Das Feld

Erik Winter hatte versucht, im Gesicht der Frau eine Antwort zu finden. Eine Antwort worauf? Auf die Frage warum? Nein, noch nicht. Es war etwas anderes. Es war, als ob die Frau mit ihrem letzten Gesichtsausdruck etwas gesagt hätte, das er, Winter, hätte verstehen müssen, das er hätte mitnehmen müssen aus diesem Raum, der so still gewesen war, als wäre er gegen jedes Geräusch von draußen isoliert.

Doch es hatte sich nichts hineingedrängt, jedenfalls nicht auf diese Weise. Es hatte keine Spuren an der Tür oder am Schloss gegeben. Es gab keine Anzeichen von Gewaltanwendung in der Wohnung. So viel wussten sie inzwischen.

Nur eine tote Frau. Ein eigentümlicher Gesichtsausdruck, ein Lächeln fast. Als er sich über die Frau beugte, hatte Kriminalkommissar Erik Winter unwillkürlich an das Lächeln der Mona Lisa denken müssen. Auch das war ein seltsames Gefühl. Winter konnte sich nicht entsinnen, bei seiner Arbeit jemals an die Mona Lisa gedacht zu haben. Er hatte das Bild, das Original, einmal als Jugendlicher im Louvre gesehen, und damals ganz kurz darüber nachgedacht, ob das wirklich ein Lächeln war, was sie da auf den Lippen hatte.

Er dachte an das Gesicht der Frau in diesem Raum, der genauso aussah wie andere Räume, in denen Menschen lebten. Und starben. Die Frau war in diesem Zimmer gestorben, das wussten sie. Sie wussten, dass der Tod überraschend gekommen war, auch für sie selbst. Sie hatte es nicht selbst geplant, so viel glaubten sie zu wissen.

Aber das war ungefähr auch schon alles, was sie wussten.

Winter stand auf, ging zum Plattenspieler, drehte die Vinylschallplatte um und kehrte zum Sessel zurück, während ein Kontrabass durch den Raum rollte. An der Balkontür blieb er stehen und schaute durch die Scheibe, die zum Teil mit Raureif bedeckt war. Draußen war es kalt. Er beugte sich vor und nahm das Whiskyglas, das neben dem Sessel auf dem Tisch stand. Er nahm einen sehr kleinen Schluck von dem 60-prozentigen Glenfarclas, den er ein Jahr zuvor während einer abenteuerlichen Reise nach Schottland gekauft hatte. Der Alkohol war von dem Wasser, das er hineingegossen hatte, sämig geworden und wärmte sofort.

Winter stellte das Glas ab und nahm das Telefon in die Hand. Während er die Nummer eintippte, hörte er, wie die letzte Straßenbahn des Abends oder der Nacht durch das Eis unten am Vasaplatz schrammte. Es war ein einsames Geräusch, das in die Einsamkeit dort unten gehörte. In einer Januarnacht bewegte sich niemand freiwillig auf den Straßen.

Winter hörte auf das Klingeln. Auch das klang einsam. Eine bekannte Stimme antwortete:

»Ja?«

»Du bist doch hoffentlich noch nicht im Bett, Bertil?«

Winter hörte seinen Kollegen Bertil Ringmar grunzen.

»Wo denkst du hin, Erik? Es ist doch erst Viertel vor eins.«

»Genau.«

»Seit Angela und die Mädchen in Marbella sind, verlebst du glückliche Junggesellentage, was?«, fragte Ringmar.

»Eher Nächte«, antwortete Winter. »Die glücklichen Junggesellennächte.«

»Das meinte ich auch.«

»Und, bist du jetzt wach?«, fragte Winter.

»Was willst du?«

»Ihr Gesicht«, sagte Winter. »Das von Charlotte Sander.«

»Was ist damit?«

»Es sah irgendwie … anders aus«, sagte Winter.

»Das mag daran gelegen haben, dass sie tot war«, erwiderte Ringmar. »Und dass sie das immer noch ist.«

»Wie viele tote Gesichter haben wir beiden schon gesehen, du und ich?«, fragte Winter. »Wir zusammen und jeder für sich?«

»Allzu viele«, erwiderte Ringmar.

»Und fast alle haben etwas gemeinsam«, sagte Winter.

»Woran denkst du?«

»Ich weiß nicht recht, aber da ist immer so eine Leere, so ein Nichts. Als ob man in diesen Gesichtern keine Antworten mehr finden könnte. Alles ist … weg.«

»So ist es ja auch«, sagte Ringmar.

»Hier nicht.«

»Weißt du, Erik, zu dieser Tageszeit kann ich nicht mehr besonders gut denken, vor allem nicht, wenn ich kurz vorm Einschlafen bin.«

»Bist du immer noch kurz vorm Einschlafen?«

»Können wir nicht morgen darüber reden?«, fragte Ringmar.

»Schlaf du nur«, sagte Winter, »dann denke ich solange.«

Er nahm noch einen kleinen Schluck. Der Alkohol wärmte den Körper und regte die Gedanken an.

»Wie ich höre, trinkst du Whisky«, bemerkte Ringmar. »Da hält sich jeder für einen Denker.«

»Du solltest es auch mal probieren.«

»Denken? Oder Whisky trinken?«

»Das gehört zusammen, wie du grade schon richtig bemerkt hast.«

»Verdammt, jetzt bin ich wieder ganz wach«, sagte Ringmar.

Winter hörte Geräusche bei dem Kollegen, raschelnde Bettlaken.

»Ich bitte Birgitta um Entschuldigung, falls ich sie geweckt habe«, sagte Winter.

»Sie ist nicht zu Hause«, sagte Ringmar. »Sie übernachtet bei Moa und hängt Gardinen auf und so. Das Mädchen hat endlich eine Wohnung gefunden.«

»Da kann man ja nur gratulieren«, sagte Winter.

»Allerdings«, stimmte Ringmar zu, »aber dabei ging die Altersvorsorge drauf.«

»Jetzt komme ich nicht mehr mit, Bertil.«

»Wie steht es denn mit den schnellen Gedanken, Herr Kommissar?«

»Du hast ihr eine Wohnung gekauft?«

»Antwort lautet ja.«

»Verstehe.«

»Nee, so was versteht einer wie du nicht«, entgegnete Ringmar. »Ihr werdet niemals die wirtschaftlichen Widrigkeiten für uns hier am unteren Rand der Gesellschaft verstehen.«

»Aha, nun geht es also Klasse gegen Klasse, Bertil.«

»Da kannst du Gift drauf nehmen, du Kapitalistenschwein.«

»Du wirst es schon schaffen, noch eine Rente zusammenzuarbeiten, mein Guter.«

»Haha.«

»Denk doch, wie Moa sich jetzt freut. Denk an ihre Zukunft. Wie sie sich zu einem freien und selbständigen Menschen entwickeln wird.«

»Ein freier und selbständiger Proletarier«, brummte Ringmar. »Es ist heute verdammt hart für eine Fünfundzwanzigjährige.«

»Die Wohnungssituation in der Stadt ist nicht gut.«

»Ich freue mich, dass du meiner Ansicht bist«, sagte Bertil.

»Was ist denn deine Meinung über Mona Lisa?«, fragte Winter.

»Jetzt komme ich nicht mehr mit«, bekannte Ringmar. »Und das, obwohl ich hellwach bin.«

»Das Lächeln der Mona Lisa, Bertil. Ist das ein Lächeln?«

»Ich bin richtig froh, dass du mich mitten in der Nacht angerufen hast, um mir diese Frage zu stellen«, sagte Ringmar.

»Das hat etwas mit Charlotte Sander zu tun«, erwiderte Winter.

»Natürlich.«

»Ich meine es ernst.«

»Das meint der 60-prozentige Glenfarclas auch.«

Winter sah auf die Flasche, die vor ihm stand. Es war noch ziemlich viel drin. Er hatte den Pegel heute Abend um einen Zentimeter gesenkt, vielleicht um zwei. Mit Bertil hatte er ihn schon einmal um erheblich mehr verringert.

»War es ein Lächeln, das Charlotte Sander im Gesicht hatte?«, fragte Winter.

»War es ein Lächeln, das Leonardo in Mona Lisas Gesicht gemalt hat?«, fragte Ringmar zurück, »oder war es Erstaunen?«

»Das ist genau die Frage«, sagte Winter.

»Ich sehe trotzdem den Zusammenhang nicht«, sagte Ringmar.

»Charlottes Gesicht sagt uns etwas darüber, wie sie starb«, sagte Winter. »Und warum.«

 

Charlotte Sander. Sie hatte allein in einer Wohnung in einem der südlichen Vororte gelebt. Die Häuser waren ungefähr vor vierzig Jahren gebaut worden, und um die Zeit war Charlotte Sander auch geboren worden. Auch Winter war um diese Zeit geboren worden. Das war der Übergang von der alten zur neuen Zeit gewesen. Winter gehörte zur neuen Zeit. So wie Charlotte Sander, doch die gehörte jetzt zur Ewigkeit.

Allein gelebt. Manchmal war ihm, als würde er sich in einer Welt bewegen, die den Einsamen gehörte. Das waren so viele, dass sie fast schon wieder eine eigene Gemeinschaft bildeten. Einen Club, der niemals irgendwelche Versammlungen abhielt. Eine Vereinigung ohne Satzung und ohne Vereinslokal.

Einsame Menschen, die in ihren einsamen Wohnungen ein und aus gingen. Das war auch sein Leben gewesen, allerdings in einer selbst gewählten Einsamkeit. So hatte er es jedenfalls immer gesehen.

Doch als er schließlich angefangen hatte, mit anderen Menschen zusammenzuleben, hatte er begriffen, dass er sich immer selbst betrogen hatte.

Wie war das wohl für Charlotte Sander gewesen? Hatte sie sich auch selbst betrogen? Hatte sie irgendeine Wahl gehabt? Eine Wahl, von der Winter glaubte, dass er selbst sie einmal gehabt hatte?

Er ging über das Feld. Es begrenzte die Siedlung von dreistöckigen Häusern, die wie eine unregelmäßig hohe Mauer gebaut worden waren. Die Häuser waren für die Zukunft gebaut worden, in dem Glauben, dass sich einmal andere Häuser zu der kleinen traurigen Gruppe gesellen würden, um eine eigene Stadt zu bilden oder wenigstens den Teil einer großen Stadt, einen richtigen Teil. Jetzt standen die Bruchbuden nur da wie ein unfertiger Gedanke, der auf dieses verdammte Feld gekippt worden war, über das Winter jetzt lief, nachdem er den Parkplatz überquert hatte, der auf das andere Ende des Feldes gefallen war.

Er sah, wie ein Bus von Norden kam und an der Haltestelle hielt, und wenigstens die lag in der Nähe der Häuser. Der Bus fuhr weiter und verschwand hinter den anderen Feldern. Winter konnte keine Geräusche hören, abgesehen vom Wind, der plötzlich zusammen mit dem Bus von Norden gekommen zu sein schien. Aber der Wind blieb, Winter konnte sehen, wie das gefrorene Gras auf dem Feld sich zu neigen begann, erst nach Süden, dann nach Westen. Er knöpfte seinen Mantel zu, um sich gegen den Januarwind zu schützen. Es war Ende des Monats, der Wind heulte, und es war kalt, aber es lag kein Schnee, und das war die schlimmste Kälte. Dies war die schlimmste Zeit des Jahres, weiter vom Sommer konnte man nicht entfernt sein, ganz gleich, wie man nun zurück- oder vorrechnete. Manchmal dachte er, es war wie ein Leben, in dem es weder Vergangenheit noch Zukunft gab. Es gab nur den verdammten Wind vom Eismeer und das Warten auf bessere Zeiten.

Worauf hatte Charlotte Sander gewartet?

Auf wen hatte sie gewartet?

Winter stand vor dem Eingang des Hauses. Auf der Lampe über der Tür stand »2B«, genauer gesagt, hatte es dort einmal gestanden, doch die schwarze Farbe war zur Hälfte abgeblättert. Nein, eigentlich sogar ganz. Wer hierher finden wollte, der musste schon wissen, was dort für eine Hausnummer gestanden hatte.

Wie oft war Charlotte durch diese Tür ein und aus gegangen?

Wie viele Male hatte sie das allein getan?

Sie war jetzt zwei Tage tot, und sie hatten daran gearbeitet, alle Leute zu finden, die sie in ihrem Leben gekannt hatte. Diese Arbeit war sehr niederdrückend, auf gewisse Weise aber auch zufrieden stellend gewesen. Niederdrückend, weil sie nur so wenige Menschen gekannt hatte, und Winter hatte an die Einsamkeit gedacht, als er das einzelne Blatt in der Hand hielt, auf dem alle ihre Bekannten standen. Zufrieden stellend natürlich, weil es nur so wenige gewesen waren, die man hatte befragen müssen.

Aber es könnte ja noch mehr geben.

Er öffnete die Außentür mit Charlottes Schlüssel. Wie immer fühlte es sich so an, als würde er einbrechen, nicht in eine Wohnung, sondern in das Leben eines anderen Menschen. Und wie immer geschah das, als der andere Mensch schon tot war. Er hatte keine Lust, fremde Türen mit den Schlüsseln anderer Leute aufzuschließen, aber er machte es doch ständig, jahrein, jahraus, er ging Treppen hinauf, die immer kalt waren, aber nach den Jahreszeiten rochen. Er schloss neue Türen auf und betrat Wohnungen, die immer noch nach Leben rochen, aber jetzt tot waren, verbraucht, von Schweigen erfüllt.

 

Winter rief vom Handy aus an, während er Charlotte Sanders Telefon betrachtete. Es war rot, eine grelle Farbe.

»Hier Ringmar.«

»Hallo Bertil. Ich stehe in der Wohnung von Charlotte. Gibt es Neuigkeiten über die Telefongespräche?«

»Die Telefonzelle liegt ungefähr zwei Kilometer von der Stelle entfernt, wo du stehst. Es gibt noch so eine halb fertige Satellitenstadt in der Nähe.« Neben Ringmar sprach jemand. »Ein paar von unseren Leuten sind auf dem Weg dorthin.«

»Wieso zum Teufel hat es so lange gedauert, die zu finden?«

»Irgendetwas stimmte mit den Bezeichnungen nicht«, sagte Ringmar. »Mit den neuen Kartentelefonen scheint allerlei durcheinander geraten zu sein.«

Diese verdammten Karten, dachte Winter.

»Und das neue Computersystem hat dann den Rest erledigt«, fügte Ringmar hinzu.

Diese verdammten Computersysteme, dachte Winter. Er hob den Blick und sah das Feld und die halb fertige Satellitenstadt in der Nähe. Das schwarze Gras hing schlaff zu Boden. Er konnte die Silhouetten der Häuser auf der anderen Seite erkennen. Mitten zwischen ihnen stand diese Telefonzelle, die er nicht sehen konnte. Von dort hatte jemand – jemand, den sie noch nicht kannten – das rote Telefon angerufen, und das war ein paar Stunden vor Charlottes Tod gewesen.

Das eine musste nicht unbedingt etwas mit dem anderen zu tun haben.

Es gab nur diesen einen Anruf von der Telefonzelle zu dem roten Telefon.

Er dauerte dreißig Sekunden.

Ungefähr so lange, wie man braucht, um den Weg von dort nach hier zu erklären, dachte Winter, der den Blick immer noch auf das Feld vor dem Haus und auf die grauen Silhouetten auf der anderen Seite des Feldes gerichtet hatte.

Es ist 2B. Die Farbe ist ab, aber es ist der zweite Eingang von links.

Wie lang konnte es dauern, über das Feld zu gehen? Wenn die Häuser dort hinten nicht eine Fata Morgana waren, dann vielleicht zwanzig Minuten, eine halbe Stunde?

Er sah sich im Zimmer um.

Hatte es Spuren vom Feld in der Wohnung gegeben? Das schwarze Gras, Halme, die von der Kälte zusammenklebten?

»Was sagt Beier?«, fragte Winter. Ringmar war immer noch am anderen Ende der Telefonleitung.

»Worüber?«

»Über was auch immer, verdammt noch mal«, rief Winter und sah den schicken Chef der Spurensicherung vor sich, schicker als Winter es je gewesen war, selbst zu den Zeiten, als er am allerschicksten gewesen war. Schick und ängstlich. Ein scheißängstlicher junger Kommissar, der in Baldessarini-Anzügen versuchte, sich vor dem Abgrund zu schützen. Winter hatte auch seine Panzerhemden von Harvie & Hudson jeden Morgen gebügelt, und erst einige Zeit später hatte er begriffen, dass er die falsche Sorte Panzer trug.

»Bist du sauer, Erik?«

»Ich bin ungeduldig.«

»Das ist Beier auch«, sagte Ringmar.

»Sag ihm doch bitte, dass wir nach Gras suchen sollten«, erwiderte Winter.

»Gras?«

»Hier ist ein Feld vor der Tür, und die Telefonzelle, von der wir sprechen, liegt auf der anderen Seite des Feldes«, erklärte Winter. »Der Anrufer kann direkt über das Feld gegangen sein.«

»Okay.«

»Soweit ich erkennen kann, gibt es da keinen Weg«, sagte Winter.

»Vielleicht irgendeinen Pfad«, meinte Ringmar.

 

Es gab einen Pfad, schwarz wie das Gras ringsumher, und noch schwärzer, als der Januartag bereits in Dämmerung überging.

Winter stand am Anfang des Pfades, genau dort, wo der asphaltierte Weg angrenzte. Der Pfad war einen halben Meter breit und war wohl genauso alt wie die Häuser auf beiden Seiten des Feldes. Es war nie ein Weg angelegt worden, die entsprechenden Gedanken und Pläne hatten niemals ausreichend Gestalt angenommen. Die Menschen hatten sich ihren Weg zwischen den Häusergrüppchen selbst trampeln müssen. Das war doch wie im Mittelalter.

Winter setzte sich in Bewegung, es ging hinauf und dann wieder hinunter, und einige Augenblicke lang sah er um sich herum nichts anderes als Feld. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, als wäre er allein in der Prärie, Tausende von Kilometern von der nächsten Siedlung entfernt.

Er ging hinauf und sah plötzlich die Häuser auf der anderen Seite, die Lichter, die in einigen Fenstern angegangen waren, jetzt, da es fast schon Abend geworden war. Er ging weiter über das Feld. Der Wind hatte hier einen anderen Ton, als wenn er an den Häusern vorbeistrich. Er hörte das Rascheln des gefrorenen Grases.

War Charlotte hier gegangen? Hatte sie jemanden besucht, der in diesen heruntergekommenen Häusern lebte? Jemanden, der zum Telefonieren in die Telefonzelle ging? Oder es zumindest dieses eine einzige Mal getan hatte?

Plötzlich sah er das Auto mit der Aufschrift, ungefähr hundert Meter entfernt neben einer Telefonzelle geparkt. Er sah zwei Kollegen in Uniform, die fast genauso schwarz wirkten wie das Gras um ihn herum.

Er wandte sich um. Jetzt war Charlottes Haus zu einer Silhouette geworden. Dort war in keinem Fenster Licht.

Er hörte ein Auto und wandte sich wieder um. Zwei Leute von der Spurensicherung aus der Polizeizentrale stiegen aus und standen zusammen mit den uniformierten Polizeibeamten um die Telefonzelle.

Winter ging zu ihnen.

»Woher kommen Sie denn?«, fragte einer der Leute von der Spurensicherung.

Winter machte eine Geste zu dem Feld.

»Der Mann, der aus der Kälte kam«, sagte der andere.

»Passen Sie gut auf damit«, meinte Winter und nickte in Richtung auf die Telefonzelle.

»Wir passen immer gut auf«, sagte der eine Techniker.

»Was suchen wir denn?«, fragte der andere.

»Einen Mörder«, antwortete Winter.

»Glauben Sie, dass er hier war?«

Winter antwortete nicht. Er wandte sich um und schaute über das Feld. Nun war auf der anderen Seite Licht zu sehen. Es wirkte, als wäre der Weg dorthin jetzt kürzer, da die Dunkelheit sich gesenkt hatte und dieses Licht leuchtete.

»Glauben Sie, dass er hier war, Winter?«, wiederholte der Techniker.

Winter konnte die Gesichter der anderen nicht mehr unterscheiden.

»Ja«, antwortete er. »Er hat telefoniert, und dann ging er zu ihr nach Hause.«

Sie wussten, dass es ein Mann gewesen war. Nur ein Mann konnte einer Frau die Verletzungen zufügen, die sie an Charlotte festgestellt hatten.

»Sie war sofort tot«, hatte die Gerichtsmedizinerin gesagt, eine Frau, der Winter noch nie zuvor begegnet war, und an deren Namen er sich nun auch nicht mehr erinnerte. »Innerhalb weniger Sekunden.«

»Gott sei Dank«, hatte Winters Kollegin, die Kriminalinspektorin Aneta Djanali gesagt.

»Warum sieht sie so friedlich aus?«, hatte Winter mehr zu sich selbst gesagt. »Oder ist es etwas anderes?«

»Fast wie ein Lächeln«, hatte Aneta Djanali gesagt.

 

Winter war den Pfad nicht zurückgelaufen.

»Wir sperren das Feld ab«, sagte er zu den Leuten von der Spurensicherung.

Einer von ihnen murmelte etwas.

»Was gibt’s?«, fragte Winter mit scharfer Stimme.

»Nichts, Chef. Nichts.«

»Na, immer mit der Ruhe«, sagte der andere.

Aber er wollte keine Ruhe, nicht jetzt. Es gab viel zu viele Leute, die zur falschen Zeit mit Ruhe kamen, und die Stress machten, wenn es darauf ankam, lockerzulassen. So wie jetzt. Er versuchte, sich zu entspannen, als er wieder im Dunkeln in Charlottes Wohnung stand und zu dem schwachen Licht auf der anderen Seite des Feldes hinüberschaute. Und als er den Wind hörte und sich vorzustellen versuchte, was hier drinnen vor zwei Tagen geschehen war, oder warum es geschehen war. Dieses verdammte Warum, auf das man nur so selten eine Antwort bekam, und das doch als Einziges zu einer Lösung führte. Oder zu einem Teil der Lösung. Was auch immer eine Lösung war. Er hatte Fälle gelöst, Rätsel, alle Antworten gefunden, Ermittlungen durchgeführt, die als Musterbeispiele auf der Polizeihochschule verwendet werden konnten und vielleicht sogar schon auf dem Lehrplan standen. Doch in einigen Fällen war er mit all seiner Geschicklichkeit gescheitert. Er hatte Operationen erfolgreich durchgeführt, bei denen der Patient gestorben war.

Solche Dinge hatten ihn zweifeln lassen, manchmal an allem. An den Menschen.

Er sah sich in der dunklen Wohnung um, die vom Licht der Winternacht draußen wie verrußt schien. Hier hatte ein Mensch gelebt. Hier war er einem anderen Menschen begegnet. Eins plus eins. Einen Moment lang waren sie zwei geworden, und dann wieder nur eins. Eins plus eins gibt eins.

Winter sah wie blind aus dem Fenster. Vielleicht war er jetzt da draußen. Vielleicht hatte er Winter über das Feld laufen sehen, hatte ihn zurückkommen und wieder durch die Tür gehen sehen.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Mörder zurückkehrten. Sie suchten noch etwas, etwas mehr.

Vielleicht war das ein Warum.

Winter trat näher ans Fenster, von der Wand weg.

Fünfzig Meter weiter rechts stand eine Straßenlaterne. Sie warf ein blaues Licht über den Platz vor dem Haus, das jedoch nicht weit reichte.

Am Rand des Feldes stand eine Gestalt, in Winters Blickfeld weit draußen nach links.

Das war kein Baum, da gab es keine Bäume.

Die Gestalt bewegte sich.

Das konnte irgendjemand sein.

Winter stürzte die Treppen hinunter.

Er eilte über den Platz vor dem Haus.

Dort war niemand. Er horchte auf Schritte, hörte aber keine. Sah keine Gestalt draußen auf dem Feld, das jetzt wie ein schwarzes Meer wirkte. Das Einzige, was er hörte, war der Wind.

Er blickte wieder zum Haus. In der Wohnung über der von Charlotte brannte Licht, ebenso in einigen Fenstern über den anderen Eingängen. Sie hatten alle verhört, die in diesen stummen Häusern wohnten. Keiner wusste etwas. Sie konnten sich nicht einmal an Charlotte Sander erinnern. Man musste es ihnen glauben, sie hatten gefragt und gefragt.

Es war, als hätte es sie nie gegeben.

Winter kehrte in die dunkle Wohnung zurück. Er stellte sich ans Fenster, so dass man ihn nicht sehen konnte, doch da draußen bewegte sich nichts, nicht einmal der Wind wehte über das Feld. Er sah keinen Menschen. Dann beschloss er, die Stehlampe am Sofa anzuschalten. Das Licht verstärkte die Farben im Raum. Charlottes rotes Telefon leuchtete auf dem Sofatisch wie eine Fackel. Und plötzlich klingelte es.

 

Er hatte sich umgedreht und eine schnelle SMS an die Leitzentrale geschickt, dann war er zum Telefon gegangen und hatte mitten im fünften Klingeln den Hörer abgenommen. Die einzigen Fingerabdrücke, die es darauf gegeben hatte, waren die von Charlotte gewesen.

»Hallo? Hallo?«

Er hörte das Sausen des Windes in den Leitungen, jetzt etwas deutlicher und gröber. In einer Pause hörte er etwas anderes.

»Wer ist da?«, fragte er. »Wer ruft an?«

Dann wieder die schwere Stille.

Wieder ein Atmen.

Ja. Ein Atmen.

Dann war es weg. Nur noch der Wind war da.

Winters Handy klingelte. Während er ranging, hielt er immer noch Charlottes Telefonhörer an sein rechtes Ohr.

»Es ist weg«, sagte der Kommissar vom Dienst.

»Ich hab es gehört.«

»Wir hätten, na ja, Sie wissen ja, etwas mehr Zeit gebraucht.«

»Ich will hier heute Abend und heute Nacht jemanden haben, der auf das Telefon aufpasst«, sagte Winter.

 

Als er nach Hause kam, war der Abend immer noch jung. Die Dunkelheit hielt sie alle zum Besten, die Dunkelheit und die Erschöpfung.

Auch in seiner Wohnung war es dunkel. Er machte das Licht über dem Herd an und blieb am Küchentisch sitzen, das Fenster in den Abend geöffnet, der plötzlich klar und kalt geworden war. Er schauderte, stand auf, ging ins große Zimmer, das zum Vasaplatz hinausging, und goss sich einen Ardbeg ein. Jetzt wollte er nicht an etwas Sechzigprozentigem nippen, heute wollte er einen ordentlichen Schluck nehmen. Der Whisky schmeckte, wie das Feld vor Charlottes Wohnung schmecken musste, salziger Wind und schwarzes Gras und Torf, Rauch, Pfeffer und Teer. Winter schauderte wieder, als das alles in seine Eingeweide fiel. Gleich würde die Wärme kommen, innerhalb weniger Sekunden. Er setzte sich und kickte die Schuhe von den Füßen. Wenn ich nach Hause komme, trinke ich als Allererstes einen Whisky, hatte er sich vorgenommen. Und dann ziehe ich die Schuhe aus.

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. So war es früher gewesen, als er noch allein lebte, vor Angela und vor Elsa und der kleinen Lilly. Er war nach Hause gekommen und hatte in der Stille gesessen, und die Stille hatte ihn umschlossen. Am Ende hatte er sie nicht mehr bemerkt, sie war immer da, war ein Teil seiner selbst gewesen. Erst als andere Menschen in der Wohnung waren, hatte er bemerkt, dass die Stille fort war. Hatte er sie gern gemocht? Hätte er sie behalten wollen? Wollte er wieder dorthin? Nein. Nein, nein. Doch wenn er hier so saß, dann begrüßte er das Gefühl der Einsamkeit, die einsame Stille. Gerade jetzt am Abend brauchte er das. Er wollte darin denken, trinken und vielleicht hören.

Das Klingeln seines Handys durchbrach die Stille.

»Was glaubst du, wer das gewesen sein könnte?«, fragte Ringmar.

Winter antwortete nicht, er atmete nur.

»Jemand, der wusste, dass sie tot ist, oder jemand, der das nicht wusste?«, meinte Ringmar.

»Hm.«

»Also, wer ist es?«

»Jemand, der mich dort hineingehen sah«, sagte Winter.

»Hast du jemanden gesehen?«

»Vielleicht. Ja. Nein. Ich weiß nicht.«

»Verstehe«, meinte Ringmar, und Winter konnte sein Lächeln hören.

»Er wollte was von mir«, sagte Winter nach einer kleinen Weile.

»Was denn?«

»Er … er wollte mir sagen, dass er wusste, dass ich da bin.«

»Sprechen wir hier von dem Mörder?«, fragte Ringmar.

»Von wem denn sonst, Bertil?«

»Es gibt eine Sache mit unserer Charlotte, die mich nicht loslässt«, sagte Ringmar.

»Was denn?«

»Man hat den Eindruck, dass sie der einsamste Mensch auf der ganzen Welt war. Keine Eltern, keine Geschwister, keine Verwandten, soweit wir wissen. Keine Arbeit. Nachbarn, die sich kaum an sie erinnern. Oder besser gesagt gar nicht erinnern. Und keine Freunde.«

»Soweit wir wissen«, fügte Winter hinzu.

»Aber einen Bekannten hatte sie«, meinte Ringmar. »Oder einen Freund.«

»Der in den Stunden, bevor sie starb, bei ihr anrief. Oder direkt vorher.«

»Der vielleicht noch mehr tat«, fügte Ringmar hinzu.

Winter antwortete nicht.

»Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr«, bemerkte Ringmar.

»Eine Binsenweisheit.«

»Passt hier aber gut«, sagte Ringmar.

»Aber du hast Recht«, fuhr Winter fort. »Warum wird ein Mensch ermordet, der niemanden kennt?«

»Versuchte sie vielleicht, Leute kennen zu lernen?«, fragte Ringmar.

»Das wissen wir noch nicht«, meinte Winter.

Sie taten, was sie konnten, um Charlottes Leben zu rekonstruieren. Hatte sie mit irgendjemand Kontakt aufgenommen? Wann? Wie? War sie kurz davor, Kontakt aufzunehmen? War irgendwo eine Kontaktanzeige geplant? Oder war bereits eine erschienen?

»Es hat etwas mit der Vergangenheit zu tun«, sagte Ringmar.

Ja. Ging es nicht immer um die Vergangenheit? Winter fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Die Vergangenheit warf ihre Schatten auf die Zukunft. Man konnte ihr nicht entkommen. Niemand. Man musste ernten, was man gesät hatte. Auch das war eine Binsenweisheit. Aber die passte in diesem Fall vielleicht nicht.

Was war es, dem Charlotte Sander nicht hatte entkommen können?

 

Der Abend sank herab. Auf dem Vasaplatz erstarben die Stimmen. Die Straßenbahnen ratterten nur noch in größeren Abständen vorbei. Es gab immer noch keinen Schnee. Ein schwarzer Winter war das. Der Schnee brachte wenigstens Licht und andere Laute. Alles klang anders, wenn Schnee lag.

Im Schnee Spuren zu entdecken war leichter.

In gefrorenem Gras war es schwerer.

Das Telefon klingelte.

Als er abnahm, dachte er an das Klingeln zu Hause bei Charlotte. Er hatte eine Geheimnummer. Er wusste, wer anrief.

»Jetzt sag nicht, dass die Sonne scheint«, sagte er.

»Sie ist grade untergegangen«, erwiderte Angela.

»Ha!«

»Was machst du, Erik?«

»Denke an Schnee.«

»Gibt es schon welchen?«

»Nein, noch nicht. Wie ist es bei euch?«

»Auch heute kein Schnee«, sagte Angela.

»Wie geht es den Mädchen?«

»Lilly hat heute die Füße ins Mittelmeer gehalten.«

»Nächste Woche bin ich dran.«

Er war auf dem Weg. In der nächsten Woche würde er am Strand von Puerto Banus stehen und dann mit Elsa auf dem einen Arm und mit Lilly auf dem anderen ins Wasser steigen.

»Deine Mutter hat umgebaut«, sagte Angela. »Ein größerer Patio.«

»Ist das dasselbe wie eine Terrasse?«

»Keine Ahnung«, meinte Angela.

»Hat sie alles selbst gemauert?«

Angela lachte. Der Gedanke war absurd. Winter sah das weiße kleine Haus vor sich, und das Licht oben in Nueva Andalucía. Das Haus befand sich in einer Art skandinavischem Überwinterungsghetto, wie auf einer isolierten und geschützten Insel, aber das Licht war gut, und der Wind, und der Himmel war weit.

»Angela?«

»Ja?«

»Wenn du einsam wärest, der einsamste Mensch der Welt, was würdest du dann machen?«

 

Um drei Uhr morgens war Winter wieder in Charlottes Wohnung. Warum? Wartete er auf einen neuen Anruf auf dem roten Telefon? Wartete er auf eine Gestalt da unten auf dem Feld, auf dem Weg dorthin?

Er wusste es nicht. Während er auf eine deutliche Antwort wartete, ging er sehr langsam die wenigen Schubladen durch, die Charlotte hatte, und alle Regalbretter in den Schränken der Wohnung. Diese Arbeit hatten zwar die Leute von der Spurensicherung schon geleistet, aber das spielte keine Rolle.

Er leuchtete mit der Taschenlampe hinter das Porzellan in der Küche.

Er fühlte über alle Fußbodenleisten.

Nach fünfundvierzig Minuten fand er den dünnen Stapel Briefe, oder den Haufen steifer Papiere, die wie Briefe aussahen, ohne Kuvert. Eine niedrige Schwelle hatte sich bewegt, als er vorsichtig den Fuß darauf gesetzt hatte. Die Briefe lagen fest zusammengerollt wie eine Spule in der Furche.

 

Die Briefe waren ihr Leben, Charlottes Leben. Die beiden ersten waren von einem Kind geschrieben. »Hallo, Tante und Onkel …« Hinter ihren Namen hatte sie ihr Alter geschrieben: »Charlotte 10«. Beide Briefe waren an »Tante und Onkel« gerichtet. Winter kannte die Tante und den Onkel nicht, noch nicht.

Der nächste Brief war zwanzig Jahre später verfasst, er war datiert. Winter fand das erstaunlich, so als wäre das für ihn dorthin geschrieben worden, als hätte Charlotte gewusst, dass dieser Brief in einer Ermittlung gebraucht werden würde. Aber warum hatte sie ihn dann versteckt? Oder hatte das jemand anders getan?

Winter las. Er begann mit dem letzten Satz: »Ich will nicht, dass du mir schreibst.« Im Brief stand kein Name.

Er fand keine Briefe an Charlotte. In seiner Hand hielt er nur die Briefe von ihr.

Er hielt sie hoch.

Sie sahen nicht wie Kopien aus, wenn sie nicht alles von Hand kopiert hatte.

Hatte sie an sich selbst Briefe geschrieben? Nein. Aber sie wollte ihre Worte an jemand anders bewahren. So musste es sein.

 

»Es ist ihr jemand gefolgt«, sagte Ringmar.

»Durch die Tür? Die Treppen hinauf?«

Winter stand in seinem Büro und sah aus dem Fenster. Auch vor seinem Fenster gab es Gras, aber das war dicht und gehorsam und kurz, ein Streifen Gras hinunter zum Fluss Fattighusån, der im Vormittagslicht unbeweglich dalag. Die Häuser auf der anderen Seite waren Neubauten, die auf dem alten Armenhausfriedhof standen. Eine Straße glitt auf der anderen Seite des Kanals nach Westen. Sie schien es nicht eilig zu haben.

»Er hat die Tür festgehalten, ehe sie zuschlug«, sagte Ringmar. »Klassischer Fall.«

»Und wie ist er dann in die Wohnung gekommen?«, fragte Winter.

»Geklingelt«, meinte Ringmar mit dem Anflug eines Lächelns. »Auch das ein klassischer Fall.«

»An der Tür ist ein Spion«, gab Winter zu bedenken. »Sie hätte wohl kaum einem Fremden aufgemacht.«

»Vielleicht war er kein Fremder«, sagte Ringmar.

»Dann fällt deine Theorie aber in sich zusammen«, sagte Winter.

»Ja, das tut sie«, sagte Ringmar und lächelte wieder sein leichtes Lächeln. Es war wie der Januartag draußen, wie etwas, was es kaum gab. Ringmars Lächeln schaffte es kaum bis auf seine Lippen.

»Diese Briefe, die sie als Kind geschrieben hat«, begann Winter und machte eine Geste zum Schreibtisch hin, »wenn sie sie denn geschrieben hat. Die hat sie ja aus einem Ferienlager geschrieben.«

»Was sagen Beiers Leute?«, fragte Ringmar.

»Wozu?«

»Ob es ein Kind war, das die Briefe geschrieben hat?«

»Sie sind mit der Altersbestimmung des Papiers und der Tinte noch nicht fertig. Das ist schwierig. Sie sagen, es sei noch nicht genug Zeit vergangen. Und was das Alter des Briefschreibers angeht, so habe ich gerade einen Handschriftenexperten darangesetzt.«

»Genügt da nicht eine Grundschullehrerin?«

»Sie ist Grundschullehrerin«, sagte Winter und merkte, dass er jetzt auch ein wenig lächelte. »Auch.«

»Du sagst, sie habe aus einem Ferienlager geschrieben?«

»Ja.«

Winter wandte sich vom Fenster ab, ging zum Schreibtisch und nahm eines der Papiere in die Hand, die Kopien der Briefe waren, die gerade von der Spurensicherung untersucht wurden.

»Du hast sie doch selbst gelesen«, sagte er und sah auf.

»Es klingt doch wie aus einem Ferienlager.«

»Könnte auch ein Kinderheim gewesen sein«, gab Ringmar zu bedenken.

»Ja.«

»Oder eine reine Phantasie.«

»Wenn sie als Kind in einem Ferienlager war, dann werden wir es schon rauskriegen«, sagte Winter.

»Eine Abwechslung zum Kinderheim«, sagte Ringmar, diesmal ohne Lächeln. »Wer sind denn die Tante und der Onkel?«

»Die Einzigen, an die wir uns hätten wenden können, sind tot«, sagte Winter. »Die Adoptiveltern.«

»Wer ist es, der ihr nicht mehr schreiben soll?«, fragte Ringmar.

 

Es gab ein Ferienlager. Es lag an einem See. Das Kinderheim mietete sich zweihundertfünfzig Kilometer südöstlich von Göteborg entfernt in ein Ferienlager ein. Den Unterlagen nach war Charlotte zwei Sommer in Folge dort gewesen.

Winter und Ringmar waren schweigend in Winters Auto dorthin gefahren. Sie hatten Sketches of Spain angehört und in eine gefrorene Landschaft gestarrt, die von der verbrannten Erde des Südens weit entfernt war.

Als sie sich dem Hochland näherten, fiel Schnee. Es schien der erste Schnee zu sein, aber der Schneefall hatte schon aufgehört, ehe er es geschafft hatte, auf der Erde Spuren zu hinterlassen.

Jetzt fuhren sie über einen Waldweg, der grobe Spurrillen von Traktorenreifen aufwies. Auch die Spurrillen waren gefroren, und die Unebenheiten ließen das Auto wie ein Schiff schlingern.

Dann öffnete sich eine Waldlichtung, und sie sahen einen See, an dem ein zwei Stockwerke hohes Holzhaus stand, flankiert von zwei langen Gebäuden, die wie Baracken aussahen. Draußen auf dem See war das Wasser nicht gefroren, eine langsame und schwere Bewegung, wie von Stahl. Zum Ufer hin hatte sich Eis gebildet, so regungslos, als wäre es vertäut. Ein paar Ahornbäume breiteten ihre toten Äste zum Lederhimmel aus.

Winter parkte auf dem Hofplatz vor dem großen Gebäude. Sie stiegen aus. Winter glaubte, vom See her ein Geräusch wie von Flügeln zu hören.

An einem Gestell auf dem gefrorenen Gras am Ufer schwang langsam eine Schaukel. Daneben stand eine Rutsche, deren blanke Rinne wie Eis glänzte. Ein altertümlich aussehendes Karussell stand still, die meiste Farbe war in Wind und Wetter abgeblättert.

»Die sind inzwischen verboten«, sagte Ringmar und nickte zu dem Karussell hin.

»Wieso das denn?«, fragte Winter.

»Die Kinder können mit einem Schal oder so hängen bleiben und unter die Platte gezogen werden«, sagte Ringmar und ging hin und versuchte, das Karussell in Gang zu bringen. Es bewegte sich nicht, denn es war auch am Boden festgefroren. »Es sind da wohl ein paar Unfälle passiert. Aber das Karussell hat wirklich Spaß gemacht. Da kriegte man ein unglaubliches Tempo drauf.«

»Das konnte ich nie ausprobieren«, sagte Winter.

»Tut mir Leid für dich«, entgegnete Ringmar. »Das ist eben die Strafe der späten Geburt.« Er ließ das kalte Metall los. »Aber so ist dir wenigstens die Kotzerei erspart geblieben. Nach fünfzig Runden haben wir alle gespuckt.«

»Hoffentlich nicht während der Fahrt.«

Ringmar antwortete nicht.

»Vielleicht sind sie deshalb verboten worden«, meinte Winter.

Ringmar antwortete immer noch nicht. Er machte eine Kopfbewegung zu etwas hinter Winter.

»Diese Tür da steht offen«, sagte er.

Winter wandte sich um. Eine der Glastüren zum Hauptgebäude schien angelehnt zu sein, es war etwas wie ein dunkler Pfeiler vor der Tür, oder vielleicht auch eine optische Täuschung, aus all den unterschiedlichen Grautönen in der Landschaft um sie herum.

»Ist da jemand?«, fragte Ringmar.

 

Sie standen in einem Saal, dessen Fußboden glänzte wie von einer Eisschicht überzogen. Das graue Licht fiel durch drei Fenster herein, die vom Boden bis zum Dach reichten. Winter konnte den See sehen, das offene Wasser draußen, und davor das Eis.

»Ich nehme mal an, das hier ist der Speisesaal«, sagte Ringmar.

»Bist du mal in einem Ferienlager gewesen?«, fragte Winter.

»Nein. Weder als richtiger Gast noch als zufälliger Besucher.«

»Gast? Glaubst du, die Kinder fühlten sich als Gäste?«

»Einige von ihnen kamen vielleicht aus noch schlimmeren Umständen«, sagte Ringmar.

»Bestimmt hängen dahinten ein paar Fotos«, sagte Winter und zeigte auf die gegenüberliegende Wand.

Ringmar konnte eine Reihe von Fotografien sehen, die auf einer Pinnwand arrangiert waren.

Sie gingen hinüber.

»Ganz schön viele Gäste«, meinte Winter.

Es waren fünf Fotos. Jedes zeigte eine große Gruppe Kinder, die vor einem Baum standen. Hinter ihnen war der See. Winter erkannte den Baum und den See. Er trat näher und studierte gründlich die Gesichter auf jedem Foto, die Gesichter der Mädchen. Ringmar tat es ihm gleich.

»Suchen Sie jemand?«

Sie wandten sich um.

Die Stimme, die plötzlich in der Stille zu hören war, hatte sie zusammenfahren lassen.

Ein älterer Mann kam langsam durch den Saal auf sie zu. Seine Turnschuhe gaben keinen Laut von sich.

»Wer sind Sie?«, fragte er.

 

Jonas Björk sah auf ihre Ausweise und nickte, als sie ihm die Plastikkarten hinhielten.

»So etwas besitze ich nicht, Sie müssen also schon glauben, dass ich hier der Verwalter bin«, sagte er, »oder war.«

»Was machen Sie jetzt hier?«, fragte Ringmar so freundlich wie möglich.

»Ich habe nicht viel anderes zu tun«, sagte Björk. »Ich komme nur aus alter Gewohnheit immer wieder hierher.«

»Haben Sie lange hier gearbeitet?«, fragte Winter.

»Solange das Ferienlager in Betrieb war«, sagte Björk. »Ich war von Anfang bis Ende dabei.«

Er machte mit seiner behandschuhten Hand eine Bewegung zu den Bildern an der Wand.

»Und gibt es etwas Bestimmtes, wonach Sie suchen?«

»Ein Mädchen namens Charlotte Sander«, sagte Winter.

Björk drehte sich zur Wand und betrachtete die Fotos.

»Sander … das ist ein ungewöhnlicher Name. Könnte nicht sagen, dass ich mich an jemand erinnere …« Er verstummte und studierte weiterhin die Bilder. »Das eine oder andere Kind erkennt man doch wieder.«

»Wer ist die Frau?«, fragte Winter und zeigte auf eine Frau in mittlerem Alter, die am äußeren Rand der Kindergruppen stand. Sie stand immer am selben Platz. Und sie lächelte auf keinem der Bilder.

»Das ist Tante Wilhelmsson«, sagte Björk. »Sie war die Erzieherin hier.«

»Die ganze Zeit?«

»Ja. Die ganzen zehn Jahre.« Björk nickte in Richtung auf Tante Wilhelmssons Gesicht. »Dann wurde sie krank und das Ferienlager wurde geschlossen.« Er sah zu Winter hoch.

»Es gab wohl niemanden, der das weiterführen wollte.«

»Gab es keinen Onkel?«, fragte Winter.

»Wie?«

»Keinen Onkel Wilhelmsson. Sie haben sie doch Tante genannt.«

»Alle nannten sie Tante«, sagte Björk.

»Gab es jemanden, den Sie Onkel genannt haben?«

»Nein. Sie war nicht verheiratet. Vielleicht war sie auch Witwe. Ich habe nie danach gefragt.«

»Was für eine Krankheit war es?«

»Wie?«

»Sie haben gesagt, Tante Wilhelmsson sei krank geworden. Was ist denn passiert?«

»Ich weiß nicht. Nach der letzten Saison kam sie einfach nicht zurück. Ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist.« Björk machte eine ausladende Geste zu den schwarzweißen Fotografien an der Wand. Die Bilder waren im Sommer aufgenommen worden. Alle Kinder trugen Sommerkleider. »Niemand ist zurückgekommen.«

»Wer ist das da?«, fragte Ringmar und tippte mit dem Finger auf den blonden Kopf eines jüngeren Mannes. Er war vielleicht zwanzig oder ein paar Jahre älter. Die Frisur ließ ihn älter aussehen. Er stand von der Frau aus gesehen auf der anderen Seite der Kindergruppe. Die beiden Erwachsenen waren zwei Köpfe größer als die Kinder. »Er ist nur auf diesem Foto dabei.«

»Das ist Sivert«, sagte Björk, und Winter bemerkte eine Veränderung in der Stimme des älteren Mannes. »Sivert war der Junge der Tante.«

»Junge? Meinen Sie, ihr Sohn?«

»Ja.«

»Warum ist er hier mit dabei?«, fragte Winter und wies auf die Fotografie.

»Er war manchmal dabei und half aus«, sagte Björk gedehnt.

»Jeden Sommer?«

»Nee, wohl mehr gegen Ende.« Björk nahm die Kappe ab, fuhr sich durch das schüttere Haar und setzte die Kappe wieder auf. »Es waren wohl die letzten beiden Jahre oder so.«

»Wann ist die Ferienkolonie geschlossen worden?«, fragte Winter. »Welches war die letzte Saison?«

Björk dachte nach und nannte dann eine Jahreszahl.

»In dem Jahr war das Mädchen hier«, sagte Winter.

»Charlotte Sander.« Er wandte sich wieder den Fotos zu.

»Dann müsste sie hier mit drauf sein.«

Er studierte erneut die Bilder, Gesicht um Gesicht, konnte aber keines finden, das ihn an das der toten Frau erinnerte.

»Charlotte …«, sagte Björk, der neben Winter ganz dicht an den Fotos stand. »Charlotte Sander …« In einer plötzlichen Bewegung wandte er sich Winter zu. »Mein Gott.«

»Was ist denn?«, fragte Winter.

»Sie war ja mit in dem Boot«, sagte Björk, »als es geschah. Sie war das!«

»Das Boot?«, fragte Ringmar.

»Was ist da geschehen?«, hakte Winter nach.

»Sander. Ich erinnere mich. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass sie das Boot über den Sand gezogen haben. Dass es sozusagen dasselbe Wort war.«

Er wandte sich wieder den Bildern zu und betrachtete sie intensiv mit seinen kurzsichtigen Augen.

»Da ist sie«, sagte er und streckte einen Finger aus, mit dem er dann fast ein kleines Mädchengesicht berührte.

»Ist das Charlotte?«, fragte Winter. Er sah ein Gesicht, ein junges Gesicht mit einem schwachen Lächeln. Plötzlich spürte er, wie es ihm kalt über die Kopfhaut kroch. War das ein Lächeln im Gesicht des Mädchens? Warum hatte er das nicht vorher gesehen? »Ist sie das?« Er fragte wieder, obwohl er die Antwort schon wusste.

»Das ist sie«, sagte Björk und zog den Finger wieder weg. »Und da ist das Mädchen, das ertrunken ist. Sie stehen genau nebeneinander. Dass ich sie nicht vorher gesehen habe.«

»Das ertrunken ist?«, echote Ringmar.

»Sie waren mit dem Boot draußen«, erklärte Björk. »Weit draußen auf dem See. Es war Abend, aber es war immer noch hell. Es waren diese beiden Mädchen. Die beiden und Sivert.«

»Sivert? Der Sohn?«

»Er ist mit ihnen rausgerudert.«

»Und was ist da draußen geschehen?«, fragte Winter. Er spürte immer noch das Schaudern. Er wusste, dass er Björk so leichthin und gleichzeitig so schnell wie möglich dazu bringen musste, zu erzählen.

»Keiner weiß es«, sagte Björk. »Das andere Mädchen, es hieß Lena, sprang ins Wasser, um zu baden, das hat Sivert gesagt, und offenbar ging sie unter wie ein Stein.« Er schaute zu dem Foto. Winter und Ringmar sahen das Mädchen an. Es sah leicht aus, leicht und fröhlich. »Man fand sie am nächsten Tag. Mit Draggen über den Grund.«

»Hätte Sivert sie nicht retten können?«, fragte Ringmar.

»Offenbar nicht«, erwiderte Björk. Winter konnte die Veränderung in seiner Stimme hören.

»Und was sagte Charlotte?«, fragte Ringmar. »Sie war doch dabei.«

»Das weiß ich nicht«, sagte Björk und wandte das Gesicht ab.

»Wann ist das passiert?«

»Wann? Na, wann wohl?« Björk sah zu Ringmar und dann wieder zu der Fotografie. »Das war wohl im Juli.«

»In welchem Jahr?«

»Es war das letzte Jahr. Der letzte Sommer. Zwei Wochen nach dem Unglück haben sie geschlossen und die Tante wurde krank, und niemand kam je zurück.«

»Was machte Sivert, wenn er hier war?«, fragte Winter.

»Hat er irgendetwas gearbeitet? Hat er bei etwas geholfen?«

Björk antwortete nicht. Er hatte den Fotos den Rücken zugewandt, als wolle er vergessen, was er gesehen hatte.

Winter wiederholte seine Frage.

»Er war keine Hilfe«, sagte Björk.

»Ach so?«

»Er hat nur Schaden angerichtet.«

»Wobei?«

»Bei den Mädchen«, sagte Björk. »Er hat den Mädchen geschadet.«

»Wie das?«

»Er … er …« Björk schienen die Worte zu fehlen.

»Herr Björk?«

»Ich habe versucht, mit der Tante zu reden, aber sie hat nicht zugehört. Sie wollte nicht zuhören.«

»Was wollten Sie ihr sagen?«

»Dass er … dass er ihnen Böses wollte.«

»Böses? Auf welche Weise?«

»Ich weiß nicht. Böses eben.«

»Haben die Kinder Ihnen das erzählt?«

»Ich hatte so meinen Verdacht.«

»Trotzdem durfte er mit zwei Mädchen auf den See hinausrudern?«

»Ich war zu dem Zeitpunkt nicht da«, sagte Björk.

»Aber hinterher doch«, sagte Winter. »Was haben Sie hinterher gesagt? Nach dem Unfall. Was haben Sie der Polizei berichtet?«

»Der Polizei?«

»Es muss doch eine Ermittlung gegeben haben.«

»Ja, schon. Aber ich, ich wusste ja nichts. Ich hatte doch keine Beweise, oder wie man das nennt. Die Tante hat mir auch nicht geglaubt.« Er sah Winter an. »Und nachts war ich ja nicht hier.« Er schien eine Geste zum Fenster zu machen, Richtung See. »Und da draußen war ich auch nicht mit dabei.« Er sah zum See hinaus. »Ich habe das bereut. Viele Male.«

»Was bereut?«, fragte Ringmar.

»Dass ich niemals etwas gesagt habe. Zu keinem anderen als zur Tante.«

 

Tante Wilhelmsson hieß Rosa Wilhelmsson, und als Winter die Unterlagen bekam, war sie schon dreißig Jahre tot. Dasselbe Jahr, dachte er, dasselbe Jahr, in dem die Kolonie für immer geschlossen wurde. Er las den Bericht gründlich durch. Sie war am neunundzwanzigsten August gestorben, zwei Wochen, nachdem die Kolonie geschlossen worden war.

Sie war ertrunken.

Dem Bericht zufolge war sie allein gewesen, als sie in einem See ertrank, der weit von dem entfernt lag, an dem Winter zwei Tage zuvor gestanden hatte.

Im Bericht stand nichts über irgendeine Krankheit.

Es stand da auch nichts über ihren Sohn, Sivert. Nichts, das irgendetwas erklärt hätte.

Sivert selbst konnte nichts erklären, jedenfalls im Moment noch nicht. Ihn gab es noch nicht.

Sie hatten einen Sivert Wilhelmsson in einer Wohnung in den nördlichen Vororten gefunden. Dort gab es, wie im Süden, Felder um die Häuser. Die Häuser waren vor ungefähr vierzig Jahren gebaut worden, in der Hoffnung, dass sie einmal eine Stadt bilden würden, eine richtige Stadt.

Als sie Wilhelmssons Wohnung betreten hatten, hatte Winter den Geruch von Eingeschlossensein und Leere verspürt. Hier war wochen- oder sogar monatelang niemand gewesen. Winter wusste, dass sie Grashalme da drinnen finden würden, von Feldern sowohl im Norden als auch im Süden.

Auf einer antiken Anrichte hatte eine Fotografie gestanden, die er wiedererkannte.

 

»Er könnte die Stadt verlassen haben«, meinte Ringmar.

Sie saßen zur Abwechslung mal in Ringmars Zimmer. Winter musste eine Stunde lang nicht auf den Fattighusån schauen.

»Vielleicht aber erzählt der alte Björk auch irgendwelchen Mist«, sagte Ringmar. »Vielleicht ist er selbst etwas verwirrt.«

»Selbst?«

»Sivert Wilhelmsson ist ja wohl eine verwirrte Seele.«

»Björk ist nicht verwirrt.«

Winter glaubte das nicht. Er hatte den Bericht über das ertrunkene Mädchen gelesen. Am Ende wurde es als Unfall bezeichnet. Sivert Wilhelmsson wurde nicht belangt.

Charlotte Sander wurde ebenfalls nicht belangt. Belangt wofür? Was hatte sie gesehen? Hatte sie selbst etwas getan? Nein.

Sie wurde freigelassen wie der Wind. Es gab niemanden, der sie gehalten hätte. Ihr Leben war wie der Wind gewesen. Aber das Einzige, was er wirklich von ihr wusste, stand in ihrem Gesicht.

»Hat er sie all die Jahre am Haken gehabt? Wilhelmsson?«, fragte Ringmar.

Winter antwortete nicht. Er dachte immer noch an ihr Gesicht.

»Auf jeden Fall wusste sie irgendetwas«, sagte Ringmar.

»Sie hat etwas gesehen.«

»Schließlich war sie mit im Boot«, meinte Winter.

»Sie hat gesehen, wie er das andere Mädchen, Lena, über Bord warf.«

Winter antwortete nicht.

»Warum ist er dann nicht auch über Charlotte hergefallen?«, fragte Ringmar.

»Vielleicht hat er das ja getan«, meinte Winter.

»Nein«, entgegnete Ringmar. »So nicht. Ein ertrunkenes Kind kann man vielleicht erklären oder als Unfall deklarieren, aber zwei?«

»Warum hat er es getan?«, fragte Winter.

»Er hatte ihr etwas angetan. Und das hätte sie erzählt.«

»Wem?«

»Der Leiterin. Seiner Mutter.«

»Hätte das etwas ausgemacht?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Ringmar.

Winter dachte nach. Er dachte an einen See, See und Eis. Er sah ein Boot. Dann sah er noch ein Boot.

»Vielleicht hatte sie es ja schon getan«, sagte er. »Es der Tante Wilhelmsson erzählt.«

Ringmar nickte.

»Vielleicht hatten sie beide es ja schon getan«, fuhr Winter fort.

»Mein Gott«, sagte Ringmar, »da graust es einem ja.«

»Der Sohn ist mit den Mädchen auf eine Bootstour gegangen.«

Ringmars Gesicht war versteinert und weiß.

»Hatten sie jemand anders erzählt, dass sie bedroht wurden? Oder irgendwelchen Übergriffen ausgesetzt waren?«, machte Winter weiter.

»Dem alten Björk«, erwiderte Ringmar.

»Damals war er nicht alt«, sagte Winter.

 

Jonas Björk wartete auf sie. Er hielt sich unten am Baum mit den dicken Ästen auf, die sich zum Ufer hinstreckten. Da hatten alle Kinder gesessen, Saison um Saison. Jetzt waren sie alle erwachsen, manche von ihnen lebten nicht mehr.

Ein paar Details, hatte Winter am Telefon gesagt. Es dauert nicht lange.

»Vergiss nicht, dass er es war, der von dem Unfall erzählt hat«, hatte Ringmar im Auto gesagt. »Und er hat auf Sivert gezeigt.«

»Nach ihm hätten wir sowieso gefragt«, hatte Winter gesagt. »Er war schließlich auf dem Foto. Und die Sache mit dem Bootsunfall hätten wir auch so schnell rausgekriegt.«

Jetzt stieß sich Björk von der Birke ab, an die er sich gelehnt hatte.

»Was sind denn das für Details, die Sie wissen wollen?«, fragte er.

»Wo waren Sie an dem Abend, als das Bootsunglück geschah?«, fragte Winter.

»Ähm … ich war wohl zu Hause.«

»Und wo war zu Hause?«

»Das war im Dorf.«

»Ist das immer noch so?«

»Jetzt verstehe ich Sie nicht.«

»Wohnen Sie immer noch am selben Ort wie damals?«

»Äh … ja.«

»Bringen Sie uns hin«, sagte Winter.

»Nein, das geht …«

»Bringen Sie uns hin!«

 

Nach einer Stunde hatten sie drei Fotos gefunden. Es wäre noch schneller gegangen, wenn sie am anderen Ende angefangen hätten zu suchen. Auf dem einen Foto stand Tante Wilhelmsson vor einem Gebäude. Winter erkannte es wieder. Sie war allein. Kein Lächeln auf ihrem Gesicht.

Auf dem anderen Foto stand sie zusammen mit ihrem Sohn. Keiner von ihnen lächelte. Sivert war hier ungefähr genauso alt wie auf dem Bild mit den Kindern.

Auf dem dritten Foto stand Jonas Björk zusammen mit einem Jungen, der ungefähr zehn Jahre alt war.

»Das ist doch normal, dass man ein paar Sachen aufhebt«, sagte Björk.

»Ach ja?«, fragte Winter.

Björk antwortete nicht.

»Sie haben es so eingerichtet, dass Sie einander nah sein konnten«, sagte Winter.

»Was meinen Sie damit?« Plötzlich sah Björk älter aus. Älter und taub.

»Auf eine ganz natürliche Weise«, fuhr Winter fort, ohne sich um die Taubheit von Björk zu scheren. »Sie waren keine Familie mehr, aber Sie kamen voneinander nicht los.«

»Was meinen Sie damit?«, wiederholte Björk.

»Oder hat er vielleicht nie erfahren, dass Sie sein Vater waren?«, fragte Winter.

Ringmar sah zu Winter. Darüber hatten sie nicht gesprochen.

»Hat sie es ihm nie erzählt?«, fuhr Winter fort. »Seine Mutter, meine ich?«

Zunächst antwortete Björk nicht.

»Sie hat es mir erzählt«, sagte er dann. »Siv. Sie hieß Siv.«

Siv und Sivert, dachte Winter. Die beiden gehörten zusammen.

»Was hat sie erzählt?«, fragte er.

»Von den Mädchen. Was er mit den Mädchen machte. Nachts.«

»Und was haben Sie getan?«

»Ich. Nichts. Ich habe nichts getan«, sagte Björk und brach plötzlich in Tränen aus. »Ich habe nichts getan.« Er sah zu Winter auf. »Aber sie. Sie haben etwas getan.«

»Sie haben die Sache mit dem Bootsunfall geplant«, sagte Winter.

»Das Mädchen wollte es erzählen«, sagte Björk. »Es hätte bei der Behörde etwas erzählen können.«

»Warum kam Charlotte davon?«, fragte Winter.

»Ich bin rausgefahren«, sagte Björk. »Wir hatten noch ein Boot. Ich bin rechtzeitig rausgekommen.«

»Was geschah mit Tante Wilhelmsson?«, fragte Ringmar.

»Sie kam nicht ungeschoren davon«, setzte Winter hinzu.

»Ich war nicht da«, sagte Björk. »Ich wollte nie wieder etwas mit ihnen zu tun haben.«

»Sie haben geschwiegen«, sagte Winter. »Sie haben für sie geschwiegen.«

»Was hätte ich denn tun sollen? Was hätte ich sagen sollen? Wer hätte mir geglaubt?«

»Ihr Sohn hat sich mit dem Schweigen nicht zufrieden gegeben«, sagte Winter. »Er wollte mehr.«

»Nein«, sagte Björk. »Sie wollte es selbst so. Siv ging selbst in den See. Sie konnte es nicht mehr aushalten. Sivert hatte nichts damit zu tun.«

»Wo ist Sivert jetzt?«, fragte Winter.

»Ich weiß es nicht.« Er sah Winter in die Augen. »Ich weiß es wirklich nicht.«

»Sie kam auch nicht davon«, sagte Winter wieder. »Charlotte. Er hat sie nicht davonkommen lassen.«

Björk antwortete nicht.

»Warum?«, fragte Winter. »Warum konnte er sie nicht davonkommen lassen? Nach so vielen Jahren?«

»Es kam … ein Brief«, sagte Björk.

Winter wartete. Björk war dabei zu erzählen, die Worte waren auf dem Weg.

»Der Brief kam hierher. Ich habe ihn nachgeschickt. Das hätte ich nicht tun sollen. Es war Wahnsinn.«

»Haben Sie den Brief gelesen?«

»Nein, nein.«

»Wussten Sie, von wem er war?«

Björk antwortete nicht. Winter wiederholte seine Frage.

»Ich wusste es«, sagte Björk. »Es stand kein Absender darauf, aber ich wusste es trotzdem.« Er schluchzte. »Sivert fühlte sich niemals frei. Nicht, solange sie noch da war.«

Frei. Seine Freiheit hatte viel zu lange gewährt, dreißig Jahre zu lange. Winter dachte an Charlottes Gesicht, und wie es ausgesehen hatte, als er es zum ersten Mal sah. Ihr letzter Gesichtsausdruck, der ihm vielleicht etwas zu sagen hatte. Jetzt wusste er, dass auf diesem Gesicht kein Lächeln gewesen war.