kein Problem. Ich schließe die Augen, und als ich sie wieder öffne,
fahren wir an der Siedlung entlang, an Alices riesigem Haus mit dem
neuen gigantischen Wintergarten vorbei, wo sie mit ihrer Schwester
Susanna und der blöden Rita ohne Ehemann wohnt.
Papa parkt ein Stück weiter die Straße runter,
unter den orange gefärbten Bäumen und sagt: »Alles aussteigen. Wir
sind da.«
Während Arthur noch seine riesige Tasche aus dem
Kofferraum zieht und sich mit Papa angeregt über die leuchtenden
Farben des Herbstes unterhält, gehe ich schon mal vor und bleibe
unter dem Baum vor unserer Haustür stehen. Die Blätter haben sich
über Nacht knallrot gefärbt. Ich atme ein und aus. Der Atem bleibt
als feiner Nebel in der Luft stehen. Und als hätte Alice nur auf
Arthurs Ankunft gewartet, kommt sie plötzlich auf ihrem
City-Tiefeinsteiger-Damenrad um die Ecke geflitzt und bremst direkt
neben mir ab.
»Na?«
Zur Feier des Tages hat sie knallpinken Lippenstift
und dunkelrotes Rouge aufgetragen. Das sieht richtig crazy
aus. Wahrscheinlich hat sie sich auch noch Wollsocken in ihren BH
gestopft, um wie eine echte Sexbombe rüberzukommen. Keine Ahnung,
wen sie mit diesem Aufzug hinterm Ofen vorlocken will.
Wahrscheinlich hofft sie darauf, ihrem Schwarm Johannes zu
begegnen. Daraus wird nichts, Tantchen! Der sitzt zu Hause und
bangt um seinen Platz an meiner Seite. Sie sollte sich also ganz
hinten anstellen.
Alice quäkt: »Und? Wo ist er?«
»Wer?«
»Na, Arthur.«
»Keine Ahnung.«
Zusätzlich zu ihrem Horror-Make-up hat sie sich
noch solche Omahaarspangen mit violetten Glitzersteinen in die
Haare geklemmt. Passend dazu trägt sie ihre roten Lackschuhe und
die karierte Stoffhose, die sie für ultramodisch hält. Alice
bekommt mit Abstand die hässlichsten Klamotten zum Anziehen, die
man sich vorstellen kann. Die würde ich nicht mal zu Fasching
anziehen. Einmal habe ich Rita sogar dabei beobachten dürfen, wie
sie sich neben der Bushaltestelle am Altkleidercontainer zu
schaffen gemacht hat. Wirklich. Ich lüge nicht.
Plötzlich streckt Alice ihren Zeigefinger in
Richtung Straßenrand aus. »Da ist er doch! Dahinten am Auto! Mit
deinem Vater!«
Ich drehe mich kurz zu ihnen um.
»Tatsächlich.«
Ich tue ein bisschen erstaunt und Alice ruft die
Straße runter: »Huhu!«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Arthur so ein
bisschen freundlich zurückwinkt. Papa reagiert gar nicht. Er kann
die Weidemanns nicht ausstehen. Er meint: »Diese Rita ist ein alter
Raffzahn.« Und das stimmt. Damit sie richtig Knete scheffeln kann,
wird Alice immer öfter von ihr gezwungen, irgendwelche Hauskonzerte
auf dem Klavier zu geben, für die die geladene Nachbarschaft dann
kräftig Eintritt bezahlen muss. Zum Ausgleich serviert Susanna für
jeden ein Glas Rotwein aus dem Tetrapak - von dem man, so hörte
ich, entsetzliche Kopfschmerzen bekommt. Heute Abend ist übrigens
auch wieder so ein Konzert. Mama will, dass wir alle hingehen.
Unnötig zu erwähnen, dass sogar sie - als Ritas beste Freundin -
für das Geklimper blechen muss. Eigentlich erwartet Rita sogar eine
Extraspende von Mama - eben weil sie ihre beste Freundin ist.
Verrückt, diese Erwachsenen!
Außerdem habe ich jetzt leichte Sorge, dass Alice
Arthur von Johannes erzählen wird. Sie klammert sich an ihrer
blöden Lenkstange fest und ich spüre es deutlich: Die ist nur hier,
um Unfrieden zu stiften.
Ich sage also total entspannt: »Und? Warum bist du
schon so früh auf den Beinen?«
Und sie, so als hätte ich gar nichts gesagt:
»Apropos: Hast du es Arthur schon gebeichtet?«
»Was meinst du?«
»Na, dass du einen neuen Freund hast.«
»Ich habe keinen neuen Freund.«
»Und was ist mit dem ›so genannten‹ Johannes? Ist
das nicht dein neuer Freund?«
»Nein.«
»Deine Mutter hat aber meiner Mutter erzählt, dass
das dein neuer Freund ist. Und sie hat auch erzählt, dass er sich
gestern den ganzen Tag nicht bei dir gemeldet hat und dich auch
nicht vom Bahnhof abgeholt hat. Darum hat sich deine Mutter totale
Sorgen gemacht, dass du ›rückfällig‹ wirst.«
»Hä?«
»Na, dass du wieder mit deinem Hungern anfängst.
Deine Mutter hat gesagt, dass sie dann voll durchdreht.«
»Okay, Alice. Vielen Dank für die Infos.«
Unter uns Leute, ich wäre jetzt so weit, im
Erdboden zu versinken.
Sie glupscht mich voll blöd an. »Keine Ursache.
Also: Hast du es Arthur schon gebeichtet?«
»Nein.«
»Wann willst du es ihm beichten?«
»Mal sehen.«
Ich atme tief ein und leide unter echten
Beklemmungen in der Brustgegend. Durch meinen Kopf fegt ein
Wirbelsturm, mir ist jetzt richtig übel. Arthur und Papa kommen den
Weg runter und für mich gibt es kein Entkommen. Alice wird über
mein Schicksal entscheiden.
Papa und Arthur bleiben vor uns stehen und mein
Freund nickt Alice zu. »Lange nicht gesehen.«
Die grinst gleich wieder wie Dora Explora
persönlich rum und meint adrett: »Das kannst du laut sagen. In der
Zwischenzeit hat sich viel getan.«
»Ach ja? Ich habe gesehen: Ihr habt einen neuen
Wintergarten.«
Alice macht schon ihren Schnabel auf, um mein
Geheimnis in die Welt hinauszutröten, da schiebe ich mich schnell
nach vorne und erkläre: »Ihre Eltern haben sich überraschend
getrennt.«
Vor Schreck kriegt meine ehemalige Freundin ihre
pink geschminkten Lippen nicht mehr zu. Wie so ein alter Karpfen
schnappt sie affektiert nach Luft.
Ich sage ziemlich cool: »See you later, alligator.
Und schöne Grüße an deine Mutter.«
Dann grapsche ich nach Arthurs sonnengebräuntem Arm
und ziehe ihn die Stufen zu unserer Haustür rauf. Alice schwingt
sich eilig auf ihre Klapperchaise und Papa macht im Hintergrund
noch ein bisschen an den verwelkten Rosen rum. Wahrscheinlich hat
er wieder eine Blattlaus entdeckt oder so.
Doch als ich gerade auf unsere Klingel drücken
will, zappelt Arthur plötzlich nervös auf dem Fußabtreter rum und
meint aus heiterem Himmel: »Ich muss nebenan mal eben nach dem
Rechten sehen. Ich komme gleich nach.«
Ich schlucke und sage: »Okay.«
Und schon springt Arthur die Stufen wieder runter
und läuft total schnell zu sich nach drüben. Das ist der Hammer,
Leute. Damit habe ich nun gar nicht gerechnet. Ich befürchte, er
weiß intuitiv über meine unlauteren Machenschaften Bescheid. Der
spürt, dass was nicht stimmt. Darum ist er ja schließlich auch mein
Freund. Wegen seiner feinfühligen Ader. Scheiße.
»Wo will er denn hin?« Papa schließt verwundert die
Haustür auf.
»Nach Hause.«
Ich folge ihm in den Korridor und da kommt uns auch
schon Mama mit leuchtenden Augen entgegen. Sie hat sich wieder eins
ihrer karierten Geschirrhandtücher in den Rockbund gesteckt, das
heißt, sie ist mit Feuereifer dabei, das Frühstück vorzubereiten:
gefüllte Eier, frische Brötchen, Pastetchen und diverse Salate.
Mama ist echt gut darin, Weltenbummler kulinarisch zu verwöhnen.
Nur leider ist die Hauptperson drüben, in ihrem Haus. Arthur wohnt
dort alleine, seit seine Eltern vor zwei Jahren gestorben
sind.
Ich ständere ein bisschen im dämmrigen Flur rum und
sage leise: »Ich gehe mal eben aufs Klo.«
Und Mama fragt: »Wo ist denn Arthur? War er nicht
in der Maschine? Hat er sich mit Malaria infiziert?«
Und Papa sagt: »So ein Quatsch! Woher soll er die
denn haben?«
»Na, aus Afrika. Da leiden doch alle unter
Malaria.«
Papa seufzt und meint: »Ich glaube, der muss sich
einfach nur mal kurz entspannen.«
Mama kriegt gleich wieder ihre erschrockenen Augen.
Wenn sich jemand entspannen muss, dann ist das für sie das
schlimmste Omen. Schlimmer, als wenn einer unheilbar an Malaria
erkrankt ist. Ich quetsche mich an ihr vorbei, doch sie hält mich
am Ärmel fest.
»Was war denn los? Ist was passiert? Braucht er
eine Beruhigungspille?«
Ich bleibe in der offenen Klotür stehen und sage:
»Nein. Aber ich hätte gerne eine - oder zwei.«
Mama sieht aufgewühlt von mir zu Papa, in Erwartung
einer umfassenden Berichterstattung. Doch der hängt nur ordentlich
seine Jacke auf den Bügel, dann beugt er sich hinunter, um sich
gemächlich seine Schuhe auszuziehen. Anschließend geht er mit
seinen Tretern an uns vorbei, runter in den Keller, um sie in Ruhe
zu polieren. Schuheputzen ist Papas Hobby. Das entspannt ihn. Das
kann er stundenlang machen, und wenn er dann seine Schuhe
ordentlich geschrubbt hat, sind alle anderen Latschen an der Reihe.
Das einzige Problem an der Sache ist, dass er Cotsch und mich,
manchmal sogar Mama, runter in den Keller zitiert, um uns unsere
Verbrechen am Schuhwerk unter die Nase zu halten. »Mensch, muss
denn der Absatz so weit runtergelaufen werden?!« Das nervt ein
bisschen.
Papa seufzt von unten die Kellertreppe rauf: »Ich
bin dann mal unten bei den Schuhen.«
Und Mama sagt: »Aber ich dachte, wir frühstücken
jetzt.«
»Ich bin ja gleich wieder oben.«
Von wegen. Wenn Papa erst einmal unten ist, bleibt
er unten. Mama rennt hinter ihm her.
»Ja, und was ist mit Arthur? Geht es ihm nicht gut?
Soll ich mich um ihn kümmern?«
Ich verschwinde nun endgültig im Klo und melde
durch die Tür: »Nein.«
Bevor ich meinen Gürtel geöffnet und die Hose
runtergezogen habe, höre ich noch, wie Papa aus dem hinteren Keller
ruft: »Na ja, ich denke, er hat schon gespürt, dass was nicht
stimmt.«