6. Kapitel

Die Gäste trudelten nacheinander in der großen Küche ein. Man bediente sich am reichhaltigen Frühstücksbüfett. Es gab so ziemlich alles, was das Herz begehrte. Gebratenen Speck, Müsli, gebackene Bohnen, Rührei, Toast, Pfannkuchen … Sogar ein Gläschen Sekt konnte der haben, der gestern nicht genug gebechert hatte.

Wie zu erwarten, hatte Rachel Harlin keine Ahnung von ihrer nächtlichen Exkursion. Als Amy es unter vier Augen mit behutsam gewählten Worten erwähnte, errötete Rachel. »Meine Güte, ist mir das peinlich«, sagte sie verlegen.

»Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich nicht darüber gesprochen«, versicherte ihr Amy.

»Ich bin nachts schon lange nicht mehr umhergewandert«, sagte Rachel. »Als Kind war ich, sehr zum Leidwesen meiner Eltern, fast jede Nacht unterwegs. Einmal wäre ich beinahe aus dem Fenster gefallen.«

»Sonderbar, dass man sich am nächsten Morgen an nichts erinnert«, sagte Amy.

»Wo ist eigentlich Kitty?«, fragte Edward Elfman in die Runde. »Schläft sie noch?«

»Ich nehme an, sie joggt im Park«, antwortete Roddy Crisp. »Sie ist ein Morgenmensch. Die typische Frühaufsteherin. Braucht sehr wenig Schlaf. Noch bevor der Hahn kräht, steigt sie schon in die Sportklamotten und rennt durch die erwachende Natur.«

Vielleicht kommt sie an Jedek vorbei, dachte Amy beklommen. Wird er ihr etwas antun?

»Ist alles in Ordnung, Liebling?«, erkundigte sich Kevin.

Sie blinzelte. »Wie bitte?«

»Alles okay?«

»Ja«, antwortete Amy und versuchte nicht mehr an den versteinerten Critter zu denken.

Als Kitty McPhee nach zwei Stunden noch immer nicht erschienen war, machte sich in der Villa eine gewisse Unruhe breit.

»Da stimmt irgendwas nicht«, murmelte Kevin mit gerunzelter Stirn. »Vielleicht hat sich Kitty beim Joggen den Knöchel verstaucht.«

»Wir sollten sie suchen«, meinte Yul Plummer.

»Gute Idee«, pflichtete ihm Daisy, seine Frau, bei.

Sie verließen die Villa, schwärmten aus, durchkämmten den großen Park und riefen immer wieder Kittys Namen. Doch Kitty McPhee antwortete nicht. Nach einer halben Stunde kehrten sie ins Haus zurück.

Roddy Crisp schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«

»Kann es sein, dass sie dringend weg musste?«, fragte Edward Elfman.

Roddy sah ihn an. »Mitten in der Nacht?«

»Sie könnte einen wichtigen Anruf bekommen haben«, sagte Rachel Harlin.

»Mitten in der Nacht?«, wiederholte Roddy.

»Es ist nicht überall auf der Welt zur selben Zeit mitten in der Nacht«, entgegnete Edward.

»Sie hätte mich geweckt und mir Bescheid gesagt«, sagte Roddy.

»Vielleicht warst du nicht wachzukriegen«, meinte Yul Plummer.

»Dann hätte sie eine Nachricht für mich hinterlassen«, gab Roddy Crisp zurück. Er rieb die Handflächen aneinander. »Sie ist ein verrücktes Huhn, ist manchmal ziemlich schrullig und unberechenbar, tut bisweilen recht unvorhersehbare Dinge, aber so etwas hat sie noch nie geliefert.«

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Kevin Madigan.

»Ich werde ein bisschen herumtelefonieren«, lautete Roddys Antwort. »Vielleicht kann mir jemand aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis verraten, wo sie ist. Möglicherweise meldet sich Kitty zwischendurch auch selbst.« Er wackelte mit dem Kopf. »Dann kriegt sie aber ordentlich was zu hören, das schwöre ich euch.«

Seine Telefonate führten zu keinem Ergebnis.

Als Amy Doorman mit Kevin Madigan kurz allein war, sagte sie leise: »Ich habe einen Verdacht, Kevin.«

»Welchen?«

»Einen sehr hässlichen.«

»Sag schon.«

»Jedek.«

»Du glaubst, er hat etwas mit Kittys Verschwinden zu tun?«

»Befürchtest du das nicht auch im Geheimen?«

Kevin schwieg. Er wollte das nicht bestätigen – obwohl es stimmte.

»Mir ist etwas aufgefallen«, fuhr Amy fort.

»Was?«

»Als wir Kitty im Park gesucht haben, kamen wir an Jedek vorbei.«

»Ja? Und?«

»Hast du ihn angesehen, Kevin?«

»Eigentlich nicht.«

»Aber ich.«

»Und was hast du bemerkt?«

»Sein Gesichtsausdruck hat sich verändert.«

»Das gibt's doch nicht.«

»Er sieht jetzt … irgendwie – zufriedener aus.«

»Das bildest du dir ein, Amy.«

»Weil er sich Kitty geholt hat, Kevin.«

»Um Himmels willen, weißt du, was du da sagst, Amy?«

»Denk an die Kratzspuren an unserer Tür.«

Kevin Madigan wollte nicht in diese Richtung denken, weil das geheißen hätte, dass der Gargoyle wieder aktiv geworden und in der Villa gewesen war.

Ein verrückter Vergleich kam ihm in den Sinn: Jedek ist wie ein Vulkan, der lange Zeit als erloschen galt und plötzlich wieder ausbricht.

 

Die Abschiedsszene war rührend. Cruv und Priyna hatten den Sagger in dieser kurzen Zeit so sehr in ihr Herz geschlossen, dass sie ihn am liebsten nicht hätten fortgehen lassen. Aber ihnen war klar, dass sie ihn von seiner Heimkehr nicht abhalten durften, wenn das sein sehnlichster Wunsch war. Als Edugon die hässliche Gnomin von der Prä-Welt Coor umarmte, hatte sie Tränen in den Augen.

»Du hast dich doch nicht etwa in den Burschen verliebt«, zog Cruv sie grinsend auf.

»Blödian«, konterte Priyna verlegen.

Cruv runzelte die Stirn. »Ich muss gestehen, dass mich deine Abschiedstränen ein wenig eifersüchtig machen.«

Ich sah den Sagger an. »Können wir gehen?«

Draußen in meinem Wagen warteten Thar-pex und Fystanat.

Edugon nickte. »Ich bin bereit, Tony Ballard.« Er wandte sich an Priyna und Cruv. »Noch einmal – danke für alles.«

»Mach's gut, Edugon«, sagte Cruv.

»Pass auf dich auf«, fügte Priyna hinzu.

Wir gingen, stiegen in meinen schwarzen Rover und ich machte Edugon mit den Mitgliedern des Weißen Kreises bekannt. Dann fuhr ich los, einem Abenteuer entgegen, dessen Gefährlichkeit sich im Moment noch nicht abschätzen ließ. Unser Ziel war Gravesend.

Da, wo ich den – damals unsichtbaren – Sagger überrollt hatte, stiegen wir aus. Mein Blick streifte die Häuser von Gravesend und wanderte dann gen Himmel. Schwere dunkelgraue Wolken hingen drohend über uns.

»Gleich wird es regnen«, bemerkte Brian Colley alias Thar-pex.

»Herrscht in eurer Existenzblase dasselbe Wetter, Edugon?«, erkundigte sich Mason Marchand alias Fystanat.

»Nicht immer«, lautete Edugons Antwort.

»Gehen eure Uhren auch irgendwie anders?«, wollte Thar-pex wissen.

»Bei uns gibt es keine Uhren«, sagte Edugon.

Fystanat griente. »Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, wie?«

Thar-pex drehte sich um die eigene Achse. »Wo ist die Blase?«

»Man kann sie nicht sehen«, erklärte der Sagger.

»Okay«, sagte Thar-pex, »und in welche Richtung müssen wir gehen?«

»In diese.« Edugon zeigte nach Norden.

»Wie weit?«, fragte Brian Colley.

»Nur ein paar Schritte«, gab Edugon zur Antwort.

Ich bat ihn, vorauszugehen. Er nickte und marschierte los. Als er stehen blieb, fragte Mason Marchand: »Sind wir etwa schon da?«

»Ja. Wir stehen direkt vor der Blase. Dahinter liegt das Schwemmland.«

»Sonderbar«, sagte Mason. »Es ist nicht zu sehen.«

Die Blasenwand zu durchdringen hatte Edugon so viel Kraft gekostet, dass er seine Sichtbarkeit verloren hatte. Noch einmal würde das nicht passieren, dafür würde ich mit dem Höllenschwert sorgen.

Ich trug die starke Waffe in einer Lederscheide zwischen den Schulterblättern auf dem Rücken. Mit ihr wollte ich uns Zutritt zum Schwemmland verschaffen.

Ich zog Shavenaar aus der Scheide und forderte Edugon, Thar-pex und Fystanat auf, zurückzutreten. Sie taten es, und ich richtete das Höllenschwert gegen die Wand, die ich nicht sehen konnte.

 

Kitty McPhee hing im dunklen Keller der Blut-Villa an einem Haken. Ihre Handgelenke waren mit Ketten umschlungen, und ihr eigenes Körpergewicht drohte ihr die Arme aus den Schulterpfannen zu ziehen. Sie musste auf den Zehenspitzen stehen, um dies zu verhindern. Die Schmerzen waren kaum auszuhalten. Seit vielen Stunden hing sie nun schon hier. Ihre Augen waren rotgeweint, und sie konnte nicht um Hilfe rufen, weil ein dicker Knebel, an dem sie anfangs fast erstickt wäre, in ihrem Mund steckte. Inzwischen wusste sie, wie sie atmen musste, um ausreichend Luft zu bekommen und am Leben zu bleiben.

Sie war in der Nacht aufgewacht, weil sie für kleine Mädchen musste. Roddy hatte tief geschlafen. Sie war vorsichtig aufgestanden, um ihn nicht zu wecken, und in ihren Jogging-Anzug geschlüpft.

Nachdem sie auf der Toilette gewesen war, wollte sie die Küche aufsuchen, um ihren Durst zu stillen. Ein Glas Grapefruitsaft wäre jetzt nicht schlecht, dachte sie. Frisch gepresst. Nicht zu kalt. Mal sehen, ob sich sowas auftreiben lässt.

Lautlos schlich sie durch die finstere Villa. Doch sie erreichte die Küche nicht, hatte plötzlich das Gefühl, dass sich jemand hinter ihr befand, und als sie sich umdrehte, erlitt sie den Schock ihres Lebens.

Das geflügelte Monstrum, das eigentlich draußen im Park auf dem Marmorsockel hocken sollte, stand in der Dunkelheit und schaute sie mordlüstern an.

Ihr stockte so sehr der Atem, dass sie keinen Laut herausbrachte. Sie konnte sich diese unheimliche Begegnung nicht erklären.

Spielten ihr ihre Sinne einen Streich? So musste es wohl sein. Wie hätte sie sonst diese gedrungene Grusel-Gestalt hier stehen sehen können?

Jedek kam langsam näher.

Kitty war starr vor Angst. Es war ihr nicht möglich, sich zu bewegen. Der Gargoyle präsentierte sich ihr in seiner ganzen Hässlichkeit.

Das weihwasserverseuchte Priesterfleisch und Domenicus' vergiftetes Blut hatten in ihrer versteinernden Wirkung so sehr nachgelassen, dass er sich wieder bewegen konnte. Allerdings immer nur für kurze Zeit. Vorläufig. Doch diese Entwicklung setzte sich kontinuierlich fort.

Seine abstoßende Fratze verzog sich zu einem bösen Grinsen. Die Glut der Hölle brannte in seinen Augen. Lauf!, dachte Kitty McPhee. Oder schrei! Wenn du nichts von beidem tust, bist du verloren. Dann wird dich dieses Horror-Wesen umbringen.

Laufen konnte sie nicht. Aber sie wollte schreien. Doch das ließ der Critter nicht zu. Er schnellte vorwärts und schlug sie nieder.

Irgendwann war sie aus tiefer Bewusstlosigkeit erwacht, und seitdem hing sie hier im Keller gefesselt und geknebelt am Haken.

Einsam.

Verlassen.

Vielleicht sogar vergessen.

 

Ich stach die Existenzblase der Sagger mit dem Höllenschwert an. Ich war nervös, weil ich nicht vorhersehen konnte, welche Folgen das haben würde.

Shavenaar war zwar eine extrem starke Waffe, aber sie konnte ihre Kraft unter Umständen auch an die unsichtbare Blasenwand verlieren.

Oder das Höllenschwert richtete so großen Schaden an der Blase an, dass sie in sich zusammenfiel, das ganze Schwemmland zudeckte und alles Leben unter sich erstickte? Ich spürte einen kurzen Widerstand.

Die Wand war elastisch, gab nach, öffnete sich, und ich war drinnen in dieser anderen Paralleldimension – mit dem Höllenschwert und mit meinem rechten Arm, bis zur Schulter hinauf.

Die von mir geschaffene Öffnung ließ sich so weit ausdehnen, dass meine Begleiter hindurchschlüpfen konnten. Zuerst Fystanat, dann Thar-pex und schließlich Edugon.

Ich folgte ihnen und stand zum ersten Mal auf Sagger-Boden. Ein eigenartiger Ausdruck breitete sich über Edugons Gesicht.

Sah ich Freude? Glück? Zufriedenheit? Wehmut? Angst? Alles zusammen? Und vielleicht auch Erleichterung darüber, dass er wieder zu Hause war?

Ich sah nach oben. Hier drinnen war der Himmel nicht ganz so bedrohlich grau. In der Sagger-Blase herrschte tatsächlich ein anderes Wetter als draußen. Ich warf einen Blick zurück. Von Gravesend war nichts mehr zu sehen. Wir befanden uns in einer anderen Welt, die parallel zur unseren existierte, jedoch draußen nicht wahrzunehmen war.

Vor uns erstreckte sich eine graue Ebene. Der Boden glänzte feucht, und die Vegetation sah aus, als hätte ein überdrehter Surrealist sie entworfen. Wir sahen pechschwarze Grasinseln, knallgelbe Korallenbänke und giftgrün leuchtende pflanzliche »Hängelampen« mit ausgefransten Blättern, unter denen maikäfergroße Insekten schwirrten. Es roch nach Zitronen. Es ist auch optisch eine völlig andere Welt, in der wir uns befinden, dachte ich.

Brian Colley alias Thar-pex nickte mit finsterem Blick. »Das ist es also«, sagte der Mann aus der Welt des Guten. »Das Schwemmland. Die Heimat der Sagger.« Er sah Edugon an. »Wo wohnst du? In einer Höhle?«

»Ich hatte eine Hütte«, antwortete Edugon. »Aber die gibt es nicht mehr«, ergänzte er grimmig. »Der Höllenwurm hat sie zerstört.« Er brach ein Korallenstück ab, schob es sich zwischen die Zähne und zermalmte es knirschend. »Manzes«, erklärte er kauend. »Das gibt Kraft und schmeckt zudem vorzüglich. Ist aber nur für Sagger genießbar.«

Ich runzelte die Stirn. »Wir würden uns daran die Zähne ausbeißen.«

»Nicht nur das.«

»Was noch?«, fragte ich.

»Ihr würdet euch damit vergiften. Wir Sagger haben einen Fächermagen, in dem das Manzesgift neutralisiert und in energiespendende Ertose umgewandelt wird.«

»Ich hätte das Zeug sowieso nicht angefasst«, sagte Mason Marchand mit gerümpfter Nase. »Ist mir zu aufdringlich gelb.«

Ich bat Edugon, uns zu seiner von Ba'Abel zerstörten Hütte zu führen. Sie befand sich hinter einem Streifen fleischfressender Riesenpflanzen, von denen zurzeit aber keine Gefahr ausging, wie Edugon sagte (und der musste es ja wissen), weil sie nur einmal im Jahr fraßen, und das würde erst wieder in zwei Monaten der Fall sein.

»Und was fressen sie dann?«, wollte Brian Colley alias Thar-pex wissen. »Sagger?«

Edugon nickte. »Wenn wir uns nicht von ihnen fernhalten. Aber sie sind nicht lange gefährlich.«

»Wie lange ist nicht lange?«, wollte Mason Marchand wissen.

»Zwei Tage«, gab Edugon zur Antwort. »In dieser Zeit fressen sie sich mit allem satt, was sie erwischen. Und dann ist wieder für ein Jahr Ruhe. Wir treiben ihnen zumeist Wynnen zu.«

»Was sind Wynnen?«, erkundigte sich Brian Colley.

»Große, fette, grunzende Tiere, die im Flussschlamm leben«, sagte Edugon.

Mason Marchand nickte. »So etwas wie Schweine«, sagte er zu Brian Colley.

Wir erreichten die Stelle, an der Edugons Hütte neben anderen gestanden hatte. Der Killerwurm hatte die ganze Siedlung plattgemacht. Hier konnte niemand mehr wohnen. Brian Colley alias Thar-pex stellte fest, dass nirgendwo Tote zu sehen waren.

»Ba'Abel«, sagte Edugon dunkel. »Er hat sie gefressen.«

»Gab es keine Überlebenden?«, fragte Mason Marchand alias Fystanat.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Edugon.

»Kann der Killerwurm alle Sagger verschlungen haben?«, fragte Mason Marchand.

»Ich habe keine Ahnung, ob noch welche am Leben sind«, gab Edugon zurück.

Mir fiel Bayvor ein. Seinetwegen waren wir hier. Um von ihm eine magische Kristallurne zu erbitten. Wenn der Höllenwurm auch ihn getötet und gefressen hatte, konnten wir die Urne vergessen.

Als ich Edugon nach Bayvor fragen wollte, zischte Brian Colley plötzlich: »Wir werden beobachtet.«

Meine Finger schlossen sich sofort fester um den Griff des Höllenschwerts.


ENDE