Marc Stiegler
 

Rosenblätter
 

Droben die wehende Rose spricht: „Siehe,

lachend hinaus in die Welt ich ziehe.

Werfe mein Seidenblatt und zugleich

meinen Schatz in des großen Windes Reich.“

 

(Rosanische Übersetzung der lazarinischen Übersetzung der englischen Übersetzung des Rubaiyat von Omar Khayyam)

 

Sorrel Everwood hatte ein Gefühl, als würden ihm seine Ohren allmählich vom Kopf abgetrennt. Er griff sich an den Hinterkopf, um den verdammten Halteriemen seiner Infrarotschutzbrille zum zehnten Mal zurechtzurücken. Wo er schon einmal dabei war, stellte er auch gleich die Farbregelung nach.

Der Rosaner, den er vor sich sah, glich genau jenen Rosanern, die er in den xenoanthropologischen Filmen gesehen hatte. Hunderte von feinen Kühlplättchen, dem rosanischen Äquivalent für Hautschuppen oder Federn, bedeckten seinen Leib. Er schien in Blütenblätter gekleidet, dunkelrote Blätter, die von einem feinen Netz rosiger Adern durchzogen wurden. Die großen, zärtlichen Augen waren von goldgesprenkeltem Violett. Das Gold in den Augen paßte gut zum Gold seines Medaillons, dem Abzeichen der herrschenden Blutsbandschaft.

Einige Blütenblätter waren runzelig und zum Rand hin grün verfärbt. Or Sae Hi Tor ist vermutlich sehr alt für einen Rosaner, entschied Sorrel, dann konzentrierte er sich wieder auf die Worte des Blutbandschaftlers.

„Ich kann Ihnen versichern, daß wir Ihnen alle erdenkliche Hilfe einräumen werden. Sie bekommen Dringlichkeitsstufe Eins.“ Or Sae redete langsam in Logisprache, wenn er sich mit Menschen unterhielt. „Offensichtlich können wir aus einem Ultralicht-Kommunikator noch größeren Nutzen ziehen als ihr. Und ich hoffe, daß …“

Or Sae erhob sich plötzlich von seinem Stuhl und eilte auf den Ausgangskorridor zu. „Es tut mir leid“, murmelte er. „Mögt ihr sterben, wenn ein Stern auf …“ Er brach auf dem Boden zusammen.

Sorrel eilte bereits zu Or Sae hinüber, als Wandra aufschrie. Durch den Schrei wandte Sorrel sich um, und im Abdrehen erkannte er, was geschah. So überraschte ihn der Anblick, der sich ihm bot, als er den Rosaner wieder anschaute, nicht: Or Sae lag in einer Lache aus grünem Hirnblut, das aus seinem Kopf hervorquoll und schnell zu Gelee gerann. Auch der süßliche Duft, der den Raum mit seinem durchdringenden Nektararoma erfüllte, kam für Sorrel nicht überraschend.

 

Sorrel hatte gar nicht gewußt, daß er noch so sehr zum Haß fähig war. Lange Zeit hatte er nichts als Erschöpfung und Resignation gefühlt. Aber jetzt, wo er mit dem Lazariner zusammensaß, kehrte der Haß zu ihm zurück, gemeinsam mit Furcht und Auflehnung. „Wieso gerade ich?“ fragte er scharf. So scharf jedenfalls, wie er es mit der Angst in seiner Kehle zustande brachte.

Baleyrak Kretkyen Niopay blinzelte gemächlich. „Weil Sie von allen Wesen im Universum am besten dazu geeignet sind. Das liegt doch auf der Hand.“

Sorrel erwiderte nichts. Ja, in gewisser Hinsicht lag es auf der Hand.

Der Lazariner lachte, ein dröhnender Laut, der allmählich verklang. „Entschuldigen Sie, ich weiß, Sie können über diese Angelegenheit nicht lachen.“ Ein Robutler kam herein. Balcyrak deutete auf das Tablett. „Eine Erfrischung gefällig?“

„Vielen Dank.“ Sorrel griff nach dem angewärmten Schnapsglas, gefüllt mit … Er war sich durchaus nicht sicher, was es enthielt, aber vermutlich war der Inhalt sehr teuer, gewiß ausgezeichnet, und hoffentlich würde er das Brennen in seiner Kehle lindern. Während er an dem Getränk nippte, wechselte Balcyrak das Thema.

„Wir wissen, wie sehr Sie uns hassen.“

Sorrel hustete und sog scharf die Luft ein.

„Und auch, warum. Es tut mir leid, was mit Ihrer Frau geschehen ist. Wir trauern um jeden, der vor der Zeit sterben muß, ganz gleich, wie viele Lazariner diese Gefühlswesen getötet haben mögen, ganz gleich auch, wie sehr wir uns bemüht haben, sie in unserem Abwehrkampf zu töten.“

Sorrels Frau hatte als Offizier auf einem Menschenflaggschiff gedient. Das war in der Zeit, als sich die Menschen zu einem Krieg gegen die Lazariner entschlossen, in der Zeit, als sie ihre nagende Eifersucht noch nicht überwunden hatten. Das war vor langer Zeit …

„Doch diese Arbeit jetzt ist unserer Meinung nach so wichtig, daß wir es nicht zulassen sollten, sie von geschichtlichen Ereignissen aus der jüngsten Vergangenheit beeinträchtigt zu lassen. Sie sind die Autorität der Galaxis in Rosaner-Angelegenheiten. Sie wissen mehr über sie als sie selbst. Ja, Sie sind das einzige Wesen, dem es gelungen ist, eine fremde Kultur ohne Waffenzwang zu verändern. Das ist eine hervorragende Leistung, und man könnte sagen, Sie sind der einzige erfolgreiche Xenopsychologe, der bisher geboren wurde.“

„Ohne Waffenanwendung?“ Sorrel wurde von einem wütenden Entsetzen gepackt. „Bei der Revolution sind Millionen von Rosanern gestorben.“

Baleyrak winkte ab. „Aber sie wurden von anderen Rosanern getötet, von Rosanern, die die überlegene, erneuerungsfähige Gesellschaftsform verstanden, die Sie ihnen angeboten haben. Haben Sie schon einmal Darwin gelesen?“

Sorrel schnaubte. „Ich habe keine Zeit, mich mit antiker irdischer Geschichte zu befassen.“

„Natürlich, es tut mir leid, daß ich die Sprache daraufgebracht habe. Nun, egal. Das Überleben des Stärkeren hat nun einmal das Sterben der Schwächeren zur Folge. Da die Sechs-Eltern-Religion die stärkere war, hat sie die Vier-Eltern-Religion vernichtet. Die Überlegenheit der Sechselternschaft hat Sie zur Abfassung Ihrer Dissertation veranlaßt, und die Einwohner von Khayyam hatten das Glück, daß Prim Sol Mem Brite Ihre Arbeit gelesen hat.“

„Ja, aber ob es auch ein Glück war, daß er so viele seines Volkes deswegen getötet hat …?“ Sorrel runzelte die Stirn. Er war in streitbarer Stimmung, aber jetzt war nicht die Zeit und dies war nicht der Ort für eine Diskussion. „Warum begeben Sie sich nicht selbst nach Khayyam? Warum wollen Sie einen Menschen als Lehnsherrn einsetzen?“

Der Lazariner schüttelte verärgert seine Mähne. „Sie sollen kein Lehnsherr sein, sondern ein Bundesgenosse. Die Menschen sind die einzigen Wesen, die wirkungsvoll als Mittler zwischen den bei uns entstehenden Ideen und der technischen Umsetzungskraft dort auftreten können. Wir selbst können das nicht. Für uns ist es zu … mühevoll. Für die Rosaner übrigens auch.“ Er hielt inne, sah Sorrel eine Zeitlang an und sprach dann mit gedämpfter Stimme weiter. „Sie sind noch nie in Khayyam gewesen, nicht wahr?“

Sorrel schüttelte den Kopf. Es lag eine unerträgliche Ironie darin, daß er den Planeten eines Volkes, dessen Leben er verwandelt hatte, noch nie besucht hatte. In seinem ganzen Leben war er noch keinem Rosaner begegnet. Er hatte nur, kurz nachdem seine Frau gestorben war, eine Dissertation über sie abgefaßt.

Durch die Dissertation hatte er den Grund für ein vielfaches Sterben geliefert.

Balcyrak unterbrach seine Gedanken. „Seien Sie ohne Sorge, Mensch Everwood. Wenn Sie erst eine Weile dort gewesen sind, werden Sie verstehen, warum wir nicht selbst dorthin gehen können. Für die Leute dort werden Sie dann zu einem Lazariner geworden sein.“

„Wie bitte?“ Sorrel zuckte auf seinem Stuhl zusammen.

Der Lazariner lächelte. Es war ein abwesendes, fast sorgloses Lächeln, doch irgendwie wirkten alle Handlungen der Lazariner auf den menschlichen Beobachter abwesend und interesselos. „Wenn Sie lazarinergleich geworden sind, werden Sie mich verstehen.“

Sorrel stellte fest, daß Balcyrak davon ausging, daß er den Job übernehmen, daß er als Baleyraks Bevollmächtigter nach Khayyam reisen werde. Balcyrak irrte sich nicht, das mußte sich Sorrel zu seiner Empörung eingestehen.

„Sie werden es verstehen“, versprach der Lazariner.

 

Wandra nahm einen tiefen Zug aus dem Glas, das ihr Sorrel gereicht hatte. Sie war noch immer erschüttert über den Tod des Blutsbandschaftlers. Die drei Menschen waren auf das Schiff zurückgekehrt, doch sie hatten ihre Kühlanzüge noch nicht abgelegt. In der Schutzkleidung sahen sie wie bleiche, zerfranste Rosaner aus; jedenfalls schien es Sorrel so.

Wandra setzte zum Sprechen an: „Ich kann es einfach nicht glauben. Ich weiß, ich weiß, in allen Berichten, die ich vor meiner Ankunft hier studiert habe, wurde vor ihrem plötzlichen Tod gewarnt, und ich hätte mich darauf einstellen müssen, daß es ein alltägliches Ereignis ist.“ Sie tat einen zweiten Zug. „Aber ich kann es einfach nicht fassen – wie kann es so etwas nur geben?“

„Es ist doch nichts Besonderes“, warf Cal mit seiner kühnen, sarkastischen Stimme ein. „Für dich wäre es auch nichts Weltbewegendes, wenn du nur sechsunddreißig Stunden zu leben hättest. Dann kommst du gar nicht dazu, dir über den Tod eines anderen Gedanken zu machen.“

Sorrel seufzte. Es würde Schwierigkeiten mit Cal geben. Er war schon jetzt dabei, sich einen Panzer aus Zynismus zuzulegen, der ihn vor den Wunden, die dieser Planet schlagen konnte, schützen sollte. Aber auch Wandras Hysterie konnte zu Komplikationen führen. „So einfach verhält es sich nicht, Cal. Die Erwachsenenphase des rosanischen Lebenszyklus dauert zwar nur knapp sechsunddreißig Stunden, doch sie legen in diese Zeitspanne mehr hinein als viele Menschen in einhundert Jahren. Wenn auf den Tod keine Trauer folgt, so liegt das daran, daß es für die Kinder lebenswichtig ist. Ein Rosaner kann keine Kinder – in unserem Wortsinne – haben, es sei denn, sein Hirnblut wird für das Larvenblutfest aufbewahrt.“ Sorrel zuckte die Achseln. „Man könnte sagen, daß das Blutfest einem jeden Rosaner ein Stückchen Unsterblichkeit verleiht. Das Blutkind beginnt seine Erwachsenenzeit mit vielen Erinnerungen der Bluteltern und der Hirneltern.“

Cal schnaubte. „Ja, Unsterblichkeit. Die Kinder erinnern sich an jede Kleinigkeit. Aber tot ist man trotzdem. Da kann man genausogut ein Buch schreiben. Unsterblicher kann ein Rosaner auch nicht werden.“

„So unsterblich wird vermutlich keiner von uns“, sagte Sorrel. Sofort bereute er seine Worte, denn er hatte ja tatsächlich bereits einen Schritt in Richtung auf diese Art Unsterblichkeit getan.

Cal stapfte aus der Kabine.

Sorrel beobachtete Wandra, wie sie ruhelos durch den Raum schritt, wie sie nervös die Hände rang. „Ja, Wandra, was willst du mir über Cal sagen?“ fragte er schließlich.

Wandra hielt mitten in einem Schritt inne.

„Ich, äh …“

Sorrel nickte ihr zu. „Ich könnte nun gut sagen, daß ich dich mit meinen Fähigkeiten als Psychologe analysiert habe und daher vorher wußte, was du sagen wolltest. Leider muß man kein Psychologe sein, um zu erkennen, daß du dir Sorgen machst. Das sieht man dir jetzt noch besser an als eben, da Cal noch im Zimmer war.“

Sie seufzte und setzte sich auf einen Stuhl. „Ich glaube, Sie haben recht. Sehen Sie, Dr. Everwood …“

„Sorrel“, unterbrach er sie, „sag bitte Sorrel zu mir.“

„Ja, gern. Wußtest du, äh, Sorrel, wieso sich Cal unserer Expedition angeschlossen hat?“

„Nein, nicht genau. Ich muß gestehen, ich habe mich schon darüber gewundert. Er ist gar nicht der Typ, der sich für einen solchen Job freiwillig meldet.“

„Nein, der ist er wirklich nicht. Er ist ein Versager. Hat sein Studium in U. auf Neuterra geschmissen. Da er es als Theoretiker nicht geschafft hat, haben sie ihn zum Techniker umgeschult. In den Kreisen, aus denen er stammt, bedeutet das einen hohen Prestigeverlust.“

Sorrel nickte. „Auf Narchia wäre es genauso. Darum hat er sich also hierher geflüchtet, um so weit wie möglich vom Ort seiner Schande entfernt zu sein?“

„So ist es.“

Sorrel zuckte die Achseln. „Na, immerhin hat er es geschafft, von dort wegzukommen. Hier gibt es weiß Gott niemanden, der ihm zusetzen wird.“ Außer Sorrel selbst, mußte er sich eingestehen. Sein Erfolg mußte als permanente Beleidigung auf Cal wirken. Er sah Wandra an, und sie erwiderte seinen Blick. Sie kannte seine Gedanken so gut, wie er eben die ihren durchschaut hatte. „Also, wer spielt denn jetzt den Psychologen?“ murmelte er.

Sie lachte, zum ersten Mal seit ihrer Landung.

Sorrel erhob sich. „Wir wollen zurückgehen und den neuen Blutsbandschaftler begrüßen. Er sollte inzwischen im Amt sein. Es gibt eine Menge zu besprechen.“

 

Die Amtsstube hatte sich kaum verändert. Die Blutwarte hatten die Überreste von Or Sae Hi Tor zum Larventor gebracht, so daß sich die nächste zurückkehrende Larve beim Blutfest an ihm laben konnte. Der Papierstapel beim Ausgangsschlitz war jetzt höher als der beim Eingangsschlitz. Tri Bel Heer Te gehörte zur gerade herrschenden Blutsbandschaft der Tagesspinner. Sie leiteten die Arbeit in den Mondfalter-Höhlen während des sechsunddreißigstündigen Tageszyklus von Khayyam, während Or Saes Blutsbandschaft in der Nachtzeit dieses Planeten herrschte.

Tri Bel erhob sich, um Sorrel durch eine Berührung mit den Blütenblättern auf dem Unterarm zu begrüßen. Das golden, silbergrüne Medaillon ihrer Blutsbandschaft glänzte prachtvoll. „Meine Kinder werden sich auf alle Zeit an diese Begegnung erinnern“, hieß sie ihn mit der traditionellen Grußformel willkommen. Bei einer Begegnung mit Sorrel mochte der Gruß sogar der Wahrheit entsprechen. Tri Bel starrte Sorrel voller Andacht an. Ihre großen, klaren Rosaneraugen waren noch größer als gewöhnlich, und Sorrel hatte das unangenehme Gefühl, daß dies ein Blick war, mit dem sie auch einen Gott betrachten würde.

„Wir werden Ihrer in unseren Büchern gedenken“, erwiderte Sorrel. Er fand, daß dies einem Artengedächtnis am nächsten kam. „Und sogar die Lazariner werden unser Lied singen, sollten wir von der Erde und ihr von Khayyam Erfolg mit unseren Plänen haben.“

In wenigen Sekunden wich die Bewunderung einem Ausdruck von Geschäftsinteresse; für rosanische Verhältnisse war das eine unerhört lange Zeitspanne. „Das würde mich nicht überraschen. Besprechen wir also die Sache.“ Während sie den Satz aussprach, wies die Rosanerin auf die Ruhestütze am Kopf des Konferenztisches. Sorrel lehnte sich unbehaglich gegen eine Stütze an der Seite des Tisches. Er war kein Gott, zum Teufel! Warum wurde er dann dauernd so behandelt, als ob er einer wäre.

Sorrel trug sein Anliegen – so schnell er konnte – auf Altrosanisch vor. (Altrosanisch war einige Jahre und damit viele hundert Generationen alt.) Er wollte nicht unnötig viel von Tri Bels Zeit verschwenden.

„Wissen Sie, worüber wir mit Ihrem Vorgänger gesprochen haben?“

„Nein, ich hatte noch nicht die Zeit, seine Lebensschrift zu lesen.“

Sorrel schnarrte los wie ein Uhrwerk: „Es geht im wesentlichen um folgendes: Die Lazariner haben ein Universumsmodell entwickelt, das auch eine Methode der Verständigung enthält, die schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übermittelt werden kann, schneller auch als Botschaften, die auf Sternenschiffen transportiert werden. Cal Minov und Wandra Furenz, die beiden Menschen, die mich begleiten, haben das lazarinische Modell in praktische Theorie umgesetzt. Was wir nun benötigen, ist eine ungeheure technologische Anspannung, um die Theorie in arbeitsfähige Techniken umzuwandeln. Die Rosaner sind nun einmal die schnellsten und findigsten Techniker im Universum, und das Projekt ist so umfangreich, daß andere Wesen Jahrzehnte lang angestrengt daran arbeiten müßten.“ Sorrel kratzte sich unter dem Halteriemen seiner Brille. „Wenn wir es geschafft haben, dann werden eure Nachfahren zu Wesen in anderen Welten sprechen können, und sie werden die Antworten noch zu ihren Lebzeiten erhalten.“

Die Rosanerin hätte von dieser behäbigen, weitschweifigen Rede eigentlich gelangweilt sein müssen, aber weil es sich um Sorrel Everwood handelte, dem Ahnherrn des Sechselternglaubens, war dies nicht der Fall. Außerdem waren die Verheißungen der UL-Kommunikation wirklich atemberaubend. Besonders den Rosanern bot die neue Technik gewaltige Vorzüge, da sie nicht nur durch die Entfernungen, sondern auch durch ihre kurzen Lebenszeiten auf Khayyam isoliert waren. Tri Bels fasziniertes Lächeln wirkte gleichzeitig menschlich und elfenhaft. „Wieder bringen Sie uns das Heil, Mensch Everwood. Wie können wir jemals unsere Schuld begleichen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Haben Sie schon mit unseren Wissenschaftlern und Technikern gesprochen? Haben sie Ihre Pläne bereits studiert?“

„Nein, wir haben auf die Vollmacht der Blutsbandschaft gewartet.“

„Sie haben stundenlang auf die Blutsbandschaft gewartet?“ Tri Bels Augen weiteten sich in heftigem Erstaunen, dann beruhigte sie sich wieder. „Wir wollen sogleich mit der Arbeit beginnen. Schicken Sie sofort Mensch Minov und Mensch Furenz in die Bel Dom Laboratorien!“ Ein Schauder durchfuhr sie. „Ich kann es einfach nicht fassen, daß Sie Stunden auf eine Vollmacht gewartet haben!“ Sie trat an ihren Schreibtisch. „Ihr Projekt erhält Dringlichkeitsstufe Eins A, freie Auslese aus dem Technikerstand und beliebige materielle Mittel. Außerdem Zuchtwahl beim Blutfest, nur Regierungsbandschaften erhalten hier eine höhere Rangstelle. Ihre Techniker werden mit erweiterten Eilegerechten ausgestattet. In einer Stunde werden diese Anweisungen überall verbreitet sein.“

In Sorrels Kopf drehte sich alles. Die UL-Kom erfuhr eine Unterstützung, die seine höchsten Erwartungen weit überstieg. Zuchtwahl beim Blutfest – das hieß, sie würden das Hirnblut der besten Kommunikationstechniker jeder Generation zusammenbringen. Durch diese Auslese würde sich in jeder Generation das chemotechnische Geschick und das Blutgedächtnis steigern. Durch die erweiterten Eilegerechte würde ein Job bei der UL-Technik eine hohe Anziehungskraft auf alle Rosaner haben, denn die UL-Arbeiter hatten das Recht, mehr als die normale Anzahl von zwei Eiern zu legen, und so konnte sie zahlreiche Blut- und Hirnkinder haben. „Ich danke Ihnen“, sagte er zu der Rosanerin, die sich bereits der Sprechanlage zugewandt hatte. Er hörte ihr einen Augenblick lang zu, aber er verstand kein Wort. Erstens handelte es sich um modernes Rosanisch, und zweitens sprach Tri Bel unglaublich schnell. Sorrel ging unverzüglich aus dem Zimmer. Sie konnte nicht effektiv arbeiten, solange er im Raum war. Das wußte er, doch sie hätte ihn niemals gebeten zu gehen.

 

Zweihundert erwartungsvolle Rosaner lauschten still in der steinernen Halle. Sorrel räusperte sich. „Zunächst möchte ich mich für die Enge entschuldigen. Es scheint, daß diese Höhle ein wenig zu klein für unser Vorhaben ist. Ein größerer Höhlenraum steht jedoch unmittelbar vor seiner Fertigstellung, und mir wurde zugesichert, daß er uns zur Verfügung gestellt wird.“ Sorrel wurde sich mit einemmal klar darüber, daß diese Ankündigung für seine Studenten völlig bedeutungslos war. Sie würden längst ins Blutfest eingegangen sein, wenn die neue Unterkunft fertig war. „Hm, also, dies hier ist Calvin Minov, ein Raumzeit-Physiker, und dies ist Wandra Furenz, eine Topomathematikerin. Da ich persönlich nichts über Ultralicht-Kommunikation, Raumzeit oder irgend etwas, das zu diesem Bereich gehört, weiß, werde ich diesen beiden das Feld überlassen.“

Cal trat steif auf das niedrige Podest, gefolgt von einer lächelnden Wandra.

Sorrel schaute Cal an. „Cal, warum legst du nicht einfach los und gibst ihnen eine kleine Einführung in den Problemkreis, sagst ihnen, wohin wir wollen, wie und warum?“

„Ja, gewiß, äh …“ Er wandte sich der Versammlung zu und erstarrte. Sorrel drückte ihm ein Exemplar des Manuskripts in die Hand, das die Theorie enthielt. Das Manuskript hatte Cal selbst geschrieben. „Sag ihnen doch einfach, was du weißt“, flüsterte Sorrel auf Anglisch.

Cal schaute auf die Blätter hinab. Plötzlich schien er sich darauf zu besinnen, wo er sich befand. Er wandte sich dem Bildschirm zu und rief das erste Diagramm ab. Sorrel verließ die Plattform und sah sich die Schar der UL-Studenten an.

Sie waren die besten. Gemeinsam mit dem Chefgenetiker und dem Koordinator der Blutwarte hatte Sorrel sie ausgesucht. Jeder Student besaß sechs Eltern mit einem soliden wissenschaftlichen Hintergrund im mathematischen oder technischen Bereich. Alle Studenten waren sehr jung und pausbäckig. Junge Rosaner konnten nicht nur mehr Wissen speichern, sondern sie hatten auch genügend Geduld, um die umständliche, weitschweifige Art der Menschen zu ertragen.

Sorrel wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Lehrer zu. Cal mochte zwar kühl und überheblich sein, doch langsam erwärmte er sich für sein Thema. Er begann schneller zu sprechen und dann noch schneller, als er beim Reden feststellte, daß es keine Rolle spielte, wie schnell er sprach; seine Studenten vermochten jedem Tempo zu folgen. Sorrel wußte, daß Cal keinen schlimmeren Fehler machen konnte, als zu langsam zu sprechen, denn dann würden sich die Studenten nicht mehr konzentrieren können.

Hoppla, einer der Studenten stellte eine Frage. Seine Sätze kamen so schnell, daß Sorrel ihnen nicht zu folgen vermochte. Daran würde man sich erst gewöhnen müssen. Ein schwerwiegenderes Problem würde auftauchen, wenn einer der Menschen eine zu große Zuneigung zu einem rosanischen Schüler entwickelte … Vermutlich war Cal gegen so etwas immun, aber Sorrel befürchtete, daß Wandra schreckliche Schwierigkeiten bevorstanden. Er würde sich ihre Ego-Karte noch einmal genau ansehen müssen. Zum ersten Mal hatte Sorrel das Gefühl, daß er für dies Unternehmen wichtig war, nicht nur, weil er die Rosaner in Ehrfurcht versetzte und so die Arbeit beschleunigte, sondern auch, weil er persönlich nützlich war.

Ein Arm schlang sich um seinen linken Arm, und Wandra flüsterte ihm ins Ohr: „Nun, ich glaube, Cal kommt gut ohne uns zurecht. Wir haben vor, in Zwei-Stunden-Schichten zu lehren, mit einer Stunde Pause zwischen jeder Doppellektion, damit die Studenten wenigstens zwischendurch Gelegenheit haben, sich wie normale Rosaner zu benehmen. Was hältst du davon?“

Sorrel nickte. „Der ganze Unterricht läuft ja mündlich ab, darum finde ich deinen Vorschlag ganz vernünftig. Wir werden sehen, wie es bei dieser Gruppe funktioniert. Später können wir die Technik immer noch abändern. Ich habe das Gefühl, zwei Stunden menschlichen Vortrags sind eine ganz schöne Zumutung für sie – aber warten wir erst einmal ab.“

Während sie sich unterhielten, hatte Wandra ihn sanft aus dem Raum gezogen. Zwei Rosaner huschten mit einem Elektrowagen, der mit Tunnelbaugeräten beladen war, an ihnen vorüber. Wandra ließ sich auf den kühlen Steinboden sinken, und Sorrel folgte ihrem Beispiel. Linkisch purzelte er über sie, während sie ihn hinabzog. Sie lachte graziös, und auch er mußte lachen. Sie schüttelte den Kopf. „Das Stehen in der Vorlesungshalle hat mich so müde gemacht, daß ich unbedingt einen Platz finden mußte, wo ich mich niederlassen konnte“, sagte Wandra.

Sorrel nickte. „Ja, ich hatte ein Gefühl, als ob mir alles Blut in die Beine gesackt wäre. Ich glaube, wir müssen an strategischen Punkten hier und da auf Khayyam ein paar Stühle aufstellen. Entweder wir machen das, oder wir bauen die Rosaner genetisch so um, daß sie ebenfalls Stühle benötigen. Dann erfinden wir einen Stuhl für sie und machen ein Vermögen, indem wir ihnen Kissen verkaufen.“

Wandra lachte erneut – ein wundervoller, menschlicher Laut. Auch die Rosaner lachten gelegentlich, aber es war ein hektisches, zirpendes Geräusch, Kolibrigelächter. Für getragene Klänge war hier auf Khayyam keine Zeit.

Plötzlich brach Wandras Lachen ab. „Hast du die Techniker beobachtet, als du zu ihnen gesprochen hast?“

Sorrel seufzte. „Ja, das hab’ ich.“

„Sie beten dich an.“

„Ich weiß.“

Das Schweigen lastete schwer in der ruhigen, trockenen Luft. Schließlich ergriff Wandra wieder das Wort: „Ich weiß, daß du einmal etwas Besonderes für dieses Volk geleistet hast, aber ich muß zugeben, daß es mich fasziniert, wie genau sie sich an dich erinnern. Das war doch vor Hunderten von Generationen, oder?“

Sorrel seufzte wieder. „Das stimmt, aber das Gedächtnis der Rosaner ist lang und unberechenbar.“

Wandra starrte ihn schweigend an.

Er atmete langsam aus. „Besonders gut erinnern sie sich an ihre Götter.“

Sie nickte. „Das hat Brek Dar El Kind auch gesagt.“

„Brek Dar El Kind?“

„Einer der Studenten.“

„Aha.“ Nach einer langen Pause: „Hat er dir von dem Sechs-Eltern-Glauben erzählt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nun, das ist die Hauptreligion hier auf Khayyam. Im Mondfalterhöhlennetz ist es sogar die einzige Religion. Die Anhänger einer früheren Religion wurden vor einigen Jahren in einem Krieg ausgelöscht. Das geschah kurz nachdem ich meine Dissertation über die rosanische Kultur veröffentlicht hatte.“

„Hm … War es ein Zufall, daß es so kam?“

Sorrel stützte den Kopf in die Hände. „Ich fürchte, nein. Ich habe den Sechs-Eltern-Glauben nämlich erfunden, mußt du wissen.“ Er zuckte die Achseln. „Was ich mir da ausgedacht hatte war natürlich keine Religion, es war nur ein Gedanke. Doch als diese Idee von real existierenden Wesen auf einem wirklichen Planeten aufgegriffen wurde, verwandelte sie sich in eine Religion.“ Er atmete tief ein.

Gerade in diesem Augenblick hörten sie etwas um die Ecke huschen. Dieses Etwas verursachte eilige, kratzende Geräusche beim Laufen, die Schritte der Rosaner klangen völlig anders. „Ganz still!“ kommandierte Sorrel.

Er wandte sich dem Geräusch zu, und tatsächlich kauerte dort ein Krat und beobachtete sie aus hungrigen Augen.

Der Mensch und das Krat starrten einander dort im Tunnel lange Zeit in die Augen. Die Blütenblätter des Krats waren viel stärker ausgefranst als die der Rosaner, und über seine linke Flanke zog sich eine häßliche Narbe. Das kleine, aber gefährliche Tier näherte sich.

Ein Elektrowagen jagte durch den Tunnel auf sie zu, und das Krat verschwand.

Sorrel stellte fest, daß seine Hände zitterten. Trotz er staubigen Luft war seine Stirn feucht. „Eigentlich sind sie nicht sehr gefährlich“, sagte er mehr zu sich selbst als zu Wandra. „Normalerweise greift ein Krat einen ausgewachsenen Rosaner nicht an. Aber die Rosaner haben vor kurzem mit einer großangelegten Ausrottungskampagne gegen die Krats begonnen, und der Hunger macht sie dreister.“

Wandra drückte seinen Arm. „Danke für die Erläuterung“, sagte sie, dann schaute sie ihm vergnügt ins Gesicht. „Du wolltest mir eben von deiner Dissertation erzählen.“

„Ah ja.“ Sorrel holte tief Luft. „Ich werde mit dem Lebenszyklus der Rosaner beginnen. Es gibt bei den Rosanern zwei Geschlechter, genau wie bei den Menschen, nur daß die Rosaner besser miteinander auskommen.“ Wandra boxte ihn gegen die Schulter, und er lachte. „Na ja, jedes genetische Elternpaar legt mehrere Eier. Nach einem Jahr schlüpfen Larven aus den Eiern und begeben sich hinaus in die Wüste. Die Rosanerlarven sind zähe Wesen, so widerstandsfähig, daß sie es sogar überleben, wenn sie mehrfach der direkten Einstrahlung von Khayyams Sonne ausgesetzt sind. Zwei Jahre lang wachsen die Larven, und sie schlagen sich durch, bis sie zu ihrem Schlupfort zurückkehren. Zu diesem Zeitpunkt nehmen sie die Erwachsenengestalt an.“

Sorrel spürte Wandras Atem auf seiner Wange, und er genoß die Wärme, die die Nähe der Frau ihm bot. „Der letzte Akt dieser Metamorphose ist das Blutfest, in dem die Larven das für sie aufbewahrte, geronnene Hirnblut der Bluteltern verzehren. Von den Bluteltern übernimmt die Larve schon vorher durch Vererbung viele Erinnerungen, Meinungen, Ansichten. Am wichtigsten sind solche Erinnerungen, die das Lebensziel der Eltern betreffen – ich glaube, so könnte man es formulieren. Dies Lebensziel findet sich in den Erbanlagen der Larve, und sie nimmt es noch einmal mit dem Hirnblut der Eltern auf. So kommt es, daß es viele Generationen dauern kann, bis sich das Lebensziel einer Blutlinie ändert, selbst wenn ein Einzelglied in dieser Kette fanatisch einem anderen Lebensziel nacheifert. Die Larve ißt also vom Hirnblut der Bluteltern, die so gleichzeitig die Rolle der Hirneltern bei der Larve einnehmen. Die Erinnerungen, die sie beim Blutfest aufnimmt, sind völlig frei von gefühlvollen Assoziationen. Man könnte sie als Fakten, als reine Tatsachen, bezeichnen, während die vererbten Erinnerungen von Gefühlen eingefärbte Überlieferungen sind. Den traditionellen Weg, in dem dasselbe Elternpaar zweimal Erinnerungsgut an die Nachkommen weitergibt, nennt man Vier-Eltern-Glauben. Manche Wissenschaftler behaupten, daß beim Blutmahl alle Erinnerungen lückenlos an die Nachkommen weitergegeben werden, daß sich die Nachkommen aber immer nur auf Teile des Erinnerungsschatzes besinnen. Diese These ist schwer zu beweisen, denn kein Rosaner lebt so lange, wenn man bedenkt, daß jeder einzelne Rosaner über ein fotografisches Erinnerungsvermögen verfügt, soweit es sein eigenes Leben betrifft. Er würde sein gesamtes Leben dazu verwenden müssen, sich die Erinnerungen eines einzigen Elternteiles zurückzurufen.“

Sorrel erhob sich. So wie sie ihn vorhin gezogen hatte, zog er nun Wandra hinter sich her. „Laß uns ein Stück gehen.“ Die allgemeine Richtung führte sie von der Stelle fort, an der das Krat erschienen war. „Da die Larve immer an ihren Schlupfort zurückkehrt, bewahrte man das Blut der Eltern für sie auf. Genetische Eltern und Bluteltern waren also, wie gesagt, identisch.

Mit der Entwicklung der Tunnelbautechnik konnten die Rosaner ihre Wohnhöhlen erweitern. Von Wesen, die nur in der Nacht ihre Höhlen verließen, verwandelten sie sich in Tag-und-Nacht-Wesen, die ein unterirdisches Dasein führen. So machte ihre Entwicklung rasche Fortschritte. Nur der Vier-Eltern-Glaube stellte einen Hemmschuh dar. Da das Eier- und Larvenstadium drei Jahre dauerte, lagen die Erinnerungen von großen Wissenschaftlern und Philosophen während der Zeit, da man die Rückkehr ihrer Kinder erwartete, brach. In diesem Zeitraum leben und sterben Hunderte von Rosanergenerationen.“ Sorrels Stimme nahm einen bitteren Beiklang an. „Und hier brachte ich meine distanzierte, objektive Einsicht ins Spiel. Ich erfand eine bessere Methode. Wenn man nun ein anderes Elternpaar nimmt, eines, das gerade gestorben ist, wenn eine Larve heimkehrt, dann brauchen die Erinnerungen des Paares nicht jahrelang auf ihre Wiedererweckung zu warten. Nein, am nächsten Tag könnten sie bereits wieder zur Verfügung stehen.“ Sorrel zuckte die Achseln. „Die Rosaner selbst haben diese Möglichkeit einfach nie gesehen. Es würde mich nicht überraschen, wenn es einen Instinkt gab, der ihnen vorschrieb, daß die genetischen Eltern auch die Bluteltern sein müßten. Doch dieser Vier-Eltern-Glaube hatte seinen arterhaltenden Sinn verloren, den er in der Vorzeit einmal gehabt haben mochte. Mein Vorschlag gewann rasch eine starke Anhängerschaft. Da man die alte Vererbung, in der die beiden Elternteile zweimal auftraten, Vier-Eltern-Glaube genannt hatte, nannte man die neue Form, in der zwei neue Eltern dazukamen, Sechs-Eltern-Glaube, obwohl auf diese Form die Vier-Eltern-Bezeichnung eigentlich viel besser gepaßt hätte. Die religiösen Führer widersetzten sich dem Sechs-Eltern-Konzept natürlich heftig.“

„Es kam zu einem Krieg?“

Sorrel nickte. „Ein Krieg ist für die Rosaner nichts Alltägliches, denn es sind zu viele Generationen nötig, um auf diesem Weg eine Veränderung herbeizuführen. Meuchelmord und Hirnblutverbrennungen waren eine verbreitetere Methode. Doch wenn es einmal Krieg gibt, dann wird er so total geführt, wie wir ihn aus der menschlichen Tradition kennen.“ Ganz wie der Krieg, den wir mit den Lazarinern geführt haben, dachte er. „Der Sechserglaube hat natürlich gewonnen. Niemand im Universum kann es mit der Geschwindigkeit aufnehmen, mit der die Sechs-Eltern-Rosanerkultur in experimentellen Techniken wie der Waffenfertigung fortschreitet, denn niemand kann die Experimente in der rasenden Folge ausführen wie eine entschlossene Reihe von Rosanergenerationen.“

„Daher sind wir also mit dem UL-Projekt hierher gekommen, damit es schnell durchgeführt wird.“

„Ja.“ Sorrel schaute auf seine Uhr. „Übrigens, wenn du dich jetzt sehr beeilst, dann kommst du immer noch zu spät zu deinen Unterrichtsstunden.“

Wandra warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr, drehte sich um und stürmte den Tunnel hinunter. Sorrel sah lachend hinter ihr her.

 

Cal konnte sich niemals ihre Namen merken.

Ihre Gesichter und Namen änderten sich, doch ihr Verstand blieb derselbe, denn jedesmal wenn ein Techniker im UL-Projekt starb, verfütterten die Blutwarte sein Hirnblut an die nächstbeste heimkehrende Larve. Es gab eine Klasse für Nachtspinner und eine Klasse für Tagspinner; die Verstandeseigenschaften in beiden Gruppen blieben konstant.

Zu konstant. Tag für Tag beantwortete Cal die gleichen Fragen – scharfsinnige, einsichtige Fragen, doch immer die gleichen. Die Rosaner waren mit den Fakten schon vertraut, bevor sie den Vorlesungsraum betraten, sie hatten alle Bücher im voraus gelesen. Mit ihrem fotografischen Gedächtnis war das ein Kinderspiel. Ja, sie kannten die Fakten, aber es war eine andere Sache, die Fakten zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Und Fakten, die nicht von Verständnis begleitet wurden, wurden vom Hirnblut einfach nicht übermittelt. Das Hirnblut reichte nur Bruchstücke der fremden mathematischen Formeln weiter. Es würde viele Generationen dauern, bis sie sich zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügten.

Sorrel und die Blutwarte versicherten Cal, daß durch die Zuchtauslese der Blutlinien bald Techniker zur Verfügung stehen würden, die sich mit Leichtigkeit an die UL-Hyperraum-Gesetze erinnerten. Das Lebensziel in ihrem Hirnblut würde sie zu dieser Art von Lernen anspornen. Aber bis dahin war es ein langsamer, mühevoller Weg.

Also lehrte Cal. Unglaublich schnell begriffen die Rosaner, und am nächsten Tag erschienen neue Gesichter, die alles vergessen hatten. Also lehrte Cal.

Während einer Nachtperiode begegnete er schließlich Dor Laff To Lin. Sogar für eine Rosanerin war sie sehr zart und hübsch. Bei dem geringsten Anlaß verzog sich ihr Mund zu einem fröhlichen Lachen. Und was noch besser war: Sie stellte neue Fragen.

Neue Fragen! Ihre Hirn- und Blutlinien hatten Wissen und Verständnis im Hirnblut weitergetragen, und Dor Laff wußte alles. Wahrscheinlich wußte sie soviel wie Cal selbst, und als sie das Mitternachtalter erreicht hatte, stellte sie Fragen, die Cal nicht beantworten konnte. Er wurde rot und lächelte sie verlegen an. Sie lachte und arbeitete mit ihm zusammen. Sie lehrte den Rest der Klasse, ihm dabei zu helfen, Antworten auf ihre neuen Fragen zu finden. So arbeiteten sie sich immer tiefer in die Geheimnisse des Universums ein.

Cal war noch nie einer Frau begegnet, mit der er gemeinsam lachen und arbeiten konnte, und er war auch noch nie Mitglied in einem Team gewesen, schon gar nicht ein leitendes Mitglied. Obwohl Dor Laff die Diskussion steuerte, war es doch Cals Verstand, der im Mittelpunkt stand; es war sein Verstand, dem Wissen und Einsichten entnommen wurden.

Sie trieben über jene Linie hinaus, die er für die Grenze seiner Kreativität gehalten hatte. So fanden sie eine neue Wahrheit. Diese neue Wahrheit ergriffen sie dann und entwickelten sie weiter, so schnell und in so viele verschiedene Richtungen, wie es ein menschlicher Geist nie vermocht hätte.

Aber Cal hatte nicht genug Zeit, um sich über ihre Überlegenheit den Kopf zu zerbrechen, denn sobald eine Gruppe mit einer neuen Idee davongestürmt war, brachte Dor Laff ihn dazu, daß er in eine andere Richtung arbeitete, wo sich eine neue Gruppe fand, die sich des neuen Aspektes annahm. Niemals zuvor hatte Cal einen solchen Überschwang verspürt, noch nie hatte er eine solche Lebensfreude genossen. Noch nie hatte er jemanden so sehr geliebt, der ihm soviel zu geben hatte.

Die Morgendämmerung kam näher, und der Glanz in Dor Laffs Augen trübte sich, aber Cal war so sehr von seinen Gefühlen überwältigt, daß er es nicht bemerkte. Halb setzte er sich, halb stürzte er auf die Kante seines Vorlesungspodestes. Die Wellen der Erschöpfung holten ihn ein. „Dor Laff, du bist ein Wunder“, sagte er wie in Ekstase zu ihr.

Sie kniete sich neben ihn und berührte seine Wange. Die weichen Blütenblätter ihrer Hand streiften über seine Stirn. „Wirst du dich an mich erinnern?“ fragte sie.

Er sah ihr in die Augen. „Natürlich!“

Sie umarmte ihn. „Ich danke dir dafür, daß ich dich in deiner Unsterblichkeit umarmen durfte.“ Sie wandte sich ab. „Leb wohl.“

Er rief ihr etwas nach, aber sie kam nicht sofort zurück. Die Müdigkeit nach dreißig Stunden Arbeit übermannte ihn, und er schlief ein.

Als er erwachte, war sie für immer verschwunden.

 

„… und alles läuft außerordentlich gut“, sagte Sorrel gerade in sein Aufzeichnungsbuch, als Wandras Stimme aus dem Lautsprecher drang.

„Sorrel, es gibt hier Schwierigkeiten.“ Wandras Stimme erhob sich über einen Hintergrund aus erregtem Stimmengewirr. „Cal hat die Beherrschung verloren, und das hat seine Folgen. Wir haben Glück, wenn sie uns nicht lynchen.“

„Bleib ruhig“, rief er ihr zu, während er schon auf die Tür zueilte. „Ich bin sofort bei euch.“

Die UL-Projekt-Höhle hatte sich stark verändert, seit Sorrel sie zum letzten Mal gesehen hatte: In einigen Winkeln lagen bereits technische Gerätschaften herum, Ausrüstungsteile, die Euklid einige Kopfschmerzen bereitet hätten. Andere Ecken des Raumes hatte man mit einem Sichtschirm versehen, damit niemand zufällig in das Licht der Gravikrümmer blickte. Es waren etwa vierhundert Rosaner in der Halle, und alle unterhielten sich aufgeregt miteinander. Cal stand vor ihnen und fluchte und bettelte abwechselnd. „Warum erinnert ihr euch denn nicht? Warum fragt ihr mich immer wieder dieselben Sachen. Warum fragt ihr mich überhaupt? Hört mir bitte einmal zu!“ Mehrere Rosaner hatten ihre Stützen verlassen und scharten sich um das Podest.

Etwa ein Dutzend Rosaner hatten gesehen, wie Sorrel den Raum betrat, und jetzt eilten sie ihm entgegen. „Mensch Everwood, was sollen wir tun?“ fragten sie mit unruhig flackernden Augen.

„Gar nichts“, antwortete er grimmig. „Achtet darauf, daß kein Rosaner ihn berührt. Ich werde so schon genug Schwierigkeiten mit ihm haben.“ Er sprach Wandra an. „Verstehst du dich aufs Boxen?“ fragte Sorrel auf Anglisch.

„Einen braunen Gürtel in Modkido habe ich. Wie steht es mit dir?“ Sie stieß ein kurzes, rauhes Lachen aus.

Er schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, ich bin für so etwas zu alt. Ich werde ihn ablenken, und du schnappst ihn dir. Ich wünschte, uns ständen noch ein paar Leute zur Verfügung, doch wenn die Rosaner ihn anrühren, dreht er völlig durch.“

„Sie würden sich sowieso nur dabei verletzen“, bemerkte sie, während sie langsam auf das Podium zugingen. „Sie sind einfach zu zart gebaut.“

„Cal!“ schrie Sorrel durch den Lärm. „Soeben ist eine Fähre von Neuterra gelandet! Sie haben eine Nachricht für dich!“

Cal stutzte. „Was gibt’s denn?“

Wandra stürzte sich auf ihn, beide fielen zu Boden, und Sorrel eilte herbei, um Wandra zu helfen. Der Kampf dauerte nur wenige Augenblicke, dann lag Cal geschlagen und schluchzend unter ihnen.

„Sollen wir ihn zu seiner Höhle bringen?“ fragte Wandra.

Sorrel schüttelte den Kopf. „Auf’s Schiff. Wir sollten ihm soviel menschliche Umgebung wie möglich bieten. Er leidet unter einem klassischen Kulturschock.“

Sie zogen ihn hoch und schleppten ihn auf den Ausgang zu. „Klassischer Kulturschock? Bisher habe ich noch nie gehört, daß jemand wegen eines Kulturschocks dummes Zeug stammelt.“

„Na ja, dann eben ein fast klassischer Kulturschock“, schnaubte Sorrel. „Du mußt doch zugeben, daß diese Kultur einem durchaus einen Schock versetzen kann.“ Er biß sich auf die Lippen, und gemeinsam zerrten sie Cals schlaffen Körper zum Schiff.

 

Sorrel hatte noch nie eine Praxis als Psychologe unterhalten, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß er ein Schild an seiner Tür befestigt und nach verlorenen Seelen gesucht hätte. Und doch schien nun eben darin seine Hauptaufgabe auf dieser Reise zu liegen. Vielleicht hatte Balcyrak im voraus damit gerechnet.

Der Psychologe atmete tief ein, blieb aber sonst professionell ruhig. Offensichtlich hatte der Tod einer Rosanerin diese Krise ausgelöst. Sorrel verwünschte sich, weil er gedacht hatte, Cals Hochmütigkeit würde ihn schützen. Sie hatte ihn aber nur noch verwundbarer gemacht, nachdem einmal die Schale durchbrochen war.

Im Augenblick saß Sorrel schweigend neben Cal, der auf einer Ruhecouch lag und seine Seele enthüllte. Freud hätte seine helle Freude an der Szene gehabt, doch Sorrel erging es anders. Es hatte ihn große Mühe gekostet, Dor Laffs Namen herauszubekommen, und Cal hatte sie noch immer nicht als Ursprung seines Leidens erkannt. „Ist das das einzige Problem, das du mit den Rosanern hast, Cal? Bist du sicher?“

Cal nickte. „Ich kann es nicht ertragen. Jeden Tag lehre ich sie die gleichen Sachen, immer und immer wieder, und es sind immer andere Gesichter.“ Der letzte Satz endete in einem Schreckenslaut. „Immer neue Gesichter, niemals zweimal dieselbe Person!“ Er wimmerte. „Bitte, laß mich nur einen Studenten zweimal unterrichten!“

Sorrel schüttelte den Kopf. „Erinnern sie sich denn an nichts? Niemals an irgend etwas von einem Tag zum nächsten? Nur eine Sache vielleicht? Fällt dir gar nichts ein?“

„Nun … ein paar Dinge, vielleicht … Nicht viel. Immer die gleichen Fragen.“

Wandra klopfte an die offene Tür der Kabine. Sorrel bedeutete ihr einzutreten. „Wie geht es ihm, Herr Doktor?“ fragte sie. Sie versuchte, ihrer Stimme einen beiläufig, fröhlichen Klang zu geben.

„Cal geht es so gut wie immer, natürlich. Trotzdem denke ich, daß ich den Rest des Tages hierbleiben werde. Kannst du die Kurse allein übernehmen?“

Sie nickte. „Mit ein paar Stimupillen schaffe ich das schon.“

„Darauf möchte ich keine Wette eingehen. Wahrscheinlich muß Cal demnächst durcharbeiten, während du auf der Couch liegst.“

„Vertrauen, Herr Doktor, Vertrauen! Bis später!“ Sie war verschwunden, bevor Sorrel etwas sagen konnte.

Er wandte sich wieder Cal zu. „Du wolltest mir sagen, was dich noch an den Rosanern stört – außer daß sie nach einem Tag alles vergessen haben.“

„Wollte ich das?“ Cal drehte Sorrel sein Gesicht zu. „Ich, äh … ich glaube schon, daß es noch etwas gibt. Sie können sich nicht sehr gut erinnern, aber …“ Cals Schultern bebten, während er schluchzte. „Sie sind … sie sind viel klüger als wir. Es ist einfach unfaßbar, wieviel klüger sie sind. So schnell und so scharfsinnig. Jeden Tag erkläre ich ihnen dieselben Dinge, aber jedesmal begreifen sie sie in ein paar Minuten.“ Er rollte sich auf die Seite, wandte Sorrel den Rücken zu und murmelte in das Polster der Couch. „Lieber Gott, was gäbe ich dafür, wenn ich ihre Auffassungsgabe hätte.“

„Würdest du dein Leben dafür geben, Cal? Das tun sie nämlich.“

„Ich weiß, das weiß ich ja, aber …“ Er rollte wieder herum und lächelte durch die Tränen. „Mein alter Quantenprof, Durbrig, hat immer gesagt, mein Problem wäre es, daß ich immer alles will. Das ist immer noch so, schätze ich.“

„Ja, das kommt mir auch so vor. Ich beneide dich darum, Cal. Ich wünschte, ich hätte noch genügend Hoffnung für ein so kühnes Verlangen.“ Sorrel stand auf. „Du bleibst am besten noch, … na, sagen wir 5100 Khayyam-Stunden hier, dann gehst du wieder zur Höhle. Glaubst du, du schaffst es?“

„Klar.“ Cal lächelte und kreuzte die Arme vor der Brust, genau wie es Wandra häufig tat. „Aber sicher, Herr Doktor.“

 

Der neue Nachtperioden Blutsbandschaftler war anders als seine Vorgänger. Soviel hatte Sorrel bereits festgestellt, und er war dem Wesen noch gar nicht begegnet. Aber es waren bereits drei Rosaner in die Amtsstube gegangen, während man Sorrel weiter warten ließ. Das war eine kurze, aber bedeutungsvolle Wartezeit. Bisher war Sorrel immer sofort empfangen worden, ganz gleich, wie wichtig die Anliegen der anderen gewesen sein mochten und wie knapp ihre Zeit bemessen war. Diese Bevorzugung hatte Sorrel immer mit Unbehagen registriert, aber jetzt, wo sie fehlte, verspürte er ein noch größeres Unbehagen.

Nachdem der dritte Rosaner gegangen war, begrüßte ihn Kik Nee Mord Deth. „Mensch, was wünschen Sie?“ fragte er in entschiedenem Rosanisch.

„Ausrüstung“, erwiderte Sorrel so beherrscht, wie er es vermochte. „Das Blutgedächtnis der UL-Techniker ist nun zuverlässig aufgebaut, und wir beginnen bereits mit der Konstruktion der ersten Prototypen. Wir haben Schwierigkeiten, einige Geräte zu beschaffen.“ Er zog eine Liste hervor. Kik Nee nahm sie ihm aus der Hand, überflog sie und gab sie zurück.

„Teures Gerät“, erklärte er. „Wird anderswo gebraucht.“

„Wir haben Dringlichkeitsstufe Eins A für die UL-Kommunikation“, antwortete Sorrel mit beinahe verzagt klingender Stimme. Seine Unsicherheit erschreckte ihn. Er hätte niemals damit gerechnet, daß er einmal auf die Erfüllung der Verpflichtungen drängen mußte, die die ersten Rosaner eingegangen waren.

„Werden wir vorsätzlich behindert?“

Der Rosaner starrte ihn an. „Es wartet viel Arbeit“, bettelte er fast. „Auch die muß voranschreiten. Sie müssen sich nicht beeilen, Sie haben viel Zeit.“

Damit war das Wesentliche gesagt, das erkannte Sorrel sofort. Sie haben Zeit – dieses erfüllte den Blutsbandschaftler mit Haß. Die Eifersucht hatte die Rosaner eingeholt. Sorrel räusperte sich. „Es tut mir leid, ich habe Sie falsch eingeschätzt.“ Er trat ein paar Schritte vor und lehnte sich gegen eine Stütze. „Aber die Geräte werden dringend benötigt. Ohne sie kommt das Projekt zum Stehen. Ich kann warten, aber die Techniker nicht – ich will ihre Leben nicht verschwenden.“ Sorrel fiel ein alter Sinnspruch aus der Vergangenheit der Rosaner ein.

„Es gibt da ein kleines rosanisches Gedicht – haben Sie einmal etwas von Gesh Lok Tel Hor gelesen?“

Die Lippen des Rosaners verzerrten sich vor Abscheu. „Keine Zeit für alte Geschichten.“

Sorrel errötete und schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht“, murmelte er. „Entschuldigen Sie.“

Kik Nee wandte sich dem nächsten wartenden Rosaner zu, und sofort waren sie in ein rasend schnelles Gespräch vertieft. Peinlich bewegt stellte Sorrel wieder einmal fest, wie sehr sich die Rosaner bremsen mußten, wenn sie sich mit Menschen unterhielten. „Die Geräte?“ polterte er mit lauter, menschlicher Stimme in das Kolibrigezwitscher der Rosaner.

Kik Nee sah ihn an, den Kopf eigentümlich zur Seite geneigt. „Sie sollen sie haben“, sagte er beschwichtigend.

Sorrel verließ den Raum. Er war in tiefes Nachdenken versunken.

 

Balcyrak wandte Sorrel den Rücken zu und schaute hinaus auf das in der Dämmerung versinkende Meer, während der Wind sein Fell peitschte. Sorrel fröstelte, obwohl es nicht kalt war. Es lag eine Stimmung in der Luft, wie sie auf der alten Erde einen herannahenden Sturm ankündigte.

Als Sorrel näher kam, drehte Balcyrak sich um. „Wenn Sie auf Khayyam sind, müssen Sie sich den Sonnenuntergang ansehen, Mensch Everwood. Haben Sie schon davon gehört?“

Sorrel nickte. „Schließlich betrachtet man mich allgemein als einen Experten für jenen Planeten.“

Balcyrak kicherte. „Dann sagen Sie mir doch bitte, Herr Experte, woher der Planet seinen Namen erhalten hat?“

Sorrel legte nachdenklich den Kopf schräg. „Da haben Sie mich erwischt. Ich weiß, daß er von einem Lazariner entdeckt wurde, aber Khayyam klingt nicht wie ein lazarinischer Name.“

„Das ist er auch nicht. Der Leiter der lazariner Expedition, die auf Khayyam landete, war ein Experte für Menschen, wenn Sie so wollen. Omar Khayyam war einer Ihrer Dichter. Der lazarinische Forscher hat den Planeten nach diesem Menschenautor benannt, weil Khayyam häufig über eine Spezies geschrieben hat, die den Bewohnern jenes Planeten ähnlich ist.“ Er hielt inne und schaute wieder auf das Meer hinaus.

 

„Schau, tausend Blüten sind am Tag erwacht,

Und tausend sind zerstreut in dunkler Nacht.

Der erste Sommerhauch führt uns die Rose zu,

Zugleich schickt andrer zarte Blätter er zur Ruh.“

 

Sorrel räusperte sich. „Es scheint wirklich sehr gut zu passen.“

Balcyrak sah ihm in die Augen. „Ja. Doch ich muß auch eine Warnung an Sie richten.“

„Oh?“

„Seien Sie auf der Hut, solange Sie auf Khayyam sind, mein zukünftiger Freund. Wenn Sie eintreffen, wird man Sie verehren, aber das wird nicht anhalten. Es wird sich erweisen, daß Sie den Wesen zu fremd sind, und es wird sich ein Band aus Liebe und Haß bilden. Dies wird ein zyklisches Phänomen sein. Zuerst werden sie Sie lieben, dann werden sie Sie hassen, und dann werden sie Sie wieder lieben.“ Während der Lazariner sprach, öffnete und schloß er seine Faust. „Geradeso, wie die Menschen die Lazariner lieben und hassen“, flüsterte er in den Wind.

Sorrel blinzelte ihn an und trat direkt neben ihn. „Ich verstehe.“ Gemeinsam standen sie nun Schulter an Schulter am Rand einer Klippe. „Warum ist es für Sie so wichtig, daß der UL-Kommunikator mit diesem Tempo fertiggestellt wird? Ich gestehe zu, daß er unermeßlich wertvoll sein wird, aber warum diese Eile? Warum schicken Sie einige Leute quer durch den bekannten Raum, nur damit er schneller fertig wird?“

Jetzt schien es so, als ob Balcyrak unter seinem dichten Pelz fröstelte. „Ich glaube, ich sollte es Ihnen sagen. Es mag Ihnen als zusätzlicher Antrieb dienen.“ Er machte eine Pause. „Es wird einen neuen Krieg zwischen unseren Völkern geben, Mensch Everwood.“

Sorrel nickte. Gegenwärtig wurde die Friedfertigkeit im Verhältnis der Menschen und Lazariner geradezu ekelerregend dick aufgetragen, doch er wußte, daß es eine Tiefenströmung des Hasses darunter gab, eine allmählich wachsende Gruppe von Menschen, die die Lazariner genauso haßten, wie Sorrel selbst es tat. „Wer wird gewinnen?“

„Spielt das eine Rolle? Einer wird verlieren. Ein Volk, Mensch Everwood, wird verlieren, wird alles verlieren. Der nächste Krieg wird ein Krieg der totalen Vernichtung sein. Unsere weisesten Konsuln haben die Vorzeichen sorgfältig analysiert, und sie wissen nicht, wer unterliegen wird, aber alle sind der Meinung, daß ein Volk in diesem Konflikt untergehen wird.“

Sorrel erbleichte. Er hatte nicht damit gerechnet, daß es so weit gehen würde.

„Wir brauchen bessere Verständigungsmöglichkeiten, Mensch Everwood. Sogar die Zeit, die die Sternenschiffe dazu brauchen, um Botschaften zu überbringen, ist noch zu lang für Ihr Volk. Wenn wir uns besser verständigen und so auch schneller verstehen können, ist der Krieg vielleicht noch aufzuhalten.“

Sorrel verspürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Er suchte Zuflucht im Zynismus. „Kommunikation verhindert also den Krieg, hm? Einfach so!“ Er schnippte mit den Fingern. Zu oft schon hatte er diese Sätze gehört, bisher allerdings nur von menschlichen Träumern, die daran glaubten, daß Wörter einen Gehalt hätten. Von einem ruhigen, realistischen Lazariner hätte er das nicht erwartet.

„Ich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie daran zweifeln. Mir ist bekannt, daß Gespräche Ihrer Spezies nur selten geholfen haben, einen Krieg abzuwenden. Aber diesmal gibt es einen beträchtlichen Unterschied.“ Zum ersten Mal wichen die Augen des Lazariners Sorrels Blicken aus. „Die Vorzeichen deuten in verschiedene Richtungen – es ist schwer zu erklären.“ Balcyraks Augen hatten ihre Standhaftigkeit zurückgewonnen. „Aber ich sage Ihnen die Wahrheit: In der Verständigung liegt die Antwort.“ Auch sein Frohsinn kehrte zurück. „Dies ist auch etwas, das Sie besser verstehen werden, wenn Sie einmal mit den Leuten auf Khayyam zusammengearbeitet haben.“

Sorrel verzog nachdenklich den Mund, Balcyraks Aufrichtigkeit hatte ihn beeindruckt. „Ich muß zugeben, daß mir die Dringlichkeit des Projekts nun bedeutender erscheint als noch vor ein paar Minuten.“

„Das habe ich erwartet, ja.“ Eine besonders kräftige Windbö stieß sie von der Klippe zurück, während eben die Sonne im Meer versank. Gemeinsam traten sie den Rückweg an. „Und vergessen Sie nicht, sich einen Sonnenaufgang anzusehen, wenn Sie dort sind, Mensch Everwood. Das ist wirklich etwas Besonderes.“

 

Sorrel quetschte sich durch den engen Eingang in den eben fertiggestellten Höhlenraum. „Uff!“ stieß er hervor, „das ist vielleicht eine schmale Tür! Zuerst konnte ich sie überhaupt nicht finden. Ihr werdet sie noch verbreitern müssen.“

Der Tunnelbauleiter blickte in erschreckt an. „Natürlich, Mensch Everwood. Der Eingang wird immer als letztes erweitert, damit wir vorher mit dem Lärm und Staub unserer Arbeit die anderen Höhlen so wenig wie möglich belästigen.“

„Ach, ich verstehe.“ Mit einiger Zufriedenheit schritt Sorrel die Räumlichkeiten des UL-Projektes ab. „Mir gefällt das alles hier sehr gut – allerdings weiß ich nicht, was Sie für die Hyperraum-Experimente sonst noch brauchen werden. Ich denke, Cal und Wandra sollten sich das hier einmal ansehen.“

Sie mühten sich wieder durch die schmale Tür, und Sorrel betrachtete die Öffnung nachdenklich. „Moment mal. Wie wär’s, wenn Sie den Eingang einstweilen nicht vergrößern?“

Der Bauleiter warf ihm erneut einen erschreckten Blick zu. „Und warum sollen wir das nicht tun?“

„Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, könnten enge Türen vorteilhaft sein.“ Er nickte. „Wir können über diese Laboratorien doch frei verfügen, nicht wahr?“

„Natürlich.“

In Sorrels Augen glitzerte es böse. „Cal und Wandra werden mich wahrscheinlich deswegen erschießen – ihr Vorlesungsraum ist total überfüllt, und sie könnten den zusätzlichen Platz brauchen, aber ich glaube, sie werden sich vorläufig damit begnügen müssen. Dieser Raum hier bleibt leer.“

Die Blütenblätter des Bauleiters flatterten empört.

„Der Eingang wird nicht vergrößert“, sagte Sorrel, um seinen Befehl noch einmal deutlich zu formulieren. „Das wird erst später geschehen. Wenn es soweit ist, werde ich eines Ihrer Blutkinder damit beauftragen.“

Der Bauleiter sah aus, als würde er vor Enttäuschung zusammenbrechen. Dennoch brachte er noch eine gestammelte Antwort zustande: „Ja, Mensch Everwood.“

Sorrel berührte ihn am Unterarm. „Ich danke Ihnen sehr. Sie haben sehr gute Arbeit geleistet. Wir werden uns immer an Sie erinnern.“

Nun leuchteten die Augen des Bauleiters wieder.

 

Alle Rosaner sind sehr helle, dachte Wandra, aber dieser Sor Lai Don Shee ist auch für einen Rosaner etwas Besonderes.

Tatsächlich war es so, daß er und seine Nachkommen alle Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem UL-Projekt in ein Problem von alltäglichen Dimensionen verwandeln konnten. Sor Lais Blutfesterinnerungen waren unerhört genau. Ihm stand das gesamte Wissen zur Verfügung, das seine vier UL-Techniker-Eltern angesammelt hatten.

Das war schon außergewöhnlich genug, aber Sor Lai steigerte sich noch darüber hinaus. Er lernte neue Dinge schneller als alle anderen, stellte die verständigsten Fragen und sah alle Probleme aus einem neuen Blickwinkel. In wenigen Wochen hätte er alle Konstruktionsschwierigkeiten, die noch verblieben waren, überwunden, dessen war sich Wandra sicher.

Aber ihm waren keine Wochen vergönnt, und als die zweite Unterrichtsstunde vorüber war, wollte Wandra sich nicht von ihm trennen. Sie wollte ihn weiter lehren, wollte seinen Verstand mit ihrem Wissen füllen, so umfangreich und so schnell sie konnte. Also hastete sie vom Podium. Sie fürchtete, daß sie ihn nicht mehr erwischen würde, daß er vorher nach Rosanerart aus dem Raum gestürzt wäre.

Aber er eilte nicht mit seinen Kommilitonen davon, im Gegenteil, er lief Wandra entgegen, und nur seine schnellen Rosanerreflexe verhinderten, daß sie gegeneinanderprallten.

Wandra lachte glucksend. „Zwei Wesen und ein Gedanke“, sagte sie. „Hättest du Lust, unsere Diskussion fortzusetzen?“

Sor Lai lächelte, wie nur ein Rosaner lächeln konnte. Seine Wangen spannten sich fröhlich, und die Blütenblätter zitterten, als hätte sie eine Morgenbrise erfaßt. „Sehr gern, Mensch Furenz. Ich würde es über alle Maßen schätzen.“

Sie erwiderte sein Lächeln. „Ich heiße Wandra, Sor Lai. Ich hasse steife Förmlichkeiten.“

Sie mußte sich eingestehen, daß sie Sor Lai nicht nur wegen seiner überragenden Fähigkeiten mochte. Ihr gefiel der naive Optimismus, den er am Morgen an den Tag gelegt hatte, und sie hatte mit Freuden verfolgt, wie sich dieser Optimismus im Laufe der Arbeit in reifes Verständnis gewandelt hatte. Er vertraute darauf, daß trotz aller Behinderungen der Fortschritt im Universum auf lange nicht aufzuhalten war.

Sie traten in den Tunnel.

„Komm mit mir“, plauderte Wandra drauflos. „Wir gehen in mein …“ Sie biß sich auf die Lippen. Im Rosanischen gab es kein Wort für Haus oder Wohnung. „Wir gehen zu meinem Arbeitsplatz.“

Sor Lai schaute sie verdutzt an. „Ist denn nicht der Vorlesungsraum dein Arbeitsplatz?“

Sie winkte ab. „Ich habe viele Arbeitsplätze. Dies ist ein besonderer.“

„Aha, ich glaube, ich verstehe dich.“

Sie ergriff ihn beim Arm. „Dahinten steht ein freier E-Wagen. Wir wollen mal sehen, wer zuerst da ist.“

Sor Lai gewann das Rennen, obwohl er unterwegs ohne Pause lachte.

 

Zu Wandras Überraschung überlebten sie Sor Lais Fahrweise. Schließlich hielten sie bei dem kleinen Springbrunnen am Eingang von Wandras Höhle. „Wunderschön!“ rief Sor Lai aus. „Wie viele Leute haben daran gearbeitet? Wozu dient dieses Gerät?“

Wandra schüttelte den Kopf. „Ich habe es allein gebaut. Ich bin Hobby-Bildhauerin. Sehr gut gelungen ist es nicht, fürchte ich. Und es kann nichts anderes als Wasser in die Luft spritzen. Es kommt oben aus den Fingerspitzen der Fee und sammelt sich wieder bei den grünen Felsen unter ihren Füßen.“ Sie schaltete die Pumpe ein. Ein dünner Strahl schoß hoch, verteilte sich und rieselte wieder hinab. Sor Lai beugte sich vor, um erstaunt den polierten Stein zu betasten. „Dies ist die Arbeit vieler Lebenszeiten. Herrlich!“ Er erhob sich wieder. „Was vermögen die Menschen noch in ihrer Unsterblichkeit?“

Erschreckt geriet Wandra ins Stottern.

„Antworte mir nicht, entschuldige.“ Er trat auf sie zu und ergriff sie am Arm. „Ich möchte jetzt unbedingt deinen Arbeitsplatz sehen.“ Gemeinsam betraten sie Wandras Höhle.

Sor Lai deutete auf die Wände. „Diese Bilder, was stellen sie dar?“ fragte er.

Zum ersten Mal seit Wochen schaute Wandra wieder auf die Bilder aus Karly. „Das sind Bilder von meiner …“ – wieder fand sie kein Wort für Heimat – „… Geburtswelt. Der Schiffscomputer hat sie eigens für mich angefertigt. Durch meine Infrarotbrille sehen sie genauso aus wie die Originallandschaften bei normaler Beleuchtung für uns Menschen meine ich. Also siehst du jetzt meinen Planeten praktisch so, wie ich ihn sehe.“

„Dies sind alles Bilder von der Oberfläche?“

Wandra nickte. „Das Klima in meiner Welt ist gemäßigter als auf Khayyam.“ Sie schaute auf die eisbedeckten Berggipfel, die sich über die Hauptstadt erhoben, und kicherte. „Aber auch nicht übertrieben gemäßigt, würde ich sagen.“

Sor Lai betrachtete ein anderes Bild, auf dem ein Sonnenuntergang an einem rosigen Sandstrand zu sehen war. „Das dort sind doch Menschen, oder nicht? Sie sind viel zu klein!“

Wandra folgte der Zeigerichtung seines Fingers mit ihrem Blick.

„Das sind fast Menschen, Sor Lai – es sind meine Kinder. Bei den Menschen verläuft die Metamorphose sehr langsam. Sie werden nach und nach immer menschenähnlicher.“

„Deine Kinder?“ Er trat ganz dicht an das Bild. „Sie lachen so nett. Bist du ihnen einmal begegnet? Du könntest mit ihnen zusammentreffen, nicht wahr?“

Wandra lachte. „Ja, Sor Lai, ich habe lange mit ihnen zusammengelebt.“

Sor Lai schaute jetzt wieder Wandra an. „Bewahren sie viel von deinen Erinnerungen?“

Wandra dachte einen Augenblick über die Frage nach. „Ich denke, das könnte man sagen, für menschliche Verhältnisse jedenfalls. Sie schlagen viel mehr nach mir als nach ihrem Vater, soviel steht fest. Eines Tages werden sie bedeutende Mathematiker sein und nicht Hausmänner wie mein Mann.“ Sie schüttelte den Kopf.

Sor Lai ließ seine Blicke langsam durch den Raum schweifen. „Ach was, eine Liebescouch, hier direkt im Arbeitsraum?“

Wandra errötete, doch sie begriff nicht, warum. Sie hatte sich nie für einen Unschuldsengel gehalten. „Ich fürchte, das schätzt du falsch ein, mein Freund. Zu dem Zweck habe ich sie schon sehr lange nicht mehr benutzt. Ich brauche sie zum … äh … Vielleicht hast du schon bemerkt, daß die Menschen schneller müde werden als die Rosaner, hm? Ich erhole mich hier. Fast ein Drittel unserer Lebenszeit sind wir bewußtlos – dann erholen wir uns.“

„Und dennoch schafft ihr so viele Dinge!“ Sor Lais Bewunderung hatte sich noch verstärkt.

Wandras Gesicht war brennend heiß. „Wir tun, was wir können“, murmelte sie, dann ging sie in ihre Küche. „Jetzt muß ich etwas essen, sonst werde ich vor Hunger sterben.“

Sor Lais Bewunderung steigerte sich zur Faszination. „Essen! Wie eine Larve?!“ schluckte er.

„Aber sicher“, antwortete sie. „Vor unserer Erwachsenenzeit sammeln wir nicht genügend Fett, um den Rest unseres Lebens davon zu zehren – obwohl ich manchmal glaube, daß mein Körper eben dies versucht.“

Sor Lai hatte es die Sprache verschlagen. Wandra kochte sich etwas, deckte den Tisch, setzte sich und begann zu essen. Sie unterhielten sich eine Zeitlang über Mathematik, bis Wandra bemerkte, daß Sor Lais Gesicht schreckerfüllt war. Ihr wurde unbehaglich zumute. „Was ist mit dir? Soll ich aufhören zu essen?“

„Nein, nein, auf keinen Fall!“ rief Sor Lai aus. Es schien Wandra, daß er fröstelte. „Es irritiert mich nur … irgendwie.“

Sie sah ihn an, während sie weiteraß.

„Es erinnert mich an mein Blutmahl“, sagte er, und seine Blütenblätter zuckten ekstatisch. „Das war ein unvorstellbarer Genuß.“

„Das glaube ich“, erwiderte Wandra. „Doch wenn wir essen, haben wir keine solchen Gefühle.“ Sie hatte schon von Rosanern gehört, die sich genau an den Rausch des Blutfestes erinnerten. Einige versuchten sogar, das Hirnblut eines anderen zu stehlen, um es zu verzehren, und das, obwohl der Verdauungstrakt des erwachsenen Rosaners keinen Ausgang hat. Die Ekstase beim Blutfest mußte wirklich gewaltig sein – denn wer versuchte, das Hirnblut eines anderen Rosaners zu stehlen, konnte mit Hirnblutverbrennung bestraft werden.

Sie unterhielten sich weiter miteinander. Endlich hatte Wandra ihre Mahlzeit beendet, und die beiden setzten sich auf ihr Bett, wo sie weiter miteinander sprachen. Plötzlich klatschte Sor Lai in die Hände und sprang auf. „Verstehst du, eine Ton- und Bildverbindung durch den Hyperraum ist durchaus herzustellen, doch die Eigenschaften der vierten Raumdimension legen es nahe, daß man dreidimensionale Bilder erzeugt. Hast du hier einen Computeranschluß?“

Auch Wandra war aufgesprungen. „Sie legen es nahe, hm? Na, mir jedenfalls nicht. Aber wenn du es sagst … Hier bitte …“ Sie ging zu ihrem Tisch hinüber und klappte das Steuerpult heraus. Der Wandbildschirm vor ihr flackerte auf, und mit ein paar schnellen Handbewegungen hatte sie sich in den rosanischen Zentralcomputer eingeschaltet.

Sor Lai eilte durch das Zimmer und trat neben sie. Seine Finger flogen über die Schalter, und während die Ideen und Formeln in seinem Geist Gestalt annahmen, redete er unablässig im Schnellfeuer-Rosanisch in das Mikrofongitter. Wandra konnte ihm nur schweigend zusehen. „Na also!“ rief er schließlich aus. „Es funktioniert sogar noch besser, als ich gehofft hatte. Wenn die UL-Komm.-Anlage fertig ist, dann werdet ihr nicht einmal ein Schiff brauchen, um die Konstruktionspläne auf einen anderen Planeten zu schicken. Mit einem kombinierten Sender-Empfänger können wir 3D-Bilder aussenden und empfangen, ohne daß wir am anderen Ende entsprechende Anlagen benötigen. Es sei denn, jemand baut an unserem Zielort einen Schutzschirm oder etwas Ähnliches auf …“

Wandra starrte ihn unentwegt an. „Das ist unglaublich!“

Er grinste breit. „Ich glaube, das könnte man sagen.“

Sie lachte. „Das ist noch unglaublicher als eine Menschenfrau, die immer noch ißt, obwohl sie bereits erwachsen ist.“

Er wurde plötzlich ernst. „Nein, so unglaublich ist es nicht.“

Sie umarmten einander. Die künstlichen Kühlplättchen streiften über echte, lebendige Blütenblätter.

Zum ersten Mal bemerkte Wandra, daß Sor Lai viel Gewicht verloren hatte, seit sie zu ihrer Höhle aufgebrochen waren. Sie sah auf die Uhr: Sechs Stunden waren verstrichen, das entsprach fast zehn rosanischen Jahren.

Wandra riß sich los. „Sor Lai!“ Sie schrie den Namen fast.

„Wir müssen zurück!“

„Ja, das müssen wir wohl“, stimmte er zu.

Sie jagten so schnell wie auf dem Hinweg durch die Tunnelgänge, doch Wandra erschien es zu langsam. Sie hatte einen riesigen Teil von Sor Lais Leben damit verbraucht, daß sie ihn mit nach Hause genommen hatte.

Wandra versuchte, ihre Schuldgefühle mit Logik zu bekämpfen. Schließlich war die Zeit doch fruchtbar gewesen, oder etwa nicht? Es war die Sache doch wert gewesen? Dennoch litt sie sehr.

Sie kamen in der Vorlesungshöhle an, wo Cal soeben eine neue Lektion begann. Sor Lai schloß sich seinen Kommilitonen an, doch Wandra konnte die Trennung nicht ertragen. Geistesabwesend lauschte sie Cals Worten, betrachtete die jetzt altersmüden Nachtspinner, bemerkte zum ersten Mal, wie schnell sie alterten.

Die Vorlesung war zu Ende. Es war Pause. In der Pause wurde an den beiden Prototypen gearbeitet, die dicht vor der Vollendung standen. Wandra blieb immer in der Nähe von Sor Lais Team. Dann war die Arbeit beendet, und Wandra war mit ihren Vorlesungen an der Reihe. Sie dauerten bis zum Morgengrauen.

Wandra wehrte sich gegen die Tränen, die ihr in die Augen stiegen. Überall an Sor Lais Körper waren jetzt verschrumpelte, grün geränderte Blütenblätter zu sehen. Er lächelte ihr traurig zu. „Du solltest jetzt gehen“, flüsterte er. „Ich muß auch fort, um meinen Kindern die Erinnerungen zu bringen.“

„Nein, laß uns keine Minute des Lebens verschwenden“, sagte Wandra mit erstickter Stimme.

Das Lächeln in seinen Augen erlosch. „Ich bin sehr müde“, wisperte er und ließ sich auf den Boden sinken. „Es tut mir leid.“

Wandra kniete sich neben ihn.

Süßlicher Nektarduft erfüllte die Luft, und das fließende Blut vermischte sich mit den Tränen der Frau.

 

Sorrel spähte um die Ecke in Wandras Kammer. „Ist jemand zu Hause?“ fragte er, während er sie auf dem Bett liegen sah.

Sie wandte sich ihm zu, müde und vergrämt. „Hallo.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Es tut mir leid, daß ich nicht in den Vorlesungsraum kommen konnte. Aber ich glaube, die Studenten kommen ohne mich besser zurecht.“

Sorrel trat ganz ins Zimmer und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. „Bist du etwa krank? Hast du endlich eine Bakterie auf diesem Planeten gefunden, die etwas mit deinen Proteinen anfangen kann?“

Sie schüttelte den Kopf.

Er nickte. „Ich nehme an, daß unter den letzten Nachtspinnern ein außergewöhnlicher Student war?“

Sie nickte.

„Ich habe übrigens gehört, daß er dir sehr gut gefallen hat.“

Sie warf sich auf den Bauch. „Mein Gott, ja! Er war freundlich, er war schön, er war …!“

„Er war alles Gute in einer Person, ich weiß. Das scheint bei diesen Rosanern häufig vorzukommen.“ Er zog sie behutsam an der Schulter herum, so daß sie ihn wieder ansah.

„Warum müssen sie so schnell sterben!“ schrie sie ihn an. „Warum können sie nicht so leben wie wir und lachen und lieben und mit ihren Kindern reden und …“ Nun weinte sie.

Sorrel ergriff sie bei den Schultern und zog sie sanft an sich. „Sie können nicht so leben wie wir, weil die Natur ihnen ein anderes Design gegeben hat. Zu der Zeit, als sich ihre Art entwickelt hat, war ihnen der Tod am Morgen sicher. Warum sollte sich die Natur so unzweckmäßig gebärden und jemandem Kraft für ein langes Leben geben, der ohnehin mit Anbruch der Morgendämmerung sterben muß?“

Wandra zog die Knie an die Brust und begann hin und her zu schaukeln. Sorrel streichelte ihr übers Haar. „Erinnerst du dich noch an das Krat, das wir vor einer Weile vor der Vorlesungshalle gesehen haben?“

Sie nickte.

„Gestern habe ich es wieder gesehen.“

Sie blickte auf. „Was, dasselbe Krat?“

Sorrel zuckte die Achseln. „Es hatte dieselbe zackige Narbe auf der Seite.“

Wandras Mund öffnete sich zu der naheliegenden Frage.

„Die Krats haben mehr Glück gehabt als die Rosaner“, kam ihr Sorrel zuvor. „Als sich die Rosaner in die Höhlen zurückzogen, fanden sie einen Platz, wo kein evolutionärer Druck mehr auf ihnen lastete. Als die Krats erschienen, waren die Rosaner bereits da, entschlossen, ihre Höhlen zu verteidigen und die Eindringlinge zu vernichten. So dauerte für die Krats der Evolutionsdruck fort. Nur die Stärksten überlebten. Die Natur erkannte, daß Langlebigkeit für die Krats sinnvoll war, und die Krats haben sich diese Langlebigkeit durch einen Generationen währenden, hohen Blutzoll erkauft.

Den Rosanern hat die Natur jedoch keine Langlebigkeit gewährt, weil dazu keine Notwendigkeit besteht, und die Notwendigkeit ist der einzige Beweggrund für die Natur. Der Natur ist es gleich, ob die Rosaner auf eine glückliche und erfüllte Weise überleben – was zählt ist nur, daß sie überhaupt überleben. Die Rosaner haben sich nie zur Langlebigkeit entwickelt, weil ihre Art auch so erhalten blieb.“ Sorrel wurde durch die Bitterkeit, die sich in seine Stimme mischte, selbst überrascht. „Die Charakteristika, die sie so wundervoll und erhaltenswert machen, sind die gleichen, die sie auf alle Ewigkeit dazu verurteilt haben, ein Leben zu führen, das nach Minuten zählt.“

„Das ist nicht gerecht“, schluchzte Wandra.

„Gerechtigkeit spielt dabei keine Rolle“, fuhr Sorrel fort, und jetzt war die Bitterkeit in seiner Stimme nicht mehr zu überhören. Die Vision vom Sterben seiner Kinder auf einem strahlenverseuchten Planeten brannte auf seiner Netzhaut. „Die Natur kennt keine Gerechtigkeit. Nur die Menschen setzen auf sie. Sie ist ein Konzept, das wir ersonnen haben und das nur dort existiert, wo wir es erschaffen.“

Beide schwiegen eine lange Zeit. Schließlich durchbrach Wandra die Stille: „Gibt es denn gar nichts, was wir tun können? Intravenöse Ernährung zum Beispiel?“

Sorrel schüttelte den Kopf. „Unter gewissen Umständen ist das ein Ausweg, aber die Grundlebenszeit der Rosaner ist bereits in ihre Zellen eingebaut. Der Metabolismus der Zelle endet, ganz gleich, wieviel Nahrung man ihr zuführt. Es ist als ob sie wüßten, daß sie sterben müssen.“

„Wie wäre es, wenn man ihren Metabolismus verlangsamte?“

Sorrel sah ihr in die Augen. „Wenn du deine Lebensweise um ein Zehntel verlängern könntest, dazu aber deine Lebensfreude in jedem Augenblick um die Hälfte reduzieren müßtest – würdest du es tun?“

Wandra schluchzte, und Sorrel streichelte ihr wieder übers Haar. „Ich wünschte, ich könnte dir etwas Tröstlicheres sagen.“ Seine Stimme hatte wieder den alten, weichen Klang angenommen.

Wandras Arme schlangen sich um Sorrels Leib. „Willst du … nicht bei mir bleiben? Bis morgen?“

Sorrel holte mühsam Luft. Plötzlich kam er sich wie ein alter Mann vor, ein Gefühl, das ihn in letzter Zeit häufiger heimsuchte. „Ich würde gern“, sagte er leise, „wenn ich wirklich glauben könnte, daß auch dein Herz danach verlangt.“ Er küßte sie auf die Stirn und löste sich behutsam aus ihrer Umarmung. „In ein paar Stunden werde ich noch einmal nach dir sehen. Wenn du nicht einschlafen kannst, dann ruf mich bitte.“ Er sah sie ein letztes Mal an. „Träum was Schönes!“ flüsterte er, während er ihre Kammer verließ.

 

Kir Bay befingerte sein UL-Medaillon, während er sprach. „Nun, auf jeden Fall bleibt uns noch eine Menge Zeit. Es dauert noch einige Stunden bis zur Wahl der Blutsbandschaft. Aber es ist eine Schande, daß der Supremi-Kandidat gewinnen wird.“

Sorrel starrte ihn erschreckt an. „Was?!“ Es waren bereits mehrere Tage vergangen, seit sich Sorrel zum letzten Mal die rosanischen Nachrichten angehört hatte. Jetzt verwünschte er sich selbst, daß er sich nicht auf dem laufenden gehalten hatte. Vor weniger als einer Woche waren die Supremi nur eine religiöse Splittergruppe unter vielen gewesen. In den Nachrichtensendungen einer ganzen Periode wurden sie vielleicht mit einem halben Satz erwähnt.

„Ist es denn so wichtig?“ Der Techniker war verwirrt. „Das heißt doch nicht, daß das Projekt gestoppt wird.“

Sorrel blickte verzweifelt zur Decke empor. „Politiker sind leider noch verrückter, als sie es zu sein scheinen, Kir Bay. Wenn die Supremi die Blutsbandschaft übernehmen, dann werden sie nicht nur das Projekt vernichten, sondern auch Sie. Sie werden nicht nur für Ihren vorzeitigen Tod sorgen, sie werden auch Ihr Hirnblut verbrennen.“

Nun war es Kir Bay, der erschreckt schluckte. „Ist das Ihr Ernst?“

„Ja, haben Sie den Supremi denn noch nie richtig zugehört? Sie hassen die Menschen und alles, was mit ihnen zusammenhängt. Als technischer Leiter des Projektes sind Sie in ihren Augen ein Volksfeind.“

Kir Bays Blütenblätter legten sich straff an den Leib. „Ich kann es einfach nicht glauben.“

„Dann kommen Sie mit!“ Sorrel befragte Daisy, den Schiffscomputer, und ließ sich einen Ort nennen, wo man einen prominenten Supremiführer sprechen hören konnte.

Als sie dort ankamen, stießen sie auf eine gewaltige Menge, die gebannt den aufhetzenden Worten des Fanatikers lauschte. Nur wenige Rosaner entdeckten Kir Bay und Sorrel, doch alle, die sie sahen, zogen sich von ihnen zurück, wobei sie verächtlich zischten.

Bald hatte Kir Bay genug gesehen. „Sie hatten recht. Wir sind in großer Gefahr.“

Sorrel zog ihn aus der Supremi-Höhle. „Zum Glück habe ich einige Vorkehrungen für diesen Fall getroffen – allerdings sind sie noch nicht abgeschlossen. Verdammt, ihr seid einfach zu hastig!“ Er seufzte. „Hören Sie zu! Vor einiger Zeit wurden einige Höhlen eigens für das UL-Projekt angelegt. Direkt nachdem sie fertig waren, habe ich die Sache unter Geheimhaltung gestellt, und nun bin ich der einzige, der weiß, wo sie sind.“ Er erklärte Kir Bay, wo er den engen Eingang finden konnte. „Schaffen Sie so viele Leute dorthin wie Sie können, aber tun Sie es in aller Stille.“

„Wie steht es mit Ihnen?“

„Ich habe eine Verabredung mit einem Blutwart. Ich werde mich später wieder mit Ihnen treffen.“ Sorrel drängte ihn zum Wagen, dann rannte er zur anderen Seite in Richtung Blutwacht davon.

Es gab noch einen Blutwart, der an das UL-Projekt glaubte. Die Blutlinie dieses Blutwartes hatte Sorrel von Anfang an behütet und geschützt vor dem Menschenhaß, der sich jetzt explosionsartig in der rosanischen Kultur ausbreitete. Mit dem gegenwärtigen Mitglied dieser Blutlinie hatte Sorrel bereits zu Beginn der Nachtperiode gesprochen. Allerdings hatten sie nicht über die Gefahren geredet, die aus einer Supremi-Herrschaft entstehen konnten. Sorrel hatte die Hoffnung, daß sie es gemeinsam vermochten, eine Taktik auszuarbeiten, mit der sie die Blutlinie, die sie so mühsam aufgebaut hatten, schützen konnten.

Während er lief, lauschte Sorrel Daisys Übersetzung der letzten rosanischen Nachrichtungssendung. Mit wachsender Sorge hörte er, daß sich Kir Bay geirrt hatte: Es blieben ihnen nicht mehr viele Stunden bis zur Machtübernahme der Supremi. Revolutionäre Umwälzungen waren im Gange, und die Wahl zur neuen Blutsbandschaft wurde unprogrammgemäß vorgezogen.

Keuchend lehnte sich Sorrel gegen die Tunnelwand. Er wünschte, er hätte gelernt, wie man einen rosanischen Wagen bediente, obwohl es Wahnsinn war, wenn ein Mensch versuchte, durch die Tunnel zu fahren – für den rosanischen Verkehr waren menschliche Reflexe einfach nicht schnell genug.

Bald mußte er sich eingestehen, daß er es nicht mehr rechtzeitig bis zur Blutwacht schaffen würde, daher unterbrach er Daisys Vortrag in der tragbaren Sprechverbindung. „Daisy, kannst du mir irgendwie einen direkten Kanal zur Blutwacht schalten? Ich muß mit Mai Toam Let Call sprechen!“

Sorrel hörte mit, wie Daisy mehrere Versuche unternahm, sich in das rosanische Kommunikationsnetz einzuschalten. Endlich war er mit der Blutwacht verbunden, und Mai Toam antwortete. „Gott sei Dank sind Sie da!“ rief Sorrel aus. „Ich fürchte, wir werden großen Ärger bekommen.“

„Ja.“ Die Stimme des Rosaners klang sehr ernst. „Das scheint mir auch so.“

„Hören Sie zu!“ murmelte Sorrel. „Ist es möglich … äh, kann man die Kennschilder auf den Hirnblutbehältern vertauschen?“

Mai Toam hüstelte höflich. „Das ist über alle Maßen ungesetzlich, Mensch Everwood.“ Sein Hüsteln verwandelte sich in ein Kichern. „Allerdings wäre es nicht völlig neu.“

„Ich verstehe.“

Daisys Stimme mischte sich plötzlich in ihr Gespräch. „Ich möchte Sie nicht unterbrechen, meine Herren, doch ich habe einige Neuigkeiten erfahren, die ich für äußerst wichtig halte. Die Wahlen sind beendet. Die Supremi haben angeordnet, daß jedermann verhaftet werden soll, der mit dem UL-Projekt zu tun hat.“

Alles geschah so rasend schnell! Sorrel kämpfte gegen die Furcht in seiner Magengrube. „Ruf Kir Bay und warne ihn. Sag ihm, daß ich ihn in den neuen Laboratorien treffen werde!“

Sorrel hastete durch das Tunnelnetz zu den verborgenen Höhlenkammern. Unterwegs gab er ständig Befehle durch sein Sprechgerät. „Mai Toam, schnell! Tauschen Sie die Namensschilder auf den Behältern von Dor Kat, Tey Fin und Dor Lee gegen Schilder von anderen Rosanern aus, gegen Rosaner, von denen man annimmt, daß sie den Supremi loyal gegenüberstehen. Können Sie die Verwechslungen mit Ihren Bluterinnerungen weitergeben?“

„Vermutlich werde ich sie weitergeben, aber es ist sicherer, wenn ich Ihnen zusätzlich eine Liste gebe. Man wird mein Hirnblut vernichten, wenn jemand die Fälschungen im Hauptbuch entdeckt.“

„O mein Gott!“ Sorrel bremste seinen Lauf und dachte fieberhaft über eine Möglichkeit nach, wie man die Nachkömmlinge des Blutwartes retten könnte.

„Seien Sie unbesorgt, Mensch Everwood, ich hoffe, daß ich auch mein Hirnblut austauschen kann. Es ist wichtig, daß Sie sich merken, mit wem ich mich austausche. Prai Kan Tor Loov wird dann mein Name sein.“

„Gut, ich werde es nicht vergessen“, versprach Sorrel und wünschte von Herzen, daß er die Wahrheit gesagt hatte. Bei der ersten Gelegenheit mußte er sich den Namen aufschreiben. „Kir Bay, haben Sie die Ausrüstung verstaut?“

„Ja, alles klar!“

„Großartig! Ich werde in …“ Sorrel war auf eine Plattform eine Ebene weiter unten gesprungen. Er wandte sich nach rechts und stand direkt vor vier jungen Rosanern. Die Supremi haben mich erwischt, war sein erster, panischer Gedanke.

„Mensch Everwood? Kir Bay hat uns geschickt. Wir bringen Sie sofort auf Ihr Schiff!“

„Aber …“

Das Sprechgerät meldete sich wieder. Es war Kir Bay. „Hier ist alles unter Kontrolle. Durch Ihre Weitsicht konnten wir alles gründlich und schnell vorbereiten. Nun müssen Sie auf Ihr Schiff zurückkehren, wo Sie für die nächsten Generationen sicher sein werden.“

„Wo sind Cal und Wandra?“ fragte Sorrel.

„Viel Glück, Mensch Everwood“, antwortete das Sprechgerät ausweichend. „Mögen Sie sterben, wenn die Sonne aufgeht!“

Einer seiner Begleiter gab ihm eine genauere Antwort. „Mensch Minov und Mensch Furenz kehren auf das Schiff zurück. Sie werden sehen.“ Als sie um die nächste Ecke bogen, zuckte der führende Rosaner zurück und schlug Sorrel vor die Brust. „Stellen Sie sich tot!“ zischte er.

Sorrel tat wie ihm geheißen und ließ sich in ihre Arme sinken. Sie trugen ihn um die Biegung und riefen jemandem ein paar schnelle Sätze zu. Weitere Hände packten Sorrel, viele Rufe, und über eine unbestimmbare Entfernung begleiteten ihn viele Rosaner. Unerhört schmerzhaft und langsam wurde ihm von einem Träger der Arm aus dem Schultergelenk gezogen, aber er hatte keine Zeit, sich darüber Sorgen zu machen. Er mußte sich ganz darauf konzentrieren, nicht zu atmen. Damit hatte er nicht viel Erfolg.

Plötzlich gab es ein Gedränge. „Rennen Sie los!“ brüllte ihm jemand ins Ohr, und Sorrel kam auf die Füße und hetzte los. Er folgte seinem rosanischen Führer und wagte nicht, sich umzusehen. Beide setzten ihren Lauf bis zum äußeren Höhlentor fort, hinter dem das Schiff lag. Dort hatten sich fünf weitere Rosaner in einer Felsnische zusammengedrängt, Cal und Wandra waren bei ihnen. Wandra hob einen Finger an die Lippen und bedeutete Sorrel zu schweigen. „Wachen“, flüsterte sie und zeigte nach draußen. Sorrel nickte.

Die sechs Rosaner hatten eine leise, aber rasende Unterredung, die fast eine Minute andauerte, dann verteilten sie sich in vier Richtungen. Von draußen drangen Laute herein, und ein tragbarer Schallpulverisierer – ein Gerät zur Zertrümmerung von Felsgestein – heulte auf. „Laufen Sie zum Schiff!“ drang die Stimme von Sorrels rosanischem Führer durch den Lärm. „Viel Glück!“

Er stürmte vor den drei Menschen über die freie Fläche vor dem Landefeld.

Die vorhandenen Waffen konnten leicht den Panzer einer Rosanerlarve durchdringen, von empfindlichen Menschenleibern ganz zu schweigen, doch zum Glück waren die Wachen beschäftigt. Sorrel hatte keine Gelegenheit, sich anzusehen, wovon sie abgelenkt wurden – seine Schutzbrille versperrte ihm den Blick zur Seite –, doch offensichtlich schlugen sich die UL-Techniker großartig. Nur ein Wächter sah die drei Menschen kommen. Der rosanische Führer sprang ihn an und warf ihn zu Boden. Beim Sprung war ihm jedoch die Spitze des Larvenspießes in die Brust gedrungen, und er wand sich in Krämpfen auf dem Boden. Wandra schrie. Sorrel stieß sie auf die Einstiegsschleuse zu. Ein zweiter Schallzertrümmerer heulte auf, und die Menschen hasteten durch die Luke, die sich hinter ihnen schloß.

Alle drei zitterten und keuchten. „Wir müssen starten“, stieß Cal hervor und wandte sich in Richtung Pilotenkabine.

„Nein“, sagte Sorrel. „Laß es! Sie haben nichts, womit sie unseren Asteroidenschirm durchdringen könnten. Sie würden die Arbeit von Generationen benötigen, wenn sie einen der schweren Tunnelstrahlbohrer von der untersten Ebene heraufschaffen wollten. Außerdem würden wir es früh genug bemerken.“ Sorrel keuchte noch immer. Er hatte das Gefühl, daß er zuviel redete.

„Daisy“, wies er den Computer an, „zeig uns den Höhlenhaupteingang!“

„Jawohl, Sir.“

Cal und Wandra folgten Sorrel in die Ruhekabine. Jeder ließ sich auf seine Lieblingsliege fallen, dann betrachteten sie das Bild des Einganges auf dem Schirm. Mehrere Rosaner lagen in grünen Lachen von geronnenem Blut – die vier, die ihnen bei der Flucht geholfen hatten, waren auch darunter.

„Verflucht!“ murmelte Cal.

Jetzt war ein Zug ernst blickender Rosaner zu sehen, dessen Mitglieder alle die Medaillons der Supremi-Oberen trugen. Sie gossen ätzende Säure über das Hirnblut der Verräter, der Menschenfreunde.

Voller Schrecken ballte Wandra die Fäuste. „Ihr Schweinehunde!“ schrie sie zu dem teilnahmslosen Bildschirm hinauf.

„Bildschirm aus, Daisy!“ befahl Sorrel.

„Ich werde sie töten!“ stieß Cal hervor, und er eilte mit neuer Kraft zum Waffenschrank hinüber.

Sorrel sprang auf und vertrat ihm den Weg. „Du wirst doch nur selbst getötet.“

„Geh mir aus dem Weg!“ brüllte Cal und stieß Sorrel vor die Brust.

„Laß es sein, du Idiot!“ schrie Sorrel verzweifelt, dann schlug er zu. Zweimal traf er Cal in der Magengrube, einmal am Auge.

Überrascht ging Cal zu Boden. Als er wieder auf den Beinen war, hatte Sorrel schon eine Hypnopistole aus dem Medikamentenkoffer gezogen. Cal versuchte eine Finte, doch Sorrel erwischte ihn mit der Hypno. „Weichling“, stammelte Cal, während seine Pupillen sich bereits nach oben kehrten. Sorrel fing ihn auf. „Ich werde diese Verbrecher umlegen, warte nur, bis ich wieder wach bin!“

Aber als Cal wieder erwachte, waren die Verbrecher, ihre Gefolgsleute und die gefangenen Freunde bereits gestorben.

Zwei Tage später hielt Sorrel einen Kriegsrat ab. Sie saßen in der Ruhekabine und gingen die Möglichkeiten durch. „Laß uns ein Schlachtschiff rufen“, war Cals erster, nicht ganz ernstgemeinter Vorschlag.

Sorrel fröstelte. „Toll! Unter Zwang arbeiten die Rosaner sicher ganz hervorragend. Bei den Menschen ist es ja ähnlich.“

Wandra kaute auf den Nägeln. „Besteht denn keine Möglichkeit, Verbindung mit den neuen Führern aufzunehmen?“

Sorrel zuckte die Achseln. „Sie wissen, wie sie uns erreichen können. Die Sprechverbindungen sind in einem ausgezeichneten Zustand. Ich fürchte nur, daß sie kein Interesse daran haben. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, daß sie uns vergessen haben.“

„Was? Sie haben ihre Götter vergessen?“ höhnte Cal.

Daisy gab ein Alarmsignal. „Wir haben Besuch.“

Sorrel blickte auf. „Sind sie bewaffnet?“

„Nein.“

„Dann wollen wir sie uns mal ansehen.“ Der Bildschirm flackerte auf und zeigte eine kleine Gruppe von Rosanern. Die beiden Anführer – sie hielten sich so, daß ihre Rücken ständig dem Höhleneingang zugekehrt waren – trugen stolz die Medaillons der UL-Techniker. „Gib uns eine Sprechverbindung nach draußen, Daisy“, sagte Sorrel, wobei er sich erhob. „Hallo!“ Er winkte den Rosanern zu. „Es freut mich, daß endlich wieder jemand bei uns vorbeischaut.“

Ein Teil der Besucher wandte den Blick ab. Sie murmelten und legten die Hände auf die Schultern. Schließlich formierten sie sich zu einem Halbkreis, ganz so, wie sie es bei den Gebeten der Sechs-Eltern-Religion taten. Nicht einmal die Anführer wagten aufzublicken.

Einer von ihnen ergriff das Wort. „Menschen von der Erde, meine Kinder werden sich für immer an diesen Augenblick erinnern. Verzeihen Sie, daß wir Sie stören.“

„Ach, Unsinn, meine Freunde“, sagte Sorrel strahlend. Dann fragte er Daisy flüsternd: „Bist du sicher, daß sie nicht bewaffnet sind?“

„Ja.“ Daisy hatte das Wort, unsichtbar für die Besucher, nur auf den Innenbildschirm geschrieben.

„Zwei von euch können hereinkommen.“ Sorrel hatte sich wieder an die Besucher gewandt.

„Es ist eine große Ehre für uns, Mensch Everwood.“

Die Einstiegsluke öffnete sich vor ihnen, und Sorrel seufzte. „Es ist hier sehr ungemütlich für sie. Die Burschen frieren sich ja zu Tode. Daisy, schalte bitte die Heizung höher …“ Dann sprach er seine Gefährten an. „Und wir holen am besten die Kühlanzüge wieder heraus.“

Es waren ältere Rosaner, das bemerkte Sorrel gleich, nachdem sie das Schiff betreten hatten. „Welche Zeit ist es dort draußen?“ fragte er.

„Kurz vor Morgendämmerung, Mensch Everwood.“

Sorrel nickte.

„Wie Sie sehen können, ist das Blut der UL-Techniker schwach, aber es lebt noch.“

„Ich hoffe, das wird sich bald ändern, oder?“ fragte Sorrel. „Sie hätten es doch sonst gar nicht riskieren können, hierherzukommen.“

„Ja, das stimmt. Aber während der Nachtperiode gibt es für uns immer noch große Gefahren. Die Tagesspinner sind niemals so fanatisch geworden, obwohl auch sie den Ideen der Supremi folgten. Wir glauben, daß Sie während der Tagesperiode ohne großes Risiko in die Höhle zurückkehren können.“

Cal schlug mit der Hand auf den Tisch. „Phantastisch, dann kann das Projekt ja endlich wieder anlaufen.“

Die Blütenblätter der Rosaner sanken schlaff herab. „So einfach ist es leider nicht. Wenn die Führer der Nachtperiode nicht mindestens neutral eingestellt sind, dann würde alle Arbeit der Tagesperiode regelmäßig sabotiert. Außerdem würden die Tagesführer ohne Zustimmung der Nachtblutsbandschaft nicht ihr Einverständnis geben. Die Führer der Nachtperiode sind zu mächtig, da während der Nachtzeit mehr Rosaner leben als am Tag.“

Sorrel murmelte. „Wir brauchen also die Erlaubnis der Nachtperiode.“

„Ja.“

Sorrel stand auf und stapfte im Zimmer auf und ab. „Sagen Sie mir – würde man mich auf der Stelle erschießen, wenn ich während der Nacht dort auftauchte?“

Die beiden Rosaner unterhielten sich kurz miteinander, dann antwortete einer von ihnen: „Nein, das halten wir nicht für wahrscheinlich. Schließlich ist die Supremi-Religion auch im Sechs-Eltern-Glauben verwurzelt, und daher sind sie Ihnen verpflichtet. Jetzt, da sich die allgemeine Lage beruhigt hat, wären Sie wahrscheinlich sicher. Aber für Mensch Furenz und Mensch Minov können wir das nicht sagen. Sie wären in großer Gefahr.“

„Also gut. Ich werde die Supremi-Führer überzeugen. Wie heißt der oberste Führer?“

„Kip Sur Tel Yan.“

„Bringt mich zu ihm, und wir werden wieder Dringlichkeitsstufe IA bekommen, noch bevor er sein Blut fest hält.“

Die Rosaner starrten ihn mit offenen Mündern an. „Wie?“

Sorrel verzog die Lippen. „Ich werde mich ihm gegenüber wie ein Lazariner verhalten“, sagte er grimmig. Niemand hatte ihn verstanden, und er winkte ab. „Machen Sie sich keine Sorgen. Kip Sur ist Wachs in meinen Händen. Er wird bald einsehen, daß die UL-Kommunikation die schrecklichste Waffe ist, die sich die Supremi erträumen konnten.“ Und Balcyrak wird stolz auf mich sein, dachte er bitter. Er zog sich die Infrarotbrille über und ging mit den Rosanern hinaus.

Der Blutsbandschaftler war alt, sehr alt. Er war in einem Zustand, den Sorrel schon oft mitangesehen hatte. Doch diesmal betrachtete er es als gutes Zeichen. „Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen“, sagte Sorrel zu dem Supremiführer.

Rosanische Gesichtsmuskeln sind nicht dazu in der Lage, einen höhnischen Gesichtsausdruck zu formen, doch Kip Sur gelang eine gute Imitation. „Ein Schwächling von einer unterlegenen Rasse hat mir einen Vorschlag zu machen?“

Sorrel kämpfte seinen Zorn nieder. „Darf ich Sie vielleicht daran erinnern, daß dieser Schwächling Ihnen den Sechs-Eltern-Glauben gebracht hat und Ihnen somit gewaltige Fortschritte ermöglichte?“

Die großen, strahlenden Augen des Rosaners funkelten vor Zorn. Sorrel fuhr ungerührt fort.

„Darf ich Sie daran erinnern, daß Sie bald abtreten werden und der aufgehenden Sonne begegnen, ich aber bleiben werde, um Ihre Pläne zu begünstigen oder zu durchkreuzen?“

Damit hatte er Kip Sur an einer empfindlichen Stelle getroffen, doch Sorrel war in Eile. Er durfte nicht abwarten, bis sich Kip Surs Zorn in brennenden Neid verwandelte. „Doch seien Sie ohne Sorge. Ich biete Ihnen eine Chance, die Unsterblichkeit zu erringen, denn ich kann Ihre Pläne unterstützen und bewahren, wenn wir zu einer Einigung kommen.“

Wut und Empörung verwandelten sich in Neugier. „Wie lautet Ihr Vorschlag?“

„Ich werde Ihnen dabei helfen, die Macht und den Ruhm der Supremi in das ganze Universum auszudehnen.“

„Sie wollen, daß ich die Fortsetzung des UL-Projektes anordne?“

Wieder einmal war Sorrel von der Gedankenschnelle der Rosaner überrascht. „Ich glaube, Sie sind sich nicht klar über die Vorteile, die das UL-Kommunikationsprojekt den Supremi zu bieten hat. Milliarden Planeten gibt es dort draußen und Hunderte von intelligenten Arten, und die UL-Kommunikation wird Ihnen dies alles zugänglich machen. Denken Sie darüber nach! Bisher war Ihr Volk immer auf diesem Planeten gefangen, unfähig zu einem Teil des Universums Kontakt aufzunehmen, wenn dieser Teil nicht von sich aus den ersten Schritt tat.“

Der Blutsbandschaftler war von einer eigenen Vision durchdrungen. „Natürlich! Eine Flotte von Robotschiffen, die wir von hier aus steuern können, ganz gleich, wie weit entfernt sie sein mag! Endlich kann sich unser Schicksal als Eroberer erfüllen!“

Das war nicht genau die Vision, die Sorrel hatte heraufbeschwören wollen, aber auch diese würde ihren Zweck erfüllen. „Es geht weiter. Wenn Sie alle diese Arten unterworfen haben, dann wird Ihnen die Arbeitskraft vieler Wesen zur Verfügung stehen, und Sie können Kolonisationsschiffe bauen lassen, Schiffe, die so groß und leistungsfähig sind, daß sie ganze Generationen von Rosanern – Erwachsene, Larven und Eier – transportieren können. Dann könnten die Supremi Städte auf milderen Planeten gründen, und das Wachstum würde nicht mehr so mühselig und langsam ablaufen. Heute bewohnen Sie nur ein paar Höhlensysteme, doch morgen können Ihnen Hunderte von Welten gehören.“

Die Neugierde des Blutsbandschaftlers verwandelte sich jetzt in Mißtrauen. „Warum sollten Sie uns dabei helfen, Ihr eigenes Volk zu unterwerfen?“

Sorrel runzelte die Stirn. Da ihm keine überzeugende Lüge einfiel, entschloß er sich zögernd, die Wahrheit zu sagen. „Die UL-Kommunikation wird das Leben Ihres Volkes bereichern, Kip Sur, aber ich glaube nicht, daß dies auf die Weise geschehen wird, die Sie erwarten. Ich glaube, der Wunsch zur Eroberung wird erlöschen, und die Menschen werden den gleichen Nutzen wie die Rosaner aus dieser Entwicklung ziehen.“

„Sie bezweifeln, daß wir mit unseren überlegenen Fähigkeiten Sie eines Tages unterwerfen werden? Der Sieg der Stärkeren ist doch unabwendbar!“

Sorrel zuckte die Achseln. „Ihre Zukunftsvisionen stehen hier gegen meine, aber in beiden Visionen ist die UL-Kommunikation ein unverzichtbarer Faktor. Ich kann mich mit den Gefahren in Ihrer Vision abfinden, wenn Sie sich mit meiner Zukunftssicht abfinden können.“

Der alte Blutsbandschaftler lehnte sich gegen seine Stütze. „Sollen die Visionen in einen Wettstreit treten“, sagte er. Dann beugte er sich über den Tisch, um seine Anweisungen zu treffen. „Meine Gratulation, Mensch Everwood – das UL-Projekt bekommt jetzt eine höhere Dringlichkeitsstufe als je zuvor.“

Natürlich konnte es gar keine höhere Dringlichkeitsstufe geben als die, die das Projekt einst genossen hatte, aber Sorrel bedankte sich dennoch beim Blutsbandschaftler. Eine Priorität, die vor Generationen eingeräumt wurde, wurde eben nicht in den Bluterinnerungen bewahrt.

Der Rosaner wandte sich wieder Sorrel zu, und in einem Blick von abgrundtiefer Bosheit entblößte er seine Zähne. „Aber es wird nur ein Wettkampf der Visionen sein, und keiner von uns beiden wird je erfahren, wer gesiegt hat. Wache!“

Adrenalin ergoß sich in Sorrels Kreislauf. Sein Herz wollte zerspringen, als er sein Hinrichtungskommando herannahen sah. Doch trotz seiner Panik arbeitete sein Gehirn fast so schnell wie das eines Rosaners. Er suchte fieberhaft nach einem Ausweg, und plötzlich sah er den Rosaner mit einer Klarheit, wie sie nur Menschen, die am Rand des Todes stehen, gegeben ist.

Noch während Sorrel ihn betrachtete, schien der Blutsbandschaftler zu altern. Sorrel hatte den Alterungsprozeß unzähliger Rosaner miterlebt, er hatte es häufiger beobachtet als irgendein Rosaner, und in seiner verzweifelten Lage erkannte Sorrel auf Sekunden genau, wie lange der Blutsbandschaftler noch zu leben hatte. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Sorrel winkte der Wache mit den Armen. „Wache!“ wiederholte er Kip Surs Ruf mit erhöhter Lautstärke. Er sprang geradezu über den Tisch und umklammerte den Blutsbandschaftler mit einem stählernen Griff. Der überraschte Rosaner wehrte sich, aber er konnte es mit Sorrels Kräften nicht aufnehmen.

Kip Sur brüllte den Wachen seine Befehle zu, aber Sorrel übertönte ihn: „Der Blutsbandschaftler ist vergiftet worden! Holt sofort einen Arzt! Kommen Sie her und helfen Sie mit, ihn auf den Boden zu legen. Er hat Krämpfe, und ich fürchte, er könnte sich selbst verletzen!“ Gerade in diesem Augenblick bäumte sich der Rosaner noch einmal auf, und er fiel gemeinsam mit Sorrel zu Boden.

Der Blutsbandschaftler holte tief Luft. „Haß!“ spuckte er Sorrel ins Gesicht.

Sein Atem war süß von Nektarduft.

Ein Wächter beugte sich unsicher über sie. „Um welches Gift handelt es sich?“ fragte er.

Sorrel richtete sich mühsam auf und schüttelte den Kopf. „Ich habe mich geirrt, halten Sie die Ärzte zurück.“ Hirnblut ergoß sich auf den Boden. „Es war nur … das Alter.“

 

„Sie wollen, daß ich eine Larve mit dem Blut von Prai Kan Tor Loov speise?“ Der Blutwart sah Sorrel mißtrauisch an. „Das ist ein Supremi-Blutwart und kein UL-Techniker. Was wollen Sie denn damit erreichen?“

„Haben wir Dringlichkeitsstufe Eins oder nicht?“ schnappte Sorrel. Er hatte die Operation bereits verzögert, und je länger der Blutwart darüber nachdachte, desto eher würde ihm eine plausible Erklärung einfallen. „Die UL-Techniker-Blutlinien sind alle vernichtet, dafür haben Ihre Vorfahren gesorgt. Jetzt suchen wir nach nahen Verwandtschaftsgraden dieser Linien. Es gibt nur wenige Blutbehälter mit einem hohen Anteil von UL-Vorfahren. Der Computer hat errechnet, daß Prai Kan zu diesen Fällen gehört.“

Das Mißtrauen nahm nicht ab. „Sie haben keine Verfügungsgewalt über das Blut von Blutwarten.“

Sorrel kreuzte die Arme vor der Brust. „Muß ich mich erst mit dem Blutsbandschaftler in Verbindung setzen, damit er Ihnen Beine macht? Meinen Sie, uns wurde die Dringlichkeitsstufe zum Spaß eingeräumt?“

Der Rosaner preßte die Lippen zusammen, aber schließlich unterzeichnete er die Papiere. „Mit der nächsten Generation wird er sich uns anschließen. Mögen Sie bei der aufgehenden Sonne sterben, Geheiligter.“

Am nächsten Tag kehrte Sorrel zur Blutwacht zurück. Er stellte fest, daß ein lächelndes Gesicht die Stelle des verdrießlichen eingenommen hatte. „Meine Kinder werden sich immer an diesen Augenblick erinnern“, begann der neue Blutwart. „Mein Name ist Col Salm Keer Prai, Mensch Everwood.“

„Abkömmling von Mai Toam Let Call?“

Die Augen des Rosaners strahlten vor Vergnügen. „Sind Sie ein Mitglied der herrschenden Supremi-Familie? Wenn ja, dann bin ich es nicht, wenn nein, dann bin ich es.“

Sorrel stimmte in das Lachen des Blutwartes ein. „Wie ist Ihr Blutgedächtnis?“

„Sehr präzise. Ich habe mir die Freiheit genommen, bereits einige Blutmahle speziell für Ihre Zwecke zu arrangieren. Ich bin sicher, Sie werden überrascht sein, wie schnell meine Blutmischungen Techniker mit guten UL-Erinnerungen herbeischaffen werden.“

„Ja, das glaube ich auch. Aber es gibt noch anderes, wichtigeres Blut, von dem Sie nichts wissen.“ Sorrel berichtete ihm von den geheimen UL-Projekt-Höhlen. „Das Hirnblut aller Techniker, die in den Höhlen gestorben sind, sollte noch dort sein. Wir werden eine wahre Wiedergeburt erleben, wenn es Ihnen irgendwie gelingt, dies Blut in das System einzugliedern.“

Col Salm dachte einen Augenblick lang nach. „Schwierig, aber äußerst wichtig. Es soll geschehen.“ Er starrte Sorrel mit dem bewundernden Blick eines Kindes an, der diesem nur zu gut vertraut war. „Sie haben ein Wunder vollbracht. Wie hätten Sie sonst so viele von meinem Volk erretten können?“

„Hmmm …“ Sorrel war immer noch unzufrieden mit sich, weil er so schlechte Arbeit geleistet hatte, aber andererseits war es natürlich wahr, daß kein Rosaner das gleiche zu tun vermocht hätte. „Ja, die Techniker sind gerettet worden. Ich wünschte nur, ich wüßte, was man mit den Supremi anstellen soll, die nicht gerettet werden sollen.“

Dol Salms Blütenblätter flatterten zustimmend. „Es ist sehr traurig, daß es keine Politiker oder Theologen wie Prim Sol Mem Brite mehr gibt.“

Sorrel schaute zur Seite. „Ja – oder zumindest wie Or Sae Hi Tor.“ Ihm kam ein plötzlicher Gedanke. „Dabei fällt mir etwas ein, das mir schon seit langer Zeit durch den Kopf geht. Was ist eigentlich mit dem Hirnblut von Prim Sol Mem Brite geschehen? Ich hatte gedacht, daß sich die Blutlinien aller Politiker bis zu den ersten Anhängern des Sechs-Eltern-Glaubens zurückverfolgen lassen.“

„Wissen Sie denn nichts vom Schicksal der Väter unseres Glaubens?“ Eine solche Unwissenheit wollte dem Rosaner schier die Sprache verschlagen. Sorrel wurde vor Verlegenheit puterrot. „Es bereitet mir Schmerzen, die Erinnerungen an jene Zeit in mir zu tragen. Damals herrschte ein gewaltiges Chaos. Alle Namensschilder in der Blutwacht wurden vernichtet oder vertauscht. Teils geschah dies durch die Anhänger des neuen Glaubens und teils durch Verräter, die die alte Vier-Eltern-Religion verteidigen wollten. In diesem Durcheinander ist das Hirnblut des Glaubensspenders wie das vieler anderer für immer verschollen.“

„Kann man denn seine Linie nach diesem Ereignis nicht wieder aufnehmen? Wer ihn zum Blut- und Hirnvater hatte, der muß sich doch daran erinnern, zumindest über einige Generationen hinweg.“

„Oh ja, viele Leute erklärten ihn zu ihrem Ahnherrn. Es waren viel mehr, als von seinem Blut hätten speisen können.“ Seine Blütenblätter sträubten sich verzweifelt. „Man sagt, unsere neuen Computer könnten seine Linie in die Vergangenheit und wieder in die Gegenwart zurückverfolgen, doch das wäre die Arbeit vieler Generationen. In der Vergangenheit wurden schon mehrere Versuche unternommen, doch sie wurden bereits eingestellt, bevor man erkennen konnte, ob sie Aussicht auf Erfolg hatten oder nicht.“ Die Blütenblätter zuckten traurig. „Und selbst wenn man es feststellte – was hätte man schon davon. Seine Erinnerungen sind so lange vergangen, daß man sie niemals wieder auffinden kann und auch die besten Erinnerungen bringen ihn nicht zurück.“

„Das ist also unmöglich, hm?“ Sorrel klatschte vor Freude in die Hände. „Mein Freund, ich glaube, du hast allen unseren Schwierigkeiten soeben ein Ende bereitet. Vielen Dank!“ Er konnte sicher sein, daß er einen sehr nachdenklichen Blutwart zurückließ.

 

Sorrel pfiff ein Liedchen, als er in Wandras Kabine auf dem Schiff polterte. „Für die nächsten Tage habe ich alle deine Vorlesungen gestrichen“, verkündete er.

„Was?“ Wandra fuhr herum und starrte ihn an. „Ich wußte nicht einmal, daß ich wieder Vorlesungen halten sollte. Für wen denn überhaupt?“

Sorrel erzählte ihr in wenigen Sätzen von den Technikern, die bald wieder zum Leben erweckt würden. „Aber das ist noch nicht die beste Neuigkeit, und das ist auch nicht der Grund, warum du noch nicht mit den Vorlesungen beginnen sollst.“

„Was könnte denn noch besser sein?“

Sorrel zog seinen Fettstift aus der Tasche und kritzelte etwas auf die Wand.

„He! Laß das sein!“ Wandra versuchte, ihn wegzuziehen, aber er lachte und beendete sein Werk. PRIM SOLL MEM BRITE KEHRT ZURÜCK! stand dort.

„Ich habe diesen Satz schon an ein paar Stellen auf die Höhlenwand geschrieben. So können sich die Eingeborenen allmählich an den Gedanken gewöhnen.“

„Hast du jetzt völlig den Verstand verloren? Was tust du da eigentlich?“

„Ich bringe den Glauben nach Khayyam zurück. Und du und ich, meine Dame, wir werden dafür sorgen, daß der Glaubensstifter selbst das Werk vollendet.“ Sorrel erzählte ihr von dem großen Politiker und Theologen, der seinerzeit Sorrels Dissertation zum ersten Mal in den Sechs-Eltern-Glauben umgesetzt hatte. „Also ist es deine Aufgabe, mein Schatz, dich hinter den Computer zu klemmen und seine Nachkömmlinge ausfindig zu machen.“

Sie schüttelte benommen den Kopf. „Würdest du dich vielleicht ein wenig beruhigen? Ich kann deinem Tempo einfach nicht folgen. Was haben wir denn davon, wenn wir seine Nachkommen finden? Sie erinnern sich doch sowieso an nichts mehr, was mit ihm zusammenhängt, oder? Und ob sie ihm gleichen, ist eine ganz andere Frage.“

Sorrel rieb sich die Hände. „Das ist nur zu wahr, meine Dame. Auch die besten Gedächtnisexperten können keine Erinnerungen zurückbringen, die mehr als ein paar Generationen alt sind.“ Er deutete auf seine Brust. „Aber dies hier ist kein rosanischer Gedächtnisexperte.“ Seine Stimme klang plötzlich sehr entschlossen. „Nein, ich bin kein Rosaner, ich bin fast unsterblich. Und dies eine Mal muß das ‚fast’ eben genügen.“

Es dauerte mehrere Tage, bis eine Blutlinie gefunden wurde, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bis zu dem Glaubensstifter zurückführte, und das war nur der Anfang. „Wir glauben also, daß Sie sein Nachkomme sind“, erklärte Sorrel dem Rosaner, den Schicksal und Technologie ausgewählt hatten. „Wir wollen Sie hypnotisieren und dann eine komplette Gedächtnisanalyse anstellen, um seine Erinnerungen wiederzuerwecken.“

Der Rosaner schwoll förmlich an vor Stolz. „Gern würde ich seine Erinnerungen besitzen“, sagte er versonnen. „Können Sie das wirklich tun? Ich wußte gar nicht, daß ich mich so weit zurückbesinnen kann.“

Sorrel schnitt eine Grimasse. „Nun, da sprechen Sie ein Problem an. Sehen Sie, wir können es schon, aber Sie selbst werden keine Erinnerung daran haben. Wenn Sie der Gedächtnishypnose zustimmen, dann werden Sie den Rest Ihres Lebens hier in Trance verbringen. Das gleiche gilt für Ihre Kinder und deren Kinder, aber in einigen Generationen werden wir wissen, ob sich die Computer nicht geirrt haben und ob der Glaubensstifter tatsächlich der Gründer Ihrer Familie war.“

Der träumerische Ausdruck war aus dem Gesicht des Rosaners verschwunden. „Es muß sehr wichtig sein.“

„Wichtiger, als ich sagen kann.“

Der Rosaner seufzte. „Was kann es Edleres geben, als sein Leben dafür zu opfern, daß der Schreiber des Glaubens mit seinem ersten Schüler wieder vereint wird, der Vater mit dem Sohn. Wir wollen beginnen.“

 

Also begannen Sie. Schicht für Schicht von rosanischen Persönlichkeiten wurde von Sorrels geduldigen, aber unerbittlichen Fragen abgetragen. Doch mit jeder Schicht stieß er auf zwei Bluteltern, zwei Vorfahren und zwei weiteren möglichen Wegen zu Prim Sol. Bald konnte Sorrel nicht mehr alle Eltern untersuchen. Er und Wandra mußten sich auf versteckte Hinweise der rosanischen Computer und der rosanischen Gehirne verlassen. Mit diesen Hinweisen kämpften sie sich durch, sie rieten, wägten ab und schlugen auf der Suche neue Pfade ein.

Und die hilfreichen Kinder des Rosaners kamen zu ihnen, sie blieben, wurden alt und starben. Obwohl die Rosaner freiwillig kamen und nur selten einer unter ihnen war, der sein Schicksal beklagte, wuchs mit jedem Kind und Kindeskind die Last von Sorrels Schuld. Jeden Tag schimpfte sich Sorrel einen Narren. Hätte er den Preis für diese Suche wirklich gekannt, bevor sie begann, dann hätte er niemals damit begonnen, das sagte er immer wieder. Wandra stampfte dann mit dem Fuß auf und sagte ihm, daß er sich nicht so quälen solle, und sie tröstete ihn und versuchte ihn davon zu überzeugen, daß es nun zu spät für eine Umkehr sei, daß sie sonst die Leben der Rosaner verschwendet haben würden, die sich freiwillig gemeldet hatten.

Und schließlich erreichten sie die Zeit der Erkenntnis, und ein sterbender Rosaner öffnete die Augen und sagte voller Überraschung zu ihnen: „Ich erinnere mich.“

Sorrel ging vor der Larvenstation auf und ab.

„Du siehst aus wie ein erwartungsvoller Vater“, neckte ihn Wandra.

„In einem gewissen Sinne bin ich tatsächlich ein Vater“, erwiderte er. „In diesem Sinne ist er meine Schöpfung, einmal, weil er sich dank meiner Arbeit zu seiner Stellung erheben konnte, und zum anderen, weil sich dieser Rosaner dank meiner Bemühungen an jene alte Zeit erinnert.“ Er blieb stehen. „Vielleicht könnten wir gemeinsam soviel Gutes tun“, murmelte er, „daß wir das Volk für alles Leid entschädigen können, das wir – jeder für sich – verschuldet haben.“

Wandra seufzte. „Er sollte auf jeden Fall dazu fähig sein, etwas Besonderes zu leisten. Mit dem Blut von Or Sae Hi Tor, Dor Laff Toa Linn, Prim Sol Mem Brite und Sor Lai Don Shee in seinem Hirn vereint müßte er eigentlich ein Medaillon mit dem Abzeichen Supermanns tragen.“

Das Tor öffnete sich, und ein neugeborener Rosaner trat hervor. Sorrel betrachtete ihn besorgt – für einen Rosaner, der direkt vom Blutfest kam, erschien er ihm sehr dünn. Würde sein Leben kürzer sein als gewöhnlich?

„Sor Hi?“ Wandra ging einen Schritt auf das junge Wesen zu.

„Ja“, antwortete der junge Rosaner. „Sie müssen Mensch Furenz sein.“ Er wandte sich Sorrel zu, und seine Stimme nahm einen ehrfürchtigen Klang an. „Und Sie müssen Mensch Everwood sein.“ Zögernd kam er ihnen entgegen. „Prim Sol hat immer gehofft, daß einer seiner Nachkommen Ihnen eines Tages begegnen würde.“ Er streckte den Arm aus, und die Blütenblätter auf seinem Unterarm streiften über Sorrels Unterarm. „Ich erinnere mich daran, und mein Sinn ist von großer Freude erfüllt.“

Sorrel schluckte. „Dasselbe fühle auch ich. Ich bin glücklich, dich zu treffen.“

Abrupt trat Sor Hi zurück, er sah die Rosaner, die auf ihn warteten. „Ich muß jetzt gehen, meine Lehrer warten auf mich.“ Er ging schnell davon. „Wir werden uns bald wieder begegnen.“

„Wir sollten ihn unterrichten“, murrte Sorrel, während er mit Wandra davonging.

„Das ist ja ein toller Gedanke! Willst du wirklich, daß er so sehr gebremst wird?“

Sorrel antwortete nicht.

Wandra kicherte. „Ich denke, wir sollten uns wieder um die Verbreitung der Prophezeiungen und Legenden kümmern, damit auch wirklich jedem klar wird, daß Sor Hi derjenige ist, der so lange erwartet wurde.“ Lachend legte sie den Kopf in den Nacken. Gelegentlich hatten sie – besonders wenn sie sich von den Belastungen der Erinnerungsrekonstruktion erholen wollten – sich die Zeit damit vertrieben, durch das Höhlennetz zu schlendern und Legenden auszustreuen. Sie erzählten Rosanern von Visionen ihrer Vorväter, in denen sich die Rückkehr des Glaubensstifters ankündigte, sie sprachen von Omen und Zeichen. Später stellten sie fest, daß sich auch andere Geschichten verbreiteten, die sie gar nicht ausgestreut hatten. Und wenn man sie um eine Bestätigung bat, dann gaben sie sie. So erreichten Sie, daß sich auch die Schöpfungen der anderen ausbreiteten. Die Bevölkerung war reif für die Wiederkehr des Glaubensstifters.

Sorrel kicherte. „Mach dir keine Sorgen, die Leute werden schon herausfinden, daß Sor Hi der Versprochene ist. Die Techniker haben eine Propagandatruppe geschaffen, die sich alle Mühe gibt, eben diese Neuigkeit zu verbreiten. Diese Propagandaeinheit besteht aus Gläubigen.“

„Wunderbar.“ Wandra lehnte ihren Kopf gegen Sorrels Schulter.

Eine Gruppe von Rosanern eilte vorüber, und Sor Hi war einer von ihnen. „Wie steht’s?“ rief Sorrel ihm zu.

Sor Hi blieb stehen. „Es ist wundervoll. Prim Sols Erinnerungen sind voll von dem Leid und dem Haß, die damals zwischen den Blutlinien herrschten, die sich in den Tagen der Erleuchtung bekämpften. Er kannte nur den Ärger und die Schwierigkeiten, die ihm im Weg standen. Doch für mich ist alles anders – ich kann ein Held sein, wo er ein Schurke war.“ Er atmete tief ein und sah Sorrel an. „Es ist eine wunderbare Welt, die Sie und er geschaffen haben“, rief er ihnen im Fortlaufen zu.

Wandra stimmte ihm zu. „Ja, das ist sie.“

Sorrel beobachtete, wie er in einem fernen Gang verschwand. „Ich wünschte, es gäbe etwas, was wir für ihn tun könnten!“

„Es gibt etwas.“

Sorrel schaute zu ihr hinab. „Was?“

„Uns etwas Schlaf verschaffen, damit wir ihm später, wenn er uns braucht, zur Seite stehen können.“ Sie schmiegte sich an seinen Arm. „Oder vielleicht sollten wir etwas ganz anderes tun: Wir sollten feiern. Kann ich dich verführen?“

Sorrel lächelte sie an. „Ich fürchte, das könnte dir gelingen.“ Sie schlugen die Richtung zum Schiff ein. „Wir wollen es herausfinden.“

 

Sorrel und Wandra stellten fest, daß die UL-Laboratorien fast leer standen. Die wenigen anwesenden Rosaner waren mit den üblichen Kommunikationsverbindungen beschäftigt und nicht mit den UL-Prototypen. In einem Raum saß Cal auf dem Stuhl, der eigens für die Menschen aufgestellt worden war. Sein Gesicht hatte einen bestürzten Ausdruck.

„Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll“, stöhnte er „Sor Hi war ungefähr sechs Stunden lang hier und hat sich mit unseren Problemen vertraut gemacht. Wandra, du erinnerst dich doch bestimmt, daß wir uns gegen die Rotationsmethode im Hyperraum entschieden haben, da niemand sagen konnte, wie wir die zeitliche Steuerung bewerkstelligen sollten?“

Wandra nickte.

„Nun, nach den sechs Stunden sah sich Sor Hi die Sache an und fragte, warum wir es denn nicht besser so als so versuchten, und da lag die Lösung sofort auf der Hand.“ Cal wandte sich an Sorrel. „Für dich bedeutet das, daß wir in ein paar Tagen über ein arbeitsfähiges UL-Kommunikationsgerät verfügen können.“

Sorrels Unterkiefer sank herab. Wandra hüpfte wie ein Gummiball durch das Zimmer, klatschte in die Hände und umarmte abwechselnd Sorrel und Cal. „Wir können uns wirklich gratulieren!“ rief sie aus.

„Tja“, versetzte Cal mürrisch. „Wir würden ein arbeitsfähiges Gerät haben, wenn sich mal wieder ein paar Techniker hier einfänden. Doch leider sind alle übergeschnappt. Sie können an nichts anderes mehr denken als an die bevorstehende Wahl der Blutsbandschaft.“

Wandra klatschte wieder in die Hände. „Das ist doch toll, Cal! Wer wird gewinnen?“

„Wer denn wohl? Der scharfsinnigste Mathematiker im Universum. Die Supremi-Kandidaten haben überhaupt keine Chance, es sei denn, sie können die Wahl so lange aufschieben, bis Sor Hi gestorben ist.“

Über das Sprechgerät in seinem Kühlanzug setzte sich Sorrel mit Daisy in Verbindung. „Nun, wenn alle sich nur noch für die Wahl interessieren, dann sollten wir uns auch nicht anders verhalten.“

Sie hörten sich die Berichte an. Diesmal bereiteten die Nachrichten Sorrel mehr Vergnügen als beim letzten Mal, als sich die Politik in Gestalt der Supremi in seine Arbeit gemischt hatte.

Hin und wieder schaute Sor Hi bei ihnen vorbei. Er wechselte ein paar höfliche Worte mit Sorrel und den beiden anderen Menschen, um sich dann sofort wieder in rasende Debatten mit seinen Beratern zu stürzen. Jedesmal, wenn er zurückkehrte, war er zuversichtlicher, jedesmal war er gereifter, und seine Fähigkeiten hatten noch zugenommen. Einmal berichteten die Nachrichten von einem Mordanschlag auf ihn, aber während Sorrels Hände noch feucht wurden, platzte Sor Hi schon herein und versicherte ihnen, daß es ihm gutgehe. „Wenn einen niemand zu töten versucht, dann heißt das nur, daß man nicht ernst genommen wird“, erklärte er fröhlich. „Endlich weiß ich, daß sich die Leute für mich interessieren.“

„Ich möchte ihm helfen“, murmelte Sorrel, nachdem Sor Hi, ein Wirbelwind hektischer Aktivität, davongestürmt war.

Vier Stunden später kehrte Sor Hi erneut zu ihnen zurück. Er entließ seine Berater, um mit den Menschen allein sprechen zu können. „Würden Sie mir die Ehre erweisen, mir im Wahlsaal Gesellschaft zu leisten?“ fragte er.

Sorrel wußte, daß noch niemals ein Außenwelter einer rosanischen Wahl beigewohnt hatte. „Vielen Dank“, sagte er. „Sie erweisen uns damit ebenfalls eine große Ehre.“

Die beiden zwei Stockwerke hohen Bühnen erhoben sich über ein Meer von Rosanergesichtern. Der Saal war eine Höhle von beängstigenden Ausmaßen, größer noch als die größte Raumkuppel der Menschen. Auf der unteren Ebene der Plattformen standen die Berater des jeweiligen Kandidaten. Sie beantworteten die gezielten Fragen der Medien. Auf der oberen Ebene standen die Kandidaten selbst. Sie erläuterten ihre Absichten, Hoffnungen und Wünsche. Sie schlossen die Zuhörer in ihre Wunschträume ein und machten so ihre Träume zu denen ihrer Zuhörer. Der Raum war erfüllt von Sprechenden, Lauschenden, Lesenden und Beobachtenden. Alle diese Tätigkeiten waren von einer Intensität erfüllt, wie sie Sorrel noch nie beobachtet hatte. Wandra hielt ihren Mund dicht an sein Ohr. „Man kann die Informationsflut in diesem Raum fast plastisch sehen – man sieht, wie Wissen Welle für Welle weitergegeben wird.“

Sorrel nickte.

Plötzlich senkte sich Stille über die Halle. An zahllosen Schaltern, die im ganzen Saal verteilt waren, hatte die Abstimmung begonnen.

Dann war es vorbei. Die Lautsprecher verkündeten Sor His Sieg. Ein ohrenbetäubendes Hurrarufen setzte ein und endete erst, als Sor Hi seine Antrittsrede hielt. Sie dauerte ganze anderthalb Minuten. Wieder erklangen Hochrufe, doch der Schlag einer gewaltigen Explosion zerfetzte die Freude. Die Druckwelle schleuderte Sorrel auf den Boden, doch er hatte kaum den Saalboden berührt, als er schon wieder auf den Beinen war. Mit zwei Sprüngen war er bei der Plattform, um Sor His stürzenden Körper aufzufangen.

Muskelfasern rissen, und sein Rückgrat schien zu zersplittern, als Sor Hi in seine ausgestreckten Arme fiel. Zusammen prallten sie gegen die Stützen der Plattform. Sorrel rollte sich herum, um Sor Hi soviel Schutz wie möglich zu geben.

Sorrel rollte stöhnend auf den Rücken. Ein Rosaner mit einem Arztmedaillon beugte sich über Sor Hi und verkündigte: „Er lebt.“ Sorrel spürte einen nie erkannten schrecklichen Schmerz im Rücken und verlor das Bewußtsein.

 

Als er sich wieder auf die Seite rollte, befand er sich plötzlich in einem bequemen Bett. Es war sein Bett auf dem Schiff. Er hörte das hohe Kolibrigezwitscher eines Rosanerkicherns und öffnete die Augen.

Sor Hi lag auf einer Trage an seiner Seite und schaute ihn an. „Dank Ihnen, Vater, und meine Glückwünsche – wir haben gewonnen.“

„Was ist geschehen?“

„Ein zweiter Mordanschlag. Diesmal mit mehr Erfolg, aber noch immer nicht ausreichend. Ich habe lange genug gelebt. Es wurde der Befehl erteilt, die Blutlinien der Supremi auszumerzen, und sie haben keine unsterblichen Wesen, die ihre Träume beschützen könnten, so wie Sie die meinen bewahrt haben.“

Sorrel betrachtete die Wunden und Verbände, von denen Sor His Körper übersät war. Ja, die Mörder hatten diesmal mehr Erfolg gehabt. Einem verwundeten Rosaner blieb nur noch wenig Zeit: Sein Körper verbrauchte alle gespeicherten Nährstoffe in einem verzweifelten Versuch, die Verletzungen zu heilen, und dies führte zu einem schnellen Tod durch Verhungern.

Sorrel richtete sich langsam und unter Schmerzen im Bett auf. „Kann ich etwas für Sie tun?“

Sor His Blicke wanderten geistesabwesend durch den Raum. „Nein, ich habe keine Wünsche.“

Sorrel richtete seine Augen fest auf Sor His Gesicht, der Nebel in seinem Kopf lichtete sich allmählich. Die Haut über Sor His Wangen war straff gespannt – er war dem Tode nahe.

„.Mögen Sie bei der aufgehenden Sonne sterben’“, murmelte Sor Hi. „Ist das nicht seltsam – seit wir uns in die Höhlen zurückzogen, ist nie mehr jemand bei der aufgehenden Sonne gestorben. Ich frage mich, wie das wohl sein mag.“

Erschreckt und gebannt blickte Sorrel auf seine Uhr. Er stellte fest, was er bereits vorher gewußt hatte. Der Sonnenaufgang stand unmittelbar bevor. „Ich will Ihnen etwas zeigen“, sagte er. „Folgen Sie mir bitte.“

Zwei Rosaner trugen die Trage hinter Sorrel her, der ganz weit nach vorn in den Bug des Schiffes humpelte. Von dort konnte man am Rand des Felsmassivs mit dem Höhleneingang vorbeischauen und hatte einen Blick auf den Morgen von Khayyam. Jetzt stieg die Sonne gerade über den Horizont und berührte die unzähligen flachen Wassertümpel, die die Oberfläche von Khayyam bedeckten. Bei dieser fiebrigen Berührung erzitterte das warme Wasser, Blasen stiegen auf, und es begann zu kochen. Gewaltige Dampfwolken stiegen zum purpurfarbenen Himmel auf, und während sie aufstiegen, verdichteten sie sich zu Regen, der herabfiel und sich wiederum in Dampf verwandelte, wenn er sich der Oberfläche näherte. Wie im Rausch huschten Regenbögen durch die fallenden und steigenden Wasser. Sie vergingen erst, als alles Wasser endgültig verdampft war.

Sor Hi atmete schwer. „Es ist unvergleichlich“, flüsterte er gebannt. „Meine Kinder müssen sich für mich an diese Schönheit erinnern.“ Er sah Sorrel an. „Und sie müssen sich an dich erinnern.“ Zum letzten Mal holte er tief Luft. „Ich …“ Die Überraschung einer plötzlichen Einsicht ließ sein Gesicht aufleuchten. „Für dich ist es noch schwerer“, sagte er. „Du mußt weiterleben.“

Sorrel schluchzte. „Ja, mein Sohn.“ Der Nektarduft überwältigte sie, jeden auf seine Weise.

 

Behutsam geleitete man Sorrel aus dem Raum am Schiffsbug in sein Zimmer zurück. Drei Tage lang lag er auf seinem Bett, sprach nicht, aß nicht und bewegte sich nicht. Er bemerkte wohl, wenn jemand den Raum betrat und ihn an die künstliche Ernährung anschloß, aber er interessierte sich nicht dafür. Tief in seinem Innern wartete sein Geist darauf, daß ihn irgend etwas wieder ins Leben zurückholte. Sorrel wußte nicht, worauf er wartete, und auch darüber machte er sich keine Gedanken.

Am vierten Tag erzählten sie ihm, daß das Ultralichtkommunikationsgerät fertig sei. Jetzt konnten sie ein dreidimensionales Bild nach Lazara projizieren und eine Antwort empfangen. Sie sagten ihm, daß sie Kontakt zu Balcyrak aufnehmen wollten.

Dies war der Auslöser, auf den sein Geist gewartet hatte. Er sah sie an, dann stand er auf und folgte ihnen in das UL-Labor.

 

Balcyrak musterte ihn still und lächelte freundlich. „Hassen Sie uns noch immer, Mensch Everwood?“

Sorrel schaute zu Boden und schüttelte den Kopf. „Nein. Jetzt habe ich in Ihren Schuhen gestanden.“

„Ja, es ist nicht leicht, ein Lazariner zu sein.“

Sorrel versuchte etwas zu sagen, schluckte und schüttelte den Kopf.

Balcyrak fuhr fort. „Ich möchte Ihnen für all das danken, das Sie für uns getan haben. Mein ganzes Volk ist Ihnen zu Dank verpflichtet, und unsere Zivilisation wird ein Loblied auf Sie, unseren Retter, singen.“

Sorrel starrte Balcyrak eine Zeitlang an, dann wurde ihm klar, was dieser sagen wollte. Balcyrak hatte ihn seinerzeit belogen. Es war nicht ungewiß, wer den nächsten Krieg zwischen Menschen und Lazarinern gewinnen würde. Sorrel hatte die Wesen gerettet, die seine Frau getötet hatten. Es machte ihm nichts aus. „Das freut mich.“ Er fühlte sich sehr erschöpft.

„Übrigens, Balcyrak, da gibt es eine Sache, die ich sehr gern wissen würde: Wie alt sind Sie?“

Balcyrak lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ungefähr vierzehn Jahrtausende, würde ich schätzen, nach Ihren Maßeinheiten.“

Sorrel dachte darüber nach. „Dann kommen Sie also gerade ins mittlere Alter, da Sie ja eine Lebenserwartung von fünfundzwanzigtausend Jahren haben.“

„Ja.“

Sorrel seufzte. „Es muß wundervoll sein, wenn man fast unsterblich ist.“

Balcyrak richtete sich auf und sah ihn scharf an und in ihn hinein, als Sorrel zu lächeln begann. Balcyrak bemerkte das Lächeln und kicherte. „Ja, fast unsterblich.“

Gemeinsam begannen sie zu lachen, ein volltönendes, kräftiges Lachen, dem nicht einmal das dunkle Universum widerstehen konnte.

 

PETALS OF ROSE

by Marc Stiegler

aus ANALOG, Nov. 8, 1981

Übersetzung: Ulrich Kiesow