Timothy Zahn
 

Morgen-Grauen
 

Hinter mir lag einer dieser langen, frustrierenden Tage, an denen man sich wie ein ausgewrungener Scheuerlappen fühlt. Ich war keineswegs in der geeigneten Verfassung für die Schlagzeile, die mir in die Augen sprang, als ich an jenem Abend meinen „Des Moines Register“ aufschlug: TELEPATH BEI FLUGZEUGENTFÜHRUNG GETÖTET.

Ich stand noch in der Tür meines Apartments, wie erstarrt, das Regenwasser tropfte von meinem Mantel auf die Fußmatte, und las die ersten Absätze. Arnos Potter aus Eureka, Kalifornien, hatte sich auf einem Pendelflug von San Francisco nach Los Angeles befunden, als drei Männer am anderen Ende des Flugzeuges Gewehre und eine Bombe hervorholten und befahlen, nach Kuba zu fliegen. Der Pilot hatte folgsam den Kurs geändert, mußte aber in Los Angeles landen, um aufzutanken.

Polizisten und FBI-Agenten hatten das Flugzeug gestürmt, wobei alle drei Entführer getötet und vier Passagiere verwundet wurden. Arnos war erst gefunden worden, als alles vorüber war: Er war mit einem Messer aus der Bordküche ins Herz gestochen und in einem der Waschräume liegengelassen worden.

Tränen schossen mir in die Augen, und ich warf die Zeitung beiseite. Ich hatte Arnos natürlich nie getroffen, war ihm nie näher als zweihundert Meilen gewesen. Aber er war so etwas wie ein Rangältester für uns andere gewesen, die Verkörperung einfacher Würde und eines hochmoralischen Charakters, und es war vor allem ihm zu verdanken, daß wir von der Welt überhaupt toleriert wurden.

Ich stolperte zu meiner Couch und brach darauf zusammen. Colleen, rief ich.

Ja, Dale. Sie mußte meinen Ruf erwartet haben. Ich habe die Nachrichten gesehen, Liebling.

Warum hast du mich nicht gerufen und es mir erzählt? In den Mittagsnachrichten wurde zwar die Flugzeugentführung erwähnt, aber ich wußte nicht, daß Arnos an Bord war. Oder … das übrige.

Vielleicht hätte ich dich rufen sollen. Ihre Gedanken legten sich beruhigend über meinen Schmerz, das telepathische Äquivalent einer Umarmung. Aber ich wußte, daß du einen harten Tag haben würdest, und ich wollte dir das nicht auch noch dazu aufbürden. Ging alles gut?

Mehr oder weniger, erzählte ich ihr. Beide Seiten haben den ganzen Tag damit verbracht, vor dem Richter um gesetzliche Details zu streiten. Ich saß da und hörte ihnen zu, wie sie meine Fähigkeiten, meine ethischen Motive und was weiß ich besprachen, als ob ich gar nicht da wäre. Wenn ich nicht gerade beleidigt wurde, habe ich mich gelangweilt. Obwohl das jetzt alles kaum mehr wichtig erscheint, nicht wahr?

Ich weiß, stimmte sie ernsthaft zu. Kanntest du Arnos gut?

Nicht wirklich. Ich fühlte, daß sie lächelte, und mußte selbst auch lächeln. Das war genau die Art von Antwort, die ein Telepath geben würde: Nur wenn man nicht weiß, wie komplex menschliche Wesen sind, kann man leichtfertig sagen, daß man jemanden „kennt“. In Eureka konnte ich ihn natürlich nicht erreichen, aber er pflegte ein-, zweimal im Jahr nach Pittsburgh oder Louisville zu kommen, und dann habe ich mich immer ein paar Stunden lang mit ihm unterhalten.

Ich auch. Ich habe mich hier oben in Regina immer ein wenig einsam gefühlt – du weißt doch, daß ich immer ein paarmal pro Jahr nach Salt Lake City geflogen bin, bloß um mich mit ihm zu unterhalten. Ich werde ihn vermissen.

Ja. Das werden wir alle.

Ein paar Minuten lang saßen wir schweigend da und hielten Verbindung ohne Worte. Colleens Gegenwart vermittelte ein warmes, tröstendes Gefühl, und allmählich begann die Spannung des Tages nachzulassen. Schließlich raffte ich mich auf. Hast du mit den anderen schon irgendwelche Vereinbarungen getroffen?

Ein paar. Ich habe mit Gordon in Spokane gesprochen, und er meinte, die einzige faire Möglichkeit wäre, uns alle Strohhalme ziehen zu lassen, um zu entscheiden, wer von uns nach Eureka geht und dem Begräbnis beiwohnt.

Nein. Ich schüttelte den Kopf.

Es sollte unter denen ausgemacht werden, die Arnos am besten kannten. Das würde Gordy und Nelson bedeuten, nehme ich an.

Colleen regte sich unbehaglich. Glaubst du, es wäre klug, Nelson gehen zu lassen? Ich meine … du weißt, wie er manchmal ist.

Oh, er wird schon in Ordnung sein, versicherte ich ihr. Er war nur am Anfang leicht paranoid, und das Leben in San Diego hat ihm gutgetan. Jedesmal, wenn Arnos hinunter nach Los Angeles ging, hat er sich etwas gebessert, etwas von Arnos’ Gelassenheit hat auf diese Entfernung wohl abgefärbt.

Schön. Sie war bereit, in diesem Punkt nachzugeben. Möchtest du, daß ich Gordon diesen Vorschlag mache?

Wenn du willst. Ich dachte einen Moment nach. Jetzt, wo Arnos nicht mehr war, hatte Gordy mit niemandem außer Colleen mehr Kontakt. Ich werde Calvin in Pueblo anrufen und ihn bitten, die Nachricht an Nelson weiterzugeben.

Fühlst du dich dazu in der Lage?

Ich lächelte. Ja. Danke, daß du immer da bist, wenn ich dich brauche, Colleen.

Danke, sagte sie leise, und ich wußte, daß sie von mir genausoviel Trost empfangen hatte, wie sie mir gegeben hatte.

Ich liebe dich, Colleen.

Ich liebe dich, Dale, Tschüß.

Wir unterbrachen unseren Kontakt. Ich liebte Colleen nun schon seit fast drei Jahren, und sie liebte mich sogar schon länger. Das Bewußtsein, daß wir uns niemals treffen würden, war ein dumpfer Schmerz, der mir dauernd wie ein Kloß im Hals steckte.

Was für eine elende Welt.

Ich seufzte, stand auf und ging in die Küche, um nach meinem Abendbrot zu sehen.

 

In dieser Nacht schlief ich schlecht und war am nächsten Morgen Punkt neun wieder im Gerichtssaal von Des Moines für einen weiteren Verhandlungstag. In gewissem Sinn war die Frage vor Gericht recht unkompliziert: Der Richter hatte lediglich zu entscheiden, ob meine Aussage als Telepath als Beweis in einem Raubüberfall zugelassen werden konnte. In der Praxis jedoch bildeten die gesetzlichen Vorschriften und Verordnungen einen Dschungel, zu dem sich das Amazonasbecken im Vergleich ausnahm wie die Pampas. Meine Laune an diesem Morgen war auch nicht gerade hilfreich; sie war dominiert von Niedergeschlagenheit, Müdigkeit und etwas Unbekanntem, das in meinem Hinterkopf brütete. Alles, was ich wollte, war, ins Bett zurückzukrabbeln. Ich wünschte bei Gott, ich hätte nie zugelassen, daß mich der Bezirksanwalt in diese Sache hereinzog.

Heute wollten Urban, der Pflichtverteidiger, zum x-ten Male etwas über meine Reichweite hören. „Stellen Sie es sich so vor, als hörten Sie einem Flüsternden zu“, erklärte ich ihm noch einmal. „In einer Entfernung von sechzig bis achtzig Zentimetern höre ich zwangsläufig die Gedanken anderer. In einer größeren Entfernung, bis zu sechs oder sieben Metern, kann ich entscheiden, ob ich zuhören will oder nicht, darüber hinaus kann ich überhaupt nichts hören.“

„Außer natürlich bei Ihren Telepathen-Freunden“, sagte Urban rasch, als ob es nötig wäre, mich daran zu erinnern.

„Der Angeklagte ist kein Telepath“, machte ich ihn so geduldig wie möglich aufmerksam.

„Selbstverständlich nicht. Sie haben die Ähnlichkeit mit einem Flüstern dargelegt. Wir alle wissen, wie leicht es passieren kann, daß man geflüsterte Worte mißversteht …“

„Der Vergleich bezog sich auf die Entfernung, nicht auf die Genauigkeit“, unterbrach ich. „Wenn ich die Gedanken überhaupt hören kann, höre ich sie klar und deutlich. Immer.“

Er setzte zu einer anderen Frage an – und da, ohne besonderen Grund, kam mir die entscheidende Frage wie ein Komet in den Sinn geschossen.

Wie zum Teufel kann man einen Telepathen unvorhergesehen erstechen?

Es mußte unvorhergesehen geschehen sein. Die Tür des Waschraums war unverschlossen gewesen, und die Zeitungen hatten keinerlei Anzeichen eines Kampfes erwähnt. Aber das war unmöglich – unter den gegebenen Umständen konnte Arnos mit ziemlicher Sicherheit innerhalb seiner vollen Reichweite lesen. Warum hatte er seinen Mörder dann nicht kommen sehen?

Urban hatte seine Frage beendet, als ich mich entschlossen hatte. „Entschuldigung“ sagte ich, zog mein Taschentuch heraus und tat so, als wollte ich mir die Brille putzen. Ich wollte nicht einfach mit glasigen Augen vor ihnen anfangen: Ich habe festgestellt, daß solche Sachen die Leute manchmal ganz schön durcheinanderbringen können. Aber sicher versteckt hinter meinem Taschentuch, konnte ich meinen Kontakt herstellen.

Calvin? Calvin, bist du da? Calvin?

Hier bin ich, Dale, kam der ruhige Gedanke. Du klingst aufgeregt.

Ich werde es allmählich, gab ich zu. Hör zu, du hast doch dieses Vierteljahr das Orts-Logbuch, nicht wahr? Kannst du mir heute abend freie Fahrt nach Las Vegas geben? Es ist wichtig.

Aus Des Moines? Das war Calvin – er stellte keine unnötigen Fragen. Jeder Direktflug würde dich zu nah an Pueblo heranbringen, aber ich könnte für ein paar Stunden aus der Stadt verschwinden, wenn nötig.

Nein, das lohnt nicht. Außerdem bezweifle ich sowieso, daß ich noch einen Direktflug bekomme.

Wenn du dann über Denver oder Salt Lake City kommst, geht alles klar.

Prima. Ich werde reservieren lassen und dich zurückrufen, sobald ich die Flugzeit weiß.

Gut. Oh – und du mußt bis morgen abend um sechs wieder weg sein. Gordy fliegt runter, um Arnos nach Eureka zurückzubringen.

Ja, okay.

Calvin wurde langsam neugierig. Ich vertraue darauf, daß du mir mal erzählst, worum es überhaupt geht.

Sicher, aber später. Ich muß jetzt aufhören.

Bis später.

Ich steckte mein Taschentuch wieder in die Tasche. Schon fühlte ich mich besser. „So, wie lautete noch Ihre letzte Frage, Mr. Urban?“

 

Den Rest des Vormittags überstand ich ohne größere Schwierigkeiten. Während der Mittagspause rief ich ein Reisebüro an, wo man mir zwei Anschlußflüge mitteilte, die mich um zehn nach Las Vegas bringen würden. Das war später, als ich eigentlich vorhatte, aber sonst hatte ich nur die Wahl zu warten, bis Gordy wieder abgeflogen war. So blieb mir wenigstens der größte Teil des morgigen Tages, bevor ich die Stadt verlassen mußte.

Der Richter und die Anwälte waren nicht besonders glücklich über meine Ankündigung, daß ich für ein paar Tage verreisen würde, aber sie akzeptierten sie mit dem Anstand vernünftiger Männer, die wissen, daß sie keine echte Wahl haben. Um halb acht an jenem Abend befand ich mich auf der ersten Etappe meines Fluges … und um acht kreisten wir über Denver, nur hundert Meilen von Calvins Zuhause in Pueblo entfernt.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl und mehr als nur ein wenig beängstigend, wenn man es zum ersten Mal erfährt. Obwohl noch hundert Meilen voneinander entfernt, waren Calvin und ich uns jetzt so nahe, daß es nicht länger möglich war, unsere Oberflächengedanken voreinander abzuschirmen – uns gegenseitig auszuschalten, sozusagen. Es ist genauso, als ob ein Telepath und ein Mensch nur sechzig bis neunzig Zentimeter voneinander entfernt sind, aber mit der besonderen Schwierigkeit, daß es eine echte Zwei-Weg-Kommunikation ist. Wenn das Flugzeug jetzt plötzlich nach Süden abdrehte und Calvin und ich uns näher kämen … aber das war nichts, worüber ich gern nachdenken wollte.

Solange man nicht in Panik geriet, bot die mühelose Kommunikation, die durch einen Nah-Kontakt gegeben war, natürlich eine gute Gelegenheit, sich zu unterhalten. Calvin und ich verbrachten damit eine geraume Weile, diskutierten über das Leben im allgemeinen und über unser eigenes und das unserer Mit-Telepathen im besonderen. Er konnte jedoch seine Neugier über meine plötzliche Reise so wenig verheimlichen, wie ich meinen etwas eigenwilligen Entschluß, ihn als ersten auf das Thema zu sprechen kommen zu lassen.

Calvin gab als erster nach. Na schön, du hast gewonnen, sagte er schließlich. Du fährst nicht nur nach Las Vegas, um dich von Arnos zu verabschieden – soviel weiß ich schon. Also?

Richtig. Ich erklärte ihm so gut ich konnte die Fragen, die ich mir über Arnos’ Tod stellte – keine leichte Aufgabe, denn vieles an meinen Gefühlen konnte ich noch nicht recht mit Worten ausdrücken.

Er überdachte das Problem eine Zeitlang, nachdem ich geendet hatte, seine Gedanken ein geordneter Strom von Fragen, Möglichkeiten und Logik. Interessant, sagte er. Ich stimme dir zu, irgend etwas klingt hier falsch. Ich weiß aber nicht was. Angenommen, einer der Entführer hat Arnos erkannt, wollte ihn töten, um ihre Spuren zu verwischen, und hat gedroht, einen der anderen Passagiere umzubringen, wenn Arnos nicht still wäre? Er war nobler als wir anderen alle zusammen genommen, und ich kann ihn mir gut vorstellen, wie er unter diesen Umständen nachgibt.

Vielleicht, sagte ich langsam. Aber die Sache gefällt mir immer noch nicht.

Das merke ich, gab Calvin trocken zurück. Du schickst dein Unbehagen über zwei Staaten hinweg. Sieh mal, ich bezweifle zwar, daß hier irgend etwas Finsteres vor sich geht, aber ich bin auch der Meinung, daß es sofort untersucht werden sollte. Du läßt es mich wissen, wenn ich helfen kann, okay?

Du wirst der erste sein, den ich rufe, versicherte ich ihm.

Gut. Oh, noch etwas, das du vielleicht noch nicht gehört hast: Heute hat die Frage die Runde gemacht, ob wir kommerzielle Flugreisen für unsere Mitglieder verbieten sollten oder nicht.

Ich dachte, diese Angelegenheit hätten wir schon vor Jahren erledigt.

Schon, aber jetzt sieht es etwas anders aus. Wenn die Flugzeugentführungen wieder zunehmen, geht der Sicherheitsfaktor zum Teufel, und dann wäre es vielleicht ganz sinnvoll, sich eine Zeitlang an Züge oder Privatflugzeuge zu klammern. Stell dir z.B. vor, Arnos’ Flugzeug wäre nach Pueblo oder Des Moines umgelenkt worden statt nach Vegas.

Wir erschauerten beide. Ja, stimmte ich ernst zu. Aber ich glaube, die Risiken können auf ein Mindestmaß reduziert werden.

Ja, gut, ich will das jetzt nicht mit dir diskutieren. Denk nur mal darüber nach, und dann werden wir es alle in einer Woche oder so zusammen besprechen.

Okay. Ich sollte diese Reise lieber genießen, dachte ich verdrossen – es könnte für eine gute Weile meine letzte sein.

Schön. Na, du scheinst ziemlich müde zu sein, wir sollten also jetzt besser Schluß machen. Wir sprechen uns später, Dale.

Ich blickte leicht überrascht aus dem Fenster. Unsere Zwischenlandung war vorüber, und wir waren schon wieder in der Luft. Die Erde unter dem Flugzeug war dunkel, Denver lag weit hinter uns. Der Nah-Kontakt war vorbei. Gute Nacht, Calvin, sagte ich und brach den Kontakt ab.

Während des restlichen Fluges döste ich und versuchte, die merkwürdigen Blicke und vor allem die merkwürdigen Gedanken zu ignorieren, die die Stewardeß in meine Richtung sandte.

 

Irgendwann mitten in der Nacht entschied ich, daß ich Las Vegas haßte, und jener erste Eindruck wurde am nächsten Morgen während meiner Taxifahrt zur Polizeihauptwache bestärkt. Es war nicht nur der hohe Anteil an kriminellen Elementen, die durch die Straßen streiften – die gibt es in jeder Stadt. Es waren eher die Habgier, die Goldgier und Verzweiflung, die ich überall um mich herum spürte. Dies war eine wilde Stadt, gegründet auf Hedonismus und die eher vergänglichen Gewinne des Lebens, und sie ärgerte und deprimierte mich gleichzeitig. Es schien höchst unfair, daß Arnos Potter, ein Mann, der die Stille der Natur geliebt und sein Leben damit verbracht hatte, anderen zu helfen, hier sterben mußte.

Aber die Polizei war wenigstens höflich und hilfsbereit, und ich wurde fast ohne Verzögerung zu dem richtigen Officer geführt. Er war ein untersetzter, muskulöser Mann mit dunkler Gesichtsfarbe und dem unwahrscheinlichen, aber den Umständen angemessenen Namen Lieutenant James Bond.

„Wirklich“, bekräftigte er, als er mir flüchtig die Hand schüttelte. „Was kann ich für Sie tun?“

„Ich heiße Dale Ravenhall“, sagte ich. „Ich wollte Sie einiges über den kürzlichen Tod von Arnos Potter fragen.“

Er erkannte meinen Namen und zuckte fast unmerklich zurück. „Ich verstehe. Das mit Mr. Potter tut mir leid. War er ein guter Freund von Ihnen?“

„Wir sind, notwendigerweise, eine eng verbundene Gruppe“, sagte ich. „Waren Sie es, der Arnos im Flugzeug gefunden hat?“

Er schüttelte den Kopf. „Einer vom SWAT-Team hat die Leiche gefunden.“ In seinen Gedanken tauchte kurz der Name des Mannes auf – Sergeant Tom Avery –, den ich mir für spätere Nachforschungen merkte. „Ich wurde sofort herbeigerufen, um diesen Teil der Untersuchung zu leiten.“

„Gab es irgendwelche Spuren eines Kampfes? In den Zeitungen wurde nichts davon erwähnt.“

„Nein, es gab keine, und das ist etwas, das ich nicht verstehe. Ihr Jungs könnt doch angeblich auf eine recht große Entfernung Gedanken lesen, nicht wahr? Warum also hat Mr. Potter nicht die Tür abgeschlossen?“

Ich sah ihn finster an. „Ich weiß es nicht. Das ist einer der Punkte, die mich an dieser Sache stören.“

„Was sind die anderen?“

„Das Fehlen eines Kampfes als erstes“, sagte ich und spürte selbst, als ich meine Liste vortrug, daß er viele derselben Fragen hatte. „Der Gebrauch eines Messers aus der Bordküche für den Mord, wo sie doch Schußwaffen hatten. Wie kommt es, daß sie zwar clever genug waren, erst Schußwaffen an Bord zu schmuggeln, und doch bei der ersten Schwierigkeit getötet wurden?“

„Sie haben zwei wichtige Punkte vergessen“, sagte Bond. „Warum haben sie sich ausgerechnet eine alte Pendler-Mühle aus San Francisco geschnappt, um sie nach Kuba zu entführen? Und warum hat Mr. Potter nicht mit einem von Ihnen Kontakt aufgenommen, bevor er starb?“

Ich runzelte die Stirn. Der letzte Punkt war mir noch nicht aufgefallen. „Ich weiß es nicht. Ich selbst war zu der Zeit zu weit entfernt, aber vielleicht hat er mit einem der anderen gesprochen. Ich kann das gleich nachprüfen, wenn Sie wollen.“

Bond hatte noch nie einen Telepathen in Aktion gesehen, und er war sich nicht sicher, ob er es jetzt wollte. Aber berufliche Überlegungen überwogen jede Zimperlichkeit. „Fangen Sie an; ich würde es gern wissen.“

Von meinem Kontakt mit Calvin gestern abend wußte ich, daß Arnos mit ihm vor seinem Tod keinen Kontakt aufgenommen hatte. Oordy war ein Fehlschuß. Ich versuchte kurz, ihn zu erreichen, aber die Entfernung war etwas zu groß. Das ließ nur eine Möglichkeit übrig. Nelson? Bist du da, Nelson?

Ja, natürlich, Dale. Was gibt’s?

Wenn Colleens geistige Struktur Wärme und Liebe ausstrahlte und Calvin Ruhe, so empfand ich Nelsons immer als überwiegend nervös. Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich sag’ mal hallo.

In der Nähe?

In Las Vegas. Oberflächliche Konversation war bei Nelson oft vertane Zeit. Hör zu, Nelson, ich versuche, einige Probleme bei Arnos’ Tod zu lösen.

Welche Probleme?

Oh, nur einige Kleinigkeiten. Nelsons Nervosität war ansteckend, und ich hatte keine Lust, den Kontakt auszudehnen. Außerdem wartete schließlich der Lieutnant. Ich habe mich gefragt, ob Arnos wohl Gelegenheit gehabt hat, mit dir Kontakt aufzunehmen, ehe es zu Ende war.

Nein, antwortete er, fast zu rasch. Aber, vielleicht bin ich auch außer Reichweite gewesen.

Wo warst du?

Ich bin für ein paar Tage nach Baja runtergeflogen. Sein Tonfall besagte, daß es mich nichts anging, wo er und seine Pipe Comanche gewesen waren. Ich war auf dem Rückflug, als ich die Nachricht erhielt.

Okay, ich wollte es nur wissen. Geht es dir gut?

Spar dir dein Mitgefühl, Dale. Ich bin okay.

Schön, wir reden später weiter.

Bond nickte, als ich die Unterhaltung wieder aufnahm. „Das war Nelson Follstadt, nicht wahr? Denken Sie, daß Sie ihm glauben können?“

Trotzig sagte ich: „Natürlich. Warum sollte er lügen?“

Er zuckte die Achseln. „Ich habe gehört, daß er einige psychologische Probleme hat.“

„Nun … ja, hat er, aber er hat sich in letzter Zeit sehr gebessert. Und er ist schon seit zehn Jahren von dem anderen Telepathen getrennt, es kann also nur besser werden.“

„Wie bitte? Welcher Telepath?“

Dies war sicherlich nicht der richtige Zeitpunkt für eine Nachhilfestunde, aber Bond verstand es wirklich nicht. Und ich habe immer versucht zu vermeiden, meine Aussagen unter geheimnisvollen Äußerungen und obskuren Hinweisen zu begraben. „Oh, nun, Sie haben wahrscheinlich gehört, daß sich Telepathen nicht zu nah kommen dürfen. Das liegt daran, daß der Kontakt bei geringer werdender Entfernung stärker wird und die beiden Persönlichkeiten beginnen, zu einer zu verschmelzen. Bei etwa zwanzig Meilen Abstand wird die Belastung – theoretisch – so groß, daß beide Telepathen unheilbar verrückt werden.“

Weder Bonds Gesichtsausdruck noch seine Gedanken waren besonders erfreulich. „Ist das mit Nelson Follstadt geschehen?“

„Glücklicherweise nicht. Die telepathische Fähigkeit nimmt mit dem Alter zu, und erst im Teenie-Alter wird sie so stark, daß das Risiko einer Geisteskrankheit besteht. Nelson wuchs zufällig in der gleichen Stadt auf wie ein anderer junger Telepath, und ehe sie identifiziert und getrennt werden konnten, hatte sich schon allmählich eine leichte Paranoia herausgebildet. Aber, wie gesagt, Nelson macht sich.“

„Was ist mit dem anderen Telepathen?“

„Er hat vor sechs Jahren Selbstmord begangen.“ Einer der schlimmsten Versager unserer Gruppe, kam es mir wieder bitter in den Sinn.

„Oh.“ Bond schwieg einen Moment lang und überlegte, ob er die nächste Frage stellen sollte. Ich ließ ihm Zeit. „Da gibt es noch etwas, worüber ich mir nicht im klaren bin“, sagte er schließlich. „Ich habe Gerüchte gehört, daß Sie … nun, daß Sie normale Leute zwingen können zu tun, was Sie wollen. Stimmt das? Und wenn ja, warum hat Mr. Potter die Entführung dann nicht gestoppt?“

„Es stimmt in etwa der Art und Weise, wie der CIA und einige religiöse Kulte den Leuten ihren Willen aufzwingen. Es würde allerdings eines fast ununterbrochenen Kontaktes zwischen Telepath und Subjekt bedürfen, um es durchzuführen. Arnos hätte in der Zeit, die ihm verblieb, bestimmt nichts ausrichten können.“

„Hm. Okay. Ich bin trotzdem überrascht, daß der CIA Sie nicht angeworben hat. Es hört sich so an, als wäre es sehr nützlich, Sie dabeizuhaben.“

„Einige von uns sind von verschiedenen Geheimdiensten getestet worden. Es gibt Drogen, die schneller wirken und einfacher zu handhaben sind. Aber wir schweifen vom Thema ab. Gibt es noch etwas, was Sie mir über Arnos’ Tod oder über die Entführung im allgemeinen sagen können?“

„Tut mir leid.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie haben alle klaren Tatsachen gehört. Alles andere muß erst im Labor geklärt werden. Wenn Sie mir Ihre Nummer geben, melde ich mich, wenn wir etwas Neues erfahren.“

„Das wäre mir sehr recht.“ Ich schrieb meine Nummer in Des Moines auf eine Karte und fügte, aus gutem Grund, Calvins Nummer hinzu. „In den nächsten Tagen bin ich vielleicht unterwegs, aber Calvin Wolfe hier kann jede Nachricht an mich weiterleiten.“

„Schön.“ Er sah mich nachdenklich an. „Nelson Follstadt ist näher, wie Sie wissen. Trauen Sie ihm nicht?“

„Doch natürlich. Aber – nun, Calvin ist ein engerer Freund.“

„Aha. Gut, vielen Dank, daß Sie vorbeigeschaut haben, Mr. Ravenhall. Ich werde mich melden.“

„Danke schön.“ Wir schüttelten uns wieder die Hände, dann ging ich.

 

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Seine letzte Frage beschäftigte mich auf dem ganzen Rückweg zum Hotel. Warum hatte ich ihm Nelsons Nummer nicht gegeben? Zumal Nelson näher an Eureka war, wohin als nächstes zu gehen ich mich schon mehr oder weniger entschlossen hatte. War an unserem letzten Kontakt etwas gewesen, das mich beunruhigte? Sicher, Nelson war nervös gewesen, aber das war bei ihm normal … oder? Ich fing an zu bedauern, daß ich den Kontakt so rasch abgebrochen hatte. Jetzt hatte ich die Gelegenheit für weitere Fragen vertan; wenn ich mich mit denselben Fragen wieder meldete, würde ich Nelsons schlummernde Paranoia aufstören, und das konnte ich im Augenblick nicht gebrauchen.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Es war kurz vor Mittag. Ich warf mich rücklings auf das Bett und schloß die Augen. Calvin? He, Calvin?

Hallo, Dale. Was Interessantes erfahren?

Ja und nein. Der Polizist, der die Untersuchungen leitet, hat – wie ich feststellen konnte – zum Teil dieselben Fragen wie ich, aber auch er hat keine Antworten darauf. Wird Gordy noch immer für sechs Uhr hier erwartet, und wann fliegt er rüber nach Eureka?

Ja, und morgen früh.

Bitte, tu mir einen Gefallen. Könntest du ihn bitten, beide Abschnitte seiner Reise um vierundzwanzig Stunden zu verschieben?

Nun … ich kann ihn ja mal fragen. Warum?

Ich würde gerne selbst nach Eureka gehen und mich etwas umsehen. Kein besonderer Grund, fügte ich hinzu, seine nächste Frage vorwegnehmend. Ich habe gehört, daß Arnos seine psychotherapeutische Praxis aufgegeben hatte und an etwas Besonderem arbeitete. Ich würde das gerne herausbekommen.

Ich kann dir einige Mühe ersparen, wenn das alles ist, was du willst. Laut Gordy versuchte Arnos, eine Art elektronisches Gerät zu bauen, um neue Telepathen aufzuspüren.

Mir fiel der Unterkiefer nach unten. Du machst Spaß. Ich habe noch keine Silbe davon gehört. Ich wußte nicht einmal, daß so etwas theoretisch überhaupt möglich ist.

Ich auch nicht, beides nicht, bis Gordy es mir gestern abend erzählte. Anscheinend wollte Arnos nicht, daß es bekannt würde, falls es sich als Reinfall entpuppen sollte.

Jetzt, wo ich darüber nachdachte, fiel mir ein, daß Arnos einen akademischen Grad in Elektrotechnik erworben hatte, bevor er sich der Psychologie zuwandte. Wie weit war er denn?

Das wußte Gordy nicht. Er wollte versuchen, es herauszufinden, wenn er dorthin ging.

Ich überlegte. Calvin, ich würde trotzdem gern heute abend nach Eureka gehen.

Okay. Ich versuche, mit Gordy klarzukommen. Wenn ich es nicht schaffe, seid ihr in ein paar Stunden in Kontakt-Reichweite und könnt es untereinander ausmachen.

Danke. Noch etwas. Ich zögerte. Nelson sagte mir, daß er in Baja war, als Arnos starb. Ist das wahr?

Calvin schwieg einen Moment, und ich konnte sein Erstaunen spüren. Einen Telepathen, wenn auch indirekt, einer Lüge zu beschuldigen, war eine ernste Sache. Tatsächlich weiß ich es nicht. Nelson ist manchmal ein wenig eigenbrötlerisch, und ich bin ziemlich sicher, daß er hin und wieder kurze Ausflüge mit seiner Comanche unternimmt, ohne jemandem etwas davon zu sagen. Ich glaube, es paßt ihm nicht, daß seine Bewegungen so stark beobachtet werden, vor allem nicht, wenn er es für unnötig hält.

Ich grunzte. Das war ja großartig. Vielleicht sollte ich ihm persönlich mitteilen, daß ich nach Eureka will. Wir sprechen uns später, Calvin. Dank für deine Hilfe.

Schon gut. Viel Erfolg.

Einen Augenblick lang lag ich nur da und dachte nach. Dann rollte ich mich zur Seite, nahm das Telefon und ließ mich mit dem Flughafen verbinden.

 

Um acht Uhr an diesem Abend kam ich in Eureka an und mietete einen Wagen für die Fahrt hinaus zu Arnos’ Haus. Ich war vorher noch nie dort gewesen, aber Gordy hatte mir den Weg früher am Tag genau beschrieben, und ich fand das kleine, bescheidene Ranch-Haus ohne Schwierigkeiten. Mrs. Ledermann, Arnos’ langjährige Haushälterin, wartete auf mich. Mit der für ihn typischen Voraussicht hatte Calvin sie angerufen, um ihr meinen Besuch anzukündigen.

„Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen, Mr. Ravenhall“, sagte sie, als ich mich vorgestellt hatte. „Bitte entschuldigen Sie die Unordnung, mir war heute nicht nach Putzen zumute.“

„Alles sieht gut aus“, versicherte ich ihr. Ihr plumpes, nicht mehr junges Gesicht zeigte kaum noch Spuren vom letzten Weinen; die Narben in ihrer Seele würden sehr viel länger zum Heilen brauchen. Ich wollte nicht neugierig sein, aber ihre Oberflächengedanken zeigten ganz deutlich, daß sie Arnos von Herzen geliebt hatte. Ich fragte mich, was er wohl für sie gefühlt hatte, und der Gedanke brachte mich unweigerlich auf Colleen. Mich mit einem Ruck losreißend, kam ich wieder auf mein Anliegen zurück. „Mrs. Ledermann, hat Arnos irgend etwas Ungewöhnliches gesagt oder getan, bevor er gegangen ist? Irgend etwas, das andeutet, daß er sich über etwas Sorgen machte oder einen Verdacht hegte?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe darüber nachgedacht, seit Mr. Wolfe heute nachmittag aus Colorado angerufen hat, aber mir ist nichts eingefallen. Arnos schien ein wenig zerstreut zu sein, als er vor zwei Wochen aus Los Angeles zurückkehrte, aber das ging rasch vorbei, und er ging wieder an seine Arbeit an dem Telepathen-Sucher – ich nehme an, Sie haben inzwischen davon gehört.“

„Ja. Wer außer Ihnen wußte noch, daß er daran arbeitete?“

„Gordy Sears natürlich“, antwortete sie. „Ich glaube, er war Arnos’ bester Freund. Und ich glaube, Mr. Follstadt wußte es auch.“

„Nelson?“ Das schien mir sinnvoll. Einer der Hauptzwecke des Gerätes würde es sein, junge Telepathen aufzuspüren, ehe zufällig psychische Schäden eintraten, und das Wissen, daß ein solches Gerät in Arbeit war, mochte Nelsons Ängste, noch einmal so verletzt zu werden, verringern.

„Dürfte ich den Ort sehen, an dem Arnos arbeitete?“

„Wenn Sie wollen.“ Sie zuckte die Achseln, und ich entdeckte etwas von einer Zuflucht in den Bergen in ihren Gedanken. „Aber das meiste an elektronischer Arbeit hat er in seiner Hütte in den Sierras gemacht. Es sei friedlicher dort, sagte er immer, weil niemand in der Nähe denken würde.“

Sie führte mich durch die Diele zu Arnos’ Arbeitsraum, und ich sah mich ein paar Minuten darin um, ohne etwas Interessantes zu finden. „Können Sie mir sagen, wie man zu dieser Hütte kommt?“

„Nun, sie war eigentlich privat, aber ich denke, daß es jetzt wohl in Ordnung geht. Aber man braucht fünf oder sechs Stunden, um hinzukommen. Sind Sie jemals bei Nacht durch die Berge gefahren?“

„Oft genug, um zu wissen, daß ich es in einer unbekannten Gegend nicht unbedingt tun möchte. Ich werde morgen früh hinfahren. Wenn Sie mir die Wegbeschreibung geben, gehe ich jetzt und lasse Sie in Ruhe.“

„Nicht nötig“, schüttelte sie den Kopf. „Ich habe das Gästezimmer für Sie zurechtgemacht.“

„Oh, vielen Dank, aber ich glaube, ich sollte nicht bleiben.“

„Es macht keine Mühe. Ich gehe in fünf Minuten, so daß Sie für sich allein sind. Arnos war immer gastfreundlich, Mr. Ravenhall“, setzte sie hinzu, als ich den Mund öffnete, um nochmals abzulehnen. „Ich weiß, er hätte gewünscht, daß sie hierbleiben.“

Was konnte ich darauf sagen?

Sie führte mich rasch durch die Räumlichkeiten, um mir zu zeigen, wo alles war, und ging dann, die Vordertür hinter sich schließend. Ich sah ihren Wagen die Straße hinunter verschwinden und kehrte, einem plötzlichen Impuls folgend, nochmals in Arnos’ Arbeitszimmer zurück.

In einer Ecke des Raumes stand ein kleiner Schreibtisch, der unter ordentlichen Stapeln von Akten und Briefen fast verschwand. Als ich das erstemal hier war, hatte ich ihn zwar ignoriert, aber jetzt ging ich hinüber und sah darauf hinunter. Eine gründliche Untersuchung schloß eigentlich auch eine Durchsuchung von Arnos’ Papieren ein, aber ich hatte kein Recht dazu, meine Nase dort hineinzustecken. Außerdem, wenn ich etwas Bedeutungsvolles fand, würde ich es überhaupt erkennen? Ich wußte immer noch nicht genau, wonach ich eigentlich suchte. Entschlossen wollte ich mich abwenden … und dabei sprang mir der Absender auf einem der Umschläge ins Auge. Es war von einem Casino in Los Angeles.

Stirnrunzelnd nahm ich den Brief auf. Er war ungeöffnet, der Poststempel war vom Tag vor Arnos’ Tod. Schuldbewußt öffnete ich ihn. Die Nachricht war sehr kurz:

 

Sehr geehrter Mr. Potter,

wir bedanken uns für ihren Brief vom 4. Wir sind sehr an Ihrem Vorschlag interessiert und würden uns gern mit Ihnen persönlich darüber unterhalten. Bitte lassen Sie uns wissen, wann es Ihnen recht wäre, zu einem Treffen mit uns zu fliegen.

 

Er war unterzeichnet von einem der größten Namen in Las Vegas.

Ich las den Brief noch zweimal, ohne mehr Sinn darin zu finden. Was hatte Arnos mit Casino-Besitzern aus Vegas zu schaffen? Was für ein Angebot hatte er gemacht? Und war es purer Zufall, daß Arnos daraufhin in gerade dieser Stadt ums Leben gekommen war?

Einige dieser Fragen konnte ich vielleicht beantworten, wenn ich die Kopie von Arnos’ ursprünglichem Brief finden konnte, aber eine zweistündige Suche überzeugte mich, daß sie nicht im Haus war. Wenn Arnos sie nicht vernichtet hatte oder Mrs. Ledermann sie nicht fortgenommen hatte, gab es nur noch einen wahrscheinlichen Ort, an dem sie sein konnte. Jetzt wollte ich mehr denn je zu Arnos’ Zuflucht in den Bergen.

 

Ich erwachte jäh aus einem unruhigen Traum durch das beharrliche Klopfen an den Tiefen meines Geistes, und ich brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, daß jemand mit mir Kontakt aufnehmen wollte. Ja?

Es war Gordy. Dale, alles in Ordnung?

Klar. Ich sah auf meine Uhr. Es war halb fünf, und ich lag voll angekleidet auf dem Bett in Arnos’ Gästezimmer. Warum fragst du?

Als du dich um Mitternacht noch nicht gemeldet hattest, fingen Calvin und ich an, uns Sorgen zu machen. Wir dachten, dir wäre vielleicht etwas passiert.

Ich bin nur müde, versicherte ich ihm. Es tut mir trotzdem leid – ich hatte wirklich vorgehabt, mich gestern abend noch bei dir zu melden. Ich war wohl erschöpfter, als ich dachte. Wußtest du, daß Arnos in den Sierras eine Hütte hatte?

Ja, aber ich wußte nicht, wo sie ist.

Ich weiß es. Ich wiederholte die Beschreibung, die Mrs. Ledermann mir gegeben hatte. Soweit ich verstanden habe, hat er die meiste Arbeit an seinem Telepathen-Sucher dort oben getan. Ich werde rauf gehen, um zu sehen, wie weit er mit dem Gerät gekommen ist. Und um etwas Unvermutetes zu überprüfen, das gerade aufgetaucht ist. Ich beschrieb den Inhalt des Briefes, den ich gefunden hatte.

Was, glaubst du, hat er zu bedeuten? fragte eine neue Stimme.

Ich zuckte zusammen. Calvin? Verdammt, du hast mich vielleicht erschreckt – ich wußte nicht, daß du zuhörst. Aber wo wir gerade dabei sind – wie kommt es, daß du in Reichweite bist?

Weil ich in Salt Lake City bin, erklärte er. Ich bin letzte Nacht hergeflogen, um Gordy dabei behilflich zu sein, dich aufzufinden. Was ist jetzt mit dem Brief?

Ich habe nicht die blasseste Ahnung. Aber ich glaube, er könnte wichtig sein.

Vielleicht, meinte Gordy vorsichtig. Ich nehme an, du möchtest, daß ich hier in Vegas bleibe, bis du alles erledigt hast?

Wenn du das bitte tun würdest. Es würde die Dinge vermutlich vereinfachen, wenn ich nicht verfolgen muß, wo du gerade hingehst. Höchstens noch ein, zwei Tage.

Okay. Nelson wird sich schon wieder beruhigen, nehme ich an.

Wieso das?

Du wußtest das nicht? Nein, wahrscheinlich nicht. Er wollte nach Eureka fliegen, nachdem ich es verlassen hatte, um zu Arnos’ Beerdigung zu fahren. Er war wütend, daß wir alles verschoben, damit du herumrennen kannst, um Arnos seines letzten Fetzens Würde zu berauben.

Das letzte war ein Zitat, setzte Calvin hinzu.

Ich zuckte zusammen. Oje. Es tut mir leid. Aber ich glaube noch immer, daß es getan werden muß.

Wir tadeln dich nicht, Dale, sagte Calvin. Aber sieh zu, daß du so schnell wie möglich fertig wirst, okay?

Werde ich, versprach ich. Ich laß euch jetzt besser gehen. Ich nehme mit euch Kontakt auf, wenn ich bei der Hütte bin. Ganz bestimmt.

Gordy kicherte in sich hinein. Okay. Bis später.

Ich starrte eine volle Minute lang aus dem Fenster in die frühmorgendliche Dunkelheit. Weiterzuschlafen war unmöglich, irgend etwas in meinem Hinterkopf mahnte zur Eile. Ich schwang meine Beine über die Bettkante, fand meine Schuhe und ging in die Küche, um ein hastiges Frühstück einzunehmen.

Eine halbe Stunde später fuhr ich der aufgehenden Sonne entgegen.

 

Ich hatte halbwegs erwartet, daß Arnos’ Hütte eine plumpe Baracke an einem Berg war, und war daher leicht überrascht, ein recht modern aussehendes Gebäude vorzufinden, sogar mit Telefon- und Stromkabeln, die sich den Berg hinunterschlängelten. Mit dem Schlüssel, den mir Mrs. Lederman dagelassen hatte, öffnete ich. Im Innern war es so modern eingerichtet wie das Haus in Eureka, aber nicht im entferntesten so ordentlich. Mrs. Lederman kam wahrscheinlich nicht sehr oft hier hoch.

Es bestand im Grunde aus einem einzigen Raum, zweckmäßig eingerichtet, der zu fast einem Drittel von einem langen Arbeitstisch eingenommen wurde, auf dem ungefähr eine Tonne an elektronischer Ausrüstung lag. In der Mitte des Arbeitstisches befand sich Arnos’ Telepathen-Sucher.

Es gab keinen Zweifel darüber, was es war. Offensichtlich selbst zusammengebastelt, bestand er aus einer Metalldose von der Größe eines tragbaren Tonbandgerätes mit einem drehbar gelagerten Richtungsanzeiger, der von einer obenauf montierten Plastikhaube geschützt wurde. Es gab nur zwei Schalter: EIN/AUS und ALLGEMEIN/TARA. Calvin? Gordy? Jemand zu Hause?

Schon da, antwortete Calvin. Wo bist du, Dale?

In Arnos’ Hütte. Ich habe den Telepathen-Sucher gefunden.

Du hast eine gute Zeit geschafft, grunzte Gordy, noch mit Schläfrigkeit in den Gedanken. Ich hatte vergessen, daß sie einen Großteil der Nacht aufgewesen waren und versucht hatten, mit mir Kontakt aufzunehmen. Wie sieht er aus?

Ich beschrieb es ihnen. Ist das alles? fragte Calvin. Kein Entfernungsmesser oder so etwas Ähnliches?

Nichts. Vielleicht hatte Arnos vor, das als nächstes in Angriff zu nehmen. Man kann die Entfernung natürlich immer per Triangulation erfahren.

Richtig. Hast du ihn ausprobiert?

Nein. Ich wollte, daß ihr beide dabei seid. Habt ihr eine Ahnung, was dieses ALLGEMEIN/TARA bedeutet?

Pause. Tara ist der Abzug des Gewichtes des Behälters, wenn man etwas wiegt, sagte Gordy. Vielleicht eliminiert das den Einfluß des Operateurs.

Das klingt sinnvoll, stimmte ich zu. Okay, paßt auf. Es geht los.

Der zweite Schalter stand auf ALLGEMEIN, als ich die Hand ausstreckte und den Apparat einschaltete. Sofort kreiselte die Nadel auf der Oberseite und blieb stehen, indem sie auf meine Gürtelschnalle zeigte. Ich trat ein paar Schritte nach rechts – die Nadel folgte mir. Scheint zu funktionieren, teilte ich den anderen mit. Jetzt versuche ich es mit TARA. Ich legte den zweiten Schalter um und wartete.

Nichts. Die Nadel bewegte sich etwas nach Westen, deutete aber immer noch auf mich, als sie innehielt. Ich bewegte den Schalter ein paarmal hin und her, aber die Nadel weigerte sich, sich um mehr als ein paar Grad zu bewegen. Dieser Teil hier funktioniert nicht.

Bist du sicher? fragte Gordy zurück.

Ja. Ich stehe nördlich vom Sucher. Wenn er mich also eliminiert, müßte er nach Südosten zeigen, wo ihr beide und Nelson seid. Er sollte aber sicherlich nicht nach Nordwesten zeigen. Ich schaltete ihn ab. Darüber können wir uns später den Kopfzerbrechen. Ich werde jetzt mal sehen, ob ich diese Kopie finden kann.

Eine Ecke des Arbeitstisches war mit Papierstapeln beladen. Es würde nur ein paar Minuten dauern, den ganzen Stapel durchzublättern, aber meine Suche nahm noch erheblich weniger Zeit in Anspruch. Ich habe sie gefunden.

Ich ließ Arnos’ Lebenslauf und die Liste seiner Referenzen weg. Der interessante Teil lag im zweiten Absatz:

 

Ich habe in letzter Zeit bemerkt, daß einer aus unserer Gruppe Ihrer Gegend regelmäßige Besuche zum Zwecke des „Spielens“ abstattet – ich gebrauche Anführungszeichen, weil gewisse Spiele für ihn nicht vom Zufall bestimmt werden. Namen brauchen nicht genannt zu werden, und ich beabsichtige auch nicht, Ihnen bei seiner Überführung oder Anklage behilflich zu sein. Ich wünsche lediglich, daß diese unfaire Praxis aufhört. Meine Bemühungen, ihn davon abzubringen, sind gescheitert, und deshalb biete ich Ihnen als letzten Ausweg ein Abschreckungsmittel in Form eines Telepathen-Suchers an …

 

Spielen? Gordy wirkte schockiert. Wer von uns würde so etwas tun? Das ist einfach verrückt.

Ich glaube, uns allen kam gleichzeitig derselbe Name in den Sinn. Calvin war der erste, der es zugab. Wenn Arnos recht hatte, gibt es nur einen von uns, der tatsächlich bequemen Zugang zu Vegas hat, der dort ein- und ausgehen kann, ohne größere Schwierigkeiten durch einen Nah-Kontakt zu riskieren.

Ich seufzte. Du meinst Nelson?

ZUR HÖLLE MIT EUCH ALLEN! WARUM KÜMMERT IHR EUCH NICHT UM EURE EIGENEN ANGELEGENHEITEN?

Wir drei fuhren heftig zusammen. Es war Nelsons Stimme, aber so wutverzerrt, daß sie kaum zu erkennen war. He, Nelson, nimm’s nicht so tragisch, sagte ich. Wir wußten nicht, daß du zuhörst.

Natürlich nicht. Ihr würdet meine Vernichtung lieber unter euch allein ausmachen, was? Ihr und euer Oberheiliger Arnos. Na, ich habe ihn gewarnt!

Irgend etwas lief hier schief. Selbst wenn Nelsons starke Erregung in Betracht gezogen wurde, sollte der Kontakt mit ihm nicht so stark sein. Nelson, wo bist du? fragte ich vorsichtig.

Du! Er spuckte das Wort geradezu aus. Es ist dein Fehler. Du konntest Arnos ja nicht in Frieden sterben lassen. Du konntest die Dinge ja nicht auf sich beruhen lassen. Jetzt wirst du den gleichen Weg gehen wie er.

Verdammt noch mal, Nelson! schaltete Gordy sich plötzlich ein. Du hast ihn umgebracht, nicht wahr? Arnos hat dich dabei erwischt, wie du dich in Vegas eingeschlichen hast, und daraufhin hast du diese Mordbuben angeheuert, um das Flugzeug zu entführen und ihn umzubringen!

Es war seine eigene Schuld, fauchte Nelson zurück. Es ging ihn einen Dreck an, wie ich zu meinem Geld komme. Ich mußte es tun könnt ihr das nicht verstehen?

Innerhalb eines einzigen Satzes war sein Zorn in Rechtfertigung umgeschlagen, und das gefiel mir überhaupt nicht. Fing er an zusammenzubrechen?

Das hättest du gerne, oder? Aber wenn ich gehe, gehst du mit mir!

Das ließ mich von Kopf bis Fuß erzittern. Es war so rasch und unerwartet gekommen, daß ich es gar nicht bemerkt hatte. Nelson und ich hatten Nah-Kontakt.

Und ich komme näher, verhöhnte er mich. Ich weiß auch, wo du bist. Ich habe zugehört, als du deinen Freunden heute morgen die Wegbeschreibung gegeben hast. Ich werde über dir sein, bevor du noch weißt, was geschieht.

Nelson, bis du verrückt? warf Gordy ein. Du wirst euch beide umbringen.

Warum auch nicht? Ihr seid sowieso alle darauf aus, mich zu vernichten. Dann kann ich genausogut einen von euch mitnehmen. Ich habe nichts mehr zu verlieren.

Dale, mach, daß du wegkommst, befahl Calvin. Du mußt versuchen, von ihm wegzukommen.

Ich ging drei Schritte auf die Tür zu und erstarrte. Wohin denn? Ich weiß doch nicht, aus welcher Richtung er kommt.

Nelson lachte. Seine Gedanken wurden ständig lauter, und es wurde immer schwieriger, Gordy und Calvin in dem Lärm herauszuhören. Benutze den Telepathen-Sucher. Vielleicht funktioniert er wirklich.

Ich sprang zurück zum Tisch, schnappte den Kasten und schaltete ihn ein. Auf TARA-Stellung zeigte er wieder nach Nordwest und blieb auch dort, als ich aus dem Weg ging. Statt geradewegs aus San Diego zu kommen, hatte Nelson einen Kreis beschrieben und peilte mich nun von Norden her an. Den Kasten wie einen Talisman umklammernd, rannte ich nach draußen zum Wagen.

Und dann begann der Alptraum.

Es gab keinen Weg, wie ich Nelson ausweichen konnte, und wir beide wußten es. Seine Piper Comanche brachte es auf eine Reisegeschwindigkeit von wenigstens 180 Meilen pro Stunde und konnte in gerader Linie fliegen, während ich auf kurvenreichen Bergstraßen mit nur einem Viertel seiner Geschwindigkeit bleiben mußte. Wenn ich einen rechten Winkel zu seinem Weg hätte einschlagen können, so daß er über mich hinweggeflogen wäre, hätte ich vielleicht eine Chance gehabt. Aber für einen Trick dieser Sorte war es schon zu spät. Nelson hatte vollständigen Zugang zu meinen Oberflächengedanken, und ich hatte keine Möglichkeit, ohne sein Wissen Pläne zu schmieden.

Siehst du, es hat keinen Zweck zu kämpfen. Gib auf, dann wird es für uns beide leichter sein.

Ich biß die Zähne zusammen und fuhr weiter. Dabei versuchte ich vergebens, dem zunehmenden Druck auszuweichen, der mir langsam das Gehirn zermalmte. Eine Kurve tauchte auf, viel zu rasch. Ich trat auf die Bremse und schaffte es, die Kurve zu nehmen, ohne allzuviel an Geschwindigkeit zu verlieren. Jede Faser meines Seins schrie danach fortzukommen, aber ich hatte nicht die Absicht, zu Nelsons Vorteil eine Klippe hinunterzufahren. Mir abwechselnd die Handflächen an der Hose abwischend, versuchte ich nachzudenken.

Ich war jetzt vollständig von Calvin und Gordy abgeschnitten – der Nah-Kontakt hatte praktisch von dem Moment an, als ich die Hütte verlassen hatte, jeden anderen Kontakt abgeblockt. Sie würden natürlich genug wissen, um die Polizei zu alarmieren, aber es bestand kaum die Möglichkeit, daß die Polizisten mir helfen konnten. Es blieb nicht mal eine Stunde übrig, bevor Nelson die Zwanzig-Meilen-Grenze erreichte, die mit Sicherheit die geistige Auflösung für uns beide bedeutete. Die Air Force? Sie konnte schnell handeln, aber zuerst mußte sie davon überzeugt werden, daß sie sich einzuschalten hatte. Und in einer völlig unmilitärischen Angelegenheit wie dieser hier standen die Chancen gleich Null.

Ein rötlicher Nebel breitete sich in einer Ecke meines Hirns aus. Nelson, warum tust du uns das an? Es kann dir doch nichts einbringen.

Ihr habt alle gegen mich gearbeitet: du, Arnos, Calvin alle. Ihr habt mir das Geld und die Macht genommen, die ich hätte haben können die ich haben wollte. Aber wenigstens bestimme ich über meinen eigenen Tod. Und vorher werde ich dir Angst einjagen. Du hast doch Angst, nicht wahr, Dale?

Er wußte, daß ich Angst hatte. Nelson selbst spürte keine Angst: Er empfand nur Schmerz, Wut und eine morbide Genugtuung. Sein Todeswunsch hüllte mich ein, verlieh dem rötlichen Nebel eine schwärzliche Tönung. Tränen der Todesangst zurückhaltend, fuhr ich weiter.

Ich weiß nicht, wie lange ich gefahren bin und an wie vielen Steilhängen ich nur mit knapper Not davongekommen war. Tatsächlich bemerkte ich die Straße kaum noch, ich fuhr nur noch aus Reflex. So unerbittlich wie die Gezeiten schlugen Nelsons Gedanken über mir zusammen. Unsere Gedanken, Erinnerungen und Gefühle verschlangen sich ineinander, wurden durch die Wucht des Zusammenpralls gekrümmt und verändert. Ich sah seine Entscheidung, Arnos zu töten, wie er einen Angestellten der Fluggesellschaft und drei Tagediebe dazu brachte, die Flugzeugentführung zu planen und auszuführen. Ich sah Arnos’ Todesqualen und wußte, daß er zu spät erkannt hatte, was geschah. Nelsons augenblicklicher Plan lag offen vor mir – wie er versucht hatte, mich in die Hütte zu locken und sowohl den Telepathen-Sucher als auch noch den Beweis für sein Spielen zu zerstören. Ich fühlte seine Machtgier, seinen Zorn und seine Frustration – auf sich selbst, mich, die Welt –, seine Selbstzweifel … und all das wurde Teil von mir. Langsam ging ich verloren in diesem Ding, dieser Dale/Nelson-Kreatur, die gerade entstand, und das Wissen, daß Nelson ähnlich aufgesogen wurde, steigerte mein Entsetzen nur noch.

Und allzubald schon sah ich das Ende kommen.

Ich meine das wörtlich, denn in einem sehr realen Sinn hatte das, was immer noch von Dale Ravenhall da war, zwei verschiedene Körper. Ich konnte sowohl die Straße vor mir sehen, als auch einen majestätischeren Blick aus Nelsons Comanche werfen. Ich konnte die Vibration des Flugzeugs spüren, die beiden verschiedenen Steuerknüppel berühren … und ich wußte, daß der Todeskampf bald vorbei sein würde.

Ja, bald werden wir tot sein. War das mein Gedanke oder Nelsons? Nicht daß diese Unterscheidung noch etwas ausgemacht hätte. Ich hielt einen Moment inne, um durch Nelsons Augen einen Blick auf die Berge zu werfen, die ich nie mehr sehen würde … und plötzlich tauchte vor mir eine scharfe Linkskurve auf, die um eine Felswand herumführte.

Ich keuchte, und Nelsons Todeswunsch in mir zerbrach, als eine Woge von Überlebenswillen einen Teil meines Bewußtseins aus dem wachsenden Chaos herausschwappte. Ich trat heftig auf die Bremse, riß das Steuerrad hart nach links herum, und als das Quietschen der Reifen in meinen Ohren anschwoll, sah ich, daß ich die Kurve zu scharf genommen hatte. Die Bergwand raste auf mich zu, und ich lehnte mich zurück und nahm meine Kräfte für den Aufprall zusammen.

Die Welt explodierte mit einem gräßlichen Krach, und alles um mich herum wurde schwarz.

 

Ich erwachte langsam, schmerzvoll und mit einem Gefühl völliger Desorientierung, aber was ich zuerst bemerkte war die Stille. Es war wieder nur ich, Dale Ravenhall, und die andere Persönlichkeit war weg. War ich tot?

Er ist wach. Ich zuckte unfreiwillig zusammen, als der Gedanke meinen Geist berührte. Der andere spürte dies sofort und beeilte sich, mich zu beruhigen. Alles in Ordnung, Dale, alles in Ordnung. Ich bin’s nur, Colleen. Erinnerst du dich an mich?

Ich schluckte schwer und tastete mich zaghaft vor. Bist du das wirklich, Colleen?

Ich bin es wirklich. Und Gordy und Calvin sind auch hier, wenn du gerne mit ihnen sprechen möchtest.

Wie fühlst du dich? fragte Gordy.

Besser, antwortete ich. Ich wurde allmählich ganz wach, und die Erinnerungen kehrten zurück. Wo bin ich?

Sacramento, sagte Calvin.

Sie haben dich auf dem Luftwege dorthin befördert, nachdem du deinen Wagen zerschmettert hattest. Du hast Glück gehabt, nur kleinere Verletzungen.

Ja. Ich fürchtete mich vor der nächsten Frage, aber ich mußte sie stellen. Was ist passiert? Wie bin ich davongekommen?

Nelson verunglückte. Ging plötzlich in den Sturzflug über und flog direkt gegen einen Berg. Die Experten glauben, daß er gewendet hat und zu schnell herunterkam – es gibt jedenfalls kein Anzeichen für ein technisches Versagen.

Ich nickte innerlich. In jenen letzten Sekunden war ich sowohl in dem Cockpit der Comanche als auch in meinem eigenen Wagen gewesen – und in dem letzteren war ich nach links gefahren, hatte das Bremspedal getreten und das Steuerrad herumgerissen. Anscheinend hatte ich dasselbe auch im Flugzeug getan. Aber ich konnte den anderen nicht erzählen, was passiert war. Noch nicht.

Calvin sprach wieder. Du hast in den letzten drei Tagen unter Beruhigungsmitteln gestanden, während einige Psychiater Tests mit dir durchgeführt haben. Sie sagen, daß du alle Symptome einer Bewußtseinsspaltung hast, aber bei guter Pflege und etwas harter Arbeit gute Heilungschancen hast.

Unerwünschte Tränen stiegen mir in die Augen, und ich biß die Zähne zusammen, um sie zurückzuhalten. Vielleicht. Aber wer wird aus diesem Heilungsprozeß hervorgehen? Dale Ravenhall? Oder eine Dale/Nelson-Mischung?

Eine Pause entstand. Wir wissen es nicht genau, sagte Colleen sanft. Aber welche Veränderungen auch in dir vorgegangen sind, du bist immer noch Dale Ravenhall. Klammere dich an diesen Gedanken, diese Realität. Du bist immer noch unser Freund, und wir halten zu dir und geben dir alle Hilfe, die wir geben können.

Selbst wenn ich mich teilweise als Nelson entpuppe?

Wir hätten dasselbe auch für Nelson getan, sagte Calvin. Er war auch einer von uns. Versuche, ihn nicht zu hassen, Dale.

Ich hasse ihn nicht meinetwegen. Aber ich werde es ihm sobald nicht verzeihen, daß er Arnos auf die gleiche Art umgebracht hat, wie er versuchte, mich umzubringen.

Was meinst du damit, auf die gleiche Art?

Ich seufzte. Ich wollte all dies so gerne vergessen. Aber sie hatten ein Recht darauf, es zu erfahren. Nelson war nicht in Baja, als Arnos getötet wurde. Er war in Las Vegas.

Aber dort haben doch seine angeheuerten Entführer das Flugzeug übernommen. Colleen klang verwirrt.

Das war genau das, was er wollte. Versteht ihr nicht? Stellt euch vor, daß Arnos hilflos einem fatalen Kontakt mit Nelson entgegenrast, der vorgibt, rein zufällig dort zu sein. Ihr alle wißt, wie edel und selbstlos Arnos war. Was hätte er in dieser Situation getan?

Eine lange Pause entstand, in der Gefühle von Verwirrung über Entsetzen bis zu tiefer Trauer herrschten. Er würde eher Selbstmord begangen haben, als daß er beide hätte sterben lassen, sagte Calvin schließlich. Genau das ist geschehen, nicht wahr?

Ich nickte erschöpft, und Colleen mußte meine Müdigkeit gespürt haben. Ich glaube, wir gehen jetzt besser und lassen Dale etwas zur Ruhe kommen, sagte sie. Dale, wir werden so lange hierbleiben wie du. Also ruf uns, wann immer du Lust hast zu reden. Okay.

Klar, danke danke euch allen.

Paß auf dich auf, Dale. Wir reden später miteinander.

Ich wandte den Kopf zur Seite gegen das Kissen. Schlaf übermannte mich, und ich hieß dieses vorübergehende Vergessen willkommen, das er mir bringen würde. Ich bin Dale Ravenhall, sagte ich zu mir selbst und zu dem Universum um mich herum. Hörst du mich? Ich bin Dale Ravenhall. Ich bin Dale Ravenhall …

Ich sagte es wieder und wieder, bis zu dem Moment, als ich einschlief. Aber tief in meinem Innern wußte ich, daß es nicht vollständig wahr war.

 

RED THOUGHTS AT MORNING

by Timothy Zahn aus

ANALOG April 28, 1981

Übersetzung: Irmhild Hübner

Illustriert von James Odbert