Timothy Zahn
Der Preis des
Überlebens
„Das ist er, Schiffsmeister“, rief Pliij, offensichtlich höchst erleichtert, vom Steuerstand herüber. „Zielstern voraus; relative Bewegung und atmosphärische Dichte ermittelt, Vektor bestimmt. Endgültige Kursänderung in neun Aarns!“
Endgültige Kursänderung. Es hatte während der langen Reise Momente gegeben, so schoß es Schiffsmeister Orofan durch den Sinn, wo er nicht mehr damit gerechnet hatte, daß er es noch erleben würde, wie dieser Ruf erklang. Er hatte gefürchtet, daß man ihn zu früh zu seinen Vorfahren rufen würde und daß ein anderer seine geliebte Morgengabe zu ihrem letzten Ziel steuern würde. Doch nun wußte er, es würde ihm doch noch vergönnt sein, die neue Welt zu sehen, die die Weitseher daheim für sie ausgewählt hatten. „Gute Arbeit, Pilot“, erwiderte er förmlich auf Pliijs Ankündigung, und dann grinsten die beiden Sk’cees einander an, daß ihre Tentakel zitterten.
„Wir sind fast da, Orofan“, sagte Pliij, „fast am Ziel.“ Er spähte angestrengt nach vorn durch das Sichtfenster.
„Ja, mein Freund.“ Orofan strich mit einem Tentakel zärtlich über die Sichtscheibe. Er konnte die Vibrationen vom Fusionsantrieb spüren und ein leichtes Kribbeln, das von der gigantischen, magnetischen Räumschaufel herrührte, die sich viele hundert Pha vor ihnen herschob. Es war nichts zu sehen, nur aus Traditionsgründen war das Sichtfenster nicht abgedeckt.
„Kannst du dir eigentlich vorstellen, daß uns die Schläfer glauben werden, wenn wir ihnen berichten, daß wir sie über Hunderte von Sternenpfaden transportiert haben, ohne selbst jemals einen Stern zu sehen?“
Pliij kicherte, diese Bewegung brachte seine Tentakel zum Schwingen. „Mir gefällt der Regenbogeneffekt, den man durch die Seitenfenster sieht, aber ich freue mich schon darauf, wenn der Himmel wieder normal zu sehen sein wird.“
„Ja.“ Orofan starrte eine Weile in die Leere, dann schüttelte er sich. Zurück zum Geschäft. „So, die Kursänderung ist einprogrammiert. Ist alles für die Verdichtung der Schaufel vorbereitet?“
„Alles klar. Thistas führt soeben den letzten Check durch.“
„Gut.“ Neun Aarns noch. Sechs davon konnte man für eine gepflegte Ruhepause nutzen. „Ich gehe jetzt in meine Unterkunft. Wenn ich zwei Aarns vor dem Eintritt noch nicht zurück bin, dann laß mich bitte rufen.“
„In Ordnung. Schlaf gut!“
„Das werde ich bestimmt.“ Orof an lächelte und verließ die Brücke.
Es geschah zum ersten Mal in der Geschichte, dachte General Sanford Carey, daß eine Frist von nur einer Woche ausreichte, um die Repräsentanten der Verwaltungsleitung, des Sonnenrates, des Chiron Institutes und der Friedenhüter zu einem Treffen zusammenzurufen. Der Aufruf hatte zwar Dringlichkeitsstufe eins, aber das allein war keine ausreichende Erklärung für die eilige Bereitwilligkeit. General Carey fragte sich, wie viele der hohen Herren und Damen wohl über Informanten auf dem Landefeld der Friedenswächter verfügen mochten, wo das Tachschiff vor knapp drei Stunden gelandet war.
Auf der anderen Seite des Raumes verschloß ein Leutnant von der Sicherheitsabteilung die Tür und schaltete den Mithörschutz ein. Er nickte, und Carey trat hinter das Rednerpult, schaute hinab auf seine kleine Zuhörerschaft.
„Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen dafür danken, daß sie heute hierhergekommen sind.“ Carey sprach mit einer sanften, melodischen Stimme, die in einem überraschenden Gegensatz zu seinem zackigen Erscheinungsbild stand, wie man ihm schon oft versichert hatte. „Vor ungefähr drei Stunden haben wir erfahren, daß sich ein großes, unidentifiziertes Objekt mit hoher Geschwindigkeit dem Sonnensystem nähert.“
Etwa ein Drittel der anwesenden neun Männer und Frauen behielt seinen unbewegten, wenn auch gespannten Gesichtsausdruck bei und verriet so, daß es schon vorher von der Sensation erfahren hatte; auf den Gesichtern der anderen spiegelten sich Schrecken, Aufregung und Bestürzung, als Careys Worte verklungen waren.
Noch ehe sich das Gemurmel völlig gelegt hatte, fuhr er fort: „Das Objekt bewegt sich annähernd mit Lichtgeschwindigkeit, mit null Komma neun neun c, es besitzt einen extrem heißen Fusionsantrieb und eine Art elektromagnetischen Räumschirm. Es ist ungefähr acht Lichttage entfernt – wir haben seinen exakten Kurs noch nicht bestimmt, aber es steht fest, daß es durch unser System kommen wird.“
„Durch unser System?“ fragte Evelyn Woodcock, Chefberaterin der Regierung. „Wird es nicht hier anhalten?“
„Nein, sein Triebwerk zeigt nach hinten“, berichtete Carey, „wenn es jetzt noch ein Bremsmanöver einleiten wollte, würde es eine gewaltige Energie dazu verbrauchen.“
„Warum kommt es dann hierher?“ fragte Wu-Sin, der Ratsvorsitzende. Es war schwer zu sagen, ob die Versammlung beleidigt oder erleichtert über das Desinteresse des Eindringlings war.
„Vielleicht ist es ein Entdeckungsflug, aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Das Objekt trifft in einem sehr steilen Winkel auf die Ekliptik auf, ein ungünstiger Vektor, wenn man das System erkunden will. Eventuell kommt es so dicht an der Sonne vorbei, daß sich sein Kurs geringfügig verändert, aber Genaueres werden wir erst wissen, wenn wir mehr Erkenntnisse über den Eindringling haben. Es ist sogar möglich, daß er gar nicht weiß, daß es uns gibt. Bei der Geschwindigkeit, mit der er sich bewegt, ergibt sich für die Sonne eine Blauverschiebung in den Ultraviolettbereich, es kann sein, daß er sie mit seinen Instrumenten nicht wahrnimmt.“
„Äußerst unwahrscheinlich“, murmelte Dr. Louis Du Bellay vom Chiron Institut, „ich nehme eher an, daß die sich da oben sehr gut auskennen.“
„Ich stimme Ihnen zu, Herr Doktor“, nickte Carey, „aber es ist immerhin eine Möglichkeit. Nun gut, es scheint nicht so, als ob der Eindringling eine große Gefahr für uns darstellt, wenn wir nur darauf achten, daß wir ihm mit dem örtlichen Raumverkehr nicht in die Quere kommen. Allerdings dürfen wir auch nicht darauf hoffen, daß wir durch diese Begegnung unseren Wissensstand beträchtlich erweitern werden. Mit einer Ausnahme allerdings: Wir haben nun die Gewißheit, daß wir nicht allein im Universum sind. Ihnen ist sicher bewußt, daß wir zunächst sorgfältig abwägen müssen, auf welche Weise wir unsere Entdeckung im System und in den Kolonien bekanntmachen. Noch einmal vielen Dank, daß Sie gekommen sind – wir werden Sie auf dem laufenden halten.“
Carey verließ das Pult und ging auf die Tür zu, während seine Zuhörer eine erregte Debatte begannen. Als Carey an Dr. Du Bellay vorbeikam, erhob sich dieser und schloß sich ihm an. „Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie in den Stabsraum begleite?“ fragte er. „Ich möchte mal sehen, ob es inzwischen neue Erkenntnisse gibt.“
„Ihr Wunsch überrascht mich nicht“, erwiderte Carey. „Ich habe Sie bereits im voraus angemeldet.“ Er hob warnend die Hand, als der Sicherheitsleutnant den Schalter für den Mithörschutz betätigte. „Jetzt kein Wort mehr darüber, bis wir im inneren Sicherheitsbereich sind.“
Auf dem kurzen Fußmarsch bis zum Hauptgebäude der Friedenswacht überbrückten die beiden Männer die Zeit mit einem Gespräch über Du Bellays jüngste Reise zu Van Maanens Stern.
„Ich habe schon davon gehört“, sagte Carey. „Stimmt es, daß Ihr erster Alleinflug mit einem Tachschiff erfolgte?“
„Ja. Das Chiron-Direktoriat ermutigt jeden von uns, das Fliegen zu lernen. Wenn wir selber fliegen, muß man nicht jedesmal einen Piloten und ein Tachschiff mieten, das spart eine Menge Geld. Ich bin froh, daß sie mir noch nicht vorgeschlagen haben, daß ich alle meine Ausgrabungen auch allein durchführe.“
Carey kicherte. „Dafür gibt es doch Studenten. Sind die Ruinenfelder tatsächlich so umfangreich, wie man hört?“
„Noch viel größer! Wir haben ja kaum an der Oberfläche gekratzt, und wir wissen bereits, daß mindestens eine zweite Kulturschicht unter der obersten verborgen ist.“
Unsichtbare Sicherheitssysteme klickten. Sie hatten den abgeschirmten inneren Bereich betreten. Das Thema änderte sich abrupt. „Wie zum Teufel konnte ein Tachschiff über ein Objekt stolpern, das sich so schnell bewegt?“ fragte Du Bellay.
„Es war ein Riesenzufall“, antwortete Carey. „Ein Frachter von Alpha Centauri, er war gerade in den Normalraum zurückgekehrt, um eine Ortsbestimmung vorzunehmen. Sie waren gerade fertig, als dieses Ding vorbeigedonnert kam.“
„Sie haben Schwein gehabt, daß sie nicht von diesem Räumfeld erwischt wurden“, bemerkte Du Bellay.
„Das kann man wohl sagen. Wären sie ein paar Kilometer weiter nördlich aufgetaucht, hätten sie sich genau in der Flugbahn befunden. Na ja, jedenfalls haben sie sich schnell von ihrem Schrecken erholt und den Kurs des Eindringlings bestimmt. Dann haben sie den kürzesten Sprung gemacht, der für sie möglich war, und haben sechzehn Minuten gewartet, bis das fremde Schiff sie wieder eingeholt hatte. So erhielten sie einen zweiten Meßwert für den Kurs, daraus konnten sie errechnen, daß es sich auf Sol zubewegt. Darauf sind sie mit der Neuigkeit vor ihm hergejagt.“
„Hmmm. Finden Sie es nicht auch spaßig, daß die große Suche nach dem intelligenten Leben von einem kümmerlichen Schoner beendet wurde, dessen Navigator kein Vertrauen in den Schiffscomputer hatte? Nun, wie ging es weiter?“
„Wir haben eine Kette von Tachschiffen entlang der voraussichtlichen Route des Eindringlings postiert. Sie sollen uns genauere Daten übermitteln. Die ersten müßten eigentlich bald eintreffen.“
Der Stabsraum der Friedenswacht wurde beherrscht vom Geflacker zahlloser Bildschirme und dem Gewirr von Holotanks und Computerterminals. Überall waren emsige Offiziere und Techniker bei der Arbeit. In der Mitte des Raumes stand der Hauptbildschirm. Im Augenblick zeigte er eine Karte des gesamten Sonnensystems. Von der unteren rechten Ecke aus wanderte eine gepunktete rote Linie dem Zentrum des Systems entgegen.
Ein junger Hauptmann sah ihnen entgegen, als die beiden näher kamen. „Aha, Herr General“, grüßte er Carey. „Sie kommen gerade zur rechten Zeit. Soeben treffen die ersten Daten ein.“
„Dann zeigen Sie mal, was Sie da haben, Mr. Mahendra.“
Mahendra gab ihm einen Computerausdruck. Carey war sich bewußt, daß Du Bellay ihm über die Schulter schaute.
Der Eindringling war groß. Es war zwar schwierig, bei dieser ungeheuren Geschwindigkeit genaue Messungen anzustellen, doch der Computer schätzte, daß das fremde Schiff mindestens fünfzehnhundert Meter lang war. Es hatte einen Durchmesser von zweihundert Metern, und seine Masse lag dicht an einer Million Tonnen. Das schaufelförmige Räumfeld dehnte sich Hunderte von Kilometern vor ihm aus. Die Spektralanalyse des Triebwerks zeigte vor allem Helium, aber auch einen überraschend hohen Anteil von anderen Elementen.
Dr. Du Bellay pfiff leise durch die Zähne. „Das ist vielleicht ein Moloch! Woher mag er kommen?“
„Wir haben ihn bis zum System Circini 1228 zurückverfolgt“, erklärte Mahendra, wobei er auf eins seiner Blätter wies. „Aber er kommt nicht von dort, es ist ein totes System. Wir versuchen, den Weg noch weiter zu rekapitulieren.“
Carey betrachtete den Hauptbildschirm. „Warum ist der Kurs des Eindringlings nur bis Sol projiziert?“
Mahendra runzelte die Stirn. „Ich weiß es nicht, Sir.“ Er zog ein Schaltpult zu sich heran und tippte etwas ein. „Die Projektion endet an der Stelle, wo der Kurs auf die Sonne trifft“, erläuterte er, und die Falten auf seiner Stirn gruben sich noch tiefer ein.
„Was?“ rief Du Bellay aus.
„Zeigen Sie uns das Zentrum des Systems!“ befahl Carey.
Mahendra drückte auf einen Knopf, und das Bild auf dem Schirm verwandelte sich. Jetzt reichte der Blick nur noch bis zur Marsbahn. Es war ganz deutlich zu sehen, daß die gepunktete Linie den Rand des dämmrig leuchtenden Symbols der Sonne schnitt. Ohne daß man es ihm aufgetragen hatte, wechselte Mahendra das Bild noch einmal aus, und jetzt füllte die Sonne den ganzen Bildschirm aus.
Carey blinzelte. „Er trifft nicht genau. Wie dicht ist die Sonne an der Stelle, wo sie die Linie berührt?“
„Der Computer sagt, zehn hoch minus sieben Gramm pro Kubikzentimeter. Im Vergleich zu Erdmaßstäben ist das natürlich nicht viel, aber es ist doch eine milliardenfach höhere Dichte als anderswo im interstellaren Raum. Und er wird mehrere tausend Kilometer weit durch diesen Bereich fliegen.“
„Einen Teufel wird er tun“, versetzte Carey. „Nach einem kurzen Stück wird er sich in Ascheflocken aufgelöst haben. Ich hatte doch recht, Herr Doktor – er weiß nicht, daß er genau auf die Sonne zufliegt.“ Er sah rasch zu Du Bellay hinüber. Dann schaute er ihn länger an. Der Archäologe war in die Betrachtung des Weltraums versunken. „Herr Doktor?“
„Herr Hauptmann, Ihr Schaltpult ist doch sicher an den Computerspeicher angeschlossen?“ sagte Du Bellay. „Bitte überprüfen Sie doch einmal die Daten des Sterns, den Sie eben genannt haben: 1228 Circini. Gab es da irgendwann eine ungewöhnliche stellare Aktivität?“
Mahendra nickte und wandte sich dem Schaltpult zu. „Stimmt etwas nicht?“ fragte Carey Du Bellay. Der Gesichtsausdruck des anderen bereitete ihm Sorgen.
„Ich weiß es nicht genau. Mir ist, als ob ich vor Jahren etwas von diesem Stern gehört hätte …“ Seine Stimme erstarb.
„Hier hab’ ich’s“, schaltete sich Mahendra ein.
Du Bellay und Carey beugten sich über den Computerschirm.
„Ich hatte recht“, sagte Du Bellay mit Grabesstimme. Er zeigte auf den dritten Abschnitt des Textes.
„,Es gibt deutliche Anzeichen für einen gewaltigen Sonnenausbruch vor etwa hundert Jahren, das gesamte Planetensystem des Sterns wurde in Mitleidenschaft gezogen …’“, las Carey laut vor. „,Solche Vorkommnisse bei einem roten Zwerg sind nach derzeitigem Wissensstand nicht zu erklären.’ Ich sehe da keinen Zusammenhang …“ Er brach mitten im Satz ab.
Du Bellay nickte grimmig. „1228 Circini ist sechsundneunzig Lichtjahre entfernt … Das kann kein Zufall sein.“
„Wollen Sie etwa behaupten, daß der Eindringling 1228 Circini absichtlich gerammt hat? Das ist doch Wahnsinn!“
Du Bellay deutete nur mit dem Kopf auf den Hauptbildschirm. Carey betrachtete die gepunktete Linie eine Minute lang. Dann tippte er Mahendra auf die Schulter. „Hauptmann, ich muß Kanzler Nordli sprechen. Dringlichkeitsstufe eins.“
Als Orofan erwachte, hörte er gerade noch den letzten Geräuschfetzen aus seinem Kabinenlautsprecher. Er tastete nach dem Antwortknopf und stutzte. Auf dem Schirm der abgeblendeten Wandlampe konnte er ablesen, daß er nicht einmal einen Aarn geschlafen hatte, es war gerade halb cin.
Es war Pliij. „Schiffsmeister, wir haben ein Problem. Am besten kommst du sofort auf die Brücke.“
War etwa sein Schiff in Gefahr? „Ich bin sofort bei dir!“
Pliij war nicht allein, als Orofan auf der Brücke eintraf. Auch Lassarr war da. „Grüß dich, Reisemeister“, sagte Orofan. Während er den förmlichen Gruß entbot, huschten seine Blicke bereits durch den Raum. Auf keinem Bildschirm war etwas Verdächtiges zu bemerken.
„Mit der Morgengabe selbst gibt es keinen Ärger.“ Der Fahrtmeister hatte Orofans Reaktion mit einer Lässigkeit gedeutet, die der Schiffsmeister noch nie gemocht hatte.
„Worum geht es dann?“
„Sieh hier, Schiffsmeister!“ Pliij hantierte an einem Einstellrad, und ein vereinfachtes Bild erschien auf einem Schirm. „Dies ist das System, dem wir uns nähern. Jetzt sieh dir bitte diese Stelle hier genauer an … und hier … und hier …“
Orofan sah winzige Lichtpunkte. Das Spektrometer identifizierte sie als heißes Helium …
Plötzlich fror Orofan am ganzen Leib. Fusionsgetriebene Raumschiffe! „Das System ist bewohnt“, zischte er.
„Jetzt verstehst du unser Dilemma“, stellte Lassarr fest.
Orofan hatte es nur zu gut verstanden. Der Schaufelvorgang der Morgengabe würde unvermeidliche, schwere Schockwellen auf der Oberfläche des Sterns auslösen. Energie und Strahlung würden in gewaltigen Mengen nach außen gestrahlt …
„Wie sieht es mit unserer Treibstoffversorgung aus?“ fragte Lassarr.
Orofan wußte es, aber er befahl Pliij dennoch, es festzustellen. „Höchstens noch eins Komma null vier“, meldete der Pilot.
„Damit kommen wir nicht mehr bis zu unserer neuen Heimat“, murmelte Lassarr.
„In der vereinbarten Zeit können wir es nicht schaffen, Fahrtmeister“, bemerkte Orofan, „aber auch bei normalem Schaufelbetrieb können wir unsere Reise zu Ende fuhren.“
„Mit stark verminderter Geschwindigkeit“, sagte Lassarr. „Wann könnten wir frühestens ankommen?“
Während Pliij die Berechnung anstellte, herrschte Schweigen. „In mehreren Lebenszeiten“, sagte er schließlich. „Fünf, vielleicht auch sechs.“
„Aha“, sagte Lassarr, und seine Kurztentakel sträubten sich grimmig. „Damit wäre der Fall ja wohl entschieden!“
„Wie entschieden?“ fragte Orofan mißtrauisch.
„Es tut mir leid, aber eine solche Verzögerung dürfen wir nicht riskieren. Die Schläfertanks sind für diese Zeit nicht eingerichtet.“
„Das soll also heißen, daß wir unseren jetzigen Kurs beibehalten? Ganz gleich, was mit den Lebewesen in diesem System geschieht?“
Lassarr starrte ihn düster an. „Ich möchte dich daran erinnern, Schiffsmeister, daß wir eine Million unserer Sk’cee-Brüder an Bord haben …“
„Und deren Leben ist mehr wert als das von Milliarden Lebewesen, die dieses System möglicherweise beherbergt?“
„Du hast da eine eigentümliche Philosophie entwickelt, Schiffsmeister, eine verdächtige, möchte ich fast sagen. Was werden die Vorfahren sagen, wenn du dich einst zu ihnen gesellst und du ihnen berichten mußt, daß du eine Million Sk’cees einem hilflosen Schicksal überlassen hast. Was würde diese Million selber sagen?“
„Aber was würden sie sagen“, konterte Orofan schlicht, „wenn sie erfahren, daß ich ihr Leben zu einem solchen Preis auf Kosten anderer erkauft habe? Liegt wirklich Ehre in diesem Tun, Fahrtmeister?“
„Ehre liegt in der Pflichterfüllung. Meine Pflicht ist es, die Kolonisten sicher in ihre neue Heimat zu geleiten.“
„Dessen bin ich mir bewußt. Aber hier haben wir es mit einer höheren Verantwortung zu tun. Und wir wissen nicht einmal, ob die Schläfertanks nicht doch eine längere Reise überdauern würden.“
Lassarr musterte ihn schweigend. „Es ist offenkundig, daß dich tiefe Gefühle bewegen“, sagte er endlich. „Ich schlage einen Kompromiß vor: Du bekommst einen Aarn Zeit, um dir einen Alternativvorschlag zu überlegen. Gelingt dir das nicht, werden wir unsere Reise wie geplant fortsetzen.“ Er wandte sich um und verließ die Brücke.
Pliij sah Orofan an. „Was nun?“
Der Schiffsmeister ließ sich auf seinen Sitz fallen. Er überlegte angestrengt. „Beschaffe mir alle Informationen über diesen Raumabschnitt. Unsere eigenen Sensorergebnisse, die Tafeln der Weitseher, alles eben … Es muß doch einen anderen Weg geben.“
Es war eine streng ausgewählte und äußerst machtvolle Gruppe, die sich um den kleinen Tisch versammelt hatte. Und, so dachte Carey, nachdem er seine Erklärung beendet hatte, sie befand sich in tiefer Erregung. Während sich der General wieder setzte, ergriff Kanzler Nordli das Wort. „Also muß es das erste Anliegen unseres Treffens sein herauszufinden, warum sich der Eindringling in die Sonne stürzen will. Gibt es bereits Vermutungen?“
„Ich glaube, ich habe eine logische Erklärung, Herr Kanzler.“ Ein alter Mann hatte diesen Satz gesprochen. Es war Horan Roth, der Chef-Astrophysiker im Chiron Institut.
„Fahren Sie fort, Herr Doktor“, sagte Nordli.
Roth legte die Hände ineinander. „Die Geschwindigkeit eines Staustrahltriebwerks wird nicht von der Relativität begrenzt, sondern von der Reibung im interstellaren Medium. Ich will Ihnen die Mathematik ersparen – unter dem Strich ergibt sich, daß die Obergrenze der Schiffsgeschwindigkeit bei der Ausstoßgeschwindigkeit des Auspuffs liegt. Wenn man nun eine Magnetschaufel benutzt und mit ihr Wasserstoff aufnimmt, der zu Helium verschmolzen wird, und die frei werdende Energie benutzt, um dieses Helium durch den Auspuff wieder auszustoßen, ergibt sich, daß die so erreichte Geschwindigkeit etwa zwölf Prozent der Lichtgeschwindigkeit beträgt.“
„Aber der Eindringling bewegt sich deutlich schneller“, protestierte Wu-Sin.
„Das stimmt.“ Roth nickte. „Offenbar benutzen sie eine Art Nachbeschleuniger, um ihre Ausstoßgeschwindigkeit zu erhöhen. Aber dazu braucht es Energie, dazu benötigen sie zusätzlichen Brennstoff.“
„Ich verstehe“, murmelte Nordli, „sie müssen Wasserstoff mit sich führen, den sie im interstellaren Bereich nicht ersetzen können. Daher tauchen sie gelegentlich in eine Sonne ein, um ihre Tanks aufzufüllen?“
„So scheint es zu sein.“
„Dr. Du Bellay, Sie sind doch ein Experte für fremde Kulturen, nicht wahr?“ fragte Nordli.
„In gewisser Hinsicht schon, Sir“, antwortete Du Bellay. „Man muß allerdings berücksichtigen, daß wir nur tote Zivilisationen untersucht haben, eine Handvoll übrigens nur.“
„Ja. Wie stehen Ihrer Meinung nach die Chancen, einen Kontakt zu den Fremden herzustellen? Glauben Sie, wir könnten ihre Handlungen überhaupt beeinflussen?“
Du Bellay runzelte die Stirn. „Ich fürchte, ich kann Ihnen auf beide Fragen keine befriedigende Antwort geben.“ Er sprach sehr langsam. „Es stimmt zwar, daß verschiedene Wissenschaftler sogenannte Erstkontaktschlüssel erarbeitet haben, für den Fall, daß wir einmal einer intelligenten Spezies begegnen. Aber man muß auch berücksichtigen, daß wir einen beträchtlichen Zeitraum benötigen, um den Fremden unsere Sprache verständlich zu machen, und diese Zeit haben wir nicht … Wir besitzen kein Schiff, das neben dem Eindringling herfliegen könnte, daher müßten wir alle Mitteilungen an sie in kurze, stark verdichtete Datenblöcke zusammenfassen. Und selbst wenn wir einmal annehmen, daß sie in der Lage sind, die Wellenlänge, auf der wir senden, zu empfangen … In ihrem Zeitraum bleiben ihnen nur noch sieben oder acht Stunden, um unsere Botschaft zu entziffern.“
„Ich stimme mit Dr. Du Bellay überein“, warf General Carey ein. „Übrigens haben wir bereits einige Tachschiffe hinauf geschickt, die genau das versuchen sollen. Wir rechnen allerdings nicht damit, daß etwas dabei herauskommt.“
„Vielleicht könnten wir sie auf eine andere Weise von unserer Existenz in Kenntnis setzen“, schlug Evelyn Woodcock, Nordlis Beraterin, vor. „Wenn man einen Fusionsantrieb auf sie richtete, den man regelmäßig an- und abschaltet. Das würden sie sicher bemerken.“
„Und wie geht es weiter?“ fragte Carey.
„Wieso? Dann werden sie gewiß ihren Kurs ändern.“
„Und ihr eigenes Unternehmen aufgeben? Wenn es sich um ein Kolonistenschiff handelt, dann ist ihre Versorgung vermutlich sehr knapp bemessen. Es kann sein, daß sie sterben müssen, wenn sie ihren Kurs ändern. Bei der Geschwindigkeit, die sie vorlegen, können wir ihnen auch nicht anbieten, sie aufzutanken.“
„Es gibt auch noch eine besorgniserregendere Möglichkeit“, sagte Nordli ruhig. „Diese Art der Auftanktechnik könnte auch den Sinn haben, gleichzeitig das Leben in diesem System abzutöten, um eine spätere Kolonisation zu erleichtern.“
„Ich halte es nicht für gerecht, wenn man ihnen solche Motive unterstellt, ohne Beweise vorzulegen“, sagte Du Bellay. Es war eher ein Reflex als Überzeugung, der ihn zu diesem Satz veranlaßte, schätzte Carey, denn der Archäologe wirkte ebenso beunruhigt wie alle anderen.
„So?“ Der Kanzler sah ihn überrascht an. „Eigentlich spielt es keine Rolle. Was zählt ist nur, daß uns der Eindringling mit totaler Vernichtung droht. Wir müssen ihn aufhalten.“
Wu-Sin rückte nervös auf seinem Stuhl. „Herr Kanzler, was Sie vorschlagen, läuft auf einen kriegerischen Akt gegen eine andere intelligente Rasse hinaus. Eine Entscheidung von dieser Tragweite bedarf zumindest der Zustimmung des gesamten Sonnenrates – auch die Kolonien müssen zustimmen.“
„Uns bleibt keine Zeit, uns mit den Kolonien in Verbindung zu setzen“, entgegnete Nordli. „Was den Rat angeht … Ich gebe Ihnen zwei Stunden, um seine Zustimmung einzuholen.“
„Und wenn es mir nicht gelingt?“
„Dann handle ich ohne Zustimmung.“
Wu-Sin nickte ernst. „Ich mußte wissen, wo Sie stehen. Ich werde die Zustimmung bewirken.“ Er stand auf, verbeugte sich und verließ den Raum.
Nordli wandte sich an Carey. „Herr General, wie können wir vorgehen?“
Während er nachdachte, ließ Carey seine Blicke über die Gesichter der anderen wandern. Er sah, daß sie alle auf Nordlis Seite waren. Das galt auch für Du Bellay und ihn selbst, denn es gab keine andere Wahl. Wie viele Leben wollten sie auslöschen? Unschuldige Wesen, die vielleicht gar nicht wußten, was sie taten. „Die Schwierigkeit liegt darin, Herr Kanzler, daß die Streitkräfte der Friedenswacht für eine solche Bedrohung nicht ausgerüstet sind.“
„Sie verfügen doch über Atomraketen, oder nicht? Und auch über Schiffe, von denen Sie sie abfeuern können.“
„Es gibt zwei Probleme: Erstens wird es äußerst schwierig sein, den Eindringling zu treffen. Ein Schuß von der Seite würde höchstwahrscheinlich fehlgehen und sie vor unseren Absichten warnen. Ein Schuß von vorn würde vermutlich treffen, aber unser Geschoß würde in dem Magnetfeld, das es durchdringen muß, wirkungslos werden. Und zweitens: Wir wissen nicht, ob wir mit einem direkten Treffer etwas ausrichten würden. Daß sie keinen FTL-Antrieb besitzen, heißt nicht, daß sie primitive Wilde sind, es zeigt nur, daß sich unsere Technik in verschiedenen Bahnen entwickelt hat. Sie dürfen nicht vergessen, daß das Schiff so konstruiert ist, daß es mit annähernder Lichtgeschwindigkeit durch den Rand eines Sterns rasen kann.“
„Wir müssen noch etwas berücksichtigen“, warf Dr. Roth ein. „Wenn wir das Schiff an diesem Punkt zerstören oder manövrierunfähig machen, würde uns das nichts nützen. Dann würden die Trümmer auf die Sonne aufschlagen, und das hätte die gleichen Folgen.“
Für eine Weile trat Stille ein.
„Dann müssen wir es aufhalten oder ablenken“, schlug Evelyn vor. „Wir müssen ihm eine mächtige Barriere in den Weg legen.“
Nordli sah Carey an. „Was meinen Sie dazu, Herr General?“
Carey stellte im Kopf eine schnelle Berechnung an. „Ja, das könnte gehen. Wenn es uns nur gelingt, seine Geschwindigkeit ein wenig herabzusetzen, dann würde das Schiff bereits durch einen weniger dichten Bereich der Photosphäre fliegen. Vorausgesetzt natürlich, daß es seinen jetzigen Kurs beibehält.“
„Was können wir ihm in den Weg legen?“ fragte Nordli. „Können wir einen Asteroiden dorthin schaffen?“
Carey schüttelte den Kopf. „Das würde Monate dauern.“ Noch während er sprach, ging er im Geist die Möglichkeiten durch. Tachschiffe waren so klein, daß sie nichts ausrichten konnten, und die schweren Kreuzer der Friedenswacht im System waren zu weit von der Flugbahn des Eindringlings entfernt. „Ich sehe nur eine Möglichkeit“, sagte er endlich. „Wir müssen feststellen, ob ein großes Fracht- oder Passagierschiff in einer Position ist, aus der es den Eindringling dicht vor der Sonne aufhalten kann. Aber wir besitzen keine Vollmacht, nicht-militärische Raumschiffe zu beschlagnahmen.“
„Doch, die haben Sie“, versetzte Nordli grimmig.
„Vielen Dank, Sir!“ Carey drückte einen Knopf des Sprechgeräts und gab Hauptmann Mahendra den Suchbefehl.
Im Heimatsystem der Menschheit herrschte ständig reger Verkehr, doch es gehörte zu den Aufgaben der Friedenswacht, diesen Verkehr zu beobachten, und so dauerte es nur ein paar Minuten, bis Mahendras Stimme aus dem Lautsprecher erklang.
„Es gibt nur ein Schiff, das in Frage kommt“, meldete er. „Ein großes Passagierlinienschiff, die Origami. Sie hat knapp hunderttausend Tonnen. Zur Zeit befindet sie sich zwischen Titan und Ceres, und die Wahrscheinlichkeit, daß sie den Abfangpunkt rechtzeitig erreicht, beträgt vierundachtzig Prozent. Neunundsiebzig Prozent, wenn sie zuvor ihre Passagiere absetzt. Ein weiteres Linienschiff und drei Frachter von vergleichbarer Tonnage haben nur eine Wahrscheinlichkeit von fünfzehn Prozent und weniger.“
„Ich verstehe.“ Careys Mund war mit einem Mal wie ausgedörrt. „Vielen Dank, Hauptmann, bleiben Sie in Bereitschaft!“
Er schaute Nordli an. Der Kanzler nickte. „Was bleibt uns sonst? Das Schiff soll seine Passagiere absetzen und sich auf den Weg machen.“
„Jawohl, Sir!“ Carey setzte sich ans Sprechgerät und begann seine Befehle auszugeben.
„Nun, Schiffsmeister?“ fragte Lassarr.
Orofans Gesicht blieb ausdruckslos. „Ich kann nur meinen Vorschlag wiederholen, den ich schon vor einer Aarn gemacht habe, Fahrtmeister: Wir ändern den Kurs und fliegen mit verminderter Geschwindigkeit weiter.“
„Sechs Lebenszeiten lang?“ schnaubte Lassarr. „Das ist unannehmbar!“
„So schlimm muß es nicht kommen.“ Orofan überflog seine Berechnungen. „Wir könnten die äußere Atmosphäreschicht des Sterns streifen, ohne schwere Beschädigungen in diesem System auszulösen. So könnten wir genügend Treibstoff gewinnen, daß wir unsere Reise in zwei Lebenszeiten beenden können.“
„Das ist immer noch zu lange. Ich will nicht vor die Vorfahren treten, bevor ich unser Volk sicher in seine neue Heimat gebracht habe.“
„Auch das wäre zu schaffen“, erklärte Orofan. „Du und alle aus der Mannschaft, die das wünschen, können in leere Schläfertanks gelegt werden. Wenn es nötig ist, kann ich die Morgengabe allein fliegen.“
Einen Augenblick lang hatte Orofan gefürchtet, daß der Fahrtmeister seinen Vorschlag als Beleidigung auffassen könnte, aber Lassarrs Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, er zuckte nur mit den Großtentakeln. „Dein Angebot ist ehrenhaft, aber unpraktikabel. Die Dauerhaftigkeit des Schläfertanks bleibt ein kritischer Faktor, der sich nicht geändert hat. Doch ich habe mir meinerseits einen Alternativvorschlag überlegt: Wir könnten unsere neue Kolonie in diesem System gründen.“
„Unmöglich“, sagte Orofan. „Wir haben nicht mehr genügend Brennstoff für das Bremsmanöver.“
„Doch, den haben wir. Ein großer Teil der Ausstattung des Schiffes ist nicht unbedingt nötig für seinen Betrieb. Wir könnten dies alles in Fusionsmaterial umwandeln. Damit würden wir auskommen, selbst wenn man davon ausgeht, daß wir über das Ziel hinausschießen und zurückkehren müssen.“
„Nein!“ Ohne es zu wollen, hatte Orofan das Wort laut hinausgebrüllt. Seine geliebte Morgengabe sollte ausgehöhlt und stückweise an den Fusionsantrieb verfüttert werden!
„Warum nicht?“
Eine gefühlsmäßige Antwort hätte keinen Einfluß auf Lassarr. Das wußte Orofan, und so suchte er verzweifelt nach logischen Argumenten. „Wir wissen nicht, ob es hier einen Planeten gibt, auf dem wir leben könnten. Und wenn wir einen finden, ist er vielleicht bereits von den Eingeborenen bewohnt. Wir sind auch nicht in der Lage, um ein Territorium zu feilschen.“
„Völlig hilflos sind wir aber auch nicht“, erwiderte Lassarr. „Unser Sternenschirm bietet einen ausgezeichneten Schutz, und unser Meteorzertrümmerer könnte zu einer Angriffswaffe umgewandelt werden.
Unsere Magnetschaufel ist tödlich für die meisten bekannten Lebensformen.“ Seine Tentakel ordneten sich zu einem sardonischen Muster. „Wenn sich jedoch herausstellt, daß sie so fortschrittlich entwickelt sind, daß wir sie nicht unterwerfen können, dann bitten wir sie einfach, uns beim Reparieren und Auftanken des Schiffes behilflich zu sein, und danach setzen wir unsere Reise fort.“
Orofan konnte kaum glauben, was er da hörte. „Ist das dein Ernst? Du willst wegen einer Million Sk’cees einen Krieg führen, wegen einer Million von achthundert Milliarden?“
Plötzlich wirkte Lassarr sehr erschöpft. „Ich sage es dir nur noch einmal, Schiffsmeister: Ich trage die Hauptverantwortung für diese Fahrt und die Million Sk’cees. Ich kann mir den Luxus nicht leisten, das Ganze aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Durch Veranlagung und Ausbildung stehe ich unerschütterlich zu meinen Aufgaben. Wäre ich nicht so, hätte man mich niemals zum Fahrtmeister bestimmt. Ein Rassenegoismus kann für das Überleben notwendig sein, das ist eine Tatsache, die jenen, die uns schickten, durchaus bekannt ist. Dies ist ein Fall, in dem ich das tun werde, was ich muß. Nur so kann ich den Vorfahren ohne Schande gegenübertreten.“
Es gab nichts, was Orofan darauf erwidern konnte. Auch in ihm drängte alles, den Weg der Ehre einzuschlagen. Aber welcher Weg war der ehrenvollere?
Lassarr starrte in die Finsternis vor der Sichtscheibe. „Dir bleibt noch eine halbe Aarn, um zu entscheiden, ob du den gegenwärtigen Kurs beibehalten oder unsere Reise hier beenden willst“, sagte er. „Wenn du die Wahl nicht treffen willst, werde ich für dich entscheiden.“
Sein Herz pochte laut, als Orofan zu erkennen gab, daß er verstanden hatte: „So sei es!“
Eine der hübschesten Traditionen aus den alten Zeiten der Luxusdampfer auf den Meeren ist uns erhalten geblieben, dachte Chandra Carey. Sie meinte den Brauch, daß die Schiffsoffiziere gemeinsam mit den Passagieren speisten. Sie genoß es, die Gäste für den Kapitänstisch auszuwählen, und sie achtete immer darauf, eine interessante Person zu ihrer Seite zu haben. Daher reagierte sie verstimmt, als Goode, der erste Offizier, eine lebendige Diskussion über die Vererbungslehre mit der trockenen Meldung unterbrach, daß sie auf der Brücke gebraucht würde.
„Schwierigkeiten mit der Maschine?“ fragte sie leise ins Sprechgerät – sie wollte die Passagiere nicht unnötig verunsichern.
„Nein, Frau Kapitän. Aber es ist unbedingt nötig, daß Sie sofort hierherkommen.“ Goodes Stimme klang sehr sachlich, zu nüchtern.
Chandras Ärger war verflogen. „Bin schon unterwegs.“
Sie entschuldigte sich bei ihren Gästen und war neunzig Sekunden später auf der Brücke. Goode erwartete sie, einen Fernschreiberstreifen in der Hand. „Halten Sie sich besser gut fest“, sagte er und gab ihr den Streifen.
Chandras Stirn legte sich in tiefe Falten, während sie die Meldung las. „Das ist doch lächerlich. Die Passagiere rausschmeißen und einen Riesensatz zur Ekliptik machen. Wozu, zum Teufel?“
„Die Erläuterung kommt soeben herein. Schutzstrahl, mit dem Geheimcode der Reederei“, erklärte Goode. „Niemand geringerer als Ihr Vater hat die Meldung unterzeichnet.“ Er nahm den Streifen wieder an sich und eilte zum Navigator.
„Von Paps?“ Chandra trat an den Fernschreiber und starrte auf den Streifen, der sich langsam aus dem Schlitz schob. Tatsächlich: FRIEDENSWACHTHAUPTQUARTIER ERDE AN P L ORIGAMI: ABS GENERAL CAREY. Jetzt war die Meldung vollständig, und Chandra las sie mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken.
„Nun?“ fragte Goode.
Sie riß den Streifen ab und drückte ihn ihm in die Hand, gleichzeitig griff sie nach dem Mikrophon für die Hauptsprechanlage. Einen Augenblick lang hielt sie inne, um ihre Gedanken zu ordnen, die wie ein Marsorkan durch ihren Kopf rasten. Dann drückte sie auf den Zentralknopf.
„Achtung, Achtung“, sagte sie und legte soviel Autorität wie möglich in ihre Stimme. „Hier spricht Kapitän Carey. Alle Passagiere und abkömmlichen Besatzungsmitglieder begeben sich sofort zu den Rettungsbooten. Es besteht keine unmittelbare Gefahr für die Origami, aber dies ist keine Übung. Ich wiederhole: Alle Passagiere und entbehrlichen Besatzungsmitglieder sofort zu den Booten. Dies ist keine Übung.“
Das „In die Boote“-Signal heulte bereits auf, während sie einen anderen Kanal einschaltete. „Brücke an Maschine. In zwanzig Minuten muß der Antrieb auf volle Last hochgefahren sein. Beginnen Sie außerdem auf Fernsteuerung von der Brücke aus zu programmieren.“ Sie wartete die Bestätigung ab, dann schaltete sie die Verbindung aus. „Navigator!“ rief sie über die Brücke. „Bestimmen Sie den Kurs zu diesem Vektor!“ Sie tippte mit dem Finger auf den Papierstreifen, den Goode ihr gezeigt hatte. „Ich brauche die Mindestzeit zum nächstgelegenen Schnittpunkt. Höchstmögliche Beschleunigung! Lassen Sie die Tanks leichtern. Jedermann, der keinen Flugdienst hat, hilft, die Passagiere in den Booten unterzubringen. Wir springen in zwanzig Minuten. Setzt euch in Bewegung!“
Während es auf der Brücke vor hektischer Aktivität zu brodeln begann, ließ sich Chandra auf ihren Sitz sinken, um die Meldung noch einmal sorgfältig durchzulesen. Sie konnte kaum fassen, daß die lange Suche so enden sollte, in einer Konfrontation auf Leben und Tod, wie die Begegnung mit einer tödlichen Giftschlange. Trotz der Gefahr und der bitteren Ironie fühlte sie eine Welle von Erregung in sich aufsteigen. Das Schicksal des gesamten Sonnensystems war durch einen Zufall in ihre Hände gelegt worden – sogar ihr Vater war auf sie angewiesen. Sie würde ihn nicht enttäuschen.
Sie schaute zum Chrono hoch und drückte die Sprechtaste. „Kapitän an Beiboothangars, Zustandsmeldung?“
Genau zur verabredeten Zeit kehrte Lassarr auf die Brücke zurück. „Die Halbaarn ist vorbei, Schiffsmeister“, verkündete er.
Orofan blickte vom Sensorenmonitor auf, hinter dem er gemeinsam mit Pliij gesessen hatte. „Einen Augenblick bitte, Fahrtmeister“, sagte er abwesend. „Die Lage hat sich durch einen neuen Faktor geändert.“
„Da ist es wieder, Orofan“, murmelte Pliij, dessen Lang- und Kurztentakel über die Tasten jagten. „Elektromagnetische Strahlung auf einer mittleren Frequenz mit starken Verschiebungen und Abweichungen. Hier habe ich eine Aufzeichnung.“
„Gut, nimm sie dir vor, und halte die Sensoren weiter auf Empfang!“ Orofan erhob sich und gesellte sich zu Lassarr.
„Worum handelt es sich denn?“ fragte der Fahrtmeister.
„Um eine Art Signal. Es wird alle paar Aarmis zu uns hergestrahlt. Die Eingeborenen versuchen, sich mit uns in Verbindung zu setzen.“
Lassarrs Tentakel regten sich nachdenklich. „Interessant. Ist es eine bekannte Sprache?“
„Leider nein. Aber jeder Impuls enthält eine Menge von Informationen. In ein paar Aarns können wir eine erste Übersetzung erstellen.“
„Gut, falls es sich ergibt, daß wir wegen der Reparatur der Morgengabe verhandeln müssen, könnte es für uns hilfreich sein, wenn ihr die Signale entschlüsselt.“
Orofan blinzelte. „Was soll das heißen? Ob wir hier anhalten oder nicht, ist immer noch meine Entscheidung!“
„Nein, nicht mehr. Ich habe noch einmal über alles nachgedacht und einen Beschluß gefaßt. Inzwischen haben wir weitere Daten über die Planeten, und es scheint gesichert, daß es hier zwei Planeten gibt, die für eine Kolonisation in Frage kommen.“
Mit Mühe gelang es Orofan, seine Stimme ruhig zu halten. „Das kannst du nicht tun, Lassarr. Du darfst uns nicht in einen ungewissen Krieg führen, ganz gewiß nicht in einen Eroberungskrieg. Selbst wenn es sich um Primitive handelte, was sie offensichtlich nicht sind, haben wir kein Recht, ihre Welten zu besetzen. Das ist nicht ehrenhaft …“
„Ruhe, Schiffsmeister!“ Lassarr bedachte ihn mit einem starren Blick. „Beklage dich nur nicht zu laut! Wenn wir die Morgengabe nicht aushöhlen müßten, um den benötigten Brennstoff zu erhalten, hättest du wahrscheinlich nicht soviel dagegen, hier anzuhalten.“
„Deine Unterstellungen sind beleidigend“, versetzte Orofan. „Es stimmt, daß ich für das Schiff verantwortlich bin. Das heißt aber nicht, daß ich allem anderen blind gegenüberstehe. Natürlich denke ich vor allem an die Million Sk’cees in unseren Schläfertanks.“
„Das glaubst du, dessen bin ich mir sicher“, sagte Lassarr mit leiserer Stimme, „aber man kann sich in einem solchen Fall auf deine Selbsteinschätzung nicht verlassen. Deine Ausbildung verleitet dich manchmal zu Fehlschlüssen. Die Entscheidung ist gefallen. Ich habe den Computer angewiesen, die nicht notwendigen Ausrüstungsstücke aufzulisten. Der Abbau beginnt in zwei Aarns.“
„Das kannst du nicht tun!“ flüsterte Orofan.
„Doch, das kann ich“, erwiderte der Fahrtmeister ruhig. „Ich habe es bereits getan.“
Vor Erregung zitternd warf sich Orofan herum und floh von der Brücke.
„Da geht das letzte!“ meldete Goode von seiner Position am Ruder der Origami. Es klang erschöpft.
Chandra nickte, wobei ihre Halsmuskeln schmerzten. Zwei Tage lang war sie jetzt der Abbremskraft von zwei g ausgesetzt gewesen. Das reichte zwar nicht aus, um einen Menschen handlungsunfähig zu machen, aber es machte einem doch zu schaffen. Sie war froh, daß es bald vorbei war. „Wer war drinnen? Die Mechaniker?“
„Ja, insgesamt vier Boote. Jetzt sind wir allein, Frau Kapitän.“
Sie lächelte mühsam. „Ist doch nett, nicht wahr? Okay, Jäger zwölf hat sich gemeldet: Der Eindringling bleibt weiter auf Kurs. In vier Stunden werden wir den Kollisionspunkt erreicht haben, richtig?“
„Etwas weniger: drei Stunden, siebenundfünfzig und eine halbe Minute genau.“
Sie rechnete schnell nach. „Also bleiben uns genau sechs Minuten. Das wird knapp.“
Goode zuckte die Achseln. „Mir hätte es besser gefallen, wenn wir die gesamte Reise mit zwei g gemacht hätten. Dann wären wir einen Tag früher zur Stelle gewesen. Aber ich weiß leider nicht, wie ich aus nichts Brennstoff erschaffen soll.“
„Ich werde Paps vorschlagen, daß eine Tankerflotte aus Tachschiffen aufgebaut wird, wenn ich wieder zu Hause bin“, sagte Chandra trocken. „Fein, unser letztes Boot ist Nummer 81. Ich möchte, daß Sie, fünfzehn Minuten bevor wir ankommen, hinuntergehen und das Boot reisefertig machen. Wenn die Origami in Position ist, kommt es auf jede Sekunde an.“
„Verstanden!“
Damit war die Unterhaltung beendet. Es ist ein seltsames Gefühl, dachte Chandra, wenn man absichtlich einem Zusammenstoß entgegensteuert, seltsam und erschreckend. Ihre ersten Fahrstunden fielen ihr wieder ein. Ihr Vater hatte sie immer wieder davor gewarnt, sich mit einer Einschienenbahn auf ein Rennen bis zum nächsten Bahnübergang einzulassen. Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, hatte er ihr Bilder von Wagen gezeigt, die ein solches Rennen verloren hatten. Beim Gedanken an die Knäuel aus zerbeultem Metall durchfuhr es sie eiskalt.
Und es war ihr Vater selbst gewesen, der ihr jetzt den Befehl zu diesem Unternehmen gegeben hatte. Sie fragte sich, wie er sich wohl fühlen mochte. Vermutlich schlechter als sie.
Es war eigentümlich, aber die Bahnwagen auf diesen Bildern waren kaum einmal stark beschädigt gewesen. Würde auch dieser Zusammenstoß so ausgehen? Wenn es sich vermeiden ließ, wollte sie die Fremden auf dem Schiff nicht töten. Vermutlich trugen sie keine Schuld an dieser Lage.
Sechs Minuten … Hoffentlich hatte der Eindringling seinen Kurs nicht verändert.
Hauptmann Mahendras Hand ruhte leicht auf der Sprechanlage im Stabsraum, sie verriet keinerlei Erregung. General Carey beobachtete die Hand voller Faszination, er bewunderte die Selbstdisziplin dieses Mannes. Doch schließlich war es nicht Mahendras Tochter, die mit einer gigantischen Einschienenbahn ein Rennen zu jenem mathematischen Schnittpunkt fuhr.
Mahendra wandte sich von der Sprechanlage ab und schob den Kopfhörer von den Ohren. Carey sah ihm ins Gesicht. „Nun?“
„Jäger sechs meldet, daß sowohl der Eindringling als auch die Origami weiter ihren Kurs halten. Die Jäger acht bis dreizehn nehmen weiterhin Rettungsboote auf. Die Passagiere sind fast alle gerettet, aber drei Viertel der Mannschaften sind noch dort draußen.“
Carey nickte. „Wieviel Zeit bleibt der Origami bis zur Kollision?“
„Von jetzt an noch drei Stunden und zwanzig Minuten. Wenn sie in Position ist, hat sie noch sechs Minuten.“
Carey pfiff leise zwischen den Zähnen. „Das wird verflucht knapp.“
Mahendra runzelte die Stirn. „Es sollte reichen, Herr General. Diese Boote halten ein Tempo von zwei g etwa zehn Minuten lang durch, dann sind die Tanks leer. Wenn Sie also, na, sagen wir, drei Minuten für den Start des Beiboots rechnen, dann können sie bis zum Zusammenstoß immer noch … äh … dreihundert Kilometer weit kommen. Das dürfte als Sicherheitsabstand ausreichen.“
„Das hoffe ich sehr.“
„Sie scheinen nicht davon überzeugt zu sein“, schaltete sich von hinten eine neue Stimme ein. Carey sah sich um und erblickte Du Bellay, der unbemerkt zu ihnen getreten war und ihm jetzt über die Schulter schaute.
„Ich mache mir Sorgen um die Leute, die noch auf dem Schiff sind“, sagte der General düster. „Sie sind Zivilisten und sollten mit diesen Dingen eigentlich gar nichts zu tun haben.“
„Da bin ich ganz Ihrer Meinung.“ Du Bellay hielt inne. „Ich habe mir das … äh … Mannschaftsregister der Origami einmal angesehen – als Kapitän ist dort eine Chandra Carey angegeben.“
Er brach ab, ohne die naheliegende Frage auszusprechen. Carey beantwortete sie dennoch. „Sie ist meine Tochter.“
„Ihre Tochter, Sir?“ Mahendras Augen weiteten sich für einen Augenblick. „Es tut mir leid, das habe ich nicht gewußt.“ Seine Finger huschten über die Tasten. „Sir, wir könnten ein Tachschiff vom Kurs des Eindringlings abziehen. Es könnte am Kollisionspunkt warten und Kapitän Carey aufnehmen, sobald die Origami eingetroffen ist.“
„Nein, wir haben nur noch drei Jagdschiffe für die Patrouillenflüge übrig, und die möchte ich nicht abziehen. Chandra ist ein guter Kapitän, das weiß ich. Das Beste, was wir für sie tun können, ist, sie mit genauen Daten über den Kurs des Eindringlings zu versorgen.“
„Wie wäre es mit einem der Tachschiffe, die die Rettungsboote aufnehmen sollen?“ schlug Du Bellay vor.
„Diese Schiffe verfügen nicht über genügend Sauerstoff und Nahrungsmittel.“ Carey schüttelte den Kopf. „Die Origami hat eine Menge Boote abgesetzt, und für einige wird die Lage kritisch.
Tachschiffe können immer nur jeweils ein Boot aufnehmen. Wir haben alle zivilen Schiffe offiziell aus dieser Zone verbannt und können nun froh sein, wenn es uns gelingt, alle abgesetzten Passagiere und Mannschaften aufzusammeln.“
Die beiden Männer sahen immer noch sehr besorgt aus, daher sandte Carey ihnen ein Lächeln zu, das eine beruhigende Wirkung haben sollte. „Machen Sie sich keine Sorgen, Chandra kann gut auf sich selbst aufpassen. Herr Hauptmann, wie steht es um unsere Kommunikationsbemühungen?“
Du Bellay zog sich, fast zögernd, zurück, und Mahendra wandte sich wieder seinem Schaltbrett zu. Carey bemerkte, daß seine Hände nicht mehr so gelassen wirkten wie zuvor.
Die Tür öffnete sich und Orofan zögerte einen Augenblick im Eingang, bevor er auf die Brücke trat. Lassarr schaute von dem Steuergerät, an dem er und Pliij arbeiteten, zu ihm herüber. „Ja bitte, was ist los?“ fragte der Fahrtmeister mürrisch.
„Ich bitte dich noch einmal, deine Absichten zu überdenken“, antwortete Orofan. Seine Stimme war beherrscht und emotionsfrei.
Offensichtlich entging es Lassarr, was das zu bedeuten hatte. „Jetzt ist es zu spät. Die Zerlegung hat begonnen, der neue Kurs ist bereits berechnet.“
„Aber noch nicht eingeschlagen“, stellte Orofan fest, „und die Schäden können noch repariert werden. Dies ist nicht der Weg der Ehre, Fahrtmeister.“
Entschlossen wandte Lassarr dem Schiffsmeister den Rücken zu. „Bereite den Kurswechsel vor!“ wies er Pliij an.
„Du läßt mir keine andere Wahl“, seufzte Orofan.
Lassarr wirbelte herum und erstarrte. Er klammerte sich am Steuergerät fest, und seine Augen klebten an dem Sturmgewehr, das Orofan in den Tentakeln hielt. „Bist du wahnsinnig geworden, Schiffsmeister?“
„Vielleicht“, erwiderte Orofan, „aber ich will nicht vor unsere Ahnen treten, nachdem ich tatenlos mit angesehen habe, wie ein Krieg gegen eine Rasse entfacht wurde, die uns bisher nicht feindlich gegenübergetreten ist.“
„Tatsächlich?“ Lassarrs Stimme triefte vor Sarkasmus, in den sich Furcht und Ärger mischten. „Ist es denn ehrenhafter, wenn man sie ohne Vorwarnung vernichtet? Das war es doch, was du noch vor wenigen Aarns tun wolltest. Oder beabsichtigst du nun, eine Million Sk’cees zum Tode zu verurteilen?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Orofan, während er zum Bildschirm hinaufschaute, der den näher kommenden Stern zeigte. „Es bleibt immer noch Zeit, um sich für einen anderen Weg zu entscheiden.“
Lassarr starrte ihn mit offenem Munde an. „Du willst diese Entscheidung von einer Eingebung in der allerletzten Aarmi abhängig machen?“
„Orofan, uns bleibt höchstens noch ein Zehntel von einer Aarn“, sagte Pliij mit angespannter Stimme.
„Das weiß ich.“ Orofan ließ Lassarr nicht aus den Augen. „Aber ich bin für die Morgengabe verantwortlich und damit auch für alle ihre Aktionen. Wenn ich mir diese Last abnehmen lasse, ist das nicht ehrenhaft.“
Zögernd, als ob er ihn endlich verstünde, signalisierte Lassarr seine Zustimmung. „Aber diese Last kann doch von jemandem übernommen werden, der bereit ist, sie zu tragen.“
„Und was wird dann aus meiner Ehre?“ fragte Orofan, dessen Tentakel zitterten. „Nein, deine Ehre ist dir sicher, Fahrtmeister, du wurdest nur durch Gewalt von dem Weg abgebracht, der dir als der rechte erschien. Du kannst ohne Furcht vor die Ahnen treten.“ Die Tentakel spannten sich fester um das Gewehr. „Ich muß nun allein die endgültige Entscheidung treffen. Es ist meine Ehre, die ich hier einsetze.“
Und so mußte es auch sein, das wußte Orofan. Tiefes Schweigen herrschte, während er auf den Bildschirm starrte und seine Entscheidung traf.
Noch zehn Minuten bis zum Ausstieg. Allein auf der Brücke, versuchte Chandra alle Zahlenangaben gleichzeitig zu lesen, sie suchte nach Abweichungen vom vorausberechneten Kurs. Der Navigationscomputer der Origami war der beste auf dem Markt, doch für eine extreme Feinbestimmung der Position standen ihm gewöhnlich Leit- und Hilfsstrahlen zur Verfügung. Hier konnte er nur auf die Stellung der Sterne zurückgreifen, und so war sich Chandra nicht sicher, ob sie sich völlig auf ihn verlassen konnte.
Sie griff nach der Sprechtaste, doch dann überlegte sie es sich anders und schaltete den Funksprechkanal ein. Die Lautsprecher in den Hangars der Rettungsboote waren ein beträchtliches Stück von den Booten entfernt – Goode könnte sie vermutlich besser über das Funkgerät des Bootes hören. „Goode, wie sieht’s aus?“
Sie erhielt nur ein schwaches, angespanntes Stöhnen zur Antwort. „Goode?“ rief sie scharf.
„Ärger, Frau Kapitän.“ Seine Stimme war kaum zu hören, so als ob er sich außerhalb des Bootes befand. Chandra drehte am Lautstärkeregler, und seine nächsten Worte kamen deutlicher. „Ein Halteseil des Bootes ist eingeklemmt, es steckt zwischen den Zahnrädern der Winde, und ich komme nicht heran. Ich brauche einen Laserbrenner, um es durchzutrennen.“
„Verdammt. Der nächste ist vermutlich im vorderen Hobbyraum.“ Chandra überlegte kurz, ob sie die Geschwindigkeit etwas drosseln sollte, während Goode unterwegs war, doch sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Sie würde dann später nur um so heftiger beschleunigen müssen, um rechtzeitig am Schnittpunkt zu sein, und sie wußte nicht, ob dazu der Brennstoffvorrat noch reichen würde.
Goode las ihre Gedanken aus der Ferne. „Machen Sie sich keine Sorgen, ich schaffe es schon. Was gibt’s Neues vom Eindringling?“
„Das gleiche wie vor vier Minuten, er hält seinen Kurs. Allerdings beträgt die Entfernung zu dem Tachschiff, von dem die Meldung kam, eine Lichtminute, daher könnte sie inzwischen überholt sein.“
„Ich verstehe, bin schon unterwegs.“
Die Minuten krochen dahin. Mit den Augen immer noch auf den Positionsdaten, verfolgte Chandra im Geiste Goodes Weg: heraus aus dem Hangar, dann nach rechts, mit dem Aufzug oder über die Treppe zwei Decks nach unten, dann durch den Gang in Hobbyraum Nummer zwei. Aus dem verschlossenen Schrank einen Brenner holen und der Rückweg. Sie legte seinen Weg bereits zum dritten Mal im Geiste zurück, als der Antrieb plötzlich verstummte.
Die plötzliche Stille und die Schwerelosigkeit überraschten sie, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie die Sprechtaste heruntergedrückt hatte. „Goode!“ schrie sie. „Wo zum Teufel stecken Sie?“
Es kam keine Antwort. Sie wartete und untersuchte die letzten Positionsbestimmungen. Die Origami war etwa achtzig Meter über die festgelegte Position hinausgeschossen. Sie griff gerade nach der Maschinensteuerung, als der Lautsprecher knackte.
„Ich bin wieder zurück“, keuchte Goode. „Ich habe dem Aufzug nicht getraut, war mir nicht klar darüber, wie schwer der Rückweg sein würde, t’schuldigung.“
„Schon gut, machen Sie sich an die Arbeit! Können Sie sich irgendwo festhalten? Ich muß die Bugtriebwerke einschalten.“
„Machen Sie nur! Verdammt, dieser Brenner ist ja ein Kinderspielzeug. Ich weiß nicht, wie lange ich brauche, um damit das Boot loszuschneiden.“
Ein eisiges Frösteln kroch über Chandras Rücken. Ihr Blick fiel auf den Schalter für das Haupttriebwerk, sie brauchte ihn nur niederzudrücken, und sie würden davonschießen … „Lassen Sie sich nicht zuviel Zeit. Es gibt nur noch uns beide und diese wildgewordene Einschienenbahn dort draußen.“
„Yeah. Könnten Sie nicht ein Tachschiff rufen, das uns abholen kommt?“
„Ich habe schon daran gedacht, aber das nächste Tachschiff ist nur eine Lichtminute von uns entfernt, das ist so nahe, daß es nicht in einem Sprung hierherkommen kann. Es muß also erst einen Distanzsprung zurück machen und dann zu uns springen. Um die Feinabstimmung dieser beiden Sprünge zu berechnen, braucht man mindestens zwanzig Minuten.“
„Verdammt, daran habe ich nicht gedacht.“ Nach einer kurzen Pause. „Die ersten drei Stränge sind durch, sieben sind es noch. Anderthalb Minuten, würde ich schätzen.“
„Okay.“ Chandra studierte die Positionsangaben genau. „Wir sind fast wieder am Zielpunkt – ich werde unten bei Ihnen sein, bevor Sie fertig sind. Ist das Boot ansonsten startklar?“
„Startklar? Es ist geradezu begierig auf den Abflug!“
„Nicht annähernd so begierig wie ich.“ Ein kleiner Schub mit dem Haupttriebwerk, um das Schiff endgültig einzupendeln, nachdem die Bugdüsen verstummt waren; ein letzter, besorgter Blick auf die Instrumente. „Ich bin fertig, gleich bin ich bei Ihnen.“
Goode arbeitete gerade am vorletzten Seilstrang, als sie ankam. „Steigen Sie ein, und schnallen Sie sich an“, sagte er, ohne aufzublicken.
Das tat sie. Sie schlüpfte auf den Pilotensitz und hatte die Gurte bereits angelegt, als er sich ihr gegenüber auf den Sitz fallen ließ. Sie wartete nicht ab, bis er sich auch angeschnallt hatte, sondern drückte den Schnellstartknopf.
Noch bevor sie die Schiffshülle verlassen hatten, machten sie bereits eine Fahrt von zwei g. Chandra holte das letzte aus den Maschinen heraus, ein kurzer Blick auf die Instrumente sagte ihr, daß sie sich im rechten Winkel zum Kurs des Eindringlings bewegten. Jetzt erst schaute sie auf den Zeitmesser.
Neunzig Sekunden bis zur Kollision.
Goode seufzte vernehmlich. „Ich fürchte, wir schaffen es nicht, Frau Kapitän.“ Seine Stimme klang eher resigniert als furchtsam.
Chandra öffnete den Mund, um etwas Beruhigendes zu sagen, aber der Lautsprecher unterbrach sie: „Avis T-466 an Origami-Rettungsboot. Bitte kommen!“
Ein ziviles Tachschiff? „Rettungsboot, hier Kapitän Carey. Hören Sie, scheren Sie sich unverzüglich …“
„Ich weiß Bescheid“, sagte die Stimme. „Ich habe über Funk einiges von Ihren Problemen mitbekommen. Sie sind spät dran, aber ich bin direkt hinter Ihnen. Schalten Sie Ihren Antrieb aus, ich glaube, ich habe noch genügend Zeit, um Ihr Boot aufzunehmen.“
Bisher hatte Chandra nicht auf den Bildschirm geschaut, aber während sie den Antrieb ausschaltete, zeigte Goode ihr einen kleinen Lichtpunkt. „Da ist er, im Abfangvektor, macht zwei Komma fünf g …“ Der Punkt veränderte leicht seine Richtung, und Chandra erkannte plötzlich, daß dort ein Amateur am Steuer saß.
Auch Goode bemerkte es. Er murmelte etwas, rutschte hinter die Computersteuerung und schaltete den Antrieb wieder ein.
„Tachschiff, wir richten uns in Geschwindigkeit und Vektor nach Ihnen, fliegen Sie einfach weiter geradeaus“, rief er. „Besitzen Sie Standardmagnetkupplungen?“
„Ja, sie sind kuppelbereit. Haltet euch fest, jetzt komme ich!“
Die Sekunden tickten. Der Punkt auf dem Schirm näherte sich rasch … Dann war er über ihnen, und das Rettungsboot ruckte heftig, als die Kupplungen zupackten. „Ich hab’ euch!“ rief es aus dem Lautsprecher. „Also dann …!“
Wenige Sekunden blieben ihnen noch …
Das Universum verschwand. Finsternis erfüllte die Sichtfenster, ergoß sich fast wie eine Flüssigkeit ins Boot. Fünf lange Sekunden lang …
Dann flammte unmittelbar vor ihnen die Sonne auf. Lange hatte Chandra sie nicht mehr in dieser Helligkeit gesehen. Auf dem Bildschirm waren jetzt viele Lichtpunkte zu sehen, die gemächlich darüber hin wegkrochen, und das Leitsystem des Rettungsbootes sprang plötzlich an, es meldete, daß sie sich sechstausend Kilometer nordwestlich von Erdleitstrahl Nummer Zwölf befanden. Goode ließ sich erleichtert tiefer in seinen Sitz sinken. „Seid ihr noch da?“ fragte der Lautsprecher.
„Sicher“, antwortete Chandra und wischte sich den Schweiß von den Handflächen. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Mr … .?“
„Dr. Louis Du Bellay“, stellte sich die Stimme vor. „Und bedanken Sie sich lieber noch nicht. Wenn es nicht funktioniert hat, was Sie da draußen versuchten, steht uns allen ein schrecklicher Tod bevor.“
Chandra hatte ihr Unternehmen beinahe vergessen. Der Gedanke daran holte sie sofort wieder aus ihrer Hochstimmung. „Sie haben recht. Können Sie für uns eine Verbindung zum Hauptquartier der Friedenswacht schalten? Ich muß meine Meldung machen.“
„Vielleicht kann ich noch mehr tun. Kommen Sie an Bord, dann werden wir es feststellen.“
Sie erhielten sofort Landeerlaubnis, und am Rollfeld wartete bereits ein Wagen auf sie.
General Carey stand vor dem Stabsraum. „Ich werde diesem Piloten die Lizenz entziehen müssen, weil er gegen den Befehl der Friedenswacht in die Sperrzone eingedrungen ist“, sagte der General mit einem grimmig-heiteren Seitenblick auf Du Bellay, während er seine Tochter in die Arme schloß. „Wenn Mahendra nicht gestanden hätte, daß er Ihnen bei der Beschaffung des Tachschiffes geholfen hat, dann würde ich es vermutlich auch tun, doch der Hauptmann ist ein so guter Mann, daß ich ihn nicht dem Militärgericht zum Fraß vorwerfen will. Laßt uns hineingehen, wir müssen uns ansehen, was die Jäger in den letzten zwanzig Minuten gemeldet haben.“
Mahendra schaute auf, als die Gruppe näher kam. „Kapitän Carey und Goode, erster Offizier? Meinen Glückwunsch, es sieht so aus, als hätten Sie es tatsächlich geschafft!“
Chandra fühlte einen Kloß im Hals, so dick wie ein Ionenschild. „Wir haben ihn abgebremst?“
„Nein, aber Sie haben ihn ein paar Hundertstel Sekunden in die richtige Richtung abgelenkt.“
„Tatsache?“ General Careys Stimme war sehr scharf. Offenbar wagte er nicht, diesen Worten zu glauben.
„Die Meldungen sind bestätigt, Sir.“ Mahendra nickte heftig mit dem Kopf. „Er wird durch die äußere solare Chronosphäre fliegen anstatt weiter unten durch die Photosphäre. Wir werden ein paar schöne Protuberanzen sehen und für einige Wochen eine erhöhte Strahlung messen, aber es wird keine Katastrophe geben.“
„Und der Eindringling hat nicht noch einmal versucht, seinen Kurs zu ändern?“ fragte Du Bellay sehr leise.
„Nein, Herr Doktor“, antwortete Mahendra betrübt.
Verwirrt schaute Chandra abwechselnd auf ihren Vater, Mahendra und den Doktor. Alle Gesichter zeigten die gleiche Miene. Sogar Goodes Gesicht wurde ernster … Und plötzlich begriff sie. „Sie meinen … der Zusammenstoß hat sie alle getötet?“
Carey legte ihr den Arm um die Schultern. „Wir hatten keine andere Wahl, Chandra. Es war eine Frage des Überlebens, das verstehst du doch, nicht wahr?“
Sie seufzte und nickte zögernd. Goode ergriff sie am Arm und führte sie zu einem Stuhl. Sie setzte sich und umklammerte seine Hand. Dann beobachtete sie wie alle anderen im Stabsraum den großen Bildschirm, auf dem der Computer den Weg des Eindringlings dicht an der Sonne vorbei und wieder hinaus in den Weltraum nachzeichnete. Wie mögen sie gewesen sein, fragte sie sich benommen … Und wie viele hatte sie umgebracht, damit die Erde leben konnte? Sie wußte, daß sie das niemals erfahren würde.
Hinter der Morgengabe wichen die Sterne zurück in den Bereich negativer Unendlichkeit, ihr Licht machte eine Rotverschiebung bis zur Unsichtbarkeit durch. Mit gemischten Gefühlen beobachtete Orofan das schwindende Bild auf dem Schirm. Neben ihm schaute Pliij vom Steuerstand auf. „Es ist alles in Ordnung, Schiffsmeister. Die Abweichung wurde genau bestimmt, und irgendwann während der nächsten hundert Aarns können wir die Kursänderung vornehmen.“ Er hielt inne und fuhr dann in einem persönlicheren Tonfall fort: „Du hast nur getan, was notwendig war, Orofan. Deine Ehre ist unbefleckt.“
Orofan schwenkte die Tentakel zustimmend, aber es war eine automatische Geste. Er bemerkte, daß er noch immer das Sturmgewehr in einem Tentakel hielt, und er schob es ins Halfter zurück. Ein saugnapfbewehrter Greifarm berührte ihn sanft. „Pliij hat recht“, sagte Lassarr leise. „Was es auch für ein Schiff gewesen sein mag. Wir können sicher sein, daß unser Räumschild bereits die Insassen getötet hatte, bevor wir es überhaupt entdeckten. Du konntest ihnen nicht helfen. Wenn du die Schiffsmasse zu diesem Zeitpunkt zurückgestoßen hättest, wäre das keine ehrenhafte Tat gewesen. Du hast richtig gehandelt.“
„Ich weiß“, seufzte Orofan. Es war die Wahrheit. Das Schicksal war mit Orofans Entscheidung einen Bund eingegangen. Gemeinsam hatten sie das System vor der Vernichtung bewahrt, ohne daß eine beträchtliche Verlängerung für die Reise der Morgengabe eingetreten wäre. Eigentlich sollte er zufrieden sein.
Und doch … Die Analysatoren hatten bedeutende Mengen von Silizium, Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff angezeigt, gemeinsam mit dem Metall des Schiffes, das die Morgengabe ungewollt in sich aufgesogen hatte. Welche von diesen Atomen hatten einst zu lebenden Wesen gehört …? Und wie viele von ihnen mußten sterben, damit die Sk’cees ihre neue Heimat erreichen konnten?
Er wußte, daß er das niemals erfahren würde.
THE PRICE OF SURVIVAL
Timothy Zahn
© 1981.
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Kiesow