Joe Patrouch
Den Tiger beim
Schwanz packen
Aus Alles Unklar (Inoffizielles Hausorgan der Allgemeinen Nukleargesellschaft)
12. Juli 1985. Na bitte, die Typen dort im Labor haben es wieder einmal geschafft. Erinnern Sie sich noch an die kleine Explosion und den Brand in der letzten Woche? Bereich 7 ist dabei schwer mitgenommen worden, und Ed Snide mußte ins Krankenhaus. (Wo es ihm übrigens ausgezeichnet geht. Die Verbrennungen waren schlimmer als die Knochenbrüche, sagte er uns.)
Wie auch immer, jetzt kennen wir den Grund für die Explosion und den Brand. Die Laborleute haben sich leicht bei der Energiemenge verrechnet, die freigesetzt wird, wenn sie … also, wenn sie etwas Neues versuchen würden. Wie üblich ist alles unklar, was das war. Sie erwarteten die Energiemenge x, und sie bekamen x2 und noch etwas dazu. Die Versuchseinrichtung war für den Ausbruch nicht geplant gewesen – und Bums! Überbelastung, Hitze, Kurzschlüsse, Funken, Flammen. Das gesamte Feuerwerksprogramm.
Behalten Sie aber bitte eines im Auge: Die Versuchseinrichtung hat versagt, aber der Versuch ist geglückt. Jeder, der darüber nur das geringste weiß, ist schrecklich aufgeregt. Es war ein kurzes Experiment zum Beweis eines Prinzips, und es ist gelungen. Die Theorie war nur insofern ungenau, als sie nicht die richtige Energiemenge vorausgesagt hat, die freigesetzt werden würde, x2, wohlgemerkt, nicht nur x. Denken Sie darüber nach.
Mr. Robert Gillespie, der Direktor der R&D-Abteilung von AN in St. Louis, schnaubte unhöflich, als er die kleine vierseitige Zeitung wieder auf seinen sauber aufgeräumten Schreibtisch warf.
„Was wir hier wirklich entwickeln müssen“, sagte er, „sind bessere Sicherheitsvorkehrungen. Wie sollen wir Patente anmelden, wenn unsere eigenen Angestellten darauf bestehen, unserer Konkurrenz zu berichten, was wir tun?“
Er schnappte wieder nach dem ärgerniserregenden Stück Papier und hielt es sich vor das Gesicht.
Der dünne Mann vor dem Schreibtisch rutschte unruhig auf seinem unbequemen Plastikstuhl hin und her. „Sir. Ich bitte um Entschuldigung, aber …“
Gillespie senkte die Zeitung herab und versuchte, seine Aufmerksamkeit auf seinen Besucher zu konzentrieren. „Ah ja, Sie sind doch Horner, nicht wahr?“ Er sah auf eine Notiz herab, die vor ihm lag. „Dr. John Horner. Neue Kraft.“
Der dünne Mann richtete sich auf seinem Stuhl auf und drehte sich dann nach rechts.
„Äh, ja, Sir“, antwortete er. „Ich bin seit ungefähr einem Jahr hier bei der Gesellschaft angestellt. Aber …“
„Na, was gibt es denn, was so wichtig wäre, daß Sie es nicht mit Smith oder Tchikow besprechen könnten?“ Gillespie sah mit einer übertrieben theatralischen Geste auf die Uhr. „Man will das Experiment ja wiederholen. Muß praktisch jede Minute soweit sein, und ich muß damit in Verbindung bleiben.“
Horner sprang von seinem Stuhl auf. „Das wußte ich nicht. Nachdem Alles Unklar die Geschichte gebracht hat, sind die Sicherheitsbestimmungen so streng, daß sie das nicht einmal mir mitgeteilt haben, weil ich bei dem Projekt nur am theoretischen Teil beteiligt bin. O mein Gott.“
Er lehnte sich mit einer Geste über den Schreibtisch, die Gillespie für bedrohlich hielt, riß den Telefonhörer von der Gabel und fuchtelte damit Gillespie vor dem Gesicht herum.
„Rufen Sie sie an“, befahl er. „Rufen Sie sie sofort an, und halten Sie sie auf, bevor es zu spät ist.“
Gillespie rührte sich nicht. Er versuchte sich eine Methode zu überlegen, wie er den Werkschutz herholen konnte, damit dieser Verrückte von ihm weggeschafft würde.
Die spannungserfüllte Pause dauerte ungefähr zehn Sekunden. Dann rannte Horner um den Schreibtisch herum und riß mit dem gespannten Telefonkabel zwei Bleistifte, einen Radiergummi und ein Familienbild von ihm herunter.
„Tut mir leid“, murmelte er ohne Reue und begann hektisch, Knöpfe zu drücken. Während er wartete, verlagerte er ständig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Hazel? John Horner. Schnell, sagen Sie Harry und Phil, sie sollen nicht … was? Wann?“ Er schloß die Augen und schickte ein gedämpftes Großer Gott zum Himmel.
Dann nickte er schnell zweimal wie ein Hahn, der nach Körnern pickt. „Also gut dann, sagen Sie ihnen folgendes: nicht abschalten!
Was sie auch tun, nur abschalten sollen sie auf keinen Fall.“ Erst nach zwei Anläufen gelang es ihm, den Hörer wieder auf die Gabel zu legen.
Er starrte mit weit aufgerissenen Augen, ohne zu blinzeln, auf Gillespie herab, der praktisch hinter seinem Schreibtisch kauerte und sich überlegte, ob er weglaufen sollte.
Schließlich ging Horner zu seinem Stuhl zurück, schluckte und begann wieder, sprachähnliche Töne von sich zu geben.
„Also gut“, sagte er mehr zu sich selbst als zu Gillespie. „Also gut. Vielleicht ist es auch noch nicht zu spät. Vielleicht fällt ja jemandem etwas ein.“
Er griff in seine abgewetzte braune Tasche, holte einen mit Zetteln vollgestopften, ausgefranzten Pappordner heraus und ließ das Paket achtlos auf Gillespies Schreibtisch fallen.
„Da steht alles drin“, sagte er. „Der mathematische Beweis. Im Detail. Aber grundsätzlich – für Einzelheiten ist jetzt keine Zeit. Wenn ich es nur gewußt hätte, daß das Experiment heute wiederholt werden soll. Verdammt! Grundsätzlich geht es um folgendes: Was in Alles Unklar steht, ist falsch. Die Explosion und der Brand wurden nicht von einer Überbelastung durch übermäßige Energiezufuhr verursacht, als der Prozeß eingeleitet wurde.“
Gillespie runzelte ungläubig die Stirn. Natürlich war es eine Überbelastung gewesen. War Horner verrückt? Er fing an, aufzustehen.
„Mr. Gillespie, bitte hören Sie mich an. Die Schwierigkeiten sind aufgetreten, als die Energiezufuhr abgeschaltet wurde – und nicht beim Einschalten. Das Energiefeld wurde nicht einfach immer schwächer, bis es ganz verschwunden war, wie Sie das vom Licht einer Glühbirne kennen, wenn abgeschaltet wird.“
„Nein?“ Im Grund war es Gillespie gleich. Er wollte nur die Zeit überbrücken, bis Hilfe kam. Sicher würde bald jemand hereinkommen. Oder anrufen. Er musterte hoffnungsvoll das Telefon.
„Nein. Es bricht nicht zusammen. Es weitet sich aus. Es weitet sich aus, bis es im Quadrat zu der von uns erwarteten Stärke steht. Und zwar auf explosive Weise.“
Gillespie glaubte, einen Fehler in Horners Darstellung gefunden zu haben. „Augenblick mal. Wenn Sie abschalten, wird keine Energie mehr zugeführt. Man kann nicht etwas von nichts bekommen. Nichts im Quadrat ist noch immer nichts.“ Dann begann er sich zu fragen, ob es nicht vielleicht gefährlich war, einem Verrückten zu widersprechen.
Horner machte ein gequältes Gesicht. „Meiner Ansicht nach vergessen Sie etwas, Mr. Horner.“ Gillespie hatte einen Abschluß in Management und war daher eigentlich nicht in Naturwissenschaften ausgebildet, aber Horner konnte nicht sicher sein. „Kein System reagiert sofort auf eine Veränderung. Wenn Sie das Licht abschalten, muß der Strom verbraucht werden, der noch in der Leitung ist, und die Wärme in dem Glühfaden muß sich verteilen. Wenn Sie einen Fernseher abschalten, verschwindet das Bild nicht sofort. Jedes System braucht seine Reaktionszeit – als Ganzes – auf einen Reiz hin.“
„Selbstverständlich“, versuchte Gillespie seine Position zu retten.
„Wenn Harry und Phil das System abschalten, weitet es sich wieder aus – explodiert –, bevor es in seiner Energieproduktion wieder auf den Nullpunkt zurückkehrt.“
„Also deshalb machen Sie sich Gedanken“, sagte Gillespie und entspannte sich. „Sie sind der Meinung, daß Harry und Phil auch mit der neuen Versuchsanordnung nur mit der erzeugten Energie fertig werden können, aber nicht mit Ihrem sogenannten Abschaltzuwachs. Sie fürchten, daß Sie vielleicht verletzt werden könnten und die Gesellschaft wertvolles Gerät verliert. Lobenswert, mein Sohn. Lobenswert.“
Vielleicht war er doch nicht mit einem Verrückten in dem Zimmer, sondern nur mit einem irregeleiteten Schaf.
Horners schwaches zustimmendes Nicken war jedoch nicht beruhigend. „Ja. Zum Teil ist das richtig.“
„Zum Teil?“ Jetzt war Gillespie mit Aufstehen an der Reihe. Das würde ihm einen schnelleren Start zur Tür ermöglichen.
Horner knirschte mit den Zähnen. „Nach meinen Berechnungen …“ Er zögerte.
„Ja? Ja?“ Gillespie war zum Teil von Horners offensichtlicher Besorgnis eingefangen, zum größten Teil aber in seine eigenen Befürchtungen verstrickt. Wo würde diese Farce enden?
„Nach meinen Berechnungen müssen noch zwei Punkte in die Überlegungen einbezogen werden. Erstens ist die von unserem neuen Prozeß freigesetzte Energie eine Funktion sowohl von Menge und Dauer der Zufuhr. Beim erstenmal haben wir so schnell abgeschaltet, daß der durch die Zeit bedingte Zuwachs nur sehr gering war. Daher x2 – und noch etwas dazu, wie Alles Unklar es ausgedrückt hat –, aber die Angabe ist genau genug. Wenn ich aber recht habe … Also, Sie sollten das vielleicht bei Harry und Phil überprüfen. Dann erzähle ich Ihnen den Rest.“
Gillespie tat das. „Harry? Gillespie. Wie lange habt ihr jetzt angeschaltet? Fast neun Minuten, was? Und wo steht der Ausstoß? Wie meinen Sie das, Sie wissen es nicht?“ Er wartete. „Oh.“ Er hielt die Sprechmuschel zu und wandte sich mit neuem Respekt an Horner. „Harry sagt, der Ausstoß wächst. Sie halten das nur für einen Fehler in den Meßgeräten, denn die Massezufuhr wird von ihnen konstant gehalten.“ Er nahm seine Hand von der Muschel und sprach wieder mit Harry. „Geben Sie mir trotzdem die Ausstoßwerte für die ersten neun Minuten.“ Die Nylonspitze seines Stifts quietschte, als er sich Zahlen notierte. „Bleiben Sie dran, Harry. Ich melde mich wieder.“
Gillespie legte den Hörer sorgfältig wieder auf die Gabel. Er bemerkte, daß seine Hand nicht zitterte. Er riß das Blatt von dem Block ab und gab Horner die Angaben. Dann legte er die Fingerspitzen aneinander und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Vielleicht sollte er sich auf alle Fälle Horner ganz anhören.
„Und die zweite Überlegung?“ erinnerte er ihn.
Horner zwang sich, von den Zahlenangaben aufzusehen. „Die Stärke des Abschaltzuwachses. Bezeichnen wir die Energie, die wir tatsächlich aus dem Experiment beziehen, mit E. Damit ist E proportional zu der Zeit t, denn die Einleitung des Prozesses steht im Zeitverlauf im Quadrat zu der von uns erwarteten Menge. Das heißt E = t (x2). Können Sie mir folgen?“
Gillespie verbarg seinen Ärger nicht. „Natürlich. Ich bin doch nicht dumm.“
Horner war das nicht peinlich, denn dazu war er zu sehr mit der Sache beschäftigt. „Nach meinen Zahlen ist der Abschaltzuwachs – nennen wir ihn y – proportional zu E2.“
Er machte eine Pause, um zu sehen, ob Gillespie das verstand.
Gillespie starrte an die Decke auf die Stelle, wo die vordere Wand sich mit der linken Seitenwand traf. Er tippte einige Sekunden lang mit seinen Fingerspitzen aneinander. Dann hörte er damit auf und sagte: „O mein Gott.“
Er hatte es verstanden. Horner nickte beipflichtend.
y = E2 = [t (x2)]2. Praktisch ausgedrückt hieß das, daß man das verdammte Ding nicht abschalten konnte. Und je länger man es nicht abschaltete, desto schlimmer würde die Explosion beim Abschalten werden.
Horner und Gillespie saßen für, wie es ihnen schien, eine sehr lange Zeit still da, wenn man die Umstände berücksichtigte.
Endlich wandte sich Horner wieder den Angaben über den wachsenden Ausstoß zu, die auf dem Zettel von Gillespie standen.
Gillespie hatte angefangen zu schwitzen. „Was ist, wenn wir die Zufuhr langsam drosseln, bis wir bei Null ankommen, und erst dann abschalten?“ schlug er vor.
Horner fing an, Gillespie zu mögen. Zumindest setzte er sich mit der Sache auseinander, und vielleicht fiel ihm sogar etwas ein. Aber … nein.
„Ich glaube nicht, daß das funktionieren würde“, sagte er bedauernd. Es mußte etwas geschehen, und zwar bald. Der Zeitfaktor vergrößerte sich von einer Minute zur anderen. „Dabei ist die Möglichkeit zu groß, daß es die Reduktion der Zufuhr ist, die den, wie wir ihn genannt haben, Abschalteffekt auslöst. Reduktion auf Null heißt offensichtlich, daß wir abschalten. Es kann aber jede Reduktion einen solchen zerstörenden Zuwachs auslösen. Das können wir nicht riskieren.“
Gillespie nickte gedankenverloren und fing wieder an zu schwitzen und mit seinen Fingerspitzen aneinanderzutippen. Horner stellte seinen Taschenrechner neben den Notizblock und fing an zu rechnen.
Die Zeit verging. Oder vielmehr wuchs t.
Schließlich schlug Gillespie mit beiden Handflächen auf seinen Schreibtisch. Die Mini-Explosionen erregten Horners Aufmerksamkeit.
„Wir müssen einfach unsere Verluste so gering wie möglich halten, das ist alles“, verkündete Gillespie. Er drückte zu fest auf den Knopf der Sprechanlage.
„Ja, Sir“, antwortete sie und ignorierte seine Gewalttätigkeit.
„Mrs. Bloomingtree“, sagte er in keinen Widerspruch duldendem Tonfall, „lassen Sie die Fabrik vom Werkschutz räumen bis zu einem Umkreis von …“ Er sah fragend zu Horner, der durch ein Achselzucken seine Unfähigkeit signalisierte, die Frage zu beantworten. Er machte sich wieder an seine Berechnungen. „… einem Umkreis von einer halben Meile. Sagen Sie denen, ich möchte das innerhalb einer Viertelstunde erledigt haben. Das gilt auch für Sie, Mrs. Bloomingtree.“
„Sir?“
„Los, klemmen Sie sich dahinter!“
Er unterbrach die Verbindung und rief dann Harry und Phil an.
„Harry? Okay, hier spricht Gillespie. Also, wir machen die Sache folgendermaßen: Sie schließen einen Timer an und unterbrechen die Massenzufuhr in fünfzehn Minuten. Dann verschwinden Sie und Phil, so schnell Sie können. Nein, wir haben jetzt keine Zeit, um uns darüber zu unterhalten. Führen Sie nur die Anweisungen aus.“ Er legte auf. Ein Mann der Tat in Aktion.
Horner holte einige zerknitterte Zettel aus dem Pappordner und fügte sie seinem Notizblock und seinem Taschenrechner hinzu. Gillespies Handflächen wurden feuchter. Er überlegte sich, wann … und wie … er Horner vorschlagen sollte, daß sie vielleicht auch besser gehen sollten.
Das Telefon summte. Das gab ihm etwas zu tun.
„Gillespie. Ah, Tag, Farrell.“ Werkschutz. „Was soll das heißen, Sie können die Fabrik und die Umgebung nicht in fünfzehn Minuten räumen? Wie lange brauchen Sie denn? Mindestens eine Stunde! Wenn Sie Glück haben? Aber … aber …“
Horner reichte hinüber und schwenkte eine Hand vor seinem Gesicht.
„Ich werde zurückrufen“, teilte Gillespie mit und legte auf.
„Sehen Sie“, sagte Horner, „wir wissen nicht sicher, wie drastisch sich der Zeitfaktor bei all dem auswirkt, und für eine solche Art von Projektionen nur neun Minuten zugrunde zu legen, das ist Wahnsinn. Uns bleibt aber keine Wahl. Wir müssen diese Situation unter Kontrolle bringen.“
Gillespie verspürte das Verlangen, sich die wenigen Haare auszureißen, die ihm noch blieben. „Sagen Sie mir doch mal was, das ich noch nicht weiß.“ Wahrscheinlich würde es sie nicht weiterbringen, wenn er Horner schlagen würde.
„Entschuldigung, Mr. Gillespie, aber nach meinen Berechnungen würde sich in der Zeit, die wir dazu brauchen, ein gegebenes Gelände zu räumen, fast sicher eine Explosivkraft aufbauen, die ausreicht, um ein größeres Gelände zu zerstören. Ich glaube, mit einer solchen Politik kommen Sie nicht weiter.“
Warum würde es sie nicht weiterbringen, wenn er Horner schlug, fragte sich Gillespie. Damit hätte er wenigstens etwas zu tun, was er mit Händen greifen konnte.
„Wenn Sie jetzt abschalten, verlieren Sie wahrscheinlich nur St. Louis“, redete Horner unglücklich weiter. „Aber auf die Dauer, wenn das Ding dort einmal abgeschaltet werden muß, könnte es … an … die ganze Welt hochjagen. Jetzt noch nicht. Nächste Woche auch noch nicht, aber irgendwann. Das ist das Risiko für die Zukunft, das Sie tragen müßten. St. Louis – und Sie und ich – jetzt oder morgen die ganze Welt. Sie haben die Wahl, Sir.“
Gillespie legte den Kopf auf seine auf dem Schreibtisch verschränkten Arme. Horner saß da und starrte ihn an. Eine sehr lange Zeit saßen sie völlig still. Sie waren sich beide der Länge dieser Zeit sehr intensiv bewußt. Jedes Ticken der Uhr machte die Bombe auf der anderen Straßenseite stärker.
Bei realistischer Betrachtung konnte die Welt wahrscheinlich ohne St. Louis auskommen. Ohne sie beide auch. Die Zeit t wuchs immer weiter. Vielleicht würde die Welt auch ohne die östliche Hälfte von Missouri und das südliche Drittel von Illinois auskommen müssen. Außerdem wäre da noch all der lästige Fallout über Nordwesten. Und eine Klimaveränderung, die es nach sich ziehen würde, wenn Millionen Tonnen von Dreck und Beton pulverisiert, erhitzt und in die Atmosphäre geschleudert würden. Die Bewohner der nördlichen Halbkugel konnten sich auf herrliche Sonnenuntergänge in den nächsten Jahren freuen.
Die Konsequenzen einer Abschaltung ihrer Apparatur waren verzweifelt ernst geworden. Ebenso wie die Konsequenzen daraus, daß sie das verdammte Ding angeschaltet ließen. Was war zu tun?
Das Telefon klingelte wieder. Gillespie nahm es auf. Er hob nicht den Kopf.
„Hallo“, sagte er zu der Innenseite seines rechten Ellbogens.
„Was?“ Sein Kopf hob sich.
„Was?“ Sein Rücken wurde gerade, und er richtete sich auf.
„Was?“ Er stand auf.
„Schon gut, schon gut, Harry. Beruhigen Sie sich. Ich bin froh, daß Sie den Timer nicht angeschlossen haben. Das ist in Ordnung. Alles ist in Ordnung. Ich weiß jetzt, was wir tun werden.“ Er tanzte vor Erleichterung richtig umher. „Wir haben die Sache im Griff!“
Er warf den Telefonhörer in Richtung auf die Gabel und verfehlte sie. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und umarmte Horner. Er lächelte strahlend. Horner sah ihn von der Seite an.
„Harry wollte wissen, was sie mit der überschüssigen Energie anfangen sollen. Er kann nicht mehr speichern. Er läßt alle Geräte im Labor laufen, um sie zu verbrauchen. Er mußte beim E-Werk anrufen, damit sie uns nichts mehr liefern. Er war gezwungen, alles umzuschalten. Er beliefert jetzt das E-Werk.“
Horner steckte sich langsam an Gillespies Enthusiasmus an, ohne wirklich den Grund dafür zu verstehen. Er lächelte vorsichtig.
„Sie verstehen doch, oder?“ fragte Gillespie beharrlich. Er hatte seine Hände auf Horners Schultern gelegt, und seine Augen leuchteten. „Wir brauchen es doch nicht abzuschalten. Wir müssen es nur benutzen.“
„Aber … aber die Gefahr. Die Abschaltexplosion!“
„Scheiß auf die Gefahr. Es war sicherer, zu Fuß zu gehen, als zu reiten, aber das war uns egal. Es war sicherer zu reiten, als mit dem Auto zu fahren, aber um Sicherheit ging es da nicht. Es ging um Freiheit und Lebensqualität, und das bedeutet Energie.“
Gillespie ging einige Male im Zimmer auf und ab. „Wieviel Energie können wir Ihrer Ansicht nach maximal aus dem Apparat beziehen?“
„Er scheint durch Betrieb leistungsfähiger zu werden. Deshalb steigt die Energieabgabe bei gleichbleibender Zufuhr ständig an. Ich sehe keinen Grund, warum sich das ändern sollte, bis die zugeführte Masse zu hundert Prozent in Energie umgewandelt wird.“
„Und wann wird das sein?“
Horner schüttelte den Kopf. „Das habe ich noch nicht ausgerechnet. Ich war mit einer Projektion der Wachstumsrate beschäftigt.“
„Berichten Sie mir davon.“
Horner wußte, daß seine Zahlen von einer bedauerlich unzureichenden Basis ausgingen. Trotzdem zeigten sie …
„Wenn man von unserer gegenwärtigen Massezufuhr in den Konverter ausgeht – und es wäre meiner Ansicht nach zu riskant, die zu ändern –, werden wir in zehn Jahren eine Quadrillion Thermaleinheiten erreichen. Danach wird sich die Energieabgabe alle zehn Jahre verdoppeln – natürlich nur so lange, bis eine hundertprozentige Nutzung erreicht ist. Danach würde sich alles nivellieren.“
„Das heißt also, daß die Energieabgabe sich nie bis in die Unendlichkeit steigern wird, auch wenn sie sich alle zehn Jahre verdoppelt, nicht wahr? Wenigstens mit diesem Alptraum müssen wir uns nicht auseinandersetzen?“
„Nein, Sir, das ist völlig ausgeschlossen. Und nach meinen Berechnungen könnte unsere Gesellschaft in achtzig Jahren den gesamten jetzigen Energieverbrauch der Vereinigten Staaten abdecken und in weniger als hundert Jahren den gesamten Weltbedarf, wenn man den jetzigen Verbrauch zugrunde legt. Der Energieverbrauch der Welt wird natürlich drastisch anwachsen. Außer uns wird es noch die Energiequellen geben, die zur Zeit existieren und weiterhin zuliefern. Wir haben der Welt gerade die gesamte Energie geschenkt, die sie benötigt und jemals benötigen wird.“
„Jemals?“ Gillespie war befremdet. Die Behauptung schien übertrieben.
„Selbstverständlich. Bis sich die Anlage hier nivelliert, werden wir eine ganze Menge mehr darüber wissen als jetzt, und wir werden mehr davon bauen. Im Weltraum natürlich, wo wir diese hier auch gebaut hätten, wenn wir vorher Bescheid gewußt hätten. Die neueren werden viel sicherer sein.“
Unbegrenzte Energie. Für den Rest der Geschichte der Menschheit.
Sie sahen sich voller Staunen an.
Alle physischen Probleme der Welt – Armut, Hunger, Krankheiten, Krieg – würden gelöst werden, wenn genug Energie vorhanden war. Ihnen war es gerade gelungen, alle Bewohner der Welt reich, gut ernährt und mobil zu machen. Das Risiko einer Abschaltkatastrophe wurde durch die zusätzliche Freiheit ausgeglichen, die dieses Risiko jedem Menschen bescherte, jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind, das zur Zeit lebte oder noch geboren werden sollte. Wenn sie ihre Energiequelle abschalteten – und das würde St. Louis, Missouri, Illinois, Westkentucky, Nordarkansas und sie selbst das Leben kosten –, so würden sie Milliarden von Menschen Armut und Elend aufzwingen, die sich, wenn sie die Wahl hätten, sicher nicht für Armut und Krankheit entscheiden würden, und die, wenn sie die Wahl hätten, sicher nicht beschließen würden, die Qual auszuhalten, die es bedeutet, Kinder krank werden und sterben zu sehen, ohne etwas dagegen tun zu können. Das Risiko, so überzeugten sich Gillespie und Horner, zahlte sich ganz sicher durch den Gewinn aus. Die Erleichterung all dieses menschlichen Leids war die Gefahr wert.
Auch Horner lächelte inzwischen breit. Er war stolz. Er hatte dabei geholfen, der Welt diese neue, saubere, leistungsfähige Energiequelle zu schenken. Bald würde jeder Mensch auf der Welt Zugang zu ebensoviel Energie bekommen wie jeder Amerikaner, und wer wollte der Menschheit ihr Recht darauf verweigern?
Die Schrecken und das Elend, die man für das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts für die Menschheit erwartet hatte, waren beseitigt.
Wenn jedermann überreichlich Energie verbrauchen konnte, dann konnte auch jeder den amerikanischen Lebensstandard teilen. Komfort. Erziehung. Muße. Eine niedrigere Geburtenrate.
Autos und Industrie, die die Umwelt nicht verschmutzten.
Elektrische Gerätschaften in jedem Haus in der ganzen Welt.
„Ein Toaster in jeder Küche“, freute sich Gillespie.
„Und genug Brot für jeden Toaster“, stimmte ihm Horner zu.
„Auffälliger Konsum ist die einzige Antwort. All die Energie muß ja verbraucht werden.“
„Entweder das“, stimmte ihm Horner leise zu, „oder die Welt fliegt in die Luft.“
Die Kehrseite ihrer Vision begann ihnen aufzugehen.
Gillespie setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs und kaute an einem Fingernagel. „Jedermann auf der Erde wird Energie verbrauchen müssen, ob er das nun will oder nicht, nur damit wir überleben. Das wird die Pflicht eines jeden Bürgers sein, und die Regierung wird es durchdrücken müssen.“
„Zähler in jedem Heim und Gebäude in der Welt“, sagte Horner voraus, „damit die Regierung überprüfen kann, ob jeder seinen Teil verbraucht.“
„Kilometerzähler in jedem elektrischen Auto“, fügte Gillespie hinzu, „damit die Regierung sicher sein kann, daß jeder die 500 Kilometer pro Tag gefahren ist, die die Batterien zur Entleerung brauchen, damit sie wieder aufgeladen werden können.“
„Die kann man ja dann kurzschließen“, schlug Horner düster vor.
„Genau.“ Gillespie grinste ohne Freude. „Das wird schon jemandem einfallen.“ Dann wurde er wieder ernst. „Wie wäre es mit gigantischen Widerständen? Dann …“
„O Gott!“ sagte Horner plötzlich. „Da ist noch ein Problem, an das wir noch nicht gedacht hatten. Diese ganze Energie schafft eine enorme Wärme.“
„Wärme?“
„Natürlich. Nebenprodukt Nummer eins von Energie ist Wärme. Die gleiche Energie, die die Menschheit befreien wird, wird außerdem die Welt erwärmen, die Polkappen schmelzen, das Wetter, die Landwirtschaft, die Geographie verändern …“
„Oh“, sagte Gillespie.
„Genau“, nickte Horner. „Oh.“
Sie setzten sich wieder hin. Noch vor einigen Augenblicken hatten sie jeden Menschen enthusiastisch dazu verurteilt, wie ein Amerikaner zu leben und den größten Teil seiner Zeit damit zu verbringen, die jetzt verfügbare Energie zu verbrauchen.
Nun sahen sie sich mit einem völlig anderen Problem konfrontiert. Wie ist es zu schaffen, daß jeder so viel Energie wie ein Amerikaner verbraucht – wie erreicht jeder den Lebensstandard eines Amerikaners –, ohne daß dabei die Umwelt zerstört wird? Hatte irgendein Amerikaner oder eine Gruppe von Amerikanern wirklich das Recht, dem Rest der Welt mitzuteilen, es sei für die Bewohner dort zu gefährlich, so wie die Amerikaner zu leben?
Gillespie holte aus seiner rechten Schreibtischschublade zwei Gläser und eine Flasche guten Whisky. Nachdem sie ihre Gläser geleert und wieder gefüllt hatten, fragte Gillespie: „Schalten wir ab?“ Was bedeutete: Nehmen wir es auf uns, dem Rest der Welt einen höheren Lebensstandard zu verweigern, weil das Risiken und Probleme nach sich ziehen würde?
Horner dachte über vorgeschriebenen Energieverbrauch und Wärme nach. Er sah in sein Glas und zitierte unpassenderweise: „In vino veritas.“ Und dann lachte er. „O ihr Kleingläubigen. Nein, wir schalten nicht ab. Für Probleme gibt es nämlich Lösungen, aber die findet man nicht, indem man vor den Problemen davonläuft. Der Mensch war schon immer ein Wesen, das Probleme schaffte, aber auch löste. Ich bin zwar jetzt müde und verwirrt, aber ich kann mir jetzt schon eine Richtung vorstellen, in der man nach der Lösung für das Wärmeproblem suchen könnte. Wenn andere mehr Zeit und Daten besitzen, fällt ihnen bestimmt etwas ein, das man tun könnte.“
Gillespie fragte nicht. Er hob nur seine Augenbrauen.
Horner lehnte sich mit gespielter Verschwörerhaltung über den Schreibtisch. „Wenn wir all die Energie nicht auf der Erde haben wollen, dann bleibt sie eben auch nicht auf der Erde. Die Erde ist kein geschlossenes System, und es gibt nicht nur eine Erde. Sie ist Teil des Universums.“
„Und wie schaffen wir die Energie von der Erde weg?“
Horner drehte langsam sein Glas und flüsterte schließlich: „Wir bauen gigantische Mikrowellensender und schicken die Energie, die wir nicht wollen und nicht verbrauchen, in den Weltraum hinaus. Irgendwann können wir Empfangsantennen bauen und unsere erdnahen Industrien mit Satelliten betreiben, die ihre Energie von der Erde beziehen.“
Gillespie lachte. „Das ist unerhört.“
„Genau. Aber wem macht das etwas? Uns wird schon etwas einfallen, darum geht es. Uns ist bisher immer etwas eingefallen.“
TIGER BY THE TAIL
Joe Patrouch
© 1981.
Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Crass