Glaubenssache

Ich konnte den Gesang schon hören, noch ehe ich die Kirche betreten hatte. Sie schien ein neues Schild zu haben: FILADELFIA. Die Buchstaben liefen über dem Eingang von links nach rechts über den Giebel.

Als ich vom Bahnhof kommend durch den Ort ging, brach gerade die Sonne durch. Die Wolken waren mit dem Zug, mit dem ich gekommen war, weitergezogen. Es war Mittwochnachmittag, und die Straßen waren ausgestorben.

Auf dem Gelände der Josefssons bellte ein Hund. Am Ende der Straße hatte ich den Eingang vom Fußballplatz gesehen. Dahinter fing der Wald an. Durch die Bäume konnte man das Sägewerk erkennen.

Die Sonne spiegelte sich im Fenster des Schuhladens, der gegenüber der Pfingstkirche lag. In diesem Moment hörte ich den Lobgesang des Herrn.

Die Gemeindemitglieder sangen aus vollem Halse. Die Kirche war voll besetzt, wie immer in unserer Gemeinde. Ich stand noch im Eingang. Es roch nach frischer Farbe. Der Gesang verstummte, und der Pfarrer begann zu reden. Ich sah, wie er mir unmerklich zunickte, aber vielleicht war auch Gott gemeint. Er sprach vom Glück in der Nähe Gottes. Die Menschen saßen mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen in den Bänken und sprachen leise mit sich selbst, vielleicht auch mit Gott oder seinem Sohn Jesus, dessen Name in dem murmelnden Brummen regelmäßig zu vernehmen war.

Sie sangen noch einmal, dann war der Gottesdienst vorbei. Die Leute standen auf und gingen im Schein der sinkenden Sonne hinaus. Die Sonne hatte sich in die Kirche gedrängt und das Kreuz an der Altarwand getroffen. Sie ließ es golden erstrahlen.

Ich stand noch im Eingang und nickte einigen Leuten aus der Gemeinde zu. Der Pfarrer stieg vom Podium und kam auf mich zu.

»Da haben wir ja den Hirten«, sagte ich.

»Willkommen daheim, Andreas.« Er drückte meine Hand. »Lange nicht gesehen.«

Wir hatten uns wirklich lange nicht mehr gesehen. Ich war vor fast zwanzig Jahren hier weggezogen und kam nicht oft zu Besuch. Jacob war geblieben. Sein Vater war Pfarrer gewesen, und da wurde der Sohn auch Pfarrer. Man könnte fast sagen, dass Jacob das Familienunternehmen übernommen hatte.

»Schön, dich hier bei uns zu sehen«, sagte er.

»Ich habe gehört, wie schön ihr singt.«

Er nickte mir zu, dann nickte er auch einigen der Schäfchen aus seiner Herde zu, die auf dem Weg hinaus in die Sommerwiesen waren.

»Bleibst du lange hier?«, fragte er und sah mich wieder an.

»Vielleicht ein paar Tage. Mama geht es nicht gut, sie braucht Hilfe, ja, und ich hatte etwas Urlaub, den ich nehmen konnte.«

Eigentlich war es eine Entscheidung gewesen, die andere für mich getroffen hatten: meine kranke Mutter, die gerade nach einer Operation nach Hause gekommen war, und mein Vorgesetzter, der die Erschöpfung in meinem Gesicht immer deutlicher zutage treten sah und schließlich bemerkte, wie meine Untergebenen darunter zu leiden hatten.

»Ich kann mir vorstellen, dass man in so einem Job viel Urlaub braucht«, sagte Jacob. »Das muss sehr anstrengend sein bei der Polizei.«

»Alle Berufe haben ihre anstrengenden Zeiten«, sagte ich. »Deiner auch, nehme ich mal an.«

»Aber es ist immer noch etwas anderes als der Beruf eines Polizisten«, erwiderte er. »Du bist doch Kripobeamter, oder?«

»Kriminalkommissar.«

»Das klingt … nach viel. Kommissar, wo du noch so jung bist.«

»Ich bin immerhin achtunddreißig, Jacob. Genau wie du.«

 

Am Abend saß ich mit meiner Mutter in der Küche, wo ich in jüngeren Jahren so oft gesessen hatte. Die Sommerdämmerung duftete durch die geöffneten Fenster. Wir sprachen über alles, was sich in der letzten Zeit ereignet hatte, und dann ging sie früh zu Bett. Ich blieb noch auf, trank ein Bier und horchte auf die Stille, die hier so viel größer war als in der Stadt. Die Stadt war gar nicht so weit entfernt, aber sie war doch eine völlig andere Welt.

Es fiel mir schwer einzuschlafen, nachdem ich ins Bett gegangen war. Einmal meinte ich, irgendwo ein Rufen oder einen Schrei gehört zu haben. Auf der Straße draußen hörte ich ein Auto. Nach dieser Nacht sollte in diesem Ort nichts mehr so sein wie früher. Aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt natürlich noch nicht.

Ich erfuhr es, als wir frühstückten. Mitten in dem hysterischen Vogelgezwitscher, das durch das offene Küchenfenster drang, klingelte das Telefon. Meine Mutter ging ran und sagte: »Er sitzt hier.« Sie reichte mir den Telefonhörer, ehe ich noch mein Brot fertig schmieren konnte.

»Ich bin’s leider«, sagte mein Vorgesetzter.

»Sollte ich nicht alles schön ruhig angehen lassen? Wenn ich mich recht entsinne, war es das, was Sie zu mir gesagt haben.«

»Sie haben also noch nichts gehört?«

»Was gehört?«, fragte ich und blickte auf mein Brot, das auf seinen Belag wartete.

»Von dem Mord heute Nacht. In Ihrem Dorf, Andreas.«

»Jesus«, war das Einzige, was ich vorbringen konnte.

»Es sind Leute unterwegs«, sagte er, »von der örtlichen Kripo. Sie haben immer noch frei. Aber ich wollte, dass Sie es gleich erfahren.«

»Ich komme ja schließlich von hier«, sagte ich. »Das könnte eine Hilfe sein.«

»Lassen Sie die Kollegen die Sache machen«, sagte er. »Das ist nicht unser Fall.«

 

Die Sonne stand bereits hoch. Ein scharfes Licht fiel auf das Feld. Es wirkte fast unwirklich und irgendwie unpassend, als es auf die Körper der beiden Jugendlichen traf. Und es traf auch auf mich, der ich vor ihnen stand. Ich sprach mit dem Gerichtsmediziner, den ich nicht kannte. Ich kannte auch die Polizisten nicht, die die Umgebung absperrten, und auch nicht die Kripoleute, die hier zuständig waren. Die Einzigen, die ich kannte oder gekannt hatte, waren die Menschen, die auf der anderen Seite der Absperrung standen und auf die Bühne starrten, wo sich das Unfassbare abgespielt hatte.

Mein Kollege von der Kripo begrüßte mich höflich, und ich konnte ihm ansehen, dass er mich zum Teufel wünschte. Mir wäre es an seiner Stelle genauso gegangen. Er hieß Birgersson.

»Totgeschlagen wie zwei Seehunde«, sagte er und machte eine Kopfbewegung zu den Leichen hin.

»Wissen Sie, wer es ist?«

»Wir sind hier nicht in Los Angeles«, brummte Birgersson und hielt sich die Hand vors Gesicht, um sich vor der brennenden Sonne zu schützen. »Auch wenn man das fast denken könnte.« Er sah zu den Zuschauern hinüber. »Hier kennt jeder jeden.«

»Wer ist es denn?«, sagte ich und meinte die Opfer.

»Ein Junge und ein Mädchen, beide fünfzehn Jahre alt«, sagte er und nannte mir dann ihre Namen. Ich dachte an die Namen und an ein paar Gesichter, die es dazu in meinem Gedächtnis gab.

»Ich glaube, ich kenne die Eltern«, sagte ich.

»Ich habe gehört, Sie haben Urlaub«, meinte er.

Ich nickte.

»Wir sollten uns hier nicht in die Quere kommen«, sagte er.

 

Die Tür zur Kirche stand offen. Drinnen war es kühl und still. Ich bog nach rechts ab und sah Jacob in seinem Arbeitszimmer stehen, den Blick zum Fenster gerichtet. Als ich kam, wandte er sich um.

»Du hast es wahrscheinlich schon gehört«, sagte er.

»Ja.«

»Das ist wahrscheinlich alles nur, damit sich der Kommissar wie zu Hause fühlt«, sagte er und sah mich an. »Entschuldige, Andreas. Ich hab es nicht so gemeint.« Er strich sich mit der rechten Hand übers Gesicht. »Es ist nur … Ich kannte das Mädchen so gut.« Er schaute mich mit Tränen in den Augen an. »Sie war Mitglied der Gemeinde. Ihre Eltern ebenso.«

»Ich weiß.«

»Großer Gott«, sagte er.

Wir waren in dieselbe Klasse gegangen. Stig und Lena, die Eltern des Mädchens, und Jacob und ich. Die Eltern des Jungen hießen Bengt und Kerstin und waren in andere Klassen gegangen, aber in dieselbe Schule. Bengt war ein Jahr jünger als ich, Kerstin vier. Sie gehörten nicht der Pfingstgemeinde an.

Der Junge hieß Jonas, das Mädchen Helena.

»Kannten sie einander gut?«, fragte ich.

Ich ging davon aus, dass sie sich zumindest oberflächlich gekannt hatten. Hier kannte jeder jeden.

»Wer denn?«, fragte er.

»Der Junge und das Mädchen. Hatten sie miteinander zu tun?«

»Nicht soweit ich weiß.«

 

Am Abend saß ich wieder mit meiner Mutter am Küchentisch. Es drangen dieselben Gerüche durchs Fenster, dieselben stillen Laute. Am nächsten Tag war Mittsommer. Ich würde versuchen, sie irgendwohin mit rauszunehmen.

»Wenn überhaupt gefeiert wird in diesem Jahr«, sagte sie und drehte die Kaffeetasse unablässig im Kreis. »Wer will schon feiern, wenn so etwas passiert ist?«

Ich antwortete nicht. Sie drehte die Tasse.

»Die Armen«, sagte sie und dachte wahrscheinlich dabei an die Eltern. Sie sah mich an. »Kannst du nicht was tun?«

»Was meinst du?«

»Dich drum kümmern, was da passiert ist. Das müssen sie doch erfahren. Sonst kann man mit so etwas nicht leben. Das geht nicht. Man muss es wissen. Wer es getan hat und warum. Solche Dinge müssen die Armen doch erfahren.«

»Die Polizei arbeitet daran«, antwortete ich.

»Hm«, brummte sie, und ich begriff, dass sie damit zusammenfasste, was sie von den zuständigen Ermittlern hielt. Oder vielleicht auch, was sie von allen Kriminalbeamten hielt, die nicht ihr Sohn waren. Ich sah die Schmerzen, die sie hatte. In drei Tagen würde sie wieder ins Krankenhaus kommen, und ich war nicht sicher, ob sie jemals wieder zurückkehren würde. Ich wusste auch, dass sie selbst so dachte, aber sie sagte es nicht.

 

Der Morgen kam mit derselben Sonne und derselben Wärme. Der Himmel war strahlend blau, ohne ein Wölkchen. Nach einem späten Frühstück schlug ich vor, wir sollten einen Spaziergang zum Gemeindehaus unternehmen, um zu sehen, wie man trotz allem, was geschehen war, das Mittsommerfest für den Nachmittag vorbereitete.

»Ich bin etwas müde«, sagte sie. »Geh du doch allein, Andreas.«

Beim Gemeindehaus schmückten Kinder und Erwachsene den Mittsommerbaum. Ein paar Musiker zupften leise ihre Saiten, als ob Musik heute nicht so richtig passen würde. Ich nickte einem Mann, den ich kannte, zu und ging dann weg. Ich hatte einen Entschluss gefasst.

 

Stig machte mir auf. Sein Gesicht war nur ein Schatten. Wir hatten vor vier Jahren einige Worte gewechselt, als mein Vater gestorben war und ich ein paar Tage zu Hause verbrachte. Danach nichts mehr. Er wusste, was ich in der großen Stadt machte.

»Du nicht auch noch«, sagte er.

»Darf ich ein wenig reinkommen?«

»Was sollte das für einen Sinn haben?«, fragte er, und ich tat einfach so, als ob er nicht meinen Besuch damit meinte, sondern das Leben im Großen und Ganzen. Oder den Tod. Dann trat er doch zur Seite, und ich ging hinein.

Lena saß am Küchentisch. Die Rollos sollten die Sonne aussperren, doch sie drängte sich durch die Ritzen und machte Lenas Gesicht fleckig und hart. Ich ging zu ihr und umarmte sie und spürte ihre Tränen auf meiner Wange.

»Wo war Gott?«, war das Erste, was sie sagte.

»Jetzt hör auf damit«, sagte Stig.

»Wir haben so sehr versucht zu beten«, sagte sie, und ich begriff nicht wirklich, was sie damit meinte. Ich fragte nicht. Vielleicht fand sie, dass Gott keine große Freude oder Hilfe in ihr Leben gebracht hätte. Aber vielleicht war das auch nur, was sie jetzt glaubte. Sie war schon in der Grundschule sehr christlich gewesen, Stig kam erst als Erwachsener dazu, oder besser gesagt, als er sie kennen lernte. Soweit ich mich erinnern konnte, fand er erst da zu Gott.

»Arbeitest du mit … mit dem hier?«, fragte Stig und setzte sich an den Küchentisch.

»Nein.«

»Die ganze Zeit kommen Leute und stellen Fragen«, sagte er.

»So läuft das immer«, erwiderte ich.

»Aber das ändert doch nichts«, sagte er.

Ich antwortete nicht. Ich hatte selbst ein paar Fragen.

»Kannte … Helena diesen Jungen?«

»Also bist du doch im Dienst?«

»Ich will helfen«, erwiderte ich.

»Nicht soweit wir wissen«, sagte Lena und sah auf. Auf ihren Scheitel traf ein Sonnenstrahl, der sich um ihren Kopf zu schlingen und ihr eine Gloriole zu verleihen schien. »Aber wir wissen ja nicht alles.«

»Aber ihr wusstest trotzdem, wer er war?«

»Doch, das ist klar. Du weißt ja selbst, wie klein der Ort hier ist.«

»Was hatte sie denn vorgestern Abend vor?«

»Mit einer Freundin Fahrrad fahren«, antwortete sie. »Es war ein schöner Abend, und wir, ja, wir vertrauten ihr.« Sie sah mich an, als hätte sie damit ein Verbrechen begangen.

»Als sie dann um halb zwölf immer noch nicht zu Hause war, riefen wir die Freundin an, und die war schon lange zu Hause. Dann sind wir rausgefahren und … und haben gesucht, und …«

»… und ein paar Jugendliche, die Flaschen einsammelten, fanden sie gestern Morgen«, fuhr ihr Mann fort, der mit fest ineinander verschränkten Händen dasaß. Er quälte sich wirklich, das konnte ich sehen.

 

Am Kiosk auf dem Marktplatz kaufte ich etwas zu trinken. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht. Aus dem Supermarkt gegenüber kamen viele Leute, verstauten ihre Einkäufe in den Autos und fuhren nach Hause, um Mittsommer zu feiern. Eine Frau, die ich wiedererkannte, öffnete ihre Autotür für einen etwa zehnjährigen Jungen. Sie sah in meine Richtung und hielt inne. Ich winkte, stellte die Flasche auf den Tresen am Kiosk und ging auf sie zu. Der Junge saß bereits im Auto.

»Lange nicht gesehen«, sagte sie.

»Wie geht es dir, Anna?«, fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern und schob das Haar aus der Stirn. Der Junge, der, wie ich wusste, ihr Sohn war, sah mich durch die Fensterscheibe an. Es musste ziemlich warm sein da drin.

»Hast du schon zu Mittag gegessen?«, fragte sie.

 

Wir saßen im schattigen Garten. Der Junge war irgendwo anders. Ich trank von dem Weißwein, den sie zum Lachs aufgetragen hatte. Sie erzählte, dass sie seit drei Jahren mit ihrem Sohn alleine lebte. Das hatte ich nicht gewusst. Auch ich erzählte ein wenig von mir.

»Hast du sie besucht?«, fragte sie.

»Nur Stig und Lena«, sagte ich.

»Ich habe den Jungen und das Mädchen zusammen gesehen«, sagte sie.

»Die Eltern sagen, sie hätten nichts gewusst«, meinte ich.

»Er stammte aus einer weltlichen Familie, wenn man so sagen darf.« Anna nahm einen kleinen Schluck Wein. »Das darf natürlich nicht sein.«

»Ich habe Stig und Lena nie als Fundamentalisten betrachtet«, hielt ich ihr entgegen.

Sie antwortete nicht.

»Aber du kanntest sie doch nicht, oder?«, meinte ich.

»Nicht wirklich. Auch Bengt und Kerstin nicht, nicht mehr. Kerstin und ich sind ja gleich alt, wusstest du das?«

»Nein.«

»Wir gingen bis zur Neunten in eine Klasse. Und einige Zeit danach waren wir auch noch befreundet.« Sie goss mir noch etwas Wein ein. Ich verspürte eine gewisse Leichtigkeit im Kopf. »Da war mal etwas zwischen Stig und ihr, so viel weiß ich, ohne gleich eine Tratschtante zu sein. Das war, bevor er sich für Gott entschied.«

»Wie meinst du das?«

»Ehe er zu den Freikirchlichen ging.«

»Nicht das. Das andere. Du hast gesagt, zwischen ihnen war etwas.«

»Sie waren einfach zusammen. Nicht lange, aber ich weiß, dass sie es waren. Kerstin und ich waren schließlich Freundinnen. Sie machte daraus aber ein Geheimnis.«

Ich ließ das Weinglas stehen, denn ich wollte das Gefühl der Leichtigkeit bewahren. Sie sah mich an. Irgendetwas war da in ihrem Blick. Sie strich sich wieder das Haar zurück. Ich verspürte eine Wärme im Kopf, die nicht von der Sonne kam. Mein Mund war plötzlich trocken. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen und ich mußte immer ihren Mund betrachten.

Wir standen gleichzeitig auf und gingen ins Haus.

 

Die Schatten waren schon länger, als ich vor dem Haus von Bengt und Kerstin stand. Vom Park her konnte ich Geigen hören, sie klangen jedoch wehmütig. Ich war kurz zuvor dort vorbeigegangen und hatte gesehen, dass nicht viele Leute um den Mittsommerbaum tanzten. Ich klingelte. Ein Hund bellte als Antwort, Bengt öffnete die Tür. Immer machten die Männer die Türen auf.

»Ach, du bist es«, sagte er.

»Ich komme privat.«

»Du nimmst dir einiges raus«, sagte er, öffnete die Tür dann aber doch ganz. Ich ging hinein. Wir setzten uns in die Küche. Aus der oberen Etage hörte ich das Geräusch von fließendem Wasser.

»Was willst du?«, fragte er. »So ganz privat.«

»Wer und warum will ich wissen«, sagte ich.

»Ein Verrückter«, sagte er. »Die gibt es überall.« Er sah nach oben, zum Himmel oder zur oberen Etage. »Wir stehen hier unter Schock, wie du dir sicher denken kannst. Deshalb habe ich dich überhaupt nur reingelassen.«

»Hast du das Mädchen mal kennen gelernt?«

»Helena? Nein. Ich weiß nicht, warum die beiden … warum die beiden zusammen gefunden wurden«, sagte er mit einer Stimme, die brüchig klang. »Ja, ich wusste, wer sie war, aber … das ist auch schon alles.«

Oben hatte das Wasser aufgehört zu rauschen. Es war still. Der Hund lag still in seinem Korb im Flur. An der Wand in der Küche hing eine Uhr, ich sah das Pendel, hörte aber kein Ticken.

»Ist Kerstin zu Hause?«, fragte ich.

»Ich bin zu Hause«, sagte sie und stand plötzlich in der Türöffnung. Ich hatte sie nicht die Treppe herunterkommen hören. »Könntest du uns jetzt in Ruhe lassen, Andreas?« Sie sah zu ihrem Mann: Warum hast du den reingelassen? Ihr Gesicht war ohne Züge, eine Skizze. Die Trauer hatte sich bereits mehr hineingegraben als bei ihrem Mann. Ich wollte sie ein paar Sachen fragen, aber das würde nicht gehen, nicht jetzt und nicht hier. Bengt stand auf, als wolle er mir ein Zeichen geben. Kerstin sah nicht auf, als ich durch die Küche hinausging. Die Musik vom Park war plötzlich lauter.

 

Als ich nach Hause kam, hatte meine Mutter sich bereits hingelegt. Das Haus war von den Schatten der Dämmerung erfüllt. Ich rief die Polizeiwache im Ort an und erhielt schließlich die Privatnummer von Kommissar Birgersson. Wir hatten uns erst am selben Morgen kennen gelernt, aber mir schien es schon eine Ewigkeit her.

»Was sind Sie denn für einer, dass Sie sich nicht schämen, am Mittsommerabend anzurufen?«, fragte er, aber das war mehr Gerede als wirklicher Zorn. Ich konnte an seiner Stimme hören, dass er zum Hering ein paar Schnäpse genommen hatte, und vielleicht gerade jetzt ein Glas Whisky in der Hand hielt.

»Wie steht es mit den Alibis der Eltern?«, fragte ich.

»Wir hatten doch ausgemacht, dass wir uns nicht in die Quere kommen wollen«, erwiderte er.

»Hier kommt keiner keinem in die Quere«, sagte ich.

Er ließ ein kurzes Lachen hören, und dann vernahm ich die Pause, als er aus seinem Glas trank, Whisky oder Gin.

»Dafür kann ich in Teufels Küche kommen«, sagte er.

»Hat sich jemand beschwert?«

»Noch nicht.« Wieder eine Pause. Ich konnte die Musik im Hintergrund hören. Keine Geigen, sondern mehr in Richtung Bigband. Er schien diese Sorte Typ zu sein, die das mag. »Vater und Mutter des Jungen waren zu Hause. Sie hatten ein kleines Fest mit zwölf eingeladenen Gästen, die so lange wie möglich blieben. Die Eltern des Mädchens, tja, also die sagen, sie seien zu Hause gewesen, und es gibt niemanden, der das bestätigen oder bestreiten könnte. Am Ende haben sie sich ja selbst aufgemacht, um das Mädchen zu suchen.«

Ich weiß, dachte ich. Aber ich dachte auch an eine andere Sache. Birgersson wusste nicht, was Anna mir am Nachmittag gesagt hatte, dass sie nämlich den Jungen und das Mädchen schon einmal zusammen gesehen hatte. Dieses Wissen wollte ich auch noch eine Weile für mich behalten.

»Wissen wir noch mehr über den Jungen und das Mädchen? Kannten sie einander?«

»Wissen Sie noch mehr?«

»Nein«, log ich.

»Wir haben versucht, ihre Freunde zu befragen, aber so etwas braucht Zeit, das wissen Sie ja selbst.«

»Die Mutter des Jungen und der Vater des Mädchens kannten sich von früher«, sagte ich jetzt. »So eine Art Verhältnis.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich komme von hier, Birgersson.«

»Was könnte das bedeuten?« Ich hörte das Klirren von Eis in seinem Glas. Es schien nicht mehr viel Eis übrig zu sein, oder vielleicht war es auch ein großer Drink. »Sind nicht alle Jugendlichen früher oder später miteinander zusammen in so einem kleinen Scheiß… in so einem kleinen Ort?«

Nicht nur die Jugendlichen, dachte ich.

 

Anna öffnete die Tür, ehe ich noch auf die Klingel drücken konnte. Ich versuchte sie an mich zu ziehen, aber sie entwich mir und zeigte ins Haus.

Im Wohnzimmer saß Jacob in einem Sessel. Das Licht der Dämmerung verlieh allem einen seltsamen Glanz: Es war immer noch stark und würde sich so lange halten, bis die Morgendämmerung kam.

Aus dem Zimmer des Jungen im oberen Stock konnte ich die Geräusche des Computers hören. Es klang nach Gewehrsalven und explodierenden Granaten. Jacob sah nicht mich an, sondern schaute aus dem Fenster. Da er Pfarrer der Pfingstbewegung war und kein Beffchen trug, konnte man ihm nicht ansehen, dass er ein Diener Gottes war.

»Dann hast du also hergefunden«, sagte er und sah mich an. »Das hat ja nicht lange gedauert.«

»Was soll denn das heißen?«, fragte ich und setzte mich aufs Sofa.

»Anna und ich sind alte … äh, Bekannte«, sagte er stockend, und ich meinte zu verstehen, was er damit sagen wollte.

»Möchte einer von euch einen Kaffee?«, fragte Anna, die stehen geblieben war. Ich konnte erkennen, dass sie nervös war. Sie hatte nichts gesagt. Ich wusste nicht so recht, wo ich da hineingeraten war. »Oder etwas anderes? Andreas? Jacob?« Sie sah zu mir und dann zu ihm. Er schaute aus dem Fenster.

»Etwas anderes«, sagte er, ohne den Blick zu wenden.

Sie lachte ein wenig nervös und ging dann in die Küche. Man hörte, wie der Kühlschrank geöffnet wurde.

»Glaubst du, dass es Gott gibt, Andreas?«, fragte er plötzlich und wandte sich mir zu.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.

»Es geht nicht um Wissen, es geht um Glauben.«

»Ich weiß nicht, ob ich es glaube«, sagte ich.

Er lachte.

»Was machst du hier eigentlich?«, fragte er jetzt. »Warum bist du hergekommen?«

»Das weißt du …«

»Ich meine, hierher zu Anna«, unterbrach er mich. »Was hast du hier zu suchen?« Jetzt klang er wirklich anders, als wenn er die Seelen ins Haus des Herrn einlud. Hier war er ein Mensch, ein armes und sündiges Menschlein, das mit einer schönen Frau allein sein wollte. So gefiel er mir besser.

»Möchtest du, dass ich gehe?«

»Es hält dich niemand auf.«

»Wovon sprecht ihr?«, fragte Anna, die mit einem Tablett mit Gläsern, Flaschen und einer Schale Oliven zurückkam.

 

Wir sagten Anna gute Nacht und traten in die halbe Stunde hinaus, die die dunkelste dieser Nacht sein würde. Es schauderte mich in dem kühlen Wind. Vom See unterhalb des Hügels, auf dem wir standen, konnte ich einen Seetaucher hören. Hinter den Bäumen pfiff ein Zug, ein kleiner Laut. Alles war mir von früher wohl bekannt. Es war, als wäre ich nicht mein halbes Leben lang weg gewesen.

»Erinnerst du dich?«, sagte er und ich wusste, was er meinte.

Wir gingen zur Kirche. Er schwieg. Als wir drinnen bei Anna gesessen hatten, hatte er geredet, aber es gab etwas, das ihn quälte, das er mit sich herumtrug und das er erzählen wollte. Meine Arbeit als Polizist und Ermittler hatte mich das gelehrt. Wenn Menschen Wissen bargen, das sie quälte, dann wollten sie davon erzählen. Nicht alle, aber alle, die keine Psychopathen waren.

Wir gingen an seinem Tempel vorbei und weiter zum See hinunter. Ich nahm einen Stein und schleuderte ihn flach übers Wasser, eins-zwei-drei-vier. Er warf auch einen, eins-zwei-drei-vier-fünf. Er war darin schon immer besser gewesen als ich.

Die Ringe, die der Stein auf dem Wasser hinterlief?, waren wie die Leben, die es eben noch gegeben hatte und die jetzt verschwunden waren, und danach wurde alles wieder glatt und still, eins-zwei-drei-vier.

Wir sahen die Silhouetten von zwei Schwänen draußen über den See gleiten wie schweigende Patrouillenboote. Die Dämmerung hatte dem Morgen Platz gemacht. Schon bald würden ein paar Boote mit Jungs ablegen, die nach Hechten angelten. Das hatten wir auch getan, Jacob und ich. Die Boote hatten dort hinten gelegen. Da lag jetzt auch ein Boot. Vielleicht war es sogar dasselbe.

Er nahm noch einen Stein auf.

»Möchtest du mir etwas erzählen, Jacob?«

Er warf wieder, eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs. Die Schwäne waren näher gekommen, glitten aber jetzt wieder davon.

»Du weißt, dass ich Pfarrer bin, Andreas.«

Ich nahm meinerseits einen Stein und warf ihn, eins-zwei-drei-vier.

»Ich habe meine Pflichten«, sagte er.

»Es war Stig«, sagte ich.

Er antwortete nicht.

»Er war es. Du musst nicht antworten. Du unterliegst der Schweigepflicht. Aber du hast es gewusst.«

»Was gewusst?« Seine Stimme war jetzt schwach. Er wirkte, als habe er keine Kraft mehr. Als könnte er nicht einmal mehr einen Stein aufheben.

Eigentlich wusste ich nichts, war mir in keiner Hinsicht sicher. Ich hatte lediglich während des Tages darüber nachgedacht und ein paar Anrufe getätigt. Stig und Kerstin hatten sich früher schon gekannt. Sie hatten ein Geheimnis. Oder einer von ihnen. Das hing mit ihren Kindern zusammen, Stigs Tochter und Kerstins Sohn. Dem Sohn von Bengt und Kerstin. Ihr Sohn, der Sohn. Vater und Sohn und der Heilige Geist.

Das Handy in meiner Brusttasche klingelte plötzlich, und der Laut breitete sich über dem Wasser aus. Jacob ließ den Stein fallen, den er trotz allem aufzuheben geschafft hatte.

Es war Anna.

»Kerstin hat mich eben angerufen«, sagte sie. »Sie war vollkommen verzweifelt.«

»Was ist geschehen?«

»Sie hat Stig etwas … ja, etwas erzählt, das ihn völlig fertig gemacht hat.«

»Dass er der Vater ihres Sohnes war. Jonas.«

»Woher weißt du das?«

»Ich wusste es nicht, ich habe es nur geglaubt.«

Jacob sah mich an.

»Sie hat dieses Geheimnis immer für sich behalten, in sich vergraben«, sagte Anna. »Kürzlich hat sie mir erzählt, dass es auch so bleiben solle, aber dann hat Jonas ihr erzählt, dass er ein Mädchen kennen gelernt hätte, und das war Helena.«

»Sonst wusste niemand davon?«

»Kerstin war sich nie hundertprozentig sicher, dass Jonas der Sohn von Stig ist. Bengt hingegen war immer misstrauisch. Aber als, ja als sie von Jonas und Helena gehört hat, da hat sie es Stig erzählt.«

»Wann war das?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wo ist Kerstin jetzt?«

»Zu Hause, glaube ich.«

»Ist sie allein?«

»Bengt wird wohl da sein.«

»Wo ist Stig?«

»Das ist das Problem. Sie hat versucht, ihn zu erreichen, aber er ist weg.«

»Weg?«

»Er ist jedenfalls nicht zu Hause. Sie meint, auch Lena wisse nicht, wo er sei.«

 

Wir gingen schnell zu Lenas und Stigs Haus hinüber. Es war nicht besonders weit. Jacob atmete schwer und unregelmäßig, als würde sein Herz doppelt so schnell schlagen.

»Wie viel wusstest du?«, fragte ich.

Er antwortete nicht.

Wir konnten Lena durch die Fenster sehen, sie ging von einem Zimmer ins andere. Dann sah sie uns und kam raus.

»Wo ist er?«, rief sie von der Treppe. »Was ist denn passiert?«

Jacob machte einen Schritt vor, um sie zu umarmen. Sie gehörte zu seiner Herde. Aber die Kraft des Hirten reichte nicht aus.

»Kerstin hat mich angerufen«, sagte sie und sah mich an. »Ich habe nicht begriffen, was sie gesagt hat.«

Kerstin begreift es wahrscheinlich selbst nicht, dachte ich.

»Wann ist Stig weggegangen?«, fragte ich.

»Vor … mindestens vor einer Stunde.«

»Hat er etwas gesagt?«

»Nein.«

»Hatte er etwas dabei?«

»Wie?«

»Hat er irgendetwas mitgenommen?«

Ich wusste, dass er, ehe er Christ wurde, Jäger gewesen war. Das waren so die Dinge, die wir in unserem kleinen Dorf voneinander wussten.

»Hat er noch seine Gewehre?«, fragte ich.

Sie sah mich an, als würde sie mich nicht verstehen, doch ich denke, sie verstand mich sehr gut.

»Hat er einen Schrank, wo er sie aufbewahrt?«, fragte ich, und sie winkte uns mit gesenktem Kopf ins Haus.

In einem Arbeitszimmer im Keller war ein Glasschrank, der offen stand und Platz für zwei Elchstutzen bot: Es war aber nur noch einer da.

Ich sah sie an, sie sah mich an. Sie wusste, was ich dachte.

»Er war wohl nicht den ganzen Abend zu Hause, oder, Lena?«

Ich versuchte, sie ganz vorsichtig zu berühren. »Oder?«

Ruckartig ging sie die Treppe wieder hinauf, als würden die Muskeln ihren Willen beherrschen.

Wir standen draußen auf dem Hof.

»Er … er wirkte in der letzten Zeit sehr angespannt«, sagte sie.

Sie wusste es, sie musste es jetzt wissen, aber sie konnte es nicht verstehen. Sie hatte nicht begriffen, was Kerstin gesagt hatte. Aber wer konnte das schon begreifen?

Da hörten wir einen Schuss in der Nacht, die jetzt schon Morgendämmerung war, oder noch mehr als das. Die Sonne sandte zwei Strahlen über die Horizontlinie der Bäume, über den See. Der Nachhall des Schusses hing über dem See wie Morgennebel.