Alison Tel Lure
Grünäugige Lady,
lachende Lady
„… so will es Ös, so befiehlt Ös, so geschehe es.“ Der Psalm endete. Junge Grünäugige Sie, von ihren Freunden Wink genannt, ließ allmählich die lang gehaltene Violettnote ausklingen. Sie war stolz auf ihre Fähigkeit, im heiligen Refrain die Frequenz Gottes präzise zu treffen und ohne Abweichung halten zu können, obwohl sie weder Priesterin noch Solistin war, sondern nur eine kleine Novizin. Aber das machte ihr nichts aus, es befriedigte sie sogar, wieder in der Anonymität des Chorus zu verschwinden. Rotfüßiger Er war nicht der einzige Freund, der sich nach ihrem Spektrum einstimmte, wenn der Chorleiter nicht hersah. Ein Funkeln und Flimmern über dem schattigen Rasen unter der Stadt Gottes erhellte die Nacht – das war das Volk, das die Sänger pries und ein devotes „Amen“ zum Gesang beisteuerte. Winks Augenfühler wandten sich flehend zum Heiligen Wasser und überblickten jenen in der hereinbrechenden Dämmerung kaum auszumachenden Ort, an dem sich etwas emporhob, was möglicherweise eine kleine Insel war. Doch wenn Gott den Psalm gesehen hatte, so gab Ös doch keine Zeichen. Der Chorleiter erlosch, bis er nur noch im Infrarotbereich strahlte, abgesehen von einem dunklen, grau-gelben Pulsieren, das über seinen Unterleib wogte: ein mißbilligendes Seufzen. Dieses löschte er rasch und blinkte seinen jungen Schülern höfliche Anerkennung zu.
Nach Beendigung der Feierlichkeiten zerstreuten sie sich und begannen mit den langen nächtlichen Aktivitäten, ihre Klauen kratzten über Kalkstein, sie blinkten und funkelten: müßiges Geschwätz. Wink sah Rot an ihrer Schulter.
„Hast du schon die neuesten Gerüchte gesehen?“ Seine Augenfühler ragten emsig nach vorn.
„Nein, und ich wünsche sie auch nicht zu sehen, dreister Müßiggänger“, antwortete sie virtuos in mißbilligendem Blau und Grau. „Hast du nichts Besseres zu tun, als unbedeutendem Tratsch hinterherzuspionieren? Das ist unerlaubte Kommunikation.“
„Aber nicht doch!“ Rot funkelte fröhlich, seine gute Laune schien ungetrübt. „Paß auf: Es wird eine Umbesetzung im Dienerkorps geben.“
Sie blitzte ihm ein angewidertes grün-gelbes Gekleckse entgegen. „Pah! … Solche Gerüchte gibt es zu allen Zeiten! Dein Gehirn scheint sogar noch kleiner zu sein, als ich immer angenommen habe. Solche Gerüchte erstrahlen häufig zu greller Helligkeit, woraufhin die Novizen ihre Zeit mit ihnen verplempern, doch zumeist verblassen sie wieder in die gefühlvolle Dunkelheit des Nachtlebens und hinterlassen als Fanal nur Frustration und zerbrochene Freundschaften. Und warum die Novizen ständig erwarten, daß die theoretisch freiwerdenden Stellen aus unseren Rängen aufgefüllt werden und nicht von den Fischern, denen diese Ehre weiß Gott gebührt, entzieht sich meiner Vorstellungskraft.“
„Nun, natürlich träumt jeder davon, die Härten des Fischens zu umgehen und direkt in den Dienerstatus aufzusteigen. Die Hoffnung keimt auf ewig in der Sterblichen Brust, so irrational das auch sein mag“, gab er mit einer albernen Sinuswelle zu, die über seine Mitte flackerte. „Und doch weiß ich dies aus zuverlässiger Quelle: Süßschuppe sah es direkt von Gimpe, die zufälligerweise zwei Älteste erblickte, die davon sprachen.“
„Laß den Unfug, die Leute beim Namen zu nennen!“ funkelte sie ängstlich. „Vielleicht sieht uns augenblicklich ebenfalls ein Ältester zu!“
Er reduzierte seine Intensität unmerklich, eine gleichgültige Reaktion. „Na und wenn schon! Soll er, sie oder Ös zusehen! Möchtest du noch etwas sehen?“
„Nein.“
„Gimper sagt außerdem …“ begann er.
Sie rollte mit den Augen – mit den Fühlern eine komplizierte Geste –, dann zuckte sie lachend mit dem Panzer, kurze Orangenblitze und Silberstrahlen sprudelten aus ihrem Hirnkasten und verpufften hinter ihr.
„Na gut! Ich erkenne, daß du erst zufrieden sein wirst, wenn du mir über alles Bescheid gezeigt hast, fahre also fort, ich habe noch einige Augenblicke Zeit.“
Er schnalzte mit der Kralle ungeduldig unter ihrem Kiefer, wandte sich aber erleichtert wieder seinem Klatsch zu. „Die Gimpe behauptet, daß sie dieses Mal wirklich einige Diener hinauswerfen werden, vielleicht sogar sieben oder acht. Zudem besteht die Möglichkeit, daß sie sie nicht durch Fischer ersetzen, wenigstens nicht alle. Ös sagt, das lange Fehlen Gottes bei unseren Gesängen und Feierlichkeiten habe die Priester und Ältesten so aufgeschreckt, daß sie sich bereits fragen, ob die derzeitigen Diener Ös in gewisser Weise beleidigt haben, oder ob sogar das ganze System eine Veränderung nötig hat. Man munkelt von einem Experiment. Und sieh mal, jeder weiß, daß dort draußen in der Wildnis etwas mit den Fischern geschieht. Nur die wenigsten werden durch die Erfahrung erleuchtet oder bleiben unbeschadet. Viele kehren … verändert zurück, unfähig, das Leben in der Stadt Gottes aufzunehmen, im Grunde genommen sogar für alles unfähig, für alles außer dem Fischen. Warum sollte es sich also bei dem erwähnten Experiment nicht darum handeln, daß die Ältesten vorhaben, Novizen als Diener anzunehmen?“
„Dein Pfad der Logik überquert tiefe Klüfte des Wunschdenkens, Rot“, meinte sie kichernd. „Doch was mich betrifft, so werde ich auch weiterhin auf meine Pflichtzeit als Fischerin warten.“
„Ach, auch wenn du dabei zur Wilden wirst?“ forderte er sie heraus, indem er ihr affektierte magentarote Spiralmuster mit flammend gelben Ornamenten entgegenschleuderte.
„Was könnte devoter und gesegneter sein, als das Leben damit zu verbringen, Gott zu füttern?“ gab Wink in gottesfürchtigem Purpur und Grün zurück.
„Es zum Wohle Ös’ direkt hier in der Stadt Gottes zuzubringen!“
Wink lachte jedoch nur und behielt ihre Meinung für sich.
Doch drei Nächte später wurde Wink selbst von einem Diener Gottes aufgehalten, während sie den schlammigen Pfad zum See hinabging, um ein kleines Opfer darzubringen.
„Bist du Grünäugige Sie?“ blitzte der Diener.
„Ja, Ehrenwerter“, glomm Wink fast unsichtbar.
„Folge mir. Und sei gefälligst etwas heller, ich werde alt und kann bestimmte Frequenzen, die ich einst schauen konnte, nicht mehr sehen“, befahl er brüsk und wandte sich um, um mit einer Behendigkeit, die sein hohes Alter Lügen strafte, einen von Ästen verhangenen Pfad hinaufzueilen.
„Ja, Sir!“ sagte Wink schüchtern. „Ich meine: JA, HERR!“
„Du mußt nicht die ganze Stadt beleuchten, Küken, so blind bin ich noch nicht … Noch nicht zu blind zum Reden, noch nicht so blind, mich selbst als Gottes Fraß ins Heilige Wasser zu werfen, nein, bei Gott, so blind noch nicht!“ Wink erkannte, daß er selbstvergessen vor sich hinglomm, und blieb weise dunkel.
Zum ersten Mal in ihrem Leben betrat sie nun den großen Steintempel, in dem sich auch der ursprüngliche Pier befand, der in uralten Zeiten von den Begründern erbaut worden war. Die blanken, leeren Panzerhüllen längst vergessener Hof-Hierophanten säumten die Wände, die zu diesem heiligsten aller heiligen Altare führten, der die Jahre überdauert hatte. Doch der ältere Diener drängte sie in einen Seitenkorridor und durch ein Labyrinth von Fluren, die – Wink gab ein rasches, grünes Überraschungsblinken von sich, das sie jedoch hastig verbarg – direkt ins Büro des Hohenpriesters führten.
„Das ist sie“, sagte ihr Führer, der sich umwandte und den Weg zurückhuschte, den sie gekommen waren.
Der ehrwürdige Priester betrachtete sie einige Augenblicke lichtlos, während er die Fühler meditierend hierhin und dorthin bewegte.
„So, du bist also Grünäugige Sie, die man, soweit ich informiert bin, Wink nennt“, begann er schließlich. „Der Chorleiter ist des Lobes voll von dir, wenn er die Reinheit und Klarheit deines Spektrums preist. Er hat die Meinung geäußert, daß du, mit einer weiterführenden Ausbildung, eine gewisse Virtuosität in der feinsten Unterscheidung zwischen den Wellenlängen erreichen könntest. Nun, was hast du dazu zu sagen?“
„Daß … daß ich mich durch die Worte des Chorleiters geehrt fühle und hoffe, mich seiner Worte würdig zu erweisen.“ Wink wurde durch dieses unerwartete und formlose Gespräch völlig aus der Fassung gebracht.
„Deinem Brutschützer Langfühler entnehme ich außerdem, daß du dich der Dienerschaft ehrfürchtig und aufrichtig verbunden fühlst. Jeder, den ich gesprochen habe, versicherte mir, daß der Grund dafür bei dir nicht, wie bei so vielen anderen, in dem süßen Leben begründet hegt, das denjenigen winkt, welche die Risiken des Fischens überleben. Eh? Bist du eine Spielernatur? Siehst und verbreitest du gerne Gerüchte darüber, daß Novizen direkt in die Dienerschaft übernommen werden? Eh?“
Wink strahlte vor Verlegenheit tief erdfarbene Töne aus. Offensichtlich hatte jemand ihre Unterhaltung mit Rot beobachtet und gemeldet. „Nein, Ehrenwerter. Es stimmt, einmal sah ich eine solche Vorstellung, doch ich widmete ihr keinen weiteren Gedanken. Ganz gewiß aber habe ich sie nicht weiterverbreitet! Ich trachte nicht danach, mich vor der Fischerpflicht zu drücken. Ganz im Gegenteil, ich betrachte sie als eine Ehre. Jeder weiß, daß alle Diener Gottes ihre Privilegien wahrlich verdient haben, denn sie alle waren einst Fischer. Würde ein Novize nun Diener werden, ohne zuerst Fischer gewesen zu sein, würde der Respekt vor der gesamten Dienerschaft bald schwinden.“
Der alte Er kicherte, kleine silberne Blitze waberten über seinen Panzer. „Deine Worte ähneln denen sehr, die ich gestern nacht bei einem sehr langen und kontroversen Streitgespräch sah. Doch darum wollen wir uns im Augenblick nicht kümmern. Ich werde dich jetzt den Katechismus abfragen. Wer ist Gott?“
Dieser plötzliche Themenwechsel brachte Wink beinahe aus der Fassung.
„Gott ist Ös, Der die Welt und den Himmel erschuf, die Sterne, die singen, und die Sonne, die züchtigt, und Der die Sterblichen aus dem Schlamm und dem Schilfrohr vom Ufer des Heiligen Wassers erschaffen hat – er ist ewig, weise, allmächtig und gut.“
„Welches ist der Zweck des Lebens?“
„Gott zu dienen.“
„Wohin gehen wir, wenn wir sterben?“
„In Schlamm und Wasser des Heiligen Sees, aus dem wir zum Ruhme Gottes kamen, der unseretwegen hungert.“
„Wenn Gott kein Geschlecht wie die Sterblichen kennt, warum nennen wir Gott dann Ös?“
„Weil Ös uns ernährt, uns, Seine moralischen Schützlinge.“
„Wer ist der Böse?“
„Der Feind allen Lebens, der am Anbeginn der Zeiten seine teuflischen Sklaven gegen das Erwählte Volk Gottes ins Feld schickte, doch Gott stärkte sie und unterstützte ihre Pläne, und er rang mit den Dämonen und verbannte den Bösen.“
„Das genügt. Alles richtig. Wenn ich dir nun aber sagen würde, daß dies alles falsch ist, daß Ös weder Welt noch Himmel schuf, noch Sterbliche aus Schlamm oder sonst etwas fertigte, daß Ös weder ewig, weise, allmächtig noch gut ist, daß der Zweck des Lebens lediglich darin besteht, zu leben, zu wachsen und sich zu verändern – während wir allerdings tatsächlich in den Heiligen See wandern, um von Gott verschlungen zu werden, wenn wir sterben, was allerdings nur deshalb geschieht, um den Fischern eine Last abzunehmen und zu niemandes Ruhm, daß Ös nur einen einzigen Nachkommen hervorgebracht hat, der gestorben ist, daß Gott möglicherweise einst einige Unterlinge des Bösen überwand, Ös aber niemals den Bösen verbannte, der keineswegs der Feind des landgebundenen Lebens ist …“
Wink war schockiert erschwarzt. „Aber wer würde solche Blasphemien wagen …?!“
„Gott wagt sie.“
Es dämmerte fast, als sie benommen und zitternd den Tempel verließ. Sie beeilte sich nicht, in die kühle Sicherheit ihres Brutheims zu gelangen, sondern schritt langsam und nachdenklich dahin. Auch als der Himmel im Osten weißlich zu glühen begann, war sie mehr mit der gleichfalls gleißenden Beleuchtung in ihrem Innern beschäftigt. Erst als furchtsame, kränklich-grüne Aufgeschrecktheit in ihren Augen brannte, erkannte sie, wie spät es war. Ihr Brutschützer war herausgekommen, um nach ihr zu suchen, und nun trieb er sie zur Eile an, rasselte furchtsam und blinkte und funkelte andauernd. Sie hielten die Augen unterhalb der Bauchflansche, um sie vor der aufgehenden Sonne zu schützen. Nachdem sie der besorgten Standpauke ihres Beschützers entkommen war, floh sie tief in die gekrümmten Korridore zu ihrer einsamen kleinen Nische, die ihr seit ihrer Aufnahme zur Novizin gewährt wurde. Hier konnte sie Frieden finden …
Nein. Niemals wieder.
Wie sollte sie jemals wieder Frieden finden, nachdem der Hohepriester die Fundamente ihres Universums zerstört hatte, wie Gott Ös es selbst vor einigen Nächten bei ihm getan hatte?
„… denn Gottes jüngste Gleichgültigkeit gegenüber uns, war für uns Anlaß zu ernster Sorge“, sagte der alte Rasch Verändernde Flecken, nachdem sie sich teilweise vom ersten Schock und der ersten Bestürzung erholte hatte. „Die höchsten unter uns gingen zum Altar und riefen Ös an. Doch Ös sah uns nicht oder wollte uns nicht sehen. Daher rief ich nach dem Schiff, nahm noch zwei andere als Zeugen mit – und als Ruderer – und machte mich auf den dunklen Gewässern des Sees auf die Suche nach Gott. Dann stieg Gott empor, und ich erzitterte vor der Majestät, welche Ös ausstrahlte, und Ös sagte: ‚Was willst du von mir, kleiner Wicht?’ Und ich sammelte allen Mut und antwortete: ‚Deine Kinder wünschen zu erfahren, aus welchem Grund Du ihnen gram bist, und was sie tun müssen, um Deine Gnade wieder zu erlangen.’ Und Gott sagte: ‚Halt ein, ich bin ihnen nicht gram, doch sehr in Gedanken versunken, denn die Zeit vieler Veränderungen und großer Ereignisse rückt näher.’ Dann fragte Ös mich den Katechismus ab wie ich dich, und Ös sprach zu mir … Ös zeigte mir … Wunder … Schrecken … und … und dann ruderten wir zurück, meine Priester und ich, und so geblendet waren wir vom Licht, daß uns die Nacht schwarz und sternenlos erschien.“
„Was hat Ös dir gesagt …?“ hatte sie zu fragen gewagt.
„Ich glaube, das wird Ös dir selbst sagen wollen.“
Sie, sie sollte Gott sehen, zu Gott sprechen, die langsamen, göttlichen Worte von Ös mit eigenen Augen schauen! Sie, Wink!
„… Warum ich?“ hatte sie verzweifelt geschimmert.
„Es ist Gottes Wille, daß eine gehen soll, die jung, gesund und stark ist, die über die meisten Diener hinausragt, die geschickt ist in der Gabe der Kommunikation, die eine gute Sängerin mit klarem Verstand ist, deren Fähigkeiten die eines unglücklicherweise sehr hohen Prozentsatzes von Fischern und früheren Fischern überragen, Diener oder nicht … ganz besonders aber eine, die geduldig ist, über einen offenen Geist verfügt, die nicht allzu sehr von den Binsenweisheiten unserer Gesellschaft geprägt ist, die intuitiv, phantasievoll und überdurchschnittlich intelligent ist. Damit scheidet der größte Teil der Bevölkerung auch schon aus. Darüber hinaus halten wir es für ratsam, diese neuen Vorstellungen vorerst noch unter uns zu behalten. Hinzu kommt auch noch unsere Forderung, daß die Kandidatin einen guten Leumund besitzen und die Notwendigkeit der Pflichterfüllung hinreichend begreifen muß. Daher befragte ich die Kasten der Priester und Brutschützer, wobei dein Name am häufigsten genannt wurde.
Und was deinen Eintritt in die Ränge der Dienerschaft anbelangt, so ist zur Genüge bekannt, daß nur ein Diener Gottes die besonderen Worte Gottes sprechen und verstehen darf, nicht wahr? Sobald du deine Spezialausbildung beendet hast, wirst du deine neuen Pflichten antreten.“
„Es geschehe nach deinem Willen, Ehrenwerter“, glimmerte sie sanft. „Doch bedeutet das, daß ich niemals Fischerin werden kann?“
„Hattest du tatsächlich damit gerechnet?“
„Ich habe darauf gewartet, vielleicht nicht voller Freude, aber voller … Neugier.“
Er dachte einen Augenblick nach. „Zweifellos die Asketin in dir. Doch dies wird ein weit größeres Abenteuer werden.“
Gott sprach anders als die Sterblichen. Wer konnte ahnen, wie die Gottheit über das Universum meditierte, oder gar – ein unglaublicher Gedanke – mit anderen Einheiten ihrer Art in Gemeinschaft lebte? Doch für die begrenzte Auffassungsgabe der Sterblichen hatte Gott ein lichtspendendes Organ aus dem heiligen Fleisch gefertigt, das nicht so funktionierte wie das der Sterblichen, sondern das riesig, langsam, einfach und nüchtern im Ausdruck war, wie es der Würde eines Gottes wohl zukam.
Wegen seiner Unzulänglichkeiten – die Gott selbstverständlich vorsätzlich als Kotau vor dem Stolz seines Volkes eingeplant hatte –, was Spektrum und Nuancierung der Ausdrucksformen anbetraf, unterschied sich die Ausdrucksweise nicht nur von der Sprache des Erwählten Volkes, sondern auch von den Sprachen aller anderen Stämme, die sie jemals erobert oder sich eingegliedert, oder mit denen sie sonstigen Kontakt gehabt hatten. Dieses Kodesystem der göttlichen Sprache mußte jeder Novize studieren und sich fest einprägen, bevor er oder sie (niemals es) auf eine Beförderung hoffen konnte. Oftmals verloren die Kandidaten vieles von diesem Wissen wieder, während sie lange Jahre als Fischer Gottes tätig waren, so daß sie es bei ihrer Rückkehr in die Stadt erneut lernen mußten.
Gelegentlich war es im Verlauf vieler Generationen dazu gekommen, daß hierophantische Administratoren den Versuch unternommen hatten, dieses scheinbar unzureichende System zu verändern, um beispielsweise unausgebildete Novizen in jungen Jahren in die Wildnis hinauszuschicken und erst nach Erfüllung dieses Teiles ihrer Pflicht mit der Ausbildung zu beginnen. All diese Experimente waren unweigerlich gescheitert. Den Jüngeren fehlte die Reife, den Versuchungen der Wildnis zu widerstehen, wohingegen die ehemaligen Fischer außerstande waren, ein komplexes Konzept zu begreifen, dessen Wurzeln sie nicht schon früher in sich aufgenommen hatten. Daher mußte schon in jungen Jahren eine solide Basis eklektischer Ausbildung erfolgen, in deren Verlauf die Grundlagen eines jeden bedeutenden Themas gelehrt werden mußten, das sich eines Tages als nützlich erweisen konnte.
Nun wurden die endlosen numerischen und willkürlichen Symbole der Sprache Gottes zu Winks ganzem Lebensinhalt. Glücklicherweise mußte sie nicht lernen, sie selbst zu sprechen, da Gott – selbstverständlich – die Gedanken der Sterblichen verstand, noch bevor sie sichtbar wurden, doch sie mußte lernen, Ös zu verstehen, wenn Ös sprach. Wenn sie am Abend erwachte, stand ein Diener über ihrer Sandgrube und blitzte ihr Phrasen in abgewogenen Kadenzen der göttlichen Sprache zu, die sie nach kurzem Nachdenken in die Umgangssprache übersetzen mußte. Sogar während des Essens mußte sie lernen. Ihre Gebete führte sie an der Seite einer Übersetzungslehrerin aus, die selbst während dieser Zeit von allen anderen Pflichten entbunden wurde. Sie beseitigte ihre Abfallstoffe, striegelte ihren Panzer und die unterteilten Gliedmaßen, verstaute ihre noch ungeformten und nicht lebensfähigen Eier im dafür vorbereiteten Lehm und nahm alle Mahlzeiten mit Gesellschaftern ein, die ihr ununterbrochen zublitzten. Und wenn sie am Morgen die müden Augen zum Schlaf schloß, sah sie vor dem geistigen Auge immer noch die Symbole und versuchte, sie zu entziffern. Das ewige Umber, Roe, Beinschwarz, Umber, Beinschwarz, Rose, Umber, Rose, Beinschwarz … das ständige drei, zwei, zwei, drei, eins, drei, drei, vier, eins, drei, zwei, vier, vier … das niemals endende oben-ausblenden, oben-scharf, links-ausblenden, unten-ausblenden, rechts-scharf, unten-scharf … das langwierige und unzusammenhängende vier rechts-scharf Rose, zwei links-ausgeblendet Umber, eins unte-nausgeblendet Beinschwarz …
Sie hatten sie von der Hütte ihres Brutschützers in den kalten Steintempel übersiedelt. Die Flure quollen über von anderen Studenten, Meßgehilfen und Geweihten, doch Wink war allein mit ihrem einzigartigen und einseitig ausgerichteten Intensivkurs, und sie lebte auch allein in einem winzigen Kämmerchen. Manchmal sehnte sie sich danach, auszureißen und, so schnell sie ihre sechs Beine trugen, zur Wohnung des alten Langfühler zu eilen, um der Dienerschaft zu entsagen und endlich wieder frei mit Rot, Gimpe und ihren anderen Freunden scherzen zu können.
Doch dann wurde sie wieder von der Hingabe an ihre Pflicht übermannt. Drei links-scharf Beinschwarz …
Sie mußte allen anderen Interessen entsagen. Sie lebte nicht nur von ihren Brutgefährten und Kameraden getrennt, was an sich schon eine große psychologische Belastung darstellte, sondern sie mußte darüber hinaus auch noch jede intellektuelle Beschäftigung einstellen, die in keinem direkten Zusammenhang zu ihrer Aufgabe der Kommunikation mit Gott stand. Der Hohepriester konnte seine Ungeduld kaum ihren Fortschritten angleichen, doch verglichen mit dem, was andere im selben Zeitraum erreicht hätten, konnte er ihr wahrlich keinen Vorwurf machen. Doch er hatte sein Leben den Diensten Gottes verschrieben, und daher wurmte es ihn, daß er nicht unverzüglich einen Schüler herbeischaffen konnte, der den Wünschen von Ös entsprach. Wink konnte zusehen, wie ihre Kindheit binnen weniger Tage hinter ihr zurückblieb, nicht in den Jahren, die ihr normalerweise noch verblieben wären. Die Möglichkeit zu einer normalen Entwicklung und Reife wurde ihr für immer genommen.
Doch sie tat ihr Bestes, ihr inneres Auge niemals von den Worten des Hohepriesters abzuwenden: „… ein weitaus größeres Abenteuer …“
Im Westen verblaßten die letzten Lichtstrahlen, die Sterne erschienen in zahllosen Choralschwärmen und sangen ihr hohes, herrliches, unverständliches Sphärenlied. Wink kam langsam aus ihrer dunklen Kammer hervor und bahnte sich ihren Weg durch die verschlungenen Flure zur großen Kühlnabe. Ihre Klauen klapperten auf den nassen Steinen, während sie zum Altar hinabschritt. Die Diener Gottes erwarteten sie dort, ihre Psalmen und Gebete schimmerten und funkelten. Sie ging an ihnen vorüber und kletterte am Altar – dem Dock – zu dem kleinen Ruderboot hinab, wo sich ihre beiden Ruderer bereits eingefunden hatten, jüngere Meßdiener, die vor Ehrfurcht ganz dunkel waren. Diese verstanden die Gottessprache nicht. Die Ruder tauchten ins Wasser ein.
Weit draußen auf dem dunklen Wasser wurden sie wieder eingezogen. Das Boot schaukelte. Von Gott war keine Spur zu sehen. Am fernen Ufer ragte undeutlich der Tempel auf; die Priester hatten ihre Rituale beendet.
Wink vergewisserte sich, daß ihre Gefühle nicht auf dem Panzer zu sehen waren, nahm allen Mut zusammen und sang dann Gottes heiligen Namen, das lange, purpurne Glühen mit einer oberen Harmonie ins Ultraviolette. Die Wasser des Sees akzeptierten ihn, verbreiteten ihn …
… Minuten verstrichen. Wink saß still und hörte nichts. Sie hielt den Ruf und ihre ehrfürchtigen Gedanken aufrecht. Dann wuchs langsam die unbehagliche Gewißheit, daß sie beobachtet wurde. Ihre Augenfühler schwenkten in alle Richtungen. Nichts. Doch immer noch erglühte sie in den oberen Frequenzen, doch der Schein wurde dunkler. Man merkte ihr die Anstrengung an.
Plötzlich schien das Heilige Wasser selbst zu kichern, ein strahlendes Flimmern silberner Fünkchen breitete sich in konzentrischen Kreisen von einem Punkt direkt unterhalb des Bootes aus. Dann – ohne daß sie dessen Annäherung bemerkt hätte – blickte sie plötzlich in ein riesiges gelbes Auge, das keine Zangenspanne von ihren grünen Augen entfernt war. An der anderen Seite des Bootes stieg ein zweites Auge aus dem Wasser empor und schenkte ihr seine ganze Aufmerksamkeit – dieses war blau. Nun konnte sie, im Licht ihres verblassenden Tones, unter dem Boot einen riesigen und dunklen Buckel ausmachen. Aus diesem begann ein annähernd kreisförmiger Ausschnitt in den nur zu vertrauten Farben Rose, Beinschwarz und Umber zu schillern, doch die Lichtbrechung an der Wasseroberfläche machte die Botschaft unverständlich. Zaghaft tauchte sie ein Auge ins Wasser.
„… sie haben beschlossen, mich zu entsenden.“
„Willkommen in meinem Reich, kleiner Wicht.“
Der massige Gott versank in den lichtlosen Tiefen.
Wink wurde vollkommen blank. Ihr ganzer Mut verließ sie augenblicklich.
„Fürchte dich nicht. Laß dir Zeit. Mein Leben ist lang.“ Auch diese Feststellung wurde von humorvollen hellen Blitzen begleitet.
Da erlangte sie ihre Fassung wieder.
„Ich verneige mich vor Deiner allmächtigen Göttlichkeit“, sagte sie, wie man es ihr beigebracht hatte. „Ich übertrage mich dem Willen Gottes.“
„Wie heißt du?“
„Man nennt mich Grünäugige Sie, Höchste Heiligkeit.“
„Nun denn, Grünäugige Sie, es ist mein Wille, daß du dein wertvolles Selbst nicht so erniedrigen sollst … Wieviel haben sie dir erzählt? Weißt du, wie deine Arbeit aussehen soll? Hat jemand Gott der Blasphemie bezichtigt? … Unterbrich mich ruhig, wenn du willst. Ich weiß, ich spreche viel zu langsam für euch kleine Heißsporne.“
Wink blinkte schwarz und orange in rascher Folge, sie war verblüfft und fassungslos. „Der Hohepriester hat mir mitgeteilt, Du hättest ihm gesagt, ein Großteil unseres Glaubens würde … nicht ganz dem entsprechen … was wir vermeinten. Er sagte mir, Du wolltest Dich mit einer jungen Person unterhalten, weil keiner der alten Diener Dir recht sei. Sie brachten mir die Gottessprache so rasch bei, wie mein armer schwacher Verstand sie erlernen konnte. Nun bin ich hier, doch ich lerne immer noch.“
„Ich vermute, sie haben dich gehetzt, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Auf eine eurer kurzen Generationen mehr oder weniger kommt es mir nicht an.
Nun möchte ich gerne den Sachverhalt etwas klären. Ich möchte, daß du meine Botschafterin bei deinem Volk wirst. Ich wollte eine junge, neue Person, denn mir ist aufgefallen, daß dein Volk Schwierigkeiten hat, Ungewöhnliches zu lernen, sobald einmal die Mitte des Lebens überschritten ist. Ich wollte eine intelligente Person, da vieles von dem, was ich dir erzählen möchte, schwer zu begreifen sein wird, doch du mußt imstande sein, es auch den Rückständigsten deines Volkes so zu erklären, daß sie es akzeptieren können. Schlußendlich wollte ich noch eine Sängerin, da ich euren Liedern gerne zusehe. Und da ich oft einsam bin, wird es Teil deiner Pflichten sein, mich zu unterhalten.
Die Regeln lauten folgendermaßen: Ich werde sprechen, du wirst zusehen. Doch da ich so langsam spreche, erteile ich dir hiermit die Erlaubnis, dazwischenzufunken, wann immer es dir gefällt. Du kannst ganze Antwortsätze zwischen zwei meiner Worte pressen. Und wenn du erraten kannst, was ich sagen möchte, dann zeige es mir. Ich werde dir dann mitteilen, ob du recht oder unrecht hast, und dann können wir fortfahren. Damit können wir viel Zeit sparen. Stimmst du zu?“
„Ob ich zustimme? Selbstverständlich, Gott. Gottes Wille geschehe.“
„Dabei fällt mir ein: Ich nehme an, dein Hohepriester hat dir dieses Gottbrimborium beigebracht?“
„… Daß Du … seltsame und wundersame Dinge gesagt hast, ja.“
„Hier ist die Wahrheit: Ich bin kein Gott, wenigstens nicht im Sinne eines Schöpfers und Beherrschers des Lebens oder der natürlichen Phänomene in der Welt. Ich beherrsche nichts und habe wenig vollbracht. Ich bin alt, doch verglichen mit dem jüngsten der Berge bin ich nur ein Winzling. Ich bin stark, doch ich fürchte mich ebenso wie du vor der Sonne, und ich kann mich nicht mehr sehr weit aus dem Wasser erheben. Ich bin groß, doch verglichen mit einem meiner Feinde, der im Großen Ozean lebt, bin ich nur ein Nichts.“
„Der Böse“, sagte sie, indem sie Ös beim Wort nahm und Ös unterbrach.
„Ja. Das ist Yd. Und Yd ist böse, soweit ist euer Glaube richtig. Später werden wir uns noch weiter über Yd unterhalten, doch zuvor mußt du mehr von mir erfahren.
Ich herrsche nur deshalb über dein Volk, weil ich dessen Erlaubnis habe. Doch ihr profitiert auch davon. Meine Weisheit und – sagen wir – eindrucksvolle Erscheinung haben es deinem Stamm ermöglicht, sein Gebiet auszudehnen und sich über alle anderen vergleichbaren Gruppen zu erheben. Mein Vorteil ist, daß ich ohne Unterstützung deiner Gesellschaft nicht lange überleben würde.“
Wink erlosch.
„Oh, beruhige dich wieder. Das stimmt schon. Ich esse sehr viel. Und der See ist nicht groß genug, alle meine Bedürfnisse zu stillen. Ohne die Arbeit eurer Fischer … nun, vielleicht würde ich nicht gerade verhungern, ich könnte immer noch schrumpfen. Aber ich habe inzwischen einen Punkt erreicht, wo ich meine Größe nicht weiter verringern kann, ohne dabei etwas von meinem Intellekt einzubüßen. Das möchte ich aber lieber nicht. Doch ich habe mich oft gefragt, wie ihr es euch leisten könnt, mich zu unterstützen.“
„Aber Gott! Du bist die Quelle allen Wissens, aller Künste der Zivilisation, aller Überlegenheit über andere Stämme, aller Macht …“
„Nun gut. Ich nehme an, ich habe meine Schuld beglichen. Aber, kleine Grünauge, ich glaubte, du verstündest nun, daß ich kein Gott bin.“
„Doch wie soll ich Dich dann nennen?“
„… Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Du kannst mich auch weiterhin Gott nennen, wenn du möchtest, auch gegenüber deinen Gefährten, wenn du es für politisch klug hältst. Doch du mußt mich nicht als Gott betrachten. Betrachte mich lieber als … oh, als Gefangenen des Sees. Oder vielleicht als deinen größten Zuhörer. Oder als das Wartende Ös.
Oder du könntest mich bei meinem wahren Namen nennen, der mir vor langer Zeit von meinen Freunden gegeben wurde, von denen meiner Art, von meinem lang betrauerten Volk.“
„Und wie lautete der, Großmächtiger?“ schimmerte sie sanft, von plötzlicher Sympathie für die Gottheit erfüllt.
„Himmelssänger.“
„… Von meinen Gefährten wurde ich in unseren Begriffen als ‚Künstler’ oder ‚Poet’ bezeichnet. Ich war es, der die Augen erfand und zuerst den Schein der Sterne wahrnahm. Daher kommt der Name Himmelssänger. Selbstverständlich ist meine Gabe der Lichtsprache nur sehr beschränkt, daher mußtest du so mühselig diesen unbeholfenen Kode erlernen. Ich weiß, für dich bin ich kein Sänger, und doch würde es mich freuen …“
„So soll ich dich demnach bei diesem Namen nennen … Himmelssänger“, antwortete sie zögernd.
„Danke. Es ist lange her, seit ich einen Freund hatte, der mich beim Freundesnamen nannte.
Und nun möchte ich dir erzählen, wie mein Volk starb.“
Vor langer Zeit, als die Welt noch jung war, da lebte ein riesiges Meeresungeheuer. Dieses Monster war das erste und einzige seiner Art, und daher hatte es auch keinen Brutschützer, der es liebte und sich seiner annahm. Nun weiß aber jeder, daß ein Junges, das ohne die fürsorgliche Liebe eines Ös aufwächst, keine sehr liebenswerte Person wird. So war es auch mit diesem Monster.
Es war weder er noch sie noch es und doch von allem etwas, daher machte es selbst ein Kind. Doch es liebte sein Kind nicht, denn das hatte es nie gelernt. Daher schickte es das Junge in die Verbannung.
Doch das Kind wuchs und erzeugte ebenfalls Kinder, und da es – nach Ungeheuermaßstäben – etwas dumm war, machte es einige beinahe gleichzeitig. Diese Kleinen aber hatten einander als Spielkameraden und zum Liebhaben, daher wurden sie ganz anders als Eltern und Großeltern. Diese neuen Geschöpfe – wir werden sie nicht Ungeheuer nennen – redeten und schwammen und erforschten die Meere und spielten mit Gedanken und machten Kinder und freuten sich an der Welt, bis sie eines Nachts erkannten, daß die Nahrung knapper und knapper wurde, und sie entdeckten, daß Kind – das zweite Ungeheuer, mußt du wissen – viel zu groß geworden war und viel zu Vielfraß. Sie bemühten sich, es auf seine Irrtümer aufmerksam zu machen, doch ungeachtet seiner Größe und Zahl an Jahren war es ziemlich dumm geblieben. Bis es das Offensichtliche nicht mehr länger ignorieren konnte und versuchte, in den Großen Ozean einzudringen, wo das Älteste, das Erste, noch lebte. Doch dieses Ungeheuer verfügte nun über viele kleine Sklavenungeheuer, starke Kämpfer, die das große Kind gemeinsam töteten.
Daraus ergaben sich für die anderen Geschöpfe keine zwingenden Probleme, doch einige dachten besorgt über die Persönlichkeit ihres geheimnisvollen Nachbarn nach, der niemals hervorkam, um sich ihrer Gemeinschaft anzuschließen.
Jahrtausende später wurden ihre schlimmsten Träume Wirklichkeit, das Ungeheuer griff an. Zuerst vergiftete es insgeheim zwei ihrer Art, um jedmöglichen Vorteil zu erringen, dann sammelte es seine Krieger um sich und begann mit der Invasion. Doch die Geschöpfe hatten immer nur in Frieden gelebt, sie wußten nichts von Kämpfen. Sie hatten keine natürlichen Feinde in den Meeren, denn sie waren bis zu diesem Zeitpunkt zu groß und zu stark gewesen …
Das Ungeheuer tütete sie alle.
Alle, bis auf eines, das weit dem Lauf des Flusses gefolgt war und sich zu jener Zeit in einem breiten Hochlandsee aufhielt. Diesem gelang es, die Sklaven jenes Ungeheuers glauben zu machen, sie hätten es getötet, und das meldeten sie auch.
Nun wäre das Geschöpf im See wirklich sehr einsam und unglücklich gewesen, hätte es nicht die Freundschaft eines ganzen Schwarmes winzigkleiner Wesen besessen, die zwischen den Felsen am Seeufer lebten und die ihm bei der Vertreibung der Kämpfer unschätzbare Dienste geleistet hatten. Es wußte um die Intelligenz dieser kleinen Geschöpfe, wenn sie auch nicht sprachen wie sein eigenes Volk, und es dachte, daß es in ihnen vielleicht etwas gefunden hatte, das sich nach Ablauf vieler Zeiträume in eine Waffe der Rache an dem Ungeheuer verwandeln ließ. Denn wenn seine kleinen Freunde jemals ein Stadium erreichten, in welchem sie über das Meer zu anderen Ländern reisen wollten, würden sie sich mit dem Ungeheuer auseinandersetzen müssen. Daher beschützte es sie, so daß ihre Zahl ständig zunahm, und sie und das Geschöpf wurden im Lauf der langen Jahre, in denen die Sterne am Himmel ihre Bahnen zogen, mächtig, was Kraft und Weisheit betraf.
Noch irgendwelche Fragen?
„Es ist eine außergewöhnliche Erfahrung, die Grundlagen des eigenen Glaubens auf solche Weise erzählt zu bekommen, als wären es die Mythen ausländischer Barbarenstämme, die keinen echten Gott zum Vorzeigen haben.“
„Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr aufgewühlt, kleine Grünauge.“
„Nein, ich glaube nicht. In gewisser Weise bin ich sogar … erleichtert!“ Ein Aufglühen von Orange und Grün: überraschtes Begreifen. „An manchen Stellen ist diese Geschichte sogar glaubwürdiger als die alte.“
„Gut. Die Dämmerung ist nahe, kleines Geschöpf. Du gehst nun besser nach Hause zurück. Tut mir leid, daß ich so lange brauche, etwas zu sagen … Oh, noch etwas. Mein erster neuer Befehl an dein Volk: Sag ihnen, sie sollen mit dem Heranzüchten von langen und flexiblen Mündern beginnen. In einigen Generationen werde ich noch andere Aufgaben für sie haben.“
„… Wie?!“ Eine spiralförmige graue Wolke.
„Eure Pinzettenklauen sind für einige Aufgaben bewundernswürdig geeignet, und ihr könnt wahrlich ausgezeichnete Arbeiten mit ihnen vollbringen. Oftmals erfüllt mich Bewunderung für die Gaben, die mir eure Kunsthandwerker anfertigen. Und doch – sie sind nicht fein genug für gewisse Dinge, die mir vorschweben. Ich habe lange darüber nachgedacht, und die Münder scheinen mir die einzigen geeigneten Körperteile zu sein.“
„Aber … aber Gott … Himmelssänger … Großmächtiger … Wie kann man denn gewisse Eigenschaften ‚züchten’?“
„Oh ja, ihr seid wenig bewandert in der Weitergabe genetischer Informationen. Dadurch seid ihr anpassungsfähig geblieben. Sag mir, eure Sies konkurrieren doch untereinander um die weichsten und sandigsten Orte, um ihre Eier abzulegen, richtig? Würde man es als ein Privileg ansehen, sie am Ufer des Heiligen Wassers ablegen zu dürfen?“
„Selbstverständlich! Aber das erlauben die Priester nicht. Sie befürchten, daß eine gewaltige Völkerwanderung einsetzen würde, so daß das Ufer bald verwüstet und verunstaltet wäre, was Gott doch gewiß mißfallen würde.“
„Sag ihnen, sie sollen einen weiten Teil des Ufers umzäunen und das Tor bewachen lassen. Dann sollen sie nur jene Sies mit den ausgeprägtesten Mündern einlassen. Wenn sie ihre Eier abgelegt haben und wieder verschwunden sind, sollen sie nur jene Ers mit denselben Merkmalen einlassen, um sie zu befruchten. Schließlich sollen nur die erfolgreichsten und hingebungsvollsten Geschlechtslosen eingelassen werden, um die Jungen von jenem besonderen Ufer auszubrüten.
Gebt unter allen Stämmen, die der Oberhoheit eures Stammes unterstellt sind, die Tatsache bekannt, daß Gott solche Mundpartien besonders schätzt. Sie werden dann bald selbst mit der Ausarbeitung eines solchen Systems beginnen. Und gebt weiterhin bekannt, daß den Ers, die jenen besonderen Eiern entspringen, außergewöhnliche Privilegien zuteil werden. Doch das hat auch in einer Generation noch Zeit.
Erzähle ihnen nur von dem Zaun am Ufer, Liebchen. Und spute dich, das Licht umspielt schon die Hügelkuppen im fernen Osten.“
Doch die Ruderer legten sich bereits mit allen Kräften ins Zeug.
In einer endlosen Prozession von Schönheit und Entzücken folgte eine Nacht der anderen, und jede erfüllte Winks jungen Verstand mit einem Mahlstrom von Wundern, denn Himmelssänger sponn in der ihm eigenen Sprache Visionen für sie, die ihr inneres Auge berauschten. Ös war persönlich Zeuge der Geschichte aller Sterblichen geworden, und Ös erweckte vor ihren Augen die ruhmreiche Vergangenheit mit all ihren Legenden erneut zum Leben. In anderen Nächten sang Ös von noch bevorstehenden heroischen Taten.
„… Große hölzerne Schiffe mit tausend Ruderern … oder hast du jemals die Himmelsgleiter in der Luft schweben sehen? Vielleicht könnte man Tausende und aber Tausende von ihnen zähmen und anschirren …“
Und dann berichtete Ös wieder von der eigenen Geschichte.
„Unter meiner Art war die Intelligenz direkt mit der Größe verwandt. Das ist einer der Gründe, weswegen ich den Bösen fürchte, denn Yd muß mittlerweile unvorstellbar groß und daher auch über alle Maßen schlau sein. Daher grübelte ich so viele Jahrhunderte über die Frage nach, wie ihr winzigen Wesen über Intelligenz verfügen konntet, und doch war das offensichtlich der Fall. Schließlich erkannte ich, daß ihr über fast genauso viele Gehirnzellen verfügt wie ich, doch die Zellen selbst sind ungewöhnlich klein. Mit diesem Hinweis löste ich das quälende Rätsel, das mich so lange beschäftigt hatte, wie ich meine Intelligenz steigern konnte, ohne zu groß für den See zu werden. Ich begann Experimente, die Substanz zu verändern, aus der ich zusammengesetzt bin, um immer kleinere Einheiten zu schaffen. Dies dauerte nur wenige Jahrtausende. Ich würde sagen, daß ich nun ebenso intelligent wie einer meiner Art bin, der elf- oder zwölfmal so groß ist wie ich. Ich weiß aber nicht, ob das ausreicht, den Feind zu besiegen.“
Oder Ös erzählte ihr von den vielen Entdeckungen, die er während der langen Jahrhunderte der Einsamkeit und Meditation gemacht hatte.
„Die Sterne bilden tatsächlich ein Muster, das euch vergänglichen Geschöpfen solide und unveränderlich erscheint. Doch ich habe lange genug gelebt, um zu sehen, wie einige langsam über die Stille davonschwebten. Siehst du den hellroten dort? Nein, dort drüben: inmitten des weißgelben Netzes anderer Sterne. Ja. Nun, ich erinnere mich noch an die Zeit, als er noch nicht in jenem Netz gefangen war. Er bildete mit dem blauen zur Linken einen Doppelstern. Und jene sehr hellen weißen in einer Linie dort drüben, bildeten einst ein Dreieck. Ich habe darüber nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß uns einige Sterne näher sein müssen als andere und daß sie sich relativ zueinander bewegen. Daher erwecken einige den Eindruck, als würden sie über das Antlitz der funkelnden Schwärze segeln.“
„Dann ist der Himmel also nicht der Panzer deines ersten Hohenpriesters, der einsam über dem Abgrund der Welt steht und uns von der Innenseite seiner Schale Botschaften göttlicher Weisheit sendet, die wir nicht verstehen können, weil wir zu dumm und unzivilisiert sind?“
„Natürlich nicht! Kindischer Unsinn!“
„Und es handelt sich auch nicht um die ausgehöhlte Brutstätte der Welt, deren Luftkanäle in eine größere Außenwelt führen, um Licht hinein- und Rauch hinauszulassen?“
„Nein. Interessantes Gleichnis, doch ich bezweifle es.“
„Doch was ist er dann, o Himmelssänger, der du doch weise bist?“ Sie war in ihrem Vertrauen Ös gegenüber soweit fortgeschritten, daß sie sich nun fast sicher fühlte, wenn sie hin und wieder eine dieser kleinen Herausforderungen aussprach.
„Nun … ich habe mich schon gefragt, ob der Himmel … nicht einfach nur Himmel ist, ob es sich nicht einfach um Luft handelt, die endlos weitergeht. Selbstverständlich gibt es auch Gründe, die gegen diese Theorie sprechen …“
„Und die Sterne sind nur eine andere Spezies der Himmelsgleiter?“
„Oh nein. Sie sind … vermute ich wenigstens, etwas ganz anderes.“
„Was denn?“
„Du wirst mich auslachen, wenn ich es dir erzähle.“
„Werde ich nicht!“ antwortete Wink gekränkt.
„Wirst du doch.“
„Wie könnte ich es wagen? Bitte sag es mir!“
„Ich vermute, daß die Sterne eigentlich Sonnen sind so wie unsere, aber so weit entfernt, daß …“
Sie lachte Ös aus. Doch in manchen Nächten schien Ös melancholisch zu sein und zu müde zum Sprechen, und dann sang Wink für Himmelssänger. Nach kurzer Zeit hatte sie das ganze Repertoire an Psalmen vorgetragen, und als Ös noch mehr hören wollte, da schimmerte sie zögernd einige der einfachen Volkslieder ihres Volkes, für deren Unzulänglichkeit und Wertlosigkeit sie sich vielmals entschuldigte. Doch Ös mochte sie selbstverständlich. Schließlich gingen auch diese zur Neige. Daher komponierte sie selbst, doch sie mußte bald entdecken, daß die Muse nicht immer auf Wunsch hervorzulocken war. Die Priester sandten Novizen als Botschafter zu allen Stämmen der bekannten Welt, um Lieder und Geschichten für Gott zu sammeln. Es begann so etwas wie eine große Blütezeit …
In manchen Nächten saßen Himmelssänger und Wink einfach nur beieinander und unterhielten sich, philosophierten, tratschten und spekulierten.
„Wenn du nicht Gott bist“, fragte Wink einmal unvermittelt, „wer ist es dann?“
Darüber dachten sie lange nach, da es sich hierbei immerhin um eine interessante Frage handelte, was zahllose Nächte erforderte.
Und so verstrichen die Nächte bis zur Dämmerung, woraufhin sie zu ihren jeweiligen Nestern zurückkehrten, sie zum Schlafen und Träumen, Ös zum Nachdenken und um in einsamer Stille zu meditieren. Die Nächte zogen vorüber wie die Sterne, alle gleich und doch jede einzigartig …
„… Mit deiner Erlaubnis, Himmelssänger, werde ich morgen etwas später kommen. Mich erfüllt der Wunsch, wieder einmal mit meinen Brutgefährten und Freunden zu sprechen. Ich habe sie … oh, schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen“, sagte Wink unbestimmt.
„Selbstverständlich steht es dir frei zu tun, was du möchtest. Du solltest ohnedies nicht zulassen, daß ich dir soviel von deiner Zeit stehle, Kleines.“
„Aber ich habe doch Spaß an unseren gemeinsamen Sitzungen, Himmelssänger, mein großer alter Freund“, antwortete sie sanft. „Ich unterhalte mich mit keinem lieber als mit meinem alten Gefangenen des Sees.“
Mit Einbruch der Dämmerung des nächsten Tages verließ sie den Tempel durch das große Hauptportal und nicht durch den Pier-Altar. Die Straßen der Stadt Gottes schienen ungewöhnlich belebt zu sein, und doch öffnete sich immer eine Gasse vor ihr, als würde eine große, unsichtbare Klaue die Leute beiseite stoßen. Während sie sich einen Weg durch die nächtlichen Straßen bahnte, die vom Licht Tausender beiläufiger Unterhaltungen erhellt wurden, schien sich eine schimmernde Purpurwolke vor ihr auszubreiten, gefolgt von einer Woge der Lichtlosigkeit und ausdruckslosen dunklen Panzern. Dann senkte sich wieder Schatten über die Straßen.
„Welche Nachricht bringst du von Gott, Hohe Herrin?“ blitzte jemand am Rand der Menge.
Sie richtete gnädig beide Augenfühler in seine Richtung. „Nur die, daß Ös mit den Taten seines Volkes zufrieden ist“, antwortete sie in aufmunternden Lavendeltönen.
Grellweiße Lichter explodierten um sie herum: Begeisterung.
Wink kletterte den uralten Weg bis zu der Höhle empor, wo sie aufgewachsen und erzogen worden war.
„Langfühler …! Ich bin’s, Wink! Ich komme zu Besuch, aber ich kann nicht lange bleiben.“
Ein winziger, glitzernder und klappernder Schwarm von Junglingen strömte an ihr vorbei. Der größte von ihnen reichte gerade bis zu ihrem untersten Segment. Nostalgische Silberfünkchen flackerten über ihren Unterleib.
„Langf…?“ rief sie scharf. Eine junge, ihr unbekannte Geschlechtslose bewohnte Langfühlers Zimmer. Die Brut hatte sich um sie geschart und blitzte nach Aufmerksamkeit. „Wer bist du? Wo ist Langfühler?“
Die junge Geschlechtslose sank hinab, wich zurück und senkte mit abergläubischer Ehrfurcht die Augen einige Zentimeter.
„Ich bin Ringschwanz Braunrot.“ Sie schien unfähig oder nicht bereit, sich weiter zu erklären.
„Hohe Herrin.“ Eine Reflexion von der Decke, vom Mund des Zimmers, erweckte ihre Aufmerksamkeit. Sie drehte ein Auge.
„Gimpe!“
„Ich kann deine Fragen beantworten, Hohe Herrin“, fuhr die alte Freundin feierlich fort. „Man meldete mir, daß du in die Stadt gekommen bist.“
Sie begaben sich in völliger Dunkelheit zu den nahe gelegenen Gemächern der Gimpe.
„Darf ich die Hohe Herrin fragen, wo ihre Wachen sind?“
„Wachen …? Und laß den Unsinn mit der Hohen Herrin, Gimpe. Wir sind jetzt unter uns.“
„Unsinn, Hohe Herrin?“
„Du kennst mich, Gimpe. Ich bin nur Wink.“
„Wie du befiehlst, Hohe Herrin.“
Wink beschloß mit einem geistigen Seufzen, es dabei bewenden zu lassen. Schließlich konnte man von einer Geschlechtslosen keine herausragende Intelligenz erwarten.
„Wo ist Langfühler?“
„Langfühler ist zum Ruhme Gottes ins Heilige Wasser gegangen.“
Tot …! Wink erschwarzte und senkte den Oberkörper zum Boden.
„… wann?“
„Vor achtundzwanzig Nächten.“
„Warum hat man mir das nicht gesagt? Warum hat man mir das nicht gesagt!“ strahlte sie grell.
„Du unterhieltest dich mit Gott, Hohe Herrin. Wer konnte es wagen, dich zu unterbrechen?“
„Fürwahr, wer?“ Ihr Panzer ächzte, doch die Gefühle blieben in ihrem dunklen Innern eingesperrt.
„Er war sehr alt“, erklärte Gimpe.
„Ich weiß, aber …“
„Er war doch nur ein Geschlechtsloser“, antwortete die Geschlechtslose.
„Er war mein Brutschützer!“
„Wie du meinst, Hohe Herrin.“
Die Zeit verstrich in wortloser Dunkelheit.
„Nun gut. Ich werde später trauern. Mir steht nur die halbe Nacht zur Verfügung, und diese Zeit muß ich nützen so gut es geht. Wo sind Rot und Süßschuppe und Glatt und der Rest vom alten Schwarm? Bring mich zu ihnen, ich möchte noch einmal an ihrem närrischen Treiben teilhaben.“
„Glatt, der Hochtrabende Er ist als Missionar zu einem neuen Stamm jenseits der Berge der Melancholie gegangen. Süßschuppe Sie hat die Dienerschaft verlassen und ist dem Korps der Krieger beigetreten. Und Rotfüßiger. Er ist schon seit über drei Jahren bei den Fischern. Ich kann dich zu keinem von ihnen bringen, Hohe Herrin.“
„Drei …“ Jahre? Drei Jahre? War sie schon so lange weg?
„Ja, Hohe Herrin, ich weiß, drei Jahre sind länger als die übliche Pflichtzeit bei den Fischern. Doch er wünschte es so. Er gehört zu denen, die das Leben in der Wildnis gepackt hat, und nun kann er es nicht mehr ertragen, in der Stadt Gottes zu leben.“
In dieser Nacht ging sie nicht mehr zum See und in der nächsten und übernächsten auch nicht. Sie blieb in ihren bewachten Tempelgemächern – wie lange standen die Wachen schon da, und wer hatte angeordnet, sie zu bewachen? – und gab sich ihrem Kummer hin. Bei Einbruch der Dämmerung der dritten Nacht hatte sie den Schock soweit überwunden, daß sie wieder vernünftig denken konnte.
Sie „kommunizierte“ nun schon seit über vier Jahren mit Gott – und mit sonst keinem. Ihr war die verronnene Zeit gar nicht aufgefallen. Ihr war zumute, als hätte sie hundert Lebensspannen der Wissensaufnahme hinter sich, und das tat ihr nicht leid, aber sie hatte so vieles verloren! Das Gefühl für die Zeit, ihre Religion, ihren alten Brutschützer, ihre Brutgefährten und Freunde. Und nicht zuletzt ihren angemessenen Platz in der Gesellschaft …
Und dabei wollte ich immer nur in der Stadt Gottes leben und im Chor singen, dachte sie. Ich wollte nur die einem Diener zustehenden Ehren, um Gottes willen, ich wollte niemals eine Hohe Herrin sein!
Ja. Um Gottes willen. Um Himmelssängers willen.
Und während sie mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war, war ihr Brutschützer gestorben – zum Ruhme Gottes. Und Rot …
Er wollte überhaupt nie ein Fischer sein! Er fürchtete sich so sehr davor! Und nun hatte er sich ganz jenem geheimnisvollen Zwang ergeben, der so vielen, die der Dienerschaft beitreten wollten, zum Verhängnis wurde, der „Wildheit“, die er so verabscheut hatte.
Wie hatte sie nur zulassen können, daß ihr Leben in solchen Bahnen verlief? Was war sonst noch alles geschehen, während sie ihre Aufmerksamkeit einzig und allein auf Himmelssänger konzentriert hatte? Wer waren die unzähligen Fremden? Warum wurde ihr Zimmer bewacht? (Und hatte hinter den pflichtschuldigen Ehrenbezeugungen von Gimpe nicht eine Spur Sarkasmus mitgeklungen? „Darf ich die Hohe Herrin fragen, wo ihre Wachen sind?“ „Ich kann dich zu keinem von ihnen bringen, Hohe Herrin.“) Nun, sie wußte, wo sie nach den Antworten suchen mußte. Sie konnte sich die Privilegien durchaus auch selbst zunutze machen, die sie so offensichtlich erlangt hatte. Sie verließ ihr Gemach.
„Wache!“ blitzte sie. „Bring mich …“ Sie verstummte und sah sich um. Das höhlenartige Tempelinnere war zu einem leuchtenden Farbenmeer geworden. Priester und andere Diener eilten geschäftig einher, wobei sie irrisierend funkelten. Denn gerade erfüllte ein riesiges blaues Auge das Bogenportal am Pier und ein langes, fragendes Pseudopodium farblosen Muskelgewebes bahnte sich schlängelnd einen Weg über den Steinfußboden. Wasser und Seepflanzen troffen herab, während es suchend in verschiedene Seitengänge griff …
Oh ja. Sie war ja schon seit zwei, nein drei Nächten abwesend und hatte ihm keinerlei Nachrichten zukommen lassen.
„Zu dir komme ich später!“ funkelte sie Himmelssänger zu. „Wache, schafft den Hohepriester herbei!“ Doch der Junge konnte lediglich zu der Erscheinung emporstarren. Seine Augenfühler zitterten.
Die Erscheinung blinzelte zweimal nach Winks Bemerkung, dann wurde das Auge gefährlich zusammengekniffen. Doch der Tentakel stellte die Suche ein und zog sich zurück. Er wich vorsichtig den Weg zurück, den er gekommen war, wobei er lediglich noch ein paar Diener umwarf. Schließlich zog sich das Auge selbst in den See zurück, wendete aber den Blick nicht von ihr ab.
„Nun?“ Sie stieß ungeduldig mit dem mittleren Fuß auf. Die Wache eilte davon.
Der alte Rasch-Verändernde-Flecken begrüßte sie mit den Worten: „Was hast du nur über uns gebracht? Gott ist erzürnt! Wir sind verloren!“
„Unsinn! Nichts ist geschehen. Aber ich habe dir einige Fragen zu stellen.“
Sie machte ihrem Unmut Luft. Sie fühlte sich ausgenützt. Sie kam sich wie eine Närrin vor – wie eine zweifache Närrin. Während Himmelssänger zum Zentrum und einzigem Zweck ihrer Existenz geworden war – ohwohl Ös ständig das Gegenteil beteuerte, hatte er doch keinen Zweifel daran gelassen, was er erwartete –, hatten die orthodoxen Priester Vorkehrungen getroffen, der scheinbaren Bedrohung ihres Status entgegenzuwirken. Sie hatten einen speziellen Titel für sie geschaffen – einen, der außerhalb ihrer Hierarchie stand – und sie von der Bevölkerung isoliert. Die Wachen waren notwendig geworden, um sie vor Übergriffen eines zudringlichen Mobs zu schützen, wie die Priester die Pilger und Touristen nannten. Wahrscheinlich, so argwöhnte sie, hatte ihre Eskorte sie oftmals davor „beschützt“, alte Freunde oder Besucher mit Bitten und Gesuchen zu sehen, denen sie sehr gerne nachgekommen wäre. (Was konnte es schon schaden, wenn sie Himmelssänger deren Gebete übermittelte? Obwohl Ös kein Gott war, verfügte er doch über ein großes Wissen.) Man hatte ihr bestimmte Ereignisse deshalb vorenthalten, weil sie, die mit Gott kommunizierte, ihren halbgöttlichen Verstand nicht mit solchen trivialen Angelegenheiten besudeln sollte. Die Diener hatten immer alle Befehle Gottes ausgeführt, die sie überbracht hatte, was sie mit demselben geflissentlichen Eifer erledigt hatten, den ihre Vorgänger im Verlauf ungezählter Jahrhunderte an den Tag gelegt hatten. Doch üblicherweise war es ihnen gelungen, sie ihren eigenen Interessen gemäß umzubiegen. Beispielsweise handelte es sich bei den draußen versammelten Männern und Frauen hauptsächlich um Ausländer, die in der Hoffnung zur Stadt Gottes gepilgert waren, man würde ihnen Zutritt zu Gottes Ufer gewähren, um dort ihre Eier abzulegen und zu befruchten und um dort Mana zu erlangen. Doch da ihre Leibesfrucht von den lokalen Geschlechtslosen ausgebrütet wurde, hatte das eine ständige Zunahme der gewünschten Charakteristiken hier in der Stadt Gottes zur Folge – immer unter der strikten Kontrolle der Priesterschaft. Hatte Himmelssänger das beabsichtigt gehabt? Sie bezweifelte es. Sie hatte den Eindruck, daß Ös den Abänderungen und Abwandlungen seiner Pläne nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenkte. Bis zu welchem Ausmaß kümmerte Ös sich wirklich um ihr Volk? Oder war er so von der Rache besessen, daß keine der anfallenden Konsequenzen für ihn eine Rolle spielten?
Doch zunächst mußte sie sich dringenderen Problemen zuwenden.
„Bezüglich einer Frage hattest du recht, Verehrungswürdiger“, sagte sie trocken zu dem Priester. „Wenn ich mit Gott kommuniziere, dann ist mein Verstand so frei von gewöhnlichen und trivialen Gedanken, daß ich den Kontakt mit der schnöden Realität völlig verliere.“
„Es ist schön, daß die Herrin so mit der Entwicklung der Dinge zufrieden ist“, sagte Rasch-Verändernde-Flecken.
„Ich bin nicht zufrieden“, flackerte sie. „Und schon gar nicht mit der Entwicklung. Ich habe ganz einfach den Anschluß an die Zeit verloren. Daher, Priester, wird es in Zukunft deine Aufgabe sein, dich darum zu kümmern, daß ich mich hin und wieder auch einmal dem wirklichen Leben widmen kann. Darüber hinaus muß es regelmäßig Zeiten geben, zu denen mich das Volk sehen kann!
Und schickt alle Pilger wieder nach Hause zurück! Sagt ihnen, sie sollen den Worten Gottes folgen und an ihren eigenen Ufern brüten. Versuche nicht, dir geschwind einen Panzer überzuziehen, der dir viel zu groß ist, alter Priester!“
„Du vergißt dich, Grünäugige Sie.“ Seine Worte wurden von einem düsteren roten Flackern begleitet. „Du vergißt, mit wem du sprichst.“
„Du vergißt, mit wem du sprichst. Du hast Gott an der Pforte gesehen. Ös suchte nach mir … Aber nicht zornig, sondern ängstlich, denn als Ös mich sah, kehrte er wieder friedlich in seinen Teich zurück. Bedenke jedoch, was hätte geschehen können, hätte Ös mich nicht gesehen, wäre Ös beispielsweise zu der Überzeugung gelangt, daß man mich aus unerfindlichen Gründen von ihm fernhält. Denke daran, und vergiß es nie mehr. Und nun – erinnerst du dich an die blasphemischen Worte über Gott, die du vor vier Jahren mir gegenüber geäußert hast, als ich lediglich eine Novizin war? Oder ist es dir gelungen, dein inneres Auge völlig vor ihrem Licht zu verschließen? Ich jedenfalls erinnere mich an sie.
Und nun versuche dir vorzustellen, was geschehen würde, könnte die Bevölkerung solche Worte erblicken. Wie lange würde man dann noch den Dienern Gottes gehorchen und sie unterstützen, wenn Gott gar kein Gott ist? Wie lange würden die fernen Stämme und Klans sich noch der Herrschaft der Stadt Gottes und ihres Priesters fügen, wenn sich unser sichtbarer und substantieller Gott als ebenso falsch erweist wie ihre unsichtbaren, insubstantiellen Götter, die niemals auf seine Herausforderung zum Kampf um die Überlegenheit eingegangen sind? Sie würden sagen: ‚Selbstverständlich lassen sich unsere Götter nicht auf einen Kampf mit einem sterblichen Geschöpf ein, so mächtig und groß es auch sein mag.
Denke über beides sorgfältig nach. Aber bedenke auch das Folgende.“ Sie dämpfte den grellen Ton ihrer Farben. „Ich bin nicht dein Feind. Alles in allem schätze ich mein Leben ebenso sehr wie du das deine. Und wenn sich auch einige Kleinigkeiten ändern müssen, von denen ich gerade gesprochen habe, würde ich größere Veränderungen nur ungern hinnehmen. Ich will dein Amt nicht und auch kein anderes. Ich glaube, daß die Stadt Gottes auch weiterhin über die Stämme der Sterblichen herrschen und daß die Diener Gottes auch weiterhin die Stadt regieren sollten, denn so war es immer, und so ist es richtig. Doch sollte meinen Wünschen nicht entsprochen werden, werden gefährliche Gedanken in der Stadt die Runde machen!“
„Hohe Herrin, die Worte derjenigen, die mit Gott kommuniziert, werden immer gnädig aufgenommen, und es ist das Privileg der Diener Gottes, ihnen zu gehorchen.“
„Das gefällt mir.“
Himmelssängers Probleme bewegten sich in eine andere Richtung. „Wo warst du, Kleines? Ich fürchtete schon, dir wäre etwas zugestoßen.“
„Mir ist etwas zugestoßen – vier Jahre verstrichen binnen weniger Tage! Wie konntest du mir das nur antun? Ist dir niemals der Gedanke gekommen, daß ich ein eigenes Leben haben könnte? Immer behauptest du, wir wären Freunde, und dann behandelst du mich wie ein Gott seinen niedersten Sklaven.“
„Kleine Grünauge, du zeigst mir Unsinn. Ich habe dir viele, viele Male gesagt, du sollst tun, was dir gefällt, du sollst dein Leben leben und mir nur die Zeit widmen, die du ohne Härte entbehren kannst – denn ich habe schon Jahrtausende vor deiner Zeit gelebt, Kleines, und ich werde auch noch Jahrhunderte nach deinem Tod leben. Meine Geduld ist größer als mein Körper und tiefer als mein See.“
„Oh, wahrhaftig, das waren deine Farben und Formen. Doch deine Gedanken lauteten ganz anders. Und wie soll ein kleiner, sterblicher Verstand sich so nahe an den Gedanken eines Gottes aufhalten, ohne sie wahrzunehmen und sich vor ihrer Stärke zu verbeugen? Nein, die Wahrheit ist, du hast mich ebenso behandelt wie mein Volk: Du hast uns gefangen und gezähmt und uns in etwas verwandelt, was wir nicht waren. Du hast uns zu Werkzeugen gemacht, zu Waffen deiner bevorstehenden Rache an dem Bösen.
Wer ist der Böse, o Himmelssänger, Gefangener des Sees?“
„Das weißt du doch“, antwortete Himmelssänger überrascht. „Ich habe dir die Geschichte viele Male erzählt.“
„Aber ich bin nur eine Sterbliche, Großmächtiger, und mein Gedächtnis ist schwach. Bitte sage mir, wer der Böse ist.“
Selbstverständlich bemerkte Ös die Falle, doch er beschloß, ihr den Gefallen zu tun.
„Yd ist mein alter Feind, der Erste, der Herr des Meeres.“
„Und warum ist Yd böse?“
„Auch das habe ich dir erklärt. Yd ist so, weil …“
„Ich meine, wie ist Yd böse? Welche Eigenschaften machen Yd böse?“
Himmelssänger gab ein lautes Seufzen von sich, große Luftblasen schwebten empor und zerplatzten im Umkreis von mehreren Quadratmetern um das Boot an der Wasseroberfläche.
„Yd tötete jene, die ich liebte, und Yd wird auch jede andere Lebensform auslöschen. Yd duldet keine Andersartigen und erst recht nicht Rivalen. Yd kann die gleichen Rechte anderer Einheiten nicht begreifen, und daher versteht er auch den Schmerz anderer nicht. Yd lebt nur für die eigenen Ziele. Letzteres ist möglicherweise das Ziel aller Wesen, und daher auch nicht böse im absoluten Sinne, doch das macht es gewiß sehr schwer, mit diesem Yd auf einem Planeten zusammenzuleben.“
„Und welche Ziele verfolgst du, Himmelssänger?“
Ös hatte das vorhergesehen. „Meine eigenen, Kleines, und … und …“ – Ös strahlte heller, um ihren unausgesprochenen Einwand beiseite zu wischen – „… ich glaube fest daran, daß ich auch die Ziele der Natur verfolge, der Evolution, wenn du willst. Vielleicht erinnerst du dich an meine Worte über die Beobachtung der Art und Weise, wie ganze Arten wachsen, sich verändern und sterben, wie normale Individuen auch. Durch die Allianz mit deinem kleinen Volk habe ich eure Überlegenheit über die ganze Welt gesichert – nicht nur über die anderen Stämme eurer Art, sondern über alle lebenden Dinge auf diesem Planeten. Nein, Kleines, vielleicht noch nicht ganz, das ist mir klar. Ihr seid immer noch einfach und schwach, und ich muß eure Hegemonie erst noch über alle Geschehnisse in der Welt ausdehnen, ebenso über das Leben darin und die Elemente selbst. Doch diese Nacht wird kommen, mag sie auch noch zahllose Generationen entfernt sein, Grünauge. Irgendwann einmal wird diese Welt für euch zu klein werden. Das sehe ich so deutlich vor mir, wie ich die Sterne sehe. Aber nur, wenn ihr den Ersten in der Zwischenzeit vernichten könnt. Doch allein auf euch gestellt, werdet ihr das niemals schaffen. Ohne mein Eingreifen wärt ihr wahrscheinlich schon vor langer Zeit in Schiffen über das Meer gesegelt, und dann wäre der Erste zwangsläufig auf euch aufmerksam geworden und hätte eurer Rasse ein Ende gesetzt. Dann wäre Yd Herr über alles geblieben, bis Himmel und Welt enden. Mit meiner Hilfe habt ihr möglicherweise eine Chance. Und wer könnte euch in diesem Fall ein besserer Verbündeter sein als ich? Bin ich nicht der Feind des Feindes? Und doch hätte ich allein keine bessere Chance als ihr.
Und da dieser Krieg so oder so unausweichlich ist – sollen wir uns da nicht die bestmögliche Ausgangssituation schaffen, die wir uns vorstellen können? Auch als Verbündete kann ich unseren Erfolg nicht garantieren, doch gemeinsam haben wir größere Chancen.“
„Und was wird in der Zwischenzeit aus meinem Volk?“ blitzte Wink zornig. „Seit dem Anbeginn der Zeiten haben ungezählte Tausende von uns ihr Leben einzig dir gewidmet. Wir haben dich als Gott verehrt – wie viele andere namenlose Götter mögen aus diesem Grunde unverehrt geblieben sein? Was ist mit meinem Freund Rotfüßiger Er, der in die Falle lief, die er am meisten fürchtete, und der in deinen Diensten in die Barbarei zurücksank? Was ist mit den erschöpften Hunderten von den Ausländern, die unter wer weiß welchen Entbehrungen Pilgerzüge auf sich nahmen, nur weil die Priester freizügig in der Auslegung eines göttlichen Wunsches waren und du dich nicht selbst um die Konsequenzen gekümmert hast? Und was, o Himmelssänger, ist mit mir? Während ich mit dir lange Unterhaltungen geführt habe, während ich deine üblen Launen mit meinen Liedern besänftigte, während ich ständig daran gedacht habe, wie ich dich erfreuen könnte – während dieser Zeit sind alle meine Freunde gestorben oder weggegangen oder haben sich verändert. Schimmere mir nicht mehr von himmelhohen Spekulationen und epischen Abenteuern, die ich doch zeit meines Lebens niemals sehen werde! So wie du niemanden hast, der dich beim Freundesnamen nennt, gibt es auch keinen mehr, der mich mit dem Namen Wink anblinkt!“
Ös verlangsamte sein abgehacktes Pulsieren, und ein rosiger Schimmer umgab all seine Symbole. „Also werde ich von nun an diesen Namen der Freundschaft bewahren, Kleines … wenn du mich als Freund annehmen möchtest?“
Nun endlich gab Wink sich geschlagen. „Du weißt, Himmelssänger, es war mir die größte Ehre, daß du dich entschlossen hast, einen Teil deiner Gedanken mit mir zu teilen, als wären wir Gleichgestellte. Wenn du mir deine Freundschaft anbietest, wie könnte ich sie ausschlagen? Doch sicherlich verstehst du in deiner großen Weisheit, daß es zwar eine große Ehre für mich ist, meinen Namen in deinen Farben zu sehen, ich aber trotzdem denselben Namen in den vertrauten Spektren meiner Kameraden vermisse.“
Überrascht und gekränkt sah sie silbernes Lachen unter den Wellen.
„Was habe ich mir aufgebürdet, eine solche Rasse zu erziehen! Wink, versuche nicht, deine inneren Augen so fest zu verschließen. Öffne sie und betrachte deine Gedanken: Ist deine Traurigkeit ein Seelenhunger oder nur eine vorübergehende Melancholie?“ Da sie dunkel blieb, fuhr Ös fort. „Ich kenne dein Volk besser, als ihr euch selbst kennt. Ich hatte die Gelegenheit, Hunderte von Generationen zu beobachten, du aber, Kleines, nur den ersten Teil einer einzigen Lebensspanne. Dabei habe ich herausgefunden, daß nur ein Geschlechtsloser wie ich wirklich lieben kann. Das heftigste Gefühl, dessen ein Er oder Sie fähig ist, ist eine Art von panzergebundener Sentimentalität. Ich habe darüber nachgedacht und kam zu dem Ergebnis, daß es daran liegen könnte, daß die Ers und Sies niemals tief empfinden, die Ös’ – ja, auch eure Geschlechtslosen sind in gewissem Sinne Ös – aber sehr wohl. Die Ös widmen ihr Leben der Sorge um andere, während die Ers und Sies einzig für abstrakte Konzepte, Ideale und Gruppenidentitäten leben. Wenn die Zeit kommt, werden meine Pläne auch für euch Früchte tragen, doch belästige mich nicht mit deiner altmodischen Sehnsucht nach deinen Freunden. Diese Sehnsucht, Grünauge, ist nichts weiter als ein Gefühl der Nostalgie für die alten Zeiten, die vergangen sind und niemals wiederkehren können. Keiner deiner Art nimmt Veränderungen gerne hin. Ich weiß nicht genau, woran das liegt. Es könnte damit zusammenhängen, daß die Verpuppung in größere Panzer während der Kindheit eine so traumatische Erfahrung für euch ist. Dies ist das einzige, was Zweifel in mir weckt, ob ihr wirklich rückhaltlos für das große Projekt geeignet seid. Doch Veränderung und Anpassung sind die Grundlagen meiner Rasse, und vielleicht kann jeder den anderen soweit beeinflussen, daß die große Allianz doch von Erfolg gekrönt sein wird.
Nein, warte, unterbrich mich nicht. Denke ernsthaft nach, kleine Freundin. Du bist zornig auf die Priester, du bist zornig auf mich, und wahrscheinlich bist du auch zornig auf das Wetter, denn wir alle haben uns gegen dich verschworen, um dir dein altes Leben wegzunehmen. Aber wer, so frage ich dich, kam jede Nacht hierher, Sturm oder Sternenlicht, um zu studieren, zu singen und zu philosophieren? Wer weckt die armen, schwer arbeitenden Ruderer mit jeder Dämmerung früher? Und wer ist diejenige, die bereitwillig ihr Leben aufgegeben hat, und aus welchem Grund? Ergebenheit und Pflichtbewußtsein? Das glaube ich nicht. Ich glaube, du findest mich ebenso unterhaltsam wie ich dich. Ist es nicht so?“ Doch Wink weigerte sich störrisch, auch nur ein Fünkchen von sich zu geben. „Sei nicht kindisch“, wies Himmelssänger sie zurecht. „Was die Manipulation und Kontrolle deiner Rasse anbelangt, so bin ich bereit, auf jede Anklage einzugehen, die du gegen mich vorbringst. Doch am Ruin deines persönlichen Lebens bin ich unschuldig, Kleines. Das mußt du selbst zugeben, wenn du dein Leben als ruiniert betrachtest.“
Das war richtig. Sie mußte es zugeben – wenn nicht Ös gegenüber, so doch sich selbst gegenüber. Die Entdeckung aller Veränderungen, die während ihrer Abwesenheit – ihrer geistigen Abwesenheit – stattgefunden hatten, war ein großer Schock gewesen, doch die Wirkung dieses Schocks ließ nun langsam nach. Sie vermißte die Wege ihrer Kindheit, doch niemand konnte auf Dauer ein Junges, im Gewahrsam eines brutschützenden Geschlechtslosen bleiben. Wie sehr kümmerte es sie wirklich, was jene barbarischen Pilger in ihrer Freizeit in der Stadt Gottes taten oder wo sie es taten? Und was Rotfüßigen Er anbetraf – in seinem jetzigen Zustand hatten sie einander sowieso nichts zu sagen.
Was schließlich Langfühler anbelangte, so hatte sie ihn ebensosehr geliebt wie jeder andere Er oder Sie ihre Brutschützer. Und außerdem war ein Geschlechtsloser ja eben nur ein Geschlechtsloser.
Würde sie wirklich zu jenen Nächten zurückkehren, als sie lediglich eine Novizin im Chor war, wenn sie es könnte?
Nein. Bei näherer Betrachtung wollte sie lieber weiterhin Lichtopern mit Himmelssänger erzählen.
„… Gut“, sagte Himmelssänger einige Stunden später, nachdem sie über alles gesprochen und ihre Abmachung erneuert hatten. „Wir beide stehen eben erst am Anfang unserer gemeinsamen Arbeit, Grünauge. Ich werde deinem Rat folgen und eingehender über die Konsequenzen meiner Wünsche nachdenken. Doch du, Wink, und auch dein Volk – ihr werdet euch an die gelegentlich eintretenden Veränderungen gewöhnen müssen. Ich hoffe, du hast die Priester nicht zu sehr brüskiert, denn ich habe einige kleine Vorschläge zu machen, die sie baldmöglichst in die Tat umsetzen sollen. Ich habe nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß wir am anderen Ende des Sees einen Hafen gebrauchen könnten. Das kann gar nicht früh genug geschehen. Ja, ich weiß, du hast keine Ahnung, was ein Hafen ist. Das werde ich dir erklären, wenn ich dir die Pläne für eure Handwerker und Baumeister gebe. Und wenn die Priesterschaft sich wieder beruhigt hat – könntest du sie dann nicht davon überzeugen, eine Botenstaffel aufzustellen? Was das ist? Nun, das ist eine Möglichkeit, wie die Menschen in der Stadt Gottes rasch von Ereignissen erfahren können, die sich in den fernsten Einflußbereichen deines Stammes zutragen. Verstehst du das? Und noch etwas, Wink – kannst du die Priester nicht dazu bringen, für ein besseres Ausbildungssystem zu sorgen? Ich habe darüber nachgedacht, und mir scheint …“
Und so schimmerten und flackerten sie weiter aufeinander ein, sie funkelten und leuchteten, schmiedeten Pläne und unterhielten sich bis tief in die Nacht, während die Sterne über ihnen ihr geduldiges Lied sangen …
Die Ruderer tauchten ihre Ruder langsam und im Rhythmus des Gesanges ein: Purpur, Grau, Blau, Weiß. Hinter dem führenden Boot folgte eine einzige große Barke mit den Priestern und Chorsängern an Bord.
Doch die uralte, ehrfurchtgebietende Hohepriesterin war noch nicht tot, noch nicht ganz. Und doch war ihr Spektrum so klar und rein wie eh und je.
„Gott!“ rief sie in drängendem Violett aus. „Ich bitte Dich, erscheine vor Deiner Dienerin.“
Ein Sog unter den Wellen brachte das Boot zum Schwanken.
„Was gibt es, Kleines?“
„Ein außergewöhnliches Geschenk, Großmächtiger. Ein großes Opfer. Ich bin die Hohepriesterin. Ich bringe es dar.“
„Gut. Ich könnte eine kleine Zwischenmahlzeit vertragen. Ich freue mich zu sehen, daß du dich von deiner Krankheit erholt hast, Wink, und daß du wieder am Gemeinschaftsleben teilhaben kannst. Ich habe dich vermißt.“
„Ich habe mich nicht von meiner Krankheit erholt. Ich bin alt. Ich bin sogar uralt. Mein Augenlicht schwindet, und bald werde ich dich überhaupt nicht mehr sehen und auch nicht mehr mit dir sprechen können. Gelegentlich erspähe ich Gerüchte unter den jüngeren Dienern Gottes, die hastig unterdrückt werden, wenn ich den Raum betrete. Man munkelt offen davon, daß mein Panzer um das Gehirn herum hart geworden ist.
Himmelssänger, alter Freund, alle Symptome weisen auf eine Tatsache hin: Die Zeit rückt unaufhaltsam näher, da ich zum Ruhme Gottes in die Heiligen Wasser gehen werde.“
„Ich verstehe. Und warum bist du jetzt hergekommen, Kleines?“ schimmerte Ös sanft.
„Hm!“ Ein fuchsienroter Funke. „Das weißt du ganz genau! Ich habe keine Lust, ein weiteres anonymes Teilchen im See zu werden, während mein leerer Panzer vergessen im Tempel steht! Nein, wenn ich gehe, dann sollst du wissen, wer ich bin, du sollst dich angemessen von mir verabschieden und mein Opfer schätzen! Und, da wir gerade davon sprechen, ich finde die Bezeichnung ‚Kleines’ unter den gegebenen Umständen alles andere als taktvoll!“
„Ich verstehe.“
„Und sag nicht dauernd: ‚Ich verstehe’! Natürlich verstehst du!“ funkelte sie zänkisch. „Schließlich habe ich es dir ja eben selbst gesagt, oder? Und schließlich wirst du ja nicht blind! Nun denn. Es ist soweit. Dies ist keine Probe. Jeder ist heute im guten Spektrum, sie haben alle wochenlang geübt.“
Das gelbe Auge kam aus dem Wasser geschossen und betrachtete ernst die verwaschenen Farben, die von dem mächtigen Boot ausgingen, dem stolzen Flaggschiff der großen Dockanlagen. „Sehr harmonisch.“
Wink stand auf und stand vorsichtig am Dollbord des kleineren Schiffes, dem traditionellen Korakel. Himmelssänger entging ihr Zögern nicht.
„Grünaugige Sie, deine Gesellschaft hat mich über die Jahre außerordentlich entzückt. Ich werde dich schrecklich vermissen … Du hast unter dem kreisenden Himmel große Weisheit erlangt. Ich würde sagen, du hast nicht nur die klare Einsicht des Verstandes erfahren, sondern du hast auch auf der Wellenlänge der Liebe sehen gelernt, die zuvor nur die Ös’ wahrnehmen konnten. Ja, ich glaube, du hast mich so liebengelernt, wie ich dich immer geliebt habe, mein Kleines. Ich bewundere diese Fähigkeit. Ich nehme auch deinen Entschluß mit großem Respekt zur Kenntnis … und ich verspreche dir, daß du nichts spüren wirst.“
Winks Panzer sank nur kurz in sich zusammen, dann nahm sie allen Mut zusammen.
„In deinen Magen, o Gott, opfere ich Körper und Seele“, sagte sie etwas ironisch, schloß ihre grünen Augen zum letzten Mal, hielt den Atem an und sprang.
Doch ein riesiger Tentakel erfaßte sie, bevor sie auf der Oberfläche auftraf, um ihr die instinktive Panik zu ersparen, die jeder Angehörige ihrer Rasse im Wasser empfand. Eine riesige Schere trennte sauber den Kopf vom Körper ab.
Dann hörte man ein lautes Knirschen …
Die Begräbnisprozession ruderte wieder zum Ufer zurück. Sie schimmerten immer noch hell, aber einige der Trauernden unterhielten sich bereits über die Wahl einer neuen Hofhierophantin.
Himmelssänger aber tauchte zurück in die dunklen, stillen Tiefen, und wieder empfand er eine abgrundtiefe, unaussprechliche Einsamkeit … und vielleicht auch eine gelinde Verdauungsstörung …
GREEN-EYED LADY, LAUGHING LADY
by Alison Tellure
aus ANALOG March 1, 1982
Übersetzung: Hannelore Hoffmann