10
Okay, Leute. Es geht los. Ich sitze neben Papa im Auto und wir fahren Richtung Flughafen. Draußen dämmert es hinter den sich wiegenden Pappeln und ich bin müde und gleichzeitig hypernervös. Meine Hände sind weiß und kalt, und ich quetsche sie zwischen meine Oberschenkel, um sie irgendwie zu wärmen. Meine Zähne klappern aufeinander und Papa schielt mich aus den Augenwinkeln an.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, mir ist nur ein bisschen kalt.«
Und schon greift er nach hinten und zieht seinen hellbraunen Lederblouson vom Rücksitz, den er schon als Student getragen hat. Fürsorglich wirft er ihn mir über die Knie.
»Besser?«
»Ja, danke.«
Ich ziehe das Ding über meine Schultern und rieche Papas Geruch. Gleich erinnere ich mich an früher, wie es war, wenn wir aus den Sommerferien kamen und Papa mir genau diese Jacke übergelegt hat, wenn ich im Auto eingeschlafen war. Und immer hat die Jacke genauso gerochen wie jetzt. Ein guter, heimeliger Geruch. Sofort wird mir wärmer und ich sehe vorne aus der Windschutzscheibe auf die leere Fahrbahn, unter den Reifen rauscht der graue Asphalt und Papa dreht das Radio an. Beim Autofahren hört er am liebsten experimentelle Klavierklänge, durchmischt mit wildem Getrommel. Keine Ahnung, was er an solchen Psycho-Stücken findet. Die sind einfach nur total nervig. Besonders wenn man selbst schon neben der Spur ist. Aber ich sage nichts. Ich halte es aus, denn immerhin ist Papa extra früh ausgestanden, um mich zum Flughafen zu bringen und unseren Entwicklungshelfer abzuholen. Normalerweise muss Mama bei solchen Gelegenheiten hinters Steuer, weil Papa meint, dass er nicht der Familienchauffeur ist. Na ja. Aber er mag mich und darum hat er jetzt die Fuhre übernommen.

Es ist kurz vor halb sieben, als wir auf den unterirdischen Parkplatz rollen. Über uns surren die Neonröhren, und Papa und ich rennen los, ins Flughafengebäude rein, hin zum Gate. Ich hechte voraus, Papa hinterher, und als wir ankommen, schlurfen schon die ersten Flugpassagiere mit ihren Koffern durch die gläserne Schiebetür und gucken trübe umher, um zu überprüfen, ob sie ihre Angehörigen irgendwo erblicken. Um uns herum fallen sich die Leute in die Arme, drücken und küssen sich und sagen: »Mein Gott! Habe ich dich vermisst!« Die Menschen sind echt komisch.
Ich stehe neben meinem Vater an dem geschlossenen Informationsschalter und wir sind ganz stumm, so sehr konzentrieren wir uns auf die Glastür und das Geschehen dahinter. Ab und an erspähen wir hinter dem Passkontrollenhäuschen einen Flugreisenden, der seinen Koffer vom Rollband zieht, aber nirgendwo ist Arthur. Und plötzlich habe ich ihn wieder ganz genau vor Augen. Meinen Arthur. Sein Lächeln. Seine braunen, leuchtenden Augen. Seine Stimme. Ich versuche, ruhig zu atmen. Aber in mir bebt es.
Papa stellt sich auf die Zehenspitzen, um besser zu sehen, in seiner Hand hängt der Autoschlüssel mit dem dazugehörigen kleinen Ledertäschchen. Auf seiner Stirn glänzen kleine Schweißperlen.
Er murmelt: »Mensch, wo ist er denn?«
Jetzt stelle ich mich auch auf die Zehenspitzen und mein Herz schlägt bis zum Hals. Immer mehr Flugreisende kommen durch die gläserne Schiebetür und die Abholer um uns herum werden weniger. Bis wir alleine dastehen. Ich denke schon, Arthur erscheint nicht mehr, als die Glastür noch ein letztes Mal aufgeht. Leute! Es ist Arthur! In seinem geringelten T-Shirt, die Haare bis zum Kinn. Er ist ziemlich braun gebrannt.
Papa gibt mir von hinten einen kräftigen Schubs. »Na, los! Geh schon.«
Ich mache einen Schritt nach vorne, werde schneller und noch schneller. Arthur kommt direkt auf mich zu, mit seiner großen Sporttasche um die Schulter und meinem Arthur-Lächeln. Auch er wird immer schneller, grinst immer doller und dann endlich breitet er seine gebräunten Arme aus. Er schlingt sie um mich und küsst mich mitten auf den Mund. Ich küsse zurück und mein Arthur flüstert immer wieder warm und vertraut in mein Ohr: »Meine Lelle, meine Lelle. Endlich, endlich habe ich dich wieder.«
Hand in Hand gehen wir hinter Papa her, der uns an den leeren Terminals und den noch geschlossenen Flughafenshops vorbei zurück zum Auto führt. Immer wieder drückt Arthur glücklich meine Hand, so sehr freut er sich, mich zu sehen. Klar, jeder freut sich, mich zu sehen. Kleiner Scherz am Abgrund. Ich lächle so ein bisschen zurück, um ihm ein gutes Gefühl zu geben. Aber in mir drin, da wird die Schuld immer schwerer. Leute, ich glaube, ich habe wirklich Mist gebaut! In jedem Fall muss ich feststellen: Arthur sieht verdammt gut aus. Seine Hände sind kräftiger geworden. Kein Wunder. Unermüdlich hat er für arme Kinder Hütten und Brunnen gebaut, um ihnen das ärmliche Leben angenehmer zu gestalten. Er hat versucht, ihnen genügend Essen zu beschaffen, während ich - umgeben von Wohlstand - das Essen verweigert habe. Die Welt ist schon verrückt, findet ihr nicht?
In meinem Kopf wird dieses dämliche Rauschen wieder lauter. Ich würde so gerne etwas Lustiges sagen, damit alles so unschuldig ist wie früher. Als es nur uns beide gab. Arthur und mich. Doch diese Unschuld kommt nie mehr wieder. Ich weiß es.
Papa streckt seine Hand plus Autoschlüssel in Richtung Wagen aus und öffnet per Fernsteuerung die Türen. Die Rücklichter blinken auf und Arthur wirft seine Reisetasche in den Kofferraum. Anschließend haut Papa die Klappe wieder zu. Einmal hat er die Mama aus Versehen voll auf den Kopf geknallt. Das war krass. Sie ist direkt in die Knie gegangen und musste sich zittrig an Papas Hosenbeinen festhalten, um nicht vollends auf den Boden zu rutschen. Weil Papa die Angelegenheit total peinlich war, hat er aus Reflex gebrüllt: »Was stehst du denn da auch so dusselig rum?« Und Mama hat rumgestottert: »Tut mir leid, Berni.«
Arthur und ich steigen hinten ein und Papa vorne. Als er den Zündschlüssel ins Loch geprokelt hat, dreht er sich zu uns um und meint, um gute Stimmung bemüht: »Ladys and Gentlemen. Bitte anschnallen. Es geht los.«
Das machen wir. Arthur grinst mich volle Pulle an, als hätte ich ihm gerade gesagt, dass wir ein Baby erwarten, und für mich wird es zunehmend mühsamer, entspannt zu lächeln. Inzwischen müsste mein Gesicht aussehen wie eine Halloween-Gummifratze. Ich meine, ich halte diese innere Zerrissenheit nicht mehr aus. Ich kann doch nicht gemütlich mit Arthur auf der Rückbank sitzen, meinen Kopf auf seine Schulter betten und so tun, als hätte ich jungfräulich auf ihn gewartet, während mein anderer Freund unruhig zu Hause auf meinen Anruf wartet, damit ich ihm mitteile, ob es das nun schon wieder mit uns war. Doch bevor ich nicht weiß, wie der Hase läuft, kann ich ja schlecht Johannes eine definitive Absage rüberreichen, noch sollte ich bei Arthur »die Pferde scheu machen«, wie Papa sagen würde. Also krame ich in meinem Kopf nach einem adäquaten Gesprächsstoff und bemerke schließlich: »Stell dir vor: Cotsch will heiraten.«
Arthur reißt die Augen auf. »Was? Wen denn?«
»Helmuth.«
»Welchen Helmuth?«
»Na, den Tennistrainer-Helmuth.«
»Ich denke, der ist schon verheiratet.«
»Jetzt nicht mehr. Er hat für Cotsch seine Frau verlassen.«
»Aha. Und was sagt seine Frau dazu?«
»Die ist fertig mit den Nerven.«
Arthur nickt verständnisvoll, als könne er die Situation von Helmuths Exfrau total gut nachempfinden. Das zum Thema »adäquater Gesprächsstoff«. Dann lächelt er mich wieder an und meint mit diesem weichen Unterton: »Also, ich würde dich nie für eine andere verlassen. Wenn man sich einmal entschieden hat, sollte man dabei bleiben.«
Leute, diese Info hat mir gerade noch gefehlt. Jetzt habe ich einen ziemlich dicken Klumpen im Hals, an dem ich vermutlich gleich ersticken werde. Ich schlucke und schlucke, um irgendwie wieder atmen zu können, wahrscheinlich bin ich schon total blau im Gesicht. Krampfig ziehe ich die Mundwinkel nach oben und in meinen Augen steigen brennende Tränen auf.
Ich presse hervor: »Du hast also keine neue Freundin?«
»Hä?«
Arthur glotzt mich mit weit aufgerissenen Augen an und lässt meine Hand los. »Wieso sollte ich eine neue Freundin haben? Ich habe doch dich!«
Tja, Leute. Was sagt man dazu? Langsam frage ich mich, wie ich überhaupt jemals auf die bescheuerte Idee kommen konnte, mich anderweitig zu orientieren. Für Arthur scheint die Lage wesentlich geklärter gewesen zu sein. Zu meiner Verteidigung kann ich lediglich sagen, dass ich - für meinen Teil - nie wusste, wann und ob er jemals wiederkommt. Ich meine, er wäre nicht der Erste, der in dem großen afrikanischen Land verschollen ging. Einmal durch die Wüste marschiert und schon in das nächste Sandloch gefallen, in Treibsand geraten oder von einer Wanderdüne überrollt. Oder schlicht in der Hitze des Tages verdurstet, während er voller Verzweiflung noch versucht, aus den Sandkörnchen Wasser zu pressen. Ist alles schon vorgekommen.
Wie auch immer. Vermutlich hätte er sogar erwartet, dass ich, falls er von einem Löwen verspeist worden wäre oder von einem Kamel zertrampelt, bis an mein Lebensende keinen anderen Mann angeguckt hätte. Excusez-moi, aber ich bin doch keine Soldatenwitwe! Allerdings wurde mein geliebter Arthur weder von einer Wanderdüne überrollt noch von einem Krokodil gefressen, sondern sitzt herrlich gebräunt und gestählt neben mir und erklärt mir ganz nebenbei, wie wichtig und selbstverständlich er Treue findet. Schittenhausen. Was mache ich bloß? Lächeln. Einfach nur lächeln.
Papa guckt mit hochgezogenen Augenbrauen in den Rückspiegel und ich glotze ihm direkt in die Pupillen. Mit dem Finger schnippt er den Blinker an und meint: »Wie lange warst du jetzt weg, Arthur?«
»Ein halbes Jahr.«
»Und wie lange hast du vor, hierzubleiben?«
Mein Freund zuckt mit den Schultern. »Ich fahre nicht mehr weg.«
Und Papa schnippt den Blinker wieder zurück. »Das heißt, du bleibst hier?«
»Ja?«
Arthur nickt und mein Vater nickt. Das wäre also schon mal geklärt. Danke, Papa! Manchmal schnallt er eben doch, wie er mir helfen kann.
Arthur stupst mich mit der Nase leicht an der Wange an und murmelt in mein Haar: »Freust du dich gar nicht, dass ich wieder da bin?«
Ich lächle noch ein bisschen gequälter, obwohl ich dachte, dass das schon nicht mehr möglich ist, und flöte mit hochgepitchter Stimme: »Natürlich freue ich mich, dass du wieder da bist. Ich muss mich nur erst wieder daran gewöhnen.«
Er atmet tief ein, und dann guckt er aus dem Seitenfenster, raus zur grauen Schallschutzmauer, die sich entlang der Schnellstraße zieht. Dann dreht er mir plötzlich wieder sein Gesicht zu und fragt mit ganz ruhiger Stimme: »Und? Hast du einen neuen Freund?«
Leute, es ist gerade so, als würde mein gesamter Kopf mit kleinen Kieselsteinen aufgefüllt werden. Bis oben hin. Das klickert aber lustig! Ich kann absolut keinen klaren Gedanken mehr fassen. Meine Zunge liegt wie gelähmt in meinem Mund, und ich weiß, dass mir der Verrat auf die Stirn geschrieben steht. Jetzt wäre die Gelegenheit günstig, ganz offen über alles zu sprechen, ohne Lüge. Ganz aufrichtig und ehrlich. Vor Papa. Was Angenehmeres kann ich mir kaum vorstellen. Doch da ich mich sowieso viel zu sehr schäme und Sorge habe, Arthur zu verletzen und ihn anschließend zu verlieren, schüttle ich hektisch meinen kieselgefüllten Kopf und stammle: »Wie kommst du denn darauf?«
»Ich weiß nicht. Du wirkst etwas angespannt.«
»Ist das ein Wunder? Ich bin eben erst aus der Klinik gekommen.«
Jetzt reicht’s mir aber! Ein bisschen Rücksicht auf meinen labilen Zustand kann ich wohl erwarten, oder?
Arthur hebt beschwichtigend die Hände. »Ist ja schon gut. Erzählst du mir nachher ein bisschen davon?«
»Klaro.«
Ich lächle schon wieder so bescheuert rum und greife nach seinem kleinen Finger. Ich versuche ja, mich so unauffällig und normal wie möglich zu benehmen, aber ganz offenbar bin ich nicht so abgebrüht, wie es momentan vonnöten wäre. Ich lehne mich an seine Schulter und wünsche mir nichts sehnlicher, als dass die Verhältnisse geklärt wären und ich nie und nimmer Johannes kennengelernt hätte. In dem Fall wüsste ich nämlich gar nicht, dass es ihn gibt. Was mir momentan sehr recht wäre. Dann hätte ich echt kein Problem. Ich schließe die Augen, und als ich sie wieder öffne, fahren wir an der Siedlung entlang, an Alices riesigem Haus mit dem neuen gigantischen Wintergarten vorbei, wo sie mit ihrer Schwester Susanna und der blöden Rita ohne Ehemann wohnt.
Papa parkt ein Stück weiter die Straße runter, unter den orange gefärbten Bäumen und sagt: »Alles aussteigen. Wir sind da.«

Während Arthur noch seine riesige Tasche aus dem Kofferraum zieht und sich mit Papa angeregt über die leuchtenden Farben des Herbstes unterhält, gehe ich schon mal vor und bleibe unter dem Baum vor unserer Haustür stehen. Die Blätter haben sich über Nacht knallrot gefärbt. Ich atme ein und aus. Der Atem bleibt als feiner Nebel in der Luft stehen. Und als hätte Alice nur auf Arthurs Ankunft gewartet, kommt sie plötzlich auf ihrem City-Tiefeinsteiger-Damenrad um die Ecke geflitzt und bremst direkt neben mir ab.
»Na?«
Zur Feier des Tages hat sie knallpinken Lippenstift und dunkelrotes Rouge aufgetragen. Das sieht richtig crazy aus. Wahrscheinlich hat sie sich auch noch Wollsocken in ihren BH gestopft, um wie eine echte Sexbombe rüberzukommen. Keine Ahnung, wen sie mit diesem Aufzug hinterm Ofen vorlocken will. Wahrscheinlich hofft sie darauf, ihrem Schwarm Johannes zu begegnen. Daraus wird nichts, Tantchen! Der sitzt zu Hause und bangt um seinen Platz an meiner Seite. Sie sollte sich also ganz hinten anstellen.
Alice quäkt: »Und? Wo ist er?«
»Wer?«
»Na, Arthur.«
»Keine Ahnung.«
Zusätzlich zu ihrem Horror-Make-up hat sie sich noch solche Omahaarspangen mit violetten Glitzersteinen in die Haare geklemmt. Passend dazu trägt sie ihre roten Lackschuhe und die karierte Stoffhose, die sie für ultramodisch hält. Alice bekommt mit Abstand die hässlichsten Klamotten zum Anziehen, die man sich vorstellen kann. Die würde ich nicht mal zu Fasching anziehen. Einmal habe ich Rita sogar dabei beobachten dürfen, wie sie sich neben der Bushaltestelle am Altkleidercontainer zu schaffen gemacht hat. Wirklich. Ich lüge nicht.
Plötzlich streckt Alice ihren Zeigefinger in Richtung Straßenrand aus. »Da ist er doch! Dahinten am Auto! Mit deinem Vater!«
Ich drehe mich kurz zu ihnen um. »Tatsächlich.«
Ich tue ein bisschen erstaunt und Alice ruft die Straße runter: »Huhu!«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Arthur so ein bisschen freundlich zurückwinkt. Papa reagiert gar nicht. Er kann die Weidemanns nicht ausstehen. Er meint: »Diese Rita ist ein alter Raffzahn.« Und das stimmt. Damit sie richtig Knete scheffeln kann, wird Alice immer öfter von ihr gezwungen, irgendwelche Hauskonzerte auf dem Klavier zu geben, für die die geladene Nachbarschaft dann kräftig Eintritt bezahlen muss. Zum Ausgleich serviert Susanna für jeden ein Glas Rotwein aus dem Tetrapak - von dem man, so hörte ich, entsetzliche Kopfschmerzen bekommt. Heute Abend ist übrigens auch wieder so ein Konzert. Mama will, dass wir alle hingehen. Unnötig zu erwähnen, dass sogar sie - als Ritas beste Freundin - für das Geklimper blechen muss. Eigentlich erwartet Rita sogar eine Extraspende von Mama - eben weil sie ihre beste Freundin ist. Verrückt, diese Erwachsenen!
Außerdem habe ich jetzt leichte Sorge, dass Alice Arthur von Johannes erzählen wird. Sie klammert sich an ihrer blöden Lenkstange fest und ich spüre es deutlich: Die ist nur hier, um Unfrieden zu stiften.
Ich sage also total entspannt: »Und? Warum bist du schon so früh auf den Beinen?«
Und sie, so als hätte ich gar nichts gesagt: »Apropos: Hast du es Arthur schon gebeichtet?«
»Was meinst du?«
»Na, dass du einen neuen Freund hast.«
»Ich habe keinen neuen Freund.«
»Und was ist mit dem ›so genannten‹ Johannes? Ist das nicht dein neuer Freund?«
»Nein.«
»Deine Mutter hat aber meiner Mutter erzählt, dass das dein neuer Freund ist. Und sie hat auch erzählt, dass er sich gestern den ganzen Tag nicht bei dir gemeldet hat und dich auch nicht vom Bahnhof abgeholt hat. Darum hat sich deine Mutter totale Sorgen gemacht, dass du ›rückfällig‹ wirst.«
»Hä?«
»Na, dass du wieder mit deinem Hungern anfängst. Deine Mutter hat gesagt, dass sie dann voll durchdreht.«
»Okay, Alice. Vielen Dank für die Infos.«
Unter uns Leute, ich wäre jetzt so weit, im Erdboden zu versinken.
Sie glupscht mich voll blöd an. »Keine Ursache. Also: Hast du es Arthur schon gebeichtet?«
»Nein.«
»Wann willst du es ihm beichten?«
»Mal sehen.«
Ich atme tief ein und leide unter echten Beklemmungen in der Brustgegend. Durch meinen Kopf fegt ein Wirbelsturm, mir ist jetzt richtig übel. Arthur und Papa kommen den Weg runter und für mich gibt es kein Entkommen. Alice wird über mein Schicksal entscheiden.
Papa und Arthur bleiben vor uns stehen und mein Freund nickt Alice zu. »Lange nicht gesehen.«
Die grinst gleich wieder wie Dora Explora persönlich rum und meint adrett: »Das kannst du laut sagen. In der Zwischenzeit hat sich viel getan.«
»Ach ja? Ich habe gesehen: Ihr habt einen neuen Wintergarten.«
Alice macht schon ihren Schnabel auf, um mein Geheimnis in die Welt hinauszutröten, da schiebe ich mich schnell nach vorne und erkläre: »Ihre Eltern haben sich überraschend getrennt.«
Vor Schreck kriegt meine ehemalige Freundin ihre pink geschminkten Lippen nicht mehr zu. Wie so ein alter Karpfen schnappt sie affektiert nach Luft.
Ich sage ziemlich cool: »See you later, alligator. Und schöne Grüße an deine Mutter.«
Dann grapsche ich nach Arthurs sonnengebräuntem Arm und ziehe ihn die Stufen zu unserer Haustür rauf. Alice schwingt sich eilig auf ihre Klapperchaise und Papa macht im Hintergrund noch ein bisschen an den verwelkten Rosen rum. Wahrscheinlich hat er wieder eine Blattlaus entdeckt oder so.
Doch als ich gerade auf unsere Klingel drücken will, zappelt Arthur plötzlich nervös auf dem Fußabtreter rum und meint aus heiterem Himmel: »Ich muss nebenan mal eben nach dem Rechten sehen. Ich komme gleich nach.«
Ich schlucke und sage: »Okay.«
Und schon springt Arthur die Stufen wieder runter und läuft total schnell zu sich nach drüben. Das ist der Hammer, Leute. Damit habe ich nun gar nicht gerechnet. Ich befürchte, er weiß intuitiv über meine unlauteren Machenschaften Bescheid. Der spürt, dass was nicht stimmt. Darum ist er ja schließlich auch mein Freund. Wegen seiner feinfühligen Ader. Scheiße.
»Wo will er denn hin?« Papa schließt verwundert die Haustür auf.
»Nach Hause.«
Ich folge ihm in den Korridor und da kommt uns auch schon Mama mit leuchtenden Augen entgegen. Sie hat sich wieder eins ihrer karierten Geschirrhandtücher in den Rockbund gesteckt, das heißt, sie ist mit Feuereifer dabei, das Frühstück vorzubereiten: gefüllte Eier, frische Brötchen, Pastetchen und diverse Salate. Mama ist echt gut darin, Weltenbummler kulinarisch zu verwöhnen. Nur leider ist die Hauptperson drüben, in ihrem Haus. Arthur wohnt dort alleine, seit seine Eltern vor zwei Jahren gestorben sind.
Ich ständere ein bisschen im dämmrigen Flur rum und sage leise: »Ich gehe mal eben aufs Klo.«
Und Mama fragt: »Wo ist denn Arthur? War er nicht in der Maschine? Hat er sich mit Malaria infiziert?«
Und Papa sagt: »So ein Quatsch! Woher soll er die denn haben?«
»Na, aus Afrika. Da leiden doch alle unter Malaria.«
Papa seufzt und meint: »Ich glaube, der muss sich einfach nur mal kurz entspannen.«
Mama kriegt gleich wieder ihre erschrockenen Augen. Wenn sich jemand entspannen muss, dann ist das für sie das schlimmste Omen. Schlimmer, als wenn einer unheilbar an Malaria erkrankt ist. Ich quetsche mich an ihr vorbei, doch sie hält mich am Ärmel fest.
»Was war denn los? Ist was passiert? Braucht er eine Beruhigungspille?«
Ich bleibe in der offenen Klotür stehen und sage: »Nein. Aber ich hätte gerne eine - oder zwei.«
Mama sieht aufgewühlt von mir zu Papa, in Erwartung einer umfassenden Berichterstattung. Doch der hängt nur ordentlich seine Jacke auf den Bügel, dann beugt er sich hinunter, um sich gemächlich seine Schuhe auszuziehen. Anschließend geht er mit seinen Tretern an uns vorbei, runter in den Keller, um sie in Ruhe zu polieren. Schuheputzen ist Papas Hobby. Das entspannt ihn. Das kann er stundenlang machen, und wenn er dann seine Schuhe ordentlich geschrubbt hat, sind alle anderen Latschen an der Reihe. Das einzige Problem an der Sache ist, dass er Cotsch und mich, manchmal sogar Mama, runter in den Keller zitiert, um uns unsere Verbrechen am Schuhwerk unter die Nase zu halten. »Mensch, muss denn der Absatz so weit runtergelaufen werden?!« Das nervt ein bisschen.
Papa seufzt von unten die Kellertreppe rauf: »Ich bin dann mal unten bei den Schuhen.«
Und Mama sagt: »Aber ich dachte, wir frühstücken jetzt.«
»Ich bin ja gleich wieder oben.«
Von wegen. Wenn Papa erst einmal unten ist, bleibt er unten. Mama rennt hinter ihm her.
»Ja, und was ist mit Arthur? Geht es ihm nicht gut? Soll ich mich um ihn kümmern?«
Ich verschwinde nun endgültig im Klo und melde durch die Tür: »Nein.«
Bevor ich meinen Gürtel geöffnet und die Hose runtergezogen habe, höre ich noch, wie Papa aus dem hinteren Keller ruft: »Na ja, ich denke, er hat schon gespürt, dass was nicht stimmt.«