1. Kapitel

Kevin Madigan und Amy Doorman schlenderten Hand in Hand durch den großen, düsteren Park. Allein hätte sich Amy hier nicht wohl gefühlt, aber in Kevins Begleitung hielt sich ihr Unbehagen in Grenzen.

Sie liebte Kevin. Er war ein hübscher Junge mit dichtem blondem Haar und süßen Grübchen in den Wangen, wenn er lächelte.

»Igitt, was ist denn das?«, stieß sie plötzlich unangenehm berührt hervor. Zwischen zwei alten Eichen hockte eine furchterregende Gestalt aus grauem Stein auf einem hüfthohen Marmorsockel.

»Das?«, sagte Kevin. »Das ist ein Gargoyle.«

Amy sah ihn verwirrt an. »Und was ist ein Gar-Dings?«

»Ein Critter«, gab Kevin Madigan zur Antwort.

Amy wusste sich auch damit nichts anzufangen. »Und was, bitte, ist ein Critter?«

»Ein Gestaltwandler.«

»Sag mal, hast du 'ne Vollmeise oder was?«

»Wieso?«

»Gargoyle. Critter. Gestaltwandler. Bin ich in einen Horrorfilm geraten? Was soll der Blödsinn, Kevin? Willst du mir etwa Angst machen.« Amy war zwar schon mehrmals Gast der Madigans gewesen, aber bis hierher war sie mit Kevin noch nie gekommen.

Er schmunzelte. »Du hast mich gefragt, was das ist, und ich habe es dir gesagt. Gargoyles werden lediglich eineinhalb Meter groß und können bis zu hundertsechzig Kilo wiegen. Sie verfügen über sechs Gliedmaßen – zwei Arme, zwei Beine und zwei Flügel. Manche haben auch noch einen langen Schwanz.«

»Du redest über sie, als gäbe es sie wirklich«, stellte Amy schaudernd fest.

Kevin nickte. »Es gibt sie wirklich.«

»Quatsch.«

»Doch, Amy.«

»Wieso habe ich noch nie von ihnen gehört?«

Kevin zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Sie sind Tiere, die menschliche Gestalt annehmen können.«

»Jetzt hör aber auf.«

Kevin hob die Hände. »Ich sage nur, was ich über diese Wesen weiß. Was die Parazoologen verwirrt, ist die Tatsache, dass es bei dieser Spezies anscheinend keine Weibchen und auch keine Jungtiere gibt. Offenbar vermehren sie sich mit Hilfe von Magie.«

»Dann sind diese hässlichen Figuren also auch noch Zauberer.«

»Könnte man sagen.«

Amy musterte ihn verstimmt. »Erwartest du allen Ernstes, dass ich dir das abkaufe?«

»Es ist die Wahrheit.«

Sie ließ seine Hand los. »Okay«, sagte sie. »Okay, lassen wir das erst mal beiseite. Erkläre mir doch mal, was der Kerl hier, mitten im Park deiner elterlichen Villa, zu suchen hat. So ein hässliches Ding stellt sich doch niemand freiwillig auf.«

»Es ist ein Mahnmal«, behauptete Kevin Madigan.

Amy Doorman runzelte die Stirn. »Ein Mahnmal ist die Spezialform eines Denkmals, das an ein historisches Ereignis erinnern soll.«

Kevin nickte. »Sehr richtig.«

»Mahnmale sollen im Betrachter Betroffenheit erzeugen und das Erinnern über Generationen hinweg tradieren.«

Kevin lächelte mit seinen süßen Grübchen. »Ich hätte es nicht treffender formulieren können.«

»Dieses steinerne Monster ist also ein Mahnmal.«

»So ist es«, bestätigte Kevin.

»Und woran soll es erinnern?«, wollte Amy wissen.

»An das, was dieser Gargoyle einst getan hat.«

Amy sah Kevin mit großen Augen an. »Getan?«

Kevin Madigan nickte. »Er hat mal gelebt.«

Amy zeigte auf die Figur. »Der da?«, fragte sie ungläubig.

»Sein Name war Jedek«, sagte Kevin.

»Wann hat er gelebt?«

»Vor genau sechsundsechzig Jahren«, lautete Kevins Antwort.

»Was hat er damals angestellt?«

Kevin senkte den Blick. »Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen soll.«

 

Ich befand mich mit meiner Frau auf der Heimfahrt. Wir hatten zwei wunderschöne Tage in St. Mary Hoo – gegenüber von Southend-on-Sea – verbracht.

In letzter Zeit hatte sich einiges ereignet. Leider war nicht alles erfreulich gewesen. Wir wussten zum Beispiel nicht, was aus Boram, dem Nesselvampir, geworden war. Viele Jahre war uns die Dampfgestalt ein treuer Freund und wertvoller Kampfgefährte gewesen.

Er war Mago, dem Schwarzmagier und Jäger der abtrünnigen Hexen, auf einem Londoner Friedhof namens Bonehill in eine Gruft gefolgt und mit diesem spurlos verschwunden. Aus diesem Grund war Mr. Silvers Freundin Roxane, die Hexe aus dem Jenseits, nun schon seit Wochen in allen erdenklichen Dimensionen unterwegs, um herauszufinden, was mit den beiden geschehen war.

Lebten sie noch? Hatte Mago seinen Verfolger vernichtet? Oder hatte Boram Mago den Garaus gemacht? Beides war möglich. Wir hofften jeden Tag auf eine Rückkehr der weißen Hexe – mit Boram im Schlepptau, doch bis jetzt war es noch nicht dazu gekommen.

Der Ex-Dämon Mr. Silver stand dem Industriellen Tucker Peckinpah zurzeit als Bodyguard zur Verfügung, weil dessen bisheriger Leibwächter Cruv, der hässliche Gnom von der Prä-Welt Coor, mit seiner Lebensgefährtin Priyna eine neue, ehrenvolle Aufgabe übernommen hatte: Die beiden leiteten seit kurzem die jüngst gegründete Peckinpah-Stiftung – eine Institution, die auf der Welt einmalig war. Diese private Einrichtung sollte Geschöpfen zur Verfügung stehen, die erkunden wollten, ob für sie ein Leben auf unserer Erde grundsätzlich in Frage kam. Sie sollte Wesen aus anderen Dimensionen Schutz bieten und ihnen Asyl gewähren, wenn sie anderswo verfolgt wurden – wovon Cruv und Priyna selbst ein ziemlich garstiges Lied singen konnten. Ein Gnom war auf der Prä-Welt Coor nämlich für jedermann Freiwild. Man konnte sie ohne schlechtes Gewissen erschlagen, quälen, vierteilen, fressen … Sie waren einfach nichts wert. Weniger als nichts. Falls dies überhaupt möglich war.

Als der reiche Tucker Peckinpah uns von seinen Plänen erzählte, hatte er unter anderem gesagt, dass viele außerweltliche Kreaturen völlig harmlos wären und nichts weiter wollten, als bei uns in Frieden zu leben, und Cruv und Priyna sollten ihnen helfen, sich in ihren neuen Lebensbereich zu integrieren und den Grundstein für eine neue Existenz zu legen. Doch es hatte sich in den letzten Wochen und Monaten noch mehr getan.

Etwas sehr Erfreuliches, das sich bereits seit längerem abgezeichnet hatte, war mittlerweile wahr geworden: Der Weiße Kreis, seine ursprünglichen Mitglieder, waren nach London zurückgekehrt.

Sie hatten sich vor Jahren über alle Kontinente verteilt, um dort gewissermaßen »Weiße-Kreis-Filialen« zu eröffnen. Inzwischen waren diese Bollwerke gegen das Böse so selbständig geworden, dass sie von ihren Gründern nicht mehr geleitet werden mussten, sondern völlig autonom arbeiteten. Also waren unsere Freunde und Kampfgefährten von einst aus allen Himmelsrichtungen heimgekommen.

Daryl Crenna alias Pakka-dee aus Amerika. Mason Marchand alias Fystanat aus Afrika. Brian Colley alias Thar-pex aus Australien. (Sie waren Männer aus der Welt des Guten.) Bruce O'Hara, der weiße Werwolf, aus Asien. Der Fünfte im Bunde war mein Vorfahre, der Hexenhenker Anthony Ballard. Er war die ganze Zeit über in Europa tätig gewesen. Vorwiegend in Osteuropa.

Dieser großartigen Vereinigung von Höllengegnern hatte kurze Zeit auch Cruv angehört, bevor er bei Tucker Peckinpah Karriere gemacht hatte.

Das weiße Team wohnte im selben Haus wie früher. Mit diesem Gebäude hatte es eine ganz besondere Bewandtnis, nämlich die, dass sich genau an dieser Stelle Erdstrahlen mit kosmischen schnitten, wodurch es dereinst möglich gewesen war, ein wichtiges Warn-Instrument zu schaffen: Yuums Auge. Yuum war ein dreiäugiger Weiser, ein Seher, der in der Unendlichkeit lebte.

Daryl Crenna hatte dessen drittes Auge sehr groß im Keller an die Wand gemalt und den Weisen gebeten, es magisch zu beleben.

Das hatte Yuum getan, und seitdem machte das Auge die Mitglieder des Weißen Kreises höchst zuverlässig auf schwarze Aktivitäten aufmerksam.

Es war ein ungemein beruhigendes Gefühl, sie alle wieder in unmittelbarer Nähe zu wissen. Das Schicksal hatte damit für uns alle sehr wichtige Weichen gestellt.

Dass der Hölle das nicht passte, war klar. Deshalb – so wurde gemunkelt – wollte Jan van Vermeer, der rührige schwarze Ritter, dem Weißen Kreis auch eine Schwarze Union entgegenstellen.

Ob ihm das gelingen würde, stand auf einem anderen Blatt, denn die schwarzblütigen Bastarde schlossen sich nicht gern zusammen, und wenn es doch einmal dazu kam, dann wollte jeder die Führung für sich in Anspruch nehmen. Ich wünschte mir, dass Gott ihnen ihre Uneinigkeit erhielt, denn das machte es uns leichter, sie erfolgreich zu bekämpfen.

Ich befand mich mit Vicky also auf der Heimfahrt. Mein schwarzer Rover schnurrte kaum hörbar vor sich hin. Es war kaum Verkehr. Im CD-Player befand sich eine Scheibe der kürzlich verstorbenen Amy Winehouse.

Vicky kannte all ihre Nummern auswendig und sang leise mit. »Sie war eine Ausnahmekünstlerin«, sagte sie zwischen zwei Songs.

»Aber leider nicht stark genug für diese Welt«, gab ich zurück.

»Jetzt ist sie im Klub 27.«

Ich wusste, was Vicky meinte. Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison … Sie wurden alle nicht älter als 27.

Amy Winehouse begann »Back To Black« zu singen, und im selben Moment rumpelte mein getunter Rover über ein Hindernis, das ich nicht gesehen hatte.

Vicky zuckte heftig zusammen. »Was war das, Tony?«

Mein Herz hämmerte wild. Ich hatte keine Ahnung.

 

Der gedrungene Critter sah abstoßend aus. Amy Doorman hatte noch nie ein hässlicheres »Kunstwerk« gesehen. »Wer hat das verbrochen, Kevin?«, fragte sie schaudernd.

»Was meinst du?«

»Welcher Bildhauer hat diese abscheuliche Figur geschaffen?«

»Keiner.«

»Irgendjemand muss dieses Monstrum doch aus Stein gehauen haben«, sagte Amy Doorman.

Kevin Madigan schüttelte den Kopf. »Es wurde nicht geschaffen, Amy.«

»Es kann ja wohl schlecht von selbst entstanden sein, oder?«

»Was du hier siehst, ist kein Werk eines Menschen«, sagte Kevin ernst.

»Sondern?«

»Das da ist Jedek.«

»Der Critter?«

Kevin nickte. »Der versteinerte Gargoyle.«

»Du nimmst mich auf den Arm«, sagte Amy unsicher.

»Warum sollte ich?«

»Was weiß ich?« Sie hob die Schultern. »Vielleicht macht es dir Spaß, mich zu ängstigen.«

»Jedek hat wirklich gelebt«, sagte Kevin dunkel.

»Vor sechsundsechzig Jahren?«

»Ja.«

»Und was hat er damals getan?«, fragte Amy, während ihr Blick nervös über das steinerne Ungeheuer wanderte.

»Er hat – hat …« Es wollte Kevin nicht über die Lippen kommen.

»Nun sag schon«, drängte ihn Amy. »Ich will es wissen.«

»Er hat ein fürchterliches Blutbad angerichtet«, erzählte Kevin mit belegter Stimme. »Im Haus. Hier draußen. Und auf dem Friedhof drüben. Sein Blutdurst war enorm. Er hat schrecklich gewütet. Niemand hat überlebt.«

Amy fröstelte.

Kevin sah sie an. »Weißt du, wie die Leute unser Haus nennen?«

»Die Madigan-Villa«, sagte Amy Doorman.

»Ja. Aber hinter der vorgehaltenen Hand nennen sie es die Blut-Villa.«

 

Ich hatte meinen Rover scharf abgebremst. Der Wagen stand jetzt am Straßenrand. Ich stellte den Motor ab. Wir befanden uns kurz vor Gravesend. Ich schaute in den Rückspiegel und sah – nichts.

»Du hast irgendetwas überfahren, Tony«, stieß Vicky heiser hervor. »Keine Katze. Keinen Hund. Keinen Hasen. Nach dem heftigen Rumpeln zu schließen, muss es etwas Größeres gewesen sein. Ein Reh vielleicht. Oder …« Sie brach ab und sah mich besorgt an. Den Rest wollte sie lieber nicht aussprechen.

»Da war nichts«, sagte ich und öffnete kribbelig den Wagenschlag. »Oder hast du was gesehen?«

»Nein.«

Ich stieg aus.

Vicky öffnete die Tür auf der Beifahrerseite.

»Bleib im Wagen«, sagte ich.

Amy Winehouse sang den nächsten Titel. »Love Is A Losing Game.« Ich bat Vicky, die CD aus dem Player zu nehmen. Kein Song war in dieser Situation der Richtige. Es wurde schlagartig still.

Ich ging zum Heck des Rovers. Die Straße war so leer wie das Bankkonto eines Landstreichers. Es lag nichts auf der Fahrbahn, das überfahren worden wäre. Und doch hatte es vorhin beträchtlich gerumpelt. Das hatten wir uns nicht eingebildet. Auch im Straßengraben lag nichts. Kein Gegenstand. Kein Tier. Kein … Mensch. Bei diesem Gedanken sträubten sich meine Nackenhärchen.

Vicky blieb natürlich nicht im Wagen. Sie stieg aus und kam zu mir. »Wir scheinen über etwas Unsichtbares gefahren zu sein«, sagte sie.

Ich deutete auf den Asphalt. »Keine Spur von irgendwas.«

»Merkwürdig.«

»Kann man wohl sagen.«

»Was machen wir jetzt?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Weiterfahren?«, fragte Vicky zaghaft.

Das kam für mich noch nicht in Frage. »Ich seh mir mal den Wagen an.«

Ich ging nach vorn und kontrollierte die Rover-Front. Kein Kratzer. Keine Delle. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich vielleicht an meinem Verstand gezweifelt.

»Tony!«, rief Vicky in diesem Moment. Ich drehte mich um und sah in ihren veilchenblauen Augen einen Ausdruck, der mich sofort sehr beunruhigte.

 

»Wie viele Menschen verloren damals, vor sechsundsechzig Jahren, das Leben?«, erkundigte sich Amy Doorman.

»Mehr als dreißig.«

»Großer Gott«, entfuhr es Amy.

»Die Besitzer der Villa hatten zu einem gruseligen Maskenball geladen und die grauenerregendste Verkleidung hätte prämiert werden sollen«, erzählte Kevin Madigan. »Das Haus war voll von Ghouls, Vampiren, Werwölfen, Teufeln, Monstern und dergleichen.«

»War Jedek auch dabei?«, fragte Amy.

Kevin nickte. »Aber er brauchte sich nicht zu maskieren.«

»Lass mich raten«, sagte Amy gepresst. »Er gewann den ersten Preis.«

Kevin schüttelte den Kopf. »Man erzählt sich, dass er schon vor der Wahl zuschlug. Zuerst dachten die Gäste angeblich, er hätte sich eine makabre Einlage ausgedacht. Sie hielten das aufspritzende Blut nicht für echt. Sie sollen sogar laut gelacht und begeistert Beifall geklatscht haben, als der erste Gast sein Leben verlor. Sie dachten vermutlich, er wäre in die Sache eingeweiht und würde bei Jedeks schrecklichem Mörderspiel bereitwillig mitmachen. Aber kurz darauf kam das böse Erwachen, und es brach Panik aus …«

 

Ich kehrte zu Vicky zurück.

»Ich habe etwas gesehen, Tony«, stieß meine Frau aufgeregt hervor.

»Wo?«

»Da.« Vicky zeigte auf den Boden.

»Da ist nichts.«

»Doch.« Vicky strich sich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht.

»Was hast du gesehen?«

»Ein Gesicht.«

»Ein Gesicht? Männlich? Weiblich? Jung? Alt?«

»Ich glaube, es war das Gesicht eines jungen Mannes.«

Ein knallgrüner Mazda hielt an. Der Fahrer streckte den kahl geschorenen Kopf zum Seitenfenster heraus. »Ist was passiert? Haben Sie eine Panne? Brauchen Sie Hilfe?«

Was hätte ich ihm sagen sollen? Dass meine Frau etwas gesehen hatte, das nicht vorhanden war? Das Gesicht eines jungen Mannes?

Ich dankte dem Autofahrer für seine Hilfsbereitschaft, sagte, es wäre alles in Ordnung, und er fuhr weiter. Aber es war nichts in Ordnung, denn kaum war der Mazda weg, sah auch ich das Gesicht. Aber nur ganz kurz. Dann war es gleich wieder verschwunden.

»Jesus!«, entfuhr es mir. »Da war wirklich etwas …«

»Hast du etwa an meinen Worten gezweifelt?«

»Na ja, wenn nichts zu sehen ist …« Ich bückte mich und streckte die Hände aus. Meine Finger ertasteten einen Körper. »Das ist ja …« Ich sah Vicky an. »Hier liegt jemand.«

»Freund oder Feind, Tony?«

Ich wusste, was sie meinte. Unser Leben war ein permanenter Kampf gegen das Böse. Deshalb war es nicht falsch, zu fragen, ob ich ein gutes Geschöpf überrollt hatte – oder eine unsichtbare Höllenkreatur.

»Das haben wir gleich«, gab ich zurück und berührte den Leib, der nicht zu sehen war, mit meinem magischen Ring an mehreren Stellen. Nichts geschah. Wenn es sich um ein schwarzes Wesen gehandelt hätte, hätte es auf die Kontakte reagieren müssen. »Der Knabe ist sauber«, sagte ich flapsig. »Vor dem brauchen wir uns nicht in Acht nehmen.«

»Wieso liegt er hier auf der Straße?«

»Frag mich was Leichteres, Vicky. Ich habe keine Erklärung dafür. Ich weiß nur eines: dass er hier nicht liegen bleiben darf.«

»Lebt er noch?«

»Ich glaube ja.«

»Vielleicht ist er ein Außerirdischer«, flüsterte Vicky.

Ich sprach den Unsichtbaren an. Er antwortete nicht.

»Vielleicht versteht er unsere Sprache nicht«, sagte Vicky. »Weil er ein Alien ist.«

»Oder er ist zu sehr hinüber.«

»Wieso war er zweimal zu sehen und jetzt nicht mehr?«

»Möglicherweise kostet es ihn zu viel Kraft, sich zu zeigen.«

»Wie groß ist er eigentlich?«

Ich verschaffte mir mit den Händen – wie ein Blinder – ein Bild von seiner Größe. Er war schlank und ungefähr so groß wie Vicky. Ich schob meine Hände unter ihn.

»Was hast du vor, Tony?«

»Ich lege ihn in den Rover.«

»Vielleicht darf man ihn nicht bewegen.«

»Ich kann nicht so tun, als gäbe es ihn nicht, und einfach weiterfahren.«

»Soll ich dir helfen?«

Ich hob ihn hoch. »Er ist nicht schwer.«

Vicky lief zum Wagen und öffnete die Tür. Es sah bestimmt seltsam aus, wie ich etwas trug, das man nicht sah. Ich legte den Unsichtbaren auf die Rückbank. Vicky drehte sich um. Ihr Blick wanderte suchend umher.

»Kann es sein, dass hier noch andere solche Wesen herumliegen?«

»Du denkst an eine Alien-Invasion oder etwas in der Art?«

Vicky deutete in den Wagen. »Er muss nicht der Einzige sein.«

»Stimmt«, gab ich ihr recht. »Aber wenn wir jetzt anfangen, nach anderen Unsichtbaren zu suchen, die es möglicherweise dann doch nicht gibt, kostet diesen einen das unter Umständen das Leben.«

Wir stiegen ein und ich rief Tucker Peckinpah an.

 

Jedek zerfetzte sein Opfer mit unbeschreiblicher Kraft. Er hatte den Mann zuerst hochgestemmt und dann wuchtig auf sein Knie fallen lassen.

Auf diese Weise hatte er ihm das Rückgrat gebrochen. Anschließend hatte er seine großen Zähne wild in die Bauchdecke des Opfers geschlagen und diese aufgerissen. Dampfende Gedärme drängten sich ihm entgegen. Er fraß gierig einen Teil davon und trank das körperwarme Blut. Als er von dem verwüsteten Körper abließ, ähnelte sein hässliches Gesicht einer blutverschmierten Höllenfratze. Niemand hätte dem gedrungenen Critter so viel Kraft zugetraut.

»Allmächtiger!«, schrie Ray Wilcox, der sich als bleiches Fantasie-Monster mit spindeldürren Fingern und gelben Rattenzähnen verkleidet hatte. »Das ist echt! Der Wahnsinnige hat Monty Barron wirklich umgebracht! Zurück! Zurück, Leute! Bringt euch in Sicherheit!«

Die Gäste stoben kreischend auseinander. Vorbei war es mit Jubel, Trubel, Heiterkeit. Das nackte Grauen hatte in Rosamunde und Ferry Grovers Villa Einzug gehalten.

King Kong, Dr. Jekyll, Mumien und Zombies waren auf der Flucht, doch der Gargoyle war nicht gewillt, auch nur einen von ihnen entkommen zu lassen. Er tötete zwei Frauen und erschlug einen Mann.

Ray Wilcox brüllte nach seiner Ehefrau. »Amanda, wo bist du?«

Sie hockte betrunken in einer Ecke und bekam nur am Rande mit, was sich zutrug.

»Amanda!« Wilcox packte einen Vampir, der an ihm vorbeirennen wollte. »Wo ist meine Frau? Hast du Amanda gesehen?«

»Lass mich!«, schrie der Vampir, riss sich los und hastete weiter.

»Amanda!«, brüllte Wilcox.

Jemand prallte gegen ihn. Er stürzte, und als er sich wieder aufgerappelt hatte, stand Jedek vor ihm. »Du suchst deine Frau?«, fragte der Gargoyle.

Gemeinheit, Spott und Hohn verzerrten sein blassgraues Gesicht. Er hatte kein Haupthaar, nur einen struppigen Haarkranz.

Wenn er, wie gerade jetzt, die Flügel anlegte, sah er nicht wie ein Critter aus, sondern einfach nur wie ein hässlicher Mensch.

Feist und gedrungen. Mit kleinen, bösen Augen und kräftigen Zähnen. Er wischte mit dem Ärmel das Blut von seiner abstoßenden Visage.

»Amanda lebt nicht mehr«, behauptete Jedek. »Ich habe sie gefressen. Ihr Fleisch war jung und weich und warm. Ich habe es genossen.«

»Du verdammte Bestie!«, schluchzte Ray Wilcox. Er packte mit beiden Händen einen Stuhl, schwang ihn hoch und ließ ihn auf den Gargoyle niederkrachen.

Jedek machte sich nicht die Mühe, zurückzuweichen oder zum Schutz die Arme zu heben. Er wusste, dass man ihm so nicht beikommen konnte.

Der schwere, massive Stuhl zersplitterte auf seinem glänzenden Schädel, als wäre er aus Streichhölzern zusammengesetzt. Das kantige Eichenholz klapperte um ihn herum auf den Boden.

»Was war das denn?«, fragte Jedek lachend.

Wilcox streckte ihm das, was vom Stuhl übrig geblieben war, abwehrend entgegen. Er hoffte, sich den Critter auf diese Weise vom Leib halten zu können, doch das war nicht möglich. Jedek fauchte aggressiv und schlug Wilcox das Holz aus den Händen.

Gleichzeitig zuckte sein Kopf vor. Er riss sein Maul auf und biss Wilcox drei Finger ab. Der Mann war so geschockt, dass er den Schmerz nicht sofort spürte. Der setzte erst später ein. Fassungslos starrte Wilcox auf seine Hand, an der nun drei Finger fehlten.

Sie befanden sich in Jedeks widerlichem Maul. Er zermalmte sie knirschend und spuckte einen Brei aus Fleisch, Knochen und Sehnen auf den Boden. Wilcox brüllte entsetzt auf und presste die verletzte Hand gegen seine Brust.

»Ray!«, vernahm er plötzlich die Stimme seiner Frau.

Wilcox fuhr herum und sah Amanda. Sie lebte. Der Hässliche hatte gelogen. Er hatte sie nicht gefressen. Wilcox torkelte auf sie zu.

»Amanda!«

Der Gargoyle ließ ihn nicht zu ihr. Er stoppte Wilcox mit einem brutalen Faustschlag.

»Ray!«, kreischte Amanda.

Mitleid und Entsetzen gruben sich tief in ihr Gesicht. Die gruselige Gummimaske, mit der sie zum Fest erschienen war, trug sie nicht mehr. Ihr war darunter zu heiß gewesen. Außerdem hatte sie die ersten Cocktails durch einen Trinkhalm schlürfen müssen.

Aus diesem Grund hatte der Alkohol sie auch so schnell ausgeknockt. Man soll auf diese Weise keine harten Sachen zu sich nehmen. Doch inzwischen war Amanda – durch den Schock – wieder nüchtern.

Ihr Mann brach ächzend zusammen. »Lauf, Amanda!«, rief er. »Du darfst nicht im Haus bleiben!«

Sie konnte nicht fliehen. Furcht und Schrecken lähmten ihre Beine.

»So lauf doch!«, schrie ihr Mann.

Amanda spürte ihre Füße nicht. Zutiefst geschockt stand sie da und verfolgte mit weit aufgerissenen Augen, was mit ihrem Mann geschah.

Jedek trat hinter Ray Wilcox, nahm dessen Kopf zwischen seine Hände, brach ihm mit einem harten Ruck das Genick und stieß ihn verächtlich von sich.

 

Mr. Silver meldete sich. Seine Stimme kam klar und deutlich aus den Stereolautsprechern. Ich hatte die Freisprecheinrichtung eingeschaltet.

»Wie war's in St. Mary Hoo?«, erkundigte sich der Ex-Dämon.

»Gib mir Tucker Peckinpah.«

»Ist etwas passiert?«

»Leider ja.« Ich erzählte dem Silberdämon von dem »Unfall«.

»Bist du sicher, dass du kein Höllenwesen überfahren hast, Tony?«

»Ich habe den Mann mit meinem magischen Ring getestet. Er trägt nichts Böses in sich.«

Der Hüne mit den Silberhaaren holte Peckinpah an den Apparat.

»Tony …« Das war die Stimme des Industriellen.

»Hallo, Partner.«

»Mr. Silver sagt …«

»Ich habe einen Unsichtbaren überfahren«, platzte ich in seine Rede. Dann erzählte ich dem Sechzigjährigen, was vorhin Mr. Silver von mir erfahren hatte, jedoch ein wenig ausführlicher.

»Allmächtiger«, ächzte Tucker Peckinpah.

»Der Knabe braucht …«

»Er braucht ärztliche Hilfe.«

»Genau«, bestätigte ich. »Aber ich weiß nicht, wohin ich ihn bringen könnte. Wenn ich ihn ins erstbeste Unfallkrankenhaus trage, wirft man mich raus, weil man denkt, ich würde eine Szene aus ›Mein Freund Harvey‹ kopieren. Oder man steckt mich in die Klapse.«

»Fahren Sie zu Dr. Norton, Tony«, sagte Tucker Peckinpah, ohne lange zu überlegen.

»Dr. Norton«, wiederholte ich.

»Dr. Ben Norton. Er leitet die St.-Laurentius-Klinik in West End, ist ein glühender Verfechter diverser Grenzwissenschaften, ob es sich nun um Traumdeutung, Hellsehen, Okkultismus, Parapsychologie, Meta-Physik, Präkognition, Psychokinese oder Magie handelt. Wenn jemand dem Unsichtbaren helfen kann, dann er. Und bei ihm laufen Sie auch nicht Gefahr, an die Luft gesetzt zu werden.«

»Okay.«

»Ich rufe ihn jetzt gleich an und sage ihm, dass Sie zu ihm unterwegs sind.«

»Danke, Partner.«

»Wofür denn?«

 

»Neeeiiin!«, schrie Amanda Wilcox in namenlosem Entsetzen. Der Schmerz zerriss ihr fast das Herz. »Raaayyy!«

Jedek lachte. »Warum schreist du? Tut dir etwa leid um ihn? Hast du ihn geliebt? Nun, ich kann dir versprechen, dass du ihn bald wiedersehen wirst.«

Endlich gab der lähmende Schock sie frei. Nach all dem Grauen, das sie gesehen hatte, war sie jetzt stocknüchtern. Und eine nie erlebte Angst fraß ihre Seele.

Jedek winkte sie zu sich. »Komm her. Ich schenke dir einen schnellen, barmherzigen Tod. Damit erspare ich dir Krankheit und Gebrechlichkeit im Alter. Du stirbst jung – und bist wieder mit deinem geliebten Ray zusammen.«

Amanda Wilcox wich Schritt um Schritt zur Seite.

Jedek fragte: »Wohin willst du?«

Amanda näherte sich der offenen Terrassentür. Sie musste über die Beine eines Toten steigen. Ihr Herz raste. Todesangst peinigte sie.

Jedek schüttelte den Kopf. »Du kannst mir nicht entkommen, Amanda.«

Sie blieb trotzdem nicht stehen. Heiße Tränen rannen ihr über die fahlen Wangen und tropften auf ihre Brüste. Bei jeder Bewegung baumelte ihr Ohrschmuck – kleine Kruzifixe aus Gold – hin und her.

Sie erreichte die Terrassentür.

Jedek folgte ihr, zum Sprung geduckt. Er bemerkte eine junge blonde Frau, die hinter einem Sofa lag und sich nicht regte.

Er zeigte grinsend auf sie und sagte zu Amanda: »Sie glaubt, sie kann mich täuschen, indem sie sich tot stellt.« Er beugte sich über die Blonde und biss zu. Sie zuckte kurz, dann lag sie still. Jedek richtete sich auf und knurrte: »So, jetzt ist sie wirklich tot.«

 

Mein Handy klingelte. Ich meldete mich über die Freisprecheinrichtung. Hinter mir stöhnte der Unsichtbare auf den Rücksitzen.

»Mr. Ballard?«, fragte jemand.

Ich kannte die Stimme nicht. »Wer spricht?«

»Dr. Norton. Mr. Peckinpah hat Sie avisiert. Wo sind Sie?«

Ich sagte es ihm. Die Polizei hatte wegen einer angemeldeten Demonstration militanter Tierschützer mehrere Straßenzüge abgesperrt, und die Umleitung war stark frequentiert.

»Ich schätze, Sie sind in zehn Minuten hier«, bemerkte Ben Norton.

»Könnte hinkommen. Ihre Klinik hat bestimmt einen Hintereingang.«

»Deswegen rufe ich Sie an. Bringen Sie den Patienten nicht in die Notaufnahme …« Er sagte mir, wo er auf mich warten würde.

»Ich sehe zu, dass ich so bald wie möglich da bin.«

»Wie geht es …«

»Er stöhnt.«

»Ich hoffe, ich kann ihm helfen.«

Acht Minuten später stoppte ich meinen schwarzen Rover vor einer unscheinbaren Glastür. Dr. Norton schob eine fahrbare Trage heraus.

Er sah aus wie Brad Pitt und hatte die Lippen von Angelina Jolie. »Legen Sie ihn hier drauf!«, sagte er.

Ich hob den Unsichtbaren aus dem Wagen. Sobald er auf der Trage lag, schob Ben Norton sie in die Klinik. Ein geräumiger Aufzug brachte uns alle zum obersten Stockwerk hinauf. Dr. Norton sagte, es freue ihn, Vicky und mich persönlich kennen zu lernen.

Offenbar hatte ihm Tucker Peckinpah so manches über mich erzählt, und er hatte auch schon einige von Vickys Büchern gelesen, wie er während der Liftfahrt gestand. In einem neonhellen Raum untersuchte er sodann den geheimnisvollen Patienten.

Er drehte seinen Kopf ganz vorsichtig hin und her, bewegte mit größter Behutsamkeit dessen Gliedmaßen, horchte ihn mit dem Stethoskop ab.

Schließlich meinte er: »Den scheint es ziemlich schlimm erwischt zu haben. Möglicherweise hat ihn vor Ihnen schon mal jemand überfahren.«

Norton durchleuchtete den Verunglückten, und wir sahen zum ersten Mal sein Skelett. Der Bursche hätte ein Mensch sein können.

»Knochenbrüche«, stellte Dr. Norton anhand der Röntgenaufnahmen fest. »Hier. Hier. Und hier. Der Brustkorb ist eingedrückt.«

»Wird er durchkommen?«, erkundigte ich mich.

Ben Norton hob die Schultern. »Schwer zu sagen. Kommt darauf an, wie er auf die Medikamente anspricht, die ich ihm geben werde.«

Ich bat den Doc, mich über den Zustand des mysteriösen Patienten auf dem Laufenden zu halten.

»Mach ich, Mr. Ballard«, sagte er. »Ganz klar.«