Weckruf

Sind das Zikaden, die er beim Aufwachen hört? Sind es die Grashüpfer, die ihn geweckt haben? Die Geräusche sind doch laut genug, es sind die Geräusche des Mittelmeers. Es klingt wie stählerne Schreie geradewegs durch den Raum, in dem er liegt. In dem er sich jetzt aufsetzt. In dem er sich umsieht. Wo sich die lange Gardine im schwachen Wind bewegt. Wo die Tür zum Balkon offen steht. Wo es draußen dämmert. Oder ist es Morgen? Die Zikaden sind draußen. Er bewegt vorsichtig seinen Kopf, vor und zurück. Er kann sich nicht erinnern, in dieses fremde Zimmer hineingegangen zu sein. Ja, fremd. Das hier ist nicht sein Zimmer. Er sitzt auf dem Fußboden. Es ist ein Steinboden. Im Augenwinkel sieht er etwas. Er wendet den Kopf. Er sieht ein Gesicht. Einen Körper. Er sieht Flecken auf dem Körper. Er liegt auf dem Steinfußboden, halb unter einem Tisch. Es ist still.

Er versucht, aufzustehen. Plötzlich schlägt jemand gegen eine Tür, die zu der Wohnung gehören muss. Die Laute kommen durch einen dunklen Flur gestürzt, den er sehen kann, wenn er den Kopf in die andere Richtung dreht. Er hört ein Rufen, wie einen Schrei, der lauter ist als der der Zikaden, mehr von Eisen als von Stahl. Jemand wirft sich gegen die Tür.

 

Der Schnee hatte alle Geräusche gedämpft. Als er seine Stiefel auf der Treppe abbürstete, hatte das im Winterabend wie ein Flüstern geklungen. Die Dunkelheit hatte ein Übriges dazu getan, sie dämpfte ebenfalls die Geräusche. Es war wie taub und blind zu sein, hatte er gedacht. Der Winter ist ein körperlicher Zustand, ein kranker Zustand. Da spielt es keine Rolle, dass wir jetzt in die höchste Zeit des Lichts vordringen.

Es war noch ungefähr eine knappe Woche bis Weihnachten gewesen. Die Leute im Viertel hatten, als wollten sie die Zeit überlisten, schon seit Monaten Lichterbögen und Sterne in ihre Fenster gestellt. In den Geschäften wurden die Leute seit Oktober auf Weihnachten vorbereitet.

Er hatte die Tür geöffnet und die Wärme im Flur gespürt, die Erdwärme. Das war immer noch etwas, worüber man sich freuen konnte. Die Wärme da drinnen war runder und deutlicher geworden, seit sie von Öl auf Erdgas umgestiegen waren. Da drinnen konnte man wie ein Mensch leben. Draußen war es schlimmer. Da war man blind und taub.

Sie hatte ein seltsames Lächeln auf den Lippen gehabt, als sie in die Küche gekommen war. Es war, als verberge sie ein Geheimnis. Und das hatte sie auch getan. Sie hatte das Geheimnis hinter ihrem Rücken hervorgeholt.

»Was ist das denn?«, hatte er gefragt.

»Ein Umschlag, das siehst du doch.« Sie lächelte noch etwas breiter. »Ein brauner Umschlag. A5. Umweltfreundliches Papier.«

»Hahaha.« Er hatte einen Schritt auf den Tisch zu gemacht.

»Und ist da vielleicht etwas drin in dem Umschlag?«

»Mach ihn auf, dann siehst du schon«, hatte sie gesagt.

 

 

 

Er rennt durch die Öffnung auf die Terrasse. Wieder schreit jemand. Der Laut wird durch die Tür und den Flur abgedämpft. Hier ist es nicht der Schnee, der die Geräusche dämpft. Hier gibt es keinen Schnee. Er steht auf der Terrasse und hört seinen eigenen Atem durch den Kopf rauschen. Wie einen Orkan. Er dreht sich zu dem Bungalow um. Über der Terrassentür steht eine Zahl. Nummer sechzehn. Er sieht den grauen Himmel darüber. Es ist Morgen, Morgendämmerung. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Es schaudert ihn, und plötzlich merkt er, dass er friert. Auch am Mittelmeer ist es Winter, ein grüner Winter.

Er rennt über die Steinplatten und hinunter zum Rasen, weg von der Wohnung. Er weiß nicht, wohin er läuft. Er weiß nicht, wo er ist. Er weiß nicht, wie er dorthin gekommen ist. Alles das hier ist unwirklich, denkt er, das geschieht nicht in Wirklichkeit. Doch es geschieht, er muss nur das feuchte Gras unter seinen nackten Füßen spüren, um zu begreifen, dass es wirklich ist. Er weiß nicht, warum er auf diese Weise flieht, aber er weiß doch, dass er es tun muss. Das ist der Instinkt, denkt er, als er an einem Swimmingpool vorbeiläuft. Ich bin ein Tier geworden.

 

»Nun mach schon auf!«, hatte sie wieder gesagt.

Er hatte den Umschlag aufgerissen.

»Was ist das denn?«, hatte er gefragt.

»Weißt du nicht, wie ein Flugticket aussieht?«, hatte sie gefragt, und da hatte er das seltsame Lächeln verstanden, und es war nicht mehr seltsam gewesen.

Er hatte den Text auf den Tickets gelesen. Das Ziel. Das Datum.

»Verdammt«, hatte er gesagt.

»Ich habe so oft gehört, dass du dort gern wieder einmal hinfahren würdest«, hatte sie gesagt. »Jetzt ist es so weit.«

Er hatte wieder das Ticket gelesen.

»Aber das ist ja über Weihnachten«, hatte er gesagt.

»Ist das ein Problem?«

»Nein, nein, es ist nur …«

»Kommt der Weihnachtsmann nur, wenn es Schnee gibt?«, hatte sie gefragt.

»Er war doch schon hier«, hatte er geantwortet und das Ticket gegen das Licht gehalten.

»Ich habe fast schon gedacht, dass du gar nicht wieder hinfahren möchtest«, hatte sie gesagt, »dass du das nur immer gesagt hast.«

Er hatte nicht geantwortet.

 

Er rennt durch ein Hotelfoyer. Eine Frau hinter dem Tresen schaut ihm nach, als er über den glänzenden Fußboden rutscht. Als würde man auf Eis laufen. Im Augenwinkel sieht er, wie sich jemand von einem Sofa erhebt und etwas ruft, das an ihn gerichtet sein könnte, aber er bleibt nicht stehen. Auch auf dem Parkplatz, der sich in fünfzig Meter Entfernung von der Straße auftut, bleibt er nicht stehen.

Er sieht keine Bewegung auf der Straße, als er über den Parkplatz läuft. In der Entfernung die Berge, ihre weißen Kappen. Da gibt es genug Schnee. In diesem Land wohnt der Weihnachtsmann vielleicht dort hinten, kann er gerade noch denken, ehe die Sonne über den Bergen aufgeht, ihre Strahlen auf seine Augen richtet und ihn blind macht.

 

Sie waren in einem Meer aus Sonne gelandet. Es war die Stunde vor der Dämmerung gewesen.

»Wie wunderschön«, hatte sie gesagt.

Als sie aus dem Flugzeug ausstiegen, strömten alle Gerüche auf ihn ein, und es war, als wäre er nie weg gewesen, als würden zwanzig Jahre seines Lebens auf die viereinhalb Stunden komprimiert, die es gedauert hatte, bis zu dieser Insel im östlichen Mittelmeer zu fliegen. Es ist doch etwas Erstaunliches mit Gerüchen, hatte er gedacht. Wenn man einen Geruch vernimmt, kommt die Erinnerung sofort zurück.

»Und erkennst du alles wieder?«, hatte sie gefragt, als sie über die warme Landebahn zur Ankunftshalle gegangen waren.

»Flugplätze sehen doch alle irgendwie gleich aus.«

»Ich meinte die da«, hatte sie gesagt und auf die schneebedeckten Berge im Nordwesten gezeigt.

»Ich nehme mal an, dass das dieselben Berge sind wie damals.«

»Sie sind schön.«

»Man kann dort Ski fahren«, hatte er gesagt, »es gibt sogar Lifte dort.«

»Ich bin nicht hierher gekommen, um Ski zu fahren.«

Unerwarteterweise hatten sie nur kurze Zeit auf ihre Taschen warten müssen. Und er hatte alles wiedererkannt. Er hatte angenommen, dass der Flughafen in der Zwischenzeit bis zur Unkenntlichkeit umgebaut worden wäre, aber es schien nicht viel geschehen zu sein. Das war seltsam. Als ob die Zeit stillgestanden hätte, als ob alle Gerüche konserviert und die Zeit und die Erinnerung bewahrt worden wären.

Sie hatten ein Taxi zur Stadt genommen, die vier Kilometer östlich vom Flugplatz lag. Ihm war, als wären auch die Taxis dieselben, sie waren genauso heruntergekommen wie damals.

»Das Camp ist immer noch da«, hatte er gesagt und nach links aus dem heruntergekurbelten Fenster gezeigt.

Sie hatte den Kopf gedreht und die niedrigen Gebäude auf der anderen Seite des kleinen Salzsees betrachtet. Auf dem Grund des Sees gab es jetzt Wasser, nicht viel, aber immerhin Wasser. Im Sommer war der See ein ausgetrockneter Krater.

Er war in einem schrecklich trockenen Sommer einmal über den Grund des Sees gewandert.

»Es sieht kleiner aus, als ich gedacht hatte«, hatte sie gesagt. »Das Camp, meine ich.«

»Es wirkt größer, wenn man näher herangeht«, hatte er geantwortet.

»Wirklich?«

»Ja.«

»Wusstest du, dass es noch existiert? Dass die Gebäude noch da sind?«

»Nein. Wie sollte ich das wissen?«

»Wann sind die Vereinten Nationen denn hier weg?«, hatte sie gefragt.

»Sie sind immer noch da«, hatte er erwidert und einem schwarzen Vogel nachgesehen. Er schwebte über einem der Gebäude des Camps.

»Ich meine die schwedischen Vereinten Nationen. Du weißt ja wohl, was ich meine.«

»Die sind auch noch da. Glaube ich. Ein Dutzend Polizisten in Zivil oder so.«

»Aber die halten sich ja wohl nicht mehr dort auf, oder?«, fragte sie und nickte zu den Gebäuden hinüber. Im Licht der Dämmerung wirkten sie dünn. Da waren fast keine Farben mehr. Es hatte dort noch nie viel Farbe gegeben, ein schwaches Gelb, ein schwaches Blau, aber jetzt hatte die Zeit auch noch die bleichen ursprünglichen Farben weggewaschen. So hatte die Zeit hier gearbeitet, hatte er gedacht, als sie weiter Richtung Stadt gefahren waren. Das Camp ist von der Zeit gezeichnet.

Sie waren an dem antiken Fort vorbeigefahren, das die Grenze zu der alten Stadt markierte. Die Ruinen waren im Licht der sinkenden Sonne schwarz gewesen. Der Weg wand sich immer noch wie damals um die Festung.

Die Palmen auf der Strandpromenade waren dieselben gewesen. Die Straßencafés waren geöffnet. Das hier war eine andere Art Winter. Er hatte sich auch daran erinnert.

Am Strand spazierten Menschen. Von irgendwoher Musik. Die letzten Strahlen der Sonne schienen ihnen ins Gesicht. Sie hatte immer noch den Blumenkranz um, den eine Frau ihnen als üblichen Willkommensgruß um den Hals gehängt hatte, als sie aus dem Flugzeug stiegen. Als sie auf dem Rücksitz des Taxis saßen, sah sie sich um.

»Wie wunderschön«, hatte sie gesagt.

 

Er blinzelt gegen die Blindheit an, als er in den Schatten läuft. Der Asphalt ist rau und kalt unter den Fußsohlen. Das ist nicht wie der warme Belag des Flugplatzes beim Aussteigen. Das war vor zwei Tagen. Wenn jetzt Morgen ist, dann ist es der zweite Morgen.

Das heißt, dass heute Heiligabend ist, und das hier der Morgen von Heiligabend.

Er kommt an eine Wegkreuzung. Auf der anderen Seite eines Feldes sieht er das Meer. Er schaut nach rechts, da schimmern ein paar hohe Gebäude in der Morgensonne. Das ist die Stadt. Links, quer über die Kreuzung, ein paar hundert Meter entfernt, erheben sich zwei hohe Hotelgebäude. Die waren vor zwanzig Jahren auch schon da. Er war oft da, in den Bars und am Strand vor dem Hotel.

Er dreht sich um. Er ist fünfhundert Meter gelaufen, vielleicht siebenhundert.

Jetzt weiß er, wo er ist, findet sich wieder zurecht. Das hier ist ungefähr fünf Kilometer von der Stadt entfernt, nach Osten zum Meer hin. Aber er weiß nicht, wie er hierher gekommen ist. In seinem Kopf findet sich keine Erinnerung an die Nacht. Keine Zeit.

 

Das Hotel lag mitten an der Strandpromenade. Sie hatten in der Lobby gewartet, während das Personal die Taschen die schwarz glänzenden Steintreppen hinaufgetragen hatte.

»Das hier ist das älteste Hotel der Stadt«, hatte er gesagt.

»Es ist schön«, hatte sie erwidert. »Ich mag diese altmodischen Häuser.« Sie hatte sich umgeschaut. Auf beiden Seiten der Lobby standen Palmen in Kübeln. »Es ist wirklich aufregend.«

»Wir haben hier ein Weihnachtsessen gehabt.«

»Wirklich?«

»Truthahn mit allem, was dazugehört.«

»Mit wem?«

»Ich und zwei weitere Informationsoffiziere«, hatte er geantwortet. »Der Speisesaal lag hinter diesen Türen.« Er hatte in Richtung zweier mit Schnitzereien verzierter Holztüren genickt, die aufglitten, als hätten sie auf sein Zeichen gewartet. Er hatte die weißen Tischtücher gesehen und die grünen Pflanzen, die in einem Muster über die hintere Wand rankten. »Und er ist immer noch da.«

»Dann können wir unser Weihnachtsessen ja auch dort nehmen.«

»Aber du magst doch gar keinen Truthahn.«

»Hier ist das etwas anderes.«

»Was heißt das?«

»Dass man hier ein anderer Mensch wird.«

 

Von der größeren Straße her hört er Sirenen und sieht eines der örtlichen Polizeiautos in den hundert Meter entfernten Seitenweg abbiegen. Das Geräusch wird lauter und dann wieder leiser. Er versteckt sich, hockt sich in das trockene Gras, das nach sonnenverbrannten Kräutern und Salz riecht.

Von dort, wo er sitzt, mit den nackten Füßen in der roten Erde, kann er das Polizeiauto nicht mehr sehen. Er spürt, wie es nach diesem Lauf auf seinen Füßen brennt und auch an den Fußsohlen, aber er kann nicht nachschauen, ob da irgendwelche Verletzungen sind.

Die Sonne ist jetzt über allen Gebäuden aufgegangen, ein starker Schein in seinen Augen.

Er hört wieder die Sirenen. Ein weiteres Polizeiauto biegt ein. Er lässt sich wieder niedersinken, legt sich diesmal ganz flach auf die Erde.

Mein Gott, denkt er. Das ist doch Wahnsinn. Aber ich habe Panik gekriegt. Jeder würde da Panik bekommen. Es würde ja genügen, wenn ich denen sage, dass ich einfach Panik bekommen habe. Ich bin aufgewacht und wusste nicht mehr, wo ich bin, und deshalb bin ich losgerast. Ich war erschrocken. Wer würde in so einer Situation nicht erschrecken? Man wacht in einem fremden Zimmer auf, und neben einem liegt ein lebloser Körper, und jemand bollert an die Tür und schreit von draußen. Würden Sie da nicht auch erschrecken, Herr Kommissar?

Aber er weiß, dass er nicht aufstehen und zu dem Apartmenthotel, oder was es auch immer war, zurückgehen wird, um sich der Gerechtigkeit zu stellen. Er weiß nämlich, welche Art von Gerechtigkeit auf dieser sonnigen Urlaubsinsel herrscht. Er weiß, was mit Festgenommenen geschehen ist, die versucht haben, zu erklären, warum sie getan haben, was sie getan haben. Wenn sie etwas getan hatten. Er hatte die Zellen gesehen. Er hatte die Verhöre erlebt. Er kannte die Leute, die die Verhöre leiteten. Er hatte die Gefangenen gesehen. Hinterher.

Damals war er durch seine Uniform geschützt gewesen.

Jetzt trägt er nicht einmal anständige Kleider am Leib. Er besitzt überhaupt keine anständigen Kleider, nur ein Unterhemd und die Boxershorts. Er spürt die Sonne auf seinen Kopf brennen. Sie ist auch am Heiligabend sehr stark. Es ist schon lustig mit der Sonne in diesem Land. Je stärker das Licht, desto dunkler die Gefängniszellen. Wer im Gefängnis landet, sieht die Sonne überhaupt nicht mehr.

Plötzlich hört er neben sich ein Zischen, das fast wie ein menschlicher Laut klingt. Er sieht die Reflexe im Gras blinken, weiß, was das ist, und wirft sich gerade noch zurück, ehe die tödliche Silberschlange angreifen kann.

Der Körper des Reptils saust zehn Zentimeter neben ihm wie ein Blitz durch die Luft. Ein Biss, und er würde noch eine halbe Stunde haben, Polizei und Gefängniszellen hin oder her. Sonnenschein hin oder her. Weihnachten oder nicht. Verbrechen oder nicht.

Ich muss irgendwohin gehen, wo ich nachdenken kann. Er steht langsam auf. Dann werde ich telefonieren können.

 

Oben im Zimmer hatte sie die großen Fenster zur Strandpromenade und zum Meer geöffnet. Die Gerüche und die Geräusche waren hereingeströmt. Alles war so fremd für sie, so wunderbar fremd.

»Ich habe noch niemals so einen roten Himmel gesehen«, hatte sie gesagt und sich nach Westen hinausgelehnt. »Der ganze Himmel ist rot wie eine Blutorange.«

»Das heißt, dass es morgen auch wieder schön wird«, hatte er gesagt.

»Deshalb sind wir ja hier«, hatte sie geantwortet und sich vom Fenster abgewandt. Und dann war er durchs Zimmer gegangen und hatte sie umarmt.

Zwei Stunden später waren sie in den Speisesaal des Hotels gegangen und hatten kleine gefüllte Paprika und gegrillten Fisch bestellt. Die letzte halbe Stunde, als sie bei Kaffee und Brandy einfach nur dasaßen, war es ihm schwer gefallen, die Augen offen zu halten.

Danach hatte er wie ein Kind geschlafen. Als er erwachte, hatte er den Geruch des Morgens im Zimmer verspürt. Er hatte sie in der Dusche gehört, das Geräusch brausenden Wassers. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte, ohne mehrmals aufzuwachen.

Sie hatte die Tür des Badezimmers geöffnet und war mit einem Handtuch um den Kopf herausgekommen.

»Guten Morgen, du Schlafmütze«, hatte sie gesagt.

»Wie spät ist es?«

»Halb zehn.«

»Mein Gott.«

»Scheinbar brauchtest du mal Ferien.«

»Und die haben ja gerade erst begonnen«, hatte er gesagt, sich im Bett aufgesetzt und die Füße auf den kühlen Steinfußboden gestellt.

»Sollen wir in irgendeinem Straßencafé frühstücken?«, hatte sie gefragt und zum Fenster gedeutet.

Er hatte gesehen, wie sich die Palmenblätter im schwachen Wind wiegten.

»Du hattest Recht«, fuhr sie fort, »heute wird es auch wieder schön.«

 

Am Himmel ist keine Wolke zu sehen. Er rennt über die Straße, die zu der drei Kilometer außerhalb der Stadt liegenden englischen Airbase und dann weiter zu den neuen Badeorten Richtung Osten führt. Vor zwanzig Jahren gab es dort gar nichts, abgesehen von einer kleinen Taverne am Strand, nur ein Schuppen. Jetzt findet man da große Hotelkomplexe, Pools, Restaurants, Bars, mehrere Supermärkte, Tennisplätze, alles.

Sie hatten vorgehabt, einmal raufzufahren und in dem klaren Wasser zu baden. Es ist klarer dort, klar wie Kristall. Morgen, denkt er, als er auf der anderen Seite der Straße in Richtung Strand läuft, um dort bei dem großen Hotel Schutz hinter den Büschen zu suchen. Morgen wollten wir dorthin fahren. An Heiligabend. Wenn der Heilige Abend kommt, denkt er und erreicht die schützenden Büsche. Er atmet heftig. Sein Puls rast vom Laufen, aber auch von der Angst und der Anspannung, die er wie ein Fieber im Körper fühlt.

 

Nach dem Frühstück waren sie die Promenade entlangspaziert. Ein paar Häuser waren renoviert worden, vielleicht waren sie auch ganz neu, aber insgesamt fand er, dass alles so aussah wie damals. Die alte Stadt jenseits der Strandpromenade war dieselbe. Sie waren an dem Haus vorübergegangen, in dem er in der ersten Zeit gewohnt hatte. Die Tür war unverändert. Er hatte ihr nichts gesagt über das Haus oder die Wohnung im ersten Stock, wo die Fenster zum schattigen Vormittag hinaus geöffnet waren. Warum habe ich nichts gesagt?, hatte er gedacht, als sie um die Ecke gebogen waren. Ich hätte zumindest sagen können, dass ich dort eine Zeit lang gewohnt habe. Ich hätte nichts … nichts sonst sagen müssen. Sie hätte nicht danach gefragt. Warum hätte sie fragen sollen? Sie weiß doch gar nichts. Woher sollte sie auch?

Sie waren an der eisernen Tür der Markthalle vorbeigekommen.

»Wollen wir nicht hier hereingehen?«, hatte sie gefragt.

Drinnen war es dunkel gewesen, eine feuchte Dunkelheit.

Es hatte sich nichts da drin verändert. Da waren dasselbe Gemüse und dieselben Kräuter, die alles in einen Geruch einhüllten, den es nur dort drin geben konnte.

Als sie die lange Markthalle halbwegs durchquert hatten, war zwischen zwei Ständen jemand von links herausgekommen. Sie waren fast in der Mitte der Halle zusammengestoßen. Es gab dort eine Art Kreuzung, auf der vier Gänge sich trafen.

»Oh, I’m sorry«, hatte die Person gesagt, es war ein Mann in seinem Alter. Es war offenkundig gewesen, dass er nicht aus diesem Land stammte. Sein Haar war blond, von der Sonne weiß ausgebleicht.

 

Er stiehlt einen Bademantel, der über einem Stuhl liegt. Er ist weiß, weiß wie der Himmel in ein paar Stunden sein wird. Er zieht ihn an und geht zwischen den Büschen und noch einem Pool hindurch über den Streifen Strand. Dort hinten: das Meer. Es rollt in langen Wellen auf den Strand. Die Wellen wirken, als ob sie den ganzen Weg von Afrika, von der anderen Seite des Meeres hergekommen wären.

Im Sand liegt ein Sonnenhut mit breiter Krempe, er hebt ihn auf, sieht sich um und setzt ihn dann auf. Er passt, ist sogar etwas zu groß, was sehr gut ist.

Er geht durch den Sand auf die Stadt zu, in weißem Mantel, Strohhut und barfuß. Das würde überall sonst auffallen, nicht jedoch hier, wo er zwischen hundert anderen geht.

Er geht direkt am östlichen Ufer auf der Straße in die Stadt. Auch hier ist seine Kleidung noch akzeptiert. Niemand dreht sich nach ihm um. Er sieht sich über die Schulter, geht dann sicherheitshalber in eine Gasse, wartet ein paar Minuten und tritt dann wieder auf die Straße.

Eine schmale Straße führt zur Rückseite ihres Hotels. Er kann die Strandpromenade erkennen, als er sich dem Hotel nähert, grüne Palmenblätter lassen Sonnenreflexe durchblitzen.

Er steht in der Gasse. Ein Polizeiauto fährt vorbei. Er beugt sich vor und schaut um die Ecke. Das Polizeiauto bleibt vorm Eingang stehen. Dort steht bereits ein anderes Polizeiauto. Schnell zieht er den Kopf zurück. Er versucht nachzudenken.

Woher weiß er, dass die Polizei wirklich ihn jagt? Es kann gar nicht anders sein. Sonst wären sie nicht hier. Aber woher wissen sie, dass ausgerechnet er in dem Zimmer war? Das muss ihnen jemand gesagt haben. Es muss ihn jemand gesehen haben, als er dorthin ging.

Oder er muss ihn selbst dort … hingebracht haben. Hingelegt haben.

Ihn dort … arrangiert haben. Ein Arrangement.

Er spürt, wie das Blut etwas langsamer durch seinen Körper fließt, wenn er denkt. Er kann sich immer noch nicht daran erinnern, wie er in diesem Raum gelandet ist. Sein Kopf fühlt sich dumpf an, aber nicht, als hätte er einen Kater. Er weiß, wie sich ein Kater anfühlt. Also kann er sich nicht bewusstlos gesoffen haben und dann in dieses Zimmer transportiert worden sein. Könnte er in dem bewusstlosen Zustand, den der Alkohol hervorrufen kann, in dem die Beine und der Rest des Körpers sich bewegen, während das Gehirn ausgeschaltet ist, dorthin gegangen sein? In diesem Zustand kann jeder alles Mögliche tun. Aber nein. Er hatte nicht getrunken, jedenfalls nicht so viel.

Jemand muss ihm etwas anderes gegeben haben.

Er wendet sich um und geht in die Gasse zurück. Dort im Schatten verspürt er Kälte unter den Fußsohlen. Ich brauche Schuhe, denkt er. Er denkt an seine Frau. Sitzt sie jetzt gerade in dem Zimmer? Zusammen mit den faschistoiden Schnüfflern in ihren schwarzen Uniformen?

Auf dem Couchtisch oder vielleicht auch auf dem Bett werden die Weihnachtsgeschenke liegen. Die Schnüffler werden die Pakete öffnen. Aus Sicherheitsgründen.

Mitten im Gehen hält er inne.

Es gibt einen Ort, an den er sich begeben kann, wo man ihm helfen wird. Wenn er es schafft, dorthin zu kommen.

 

Der blonde Mann war ebenso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war, im Überfluss der Markthalle wie vom Erdboden verschluckt. Er wollte ihm nachschauen.

»Kanntest du den?«, hatte sie gefragt.

»Ich weiß nicht«, hatte er geantwortet.

»Er schien dich aber nicht wiederzuerkennen«, hatte sie gesagt.

Sie waren auf der anderen Seite wieder aus der Halle herausgegangen. Die Sonne hatte sie – nach dem Dunkel drinnen – geblendet. Er hatte sich seine schwarze Sonnenbrille aufgesetzt. Da hatte die Welt eine andere Farbe bekommen, dunkler. Von irgendwoher war Musik über die Straße geströmt, die Musik dieses Landes. Es war eine Leidensmusik, eine starke Passion. Eine Frau sang, als würde es um Leben und Tod gehen.

»Was ist das für ein Lied?«, hatte sie gefragt, als ob er das wissen müsste.

»Ich glaube, es geht um Weihnachten«, hatte er geantwortet.

»Stimmt, morgen ist ja Weihnachten«, hatte sie gesagt.

»Das kommt einem richtig unwirklich vor.«

»Bis morgen wirst du dich daran gewöhnt haben«, hatte er gesagt.

»Ich weiß aber nicht, ob ich mich daran gewöhnen will.«

Sie hatte mit einem Lächeln zu ihm aufgeschaut. »Dann ist es ja wie zu Hause, oder?«

Sie waren weiter die Strandpromenade hinuntergeschlendert, in Richtung auf das Fort zu. Es sah immer noch so aus wie damals, und so sah es jetzt schon siebenhundert Jahre aus.

»Wie lange braucht man bis zum Camp der Vereinten Nationen?«, hatte sie gefragt.

»Willst du dorthin laufen?«

»Ja.«

»So etwa eine Stunde.«

»Können wir das nicht machen?«

»Das wird warm werden«, hatte er gesagt. »Die Sonne kann heimtückisch sein.«

»So warm ist es doch gar nicht.« Sie hatte zum offenen Himmel gezeigt. »Es ist doch mitten im Winter, oder?« Und dann hatte sie wieder gelacht. »Es gibt doch auch hier einen Winter.« Und sie hatte die feuchte Winterluft mit einem tiefen Atemzug eingesogen. »Und es gibt Weihnachten.« Sie hatte ihn wieder angeschaut. »Morgen habe ich eine Überraschung für dich.«

 

Er geht in Bademantel und Strohhut durch die alte Stadt. Er spürt, dass sich ein paar Leute, die ihm entgegenkommen, nach ihm umdrehen. Hier gibt es keine Hotels, zu denen die Badegäste in Badebekleidung zurückkehren. Hier gehen die Leute normal angezogen herum.

Er spürt seine Füße kaum mehr, und das ist ein Vorteil. Dann braucht er auch keine Schuhe mehr.

Auf der anderen Seite der Kreuzung kann er das Haus sehen. Es ist von einer Mauer umgeben, die von derselben Sandfarbe ist wie das Haus, als hätte der Wind den Sand von den Stränden mitgebracht und dort angeklebt.

Der Verkehr ist ruhig, das hier ist eine ruhige Umgebung. Er überquert die Straße und geht zu der Mauer.

Dann steht er am Tor, probiert, es ist verschlossen. Er sieht das weiße Auto, das vor der Tür der Villa geparkt ist. Es scheint immer noch dieselbe Marke zu sein. Ein Zivilfahrzeug der Polizei. Was für ein beschwerliches Wort. Aber die Polizisten da drin sind Polizisten aus seinem eigenen Land, und im Moment sind sie seine einzige Rettung, denkt er. Er kann mit jemandem sprechen, der vielleicht alles versteht.

Erklären. Erklären, dass er nichts weiß, dass er ebenso unschuldig ist, wie sie es sind. Sie werden ihm helfen.

Plötzlich hört er Sirenen aus der Stadt. Der Laut kommt näher.

 

Sie waren den Hügel hinauf zum Camp gewandert. Der Weg war besser in Schuss als damals, aber immer noch so schmal. Die Wächterhäuschen waren auch noch dieselben, aber nicht mehr in Gebrauch.

Die Gebäude waren um den offenen Platz gruppiert, wo der Doktor jeden Morgen um sechs Uhr fünfundvierzig zum Aufstehen geblasen hatte.

Es war eine Geisterstadt gewesen, ein Geisterquartier. Alles war noch da, außer den Menschen. Er hatte die Augen geschlossen und meinte plötzlich die Geräusche von Menschen und Fahrzeugen zu hören. Dann hatte er die Augen wieder geöffnet. Sie waren durch das Tor geschritten, das jetzt nur mehr eine Öffnung ins Nichts war. Der Wind hatte ein paar trockene Zweige über den Platz geblasen, und plötzlich war die Sonne hinter einer Wolke verschwunden, und sie hatte gezittert.

»Es ist hier fast ein wenig unheimlich«, hatte sie gesagt.

»Es ist eben alles verlassen«, hatte er geantwortet.

»Aber die Häuser haben sie stehen lassen.«

»Sie scheinen alles stehen gelassen zu haben.«

»Warum wohl?«

»Der Staat hat das Camp übernommen, und wahrscheinlich war es billiger, es stehen zu lassen, als den ganzen Mist abzureißen«, hatte er geantwortet.

»Wo hast du gelebt?«

Er hatte auf eine Baracke auf der anderen Seite des offenen Platzes gezeigt. Sie lag neben einer anderen lang gestreckten Baracke, die die Offiziersmesse gewesen war.

Die Tür zu seinem alten Arbeitsplatz hatte offen gestanden. Es war die einzige offene Tür, die sie sehen konnten.

»Arbeitet da immer noch jemand?«, hatte sie gefragt und zu der Baracke genickt.

»Hier läuft nichts mehr«, hatte er gesagt.

»Sollen wir mal hingehen und reinschauen?«

»Da gibt es nichts zu sehen.«

»Bist du nicht neugierig?«

»Worauf denn? Auf vier Rigipswände und ein Fenster?«

»Vielleicht findest du etwas dort, was du vergessen hast.«

»Ich habe nichts vergessen.«

Sie war losgegangen, um den Platz zu überqueren. Er war ihr gefolgt.

Auf halbem Weg zur Baracke meinte er plötzlich, dass sich da drin etwas bewegte, ein Schatten bei der Tür. Sie hatte nichts gesehen.

»Was war das hier?«, hatte sie gefragt und zu der langen Baracke rechts gewinkt.

»Die Messe. Die Offiziersmesse.«

»Ich wette, dass du da ziemlich viel Zeit verbracht hast«, hatte sie mit einem Lächeln gesagt.

»Mein zweites Zuhause«, hatte er geantwortet und den Blick auf das dunkle Viereck geheftet, das die Türöffnung war. Er hatte wieder eine Bewegung gesehen.

 

Die Sirenen scheinen von allen Seiten zu kommen, auch aus der Luft, als hätte die Polizeimacht Helikopter angefordert, um ihn als den Staatsfeind Nummer eins zu verfolgen. Enemy Number One. Er steht am Tor. Er sieht das erste schwarze Polizeiauto von der anderen Seite der Straße auf den Hof fahren. Das Tor muss von drinnen geöffnet worden sein. Hatte sie ihn nicht dort stehen sehen?

Das schwarze Polizeiauto bremst abrupt neben dem weißen Zivilfahrzeug. Schwarz und weiß, denkt er. Alles scheint schwarz oder weiß zu sein. Hier gibt es nichts dazwischen. Hier ist man schuldig, bis man das Gegenteil bewiesen hat. Und das ist sehr schwierig.

Er sieht noch ein Auto der örtlichen Polizei ankommen und draußen auf der Straße parken. Vier Uniformierte steigen aus und bauen sich mit Maschinenpistolen in den Händen an der Straße auf. Mein Gott, denkt er. Vielleicht bin ich ja wirklich der Staatsfeind Nummer eins. Es schaudert ihn in seinem Bademantel, genau, wie es seine Frau gestern oben im Camp geschaudert hatte. Jesus, das war erst gestern. Der Tag vor Weihnachten.

 

Sie hatten auf dem zentralen Platz des Camps gestanden. Sie war zehn Meter von der Baracke entfernt stehen geblieben und hatte sich umgedreht. Von dort aus konnte man fünfhundert Meter unterhalb des Abhangs einen Streifen Meer sehen. Sie hatte die Augen wegen des Glitzerns auf dem Wasser zusammengekniffen. Die Sonne brannte wieder am Himmel.

»Habt ihr das ganze Jahr über gebadet?«, hatte sie gefragt.

»Ich nicht«, hatte er geantwortet.

»Feigling.«

»Aber ich habe am Weihnachtsabend ein Bad genommen.«

»Zu Weihnachten einmal kurz eintauchen«, hatte sie gelacht.

»Genau. Es war Tradition, dass am Weihnachtsabend alle mal ins Wasser sprangen.« Er hatte in Richtung auf das Meer gezeigt. »Hunderte warfen sich dort unten in die Wellen.«

»Können wir das morgen nicht auch machen?«, hatte sie gefragt. »Einmal ganz kurz eintauchen!«

»Nie im Leben.« Er hatte sich wieder zu den Baracken umgewandt. »Also, ich jedenfalls nicht.«

Sie hatte sich auch umgedreht.

»Wer ist denn das?«, hatte sie gefragt, als der Mann aus der Baracke trat. »Ist das nicht der, den wir in der Markthalle getroffen haben?«

Der blonde Mann hatte an der Tür gewartet. Sie waren die letzten Schritte dorthin gegangen.

»Ich schaue manchmal etwas nach dem Laden hier«, hatte der Blonde gesagt. »Das macht sonst niemand.« Er hatte ihr die Hand entgegengestreckt. »Mein Name ist Dan Morris.«

»Gabriella Berger«, hatte sie geantwortet. »Und das ist mein Mann Richard.«

»Sie kamen mir bekannt vor«, hatte Richard gesagt.

»In der Markthalle? Ja, da kamen Sie mir auch bekannt vor.«

»Das müsst ihr aber mal erklären«, hatte sie eingeworfen.

»Wir haben zusammen hier Dienst getan«, hatte Richard gesagt.

»Offenbar haben wir uns nicht völlig verändert«, hatte Dan Morris geantwortet.

»Und was machen Sie hier?«

»Hier? Hier im Camp? Hier in der Stadt? Oder hier auf der Insel?«

»Wählen Sie selbst.«

»Ich bin einfach hier geblieben.«

»Warum denn?«, hatte Gabriella gefragt.

»Ich bin einfach nicht mit der Einheit nach Hause gefahren. Ich konnte hier unten abmustern, und dann, tja, dann bin ich hier geblieben.«

»Warum denn?«

»Wegen der Sonne«, hatte Dan Morris mit einem Lächeln geantwortet.

 

Er macht einen Schritt zurück in die Gasse. Er sieht, wie einer der Polizisten am Auto auf der anderen Straßenseite den Blick hebt und ihn direkt anzuschauen scheint. Er steht, so still er kann, und betet, dass der verdammte Bademantel nicht wie eine Lampe da drinnen in der Gasse leuchtet. Dann sieht er, wie der Polizist einen Schritt auf die Straße macht. Die Sonne glitzert auf der Maschinenpistole, als er sie anlegt. Er hört ihn rufen und sieht, dass er anfängt zu laufen.

 

»Ist denn von früher noch etwas übrig?«, hatte Richard gefragt und zur Tür genickt.

»Ein Schreibtisch und ein Stuhl, das ist alles«, hatte Morris geantwortet.

»Dann ist das ja ungefähr so wie in der guten alten Zeit.«

Richard trat über die Schwelle. »Abgesehen davon, dass wir auch noch die eine oder andere Karte hier drinnen hatten.«

»Die sehen auch immer noch gleich aus«, hatte Morris gesagt und sich Gabriella zugewandt, um ihr das zu erklären.

»Die Pufferzone ist unverändert. Die Insel ist geteilt. Es hat immer noch keinen Sinn, die Karten von dieser Insel umzuschreiben.«

»Status quo«, hatte Richard gesagt. »Darum dreht sich alles. Mehr konnten wir ja kaum tun. Den Status quo aufrechterhalten.«

Richard hatte mitten im Raum gestanden. Drinnen war es heller, als es von außen gewirkt hatte. Ein Fenster oben im Dach hatte etwas Licht hereingelassen. Er konnte sich an die Gerüche erinnern, den trockenen Geruch von Sonne und Wind, von Staub und sprödem Holz. Er erinnerte sich, dass die Wände so dünn gewesen waren, dass er ständig die Kollegen in den angrenzenden Räumen durch die schlechte Telefonverbindung mit der Hauptstadt hatte schreien hören.

Plötzlich hatte man ein schwaches Klingeln in dem stillen Raum gehört. Dan Morris hatte die Hand in die Innentasche seines Leinensakkos gesteckt, ein Handy herausgeholt, aufs Display geschaut und weggedrückt.

»Entschuldigung.«

»Lassen Sie sich durch uns nicht stören«, hatte Richard gesagt.

Doch Dan Morris hatte den Kopf geschüttelt. »Es ist nichts Wichtiges.« Er hatte durch die Tür hinausgeschaut in das Licht, das draußen sehr stark zu sein schien. Die Luft war durchsichtig wie Glas. »Aber jetzt werde ich mich mal aufmachen.« Er hatte Gabriella wieder die Hand entgegengestreckt. »War schön, Sie kennen zu lernen.« Dann hatte er den Blick von ihr gewandt und sie beide angeschaut. »Darf ich Sie vielleicht heute Abend zum Essen einladen?« Er hatte Gabriella zugelächelt. »Ich verspreche auch, dass wir nicht nur von den Vereinten Nationen reden werden.« Er hatte Richard angeschaut. »Lassen Sie mich eine Bar empfehlen, wo wir uns zu einem kleinen Aperitif treffen können.«

 

Er hört Schüsse hinter sich, eine Serie von Schüssen, die auf alles Mögliche zielen konnten. Er rennt auf gefühllosen Füßen, es ist, als würde man in Luft rennen, als würde man fliegen, aber nicht schnell genug.

Er läuft aus der Gasse zum anderen Ende des Viertels, und zwei Polizeiautos kommen ihm entgegen. Die Polizisten wissen, wie diese Stadt aussieht, wie sich die Gassen dahinschlängeln. Die brauchen keinen Stadtplan. Er eilt zurück in die Gasse, ein wahnsinniger Reflex. Aber er erinnert sich, dass er dort an einer Tür vorbeigelaufen ist, die angelehnt war. Da ist die Tür.

 

Sie waren zum Strand spaziert. Ein paar Touristen badeten, und das Wasser schien nicht allzu kalt zu sein.

»Wie gut kanntest du Dan Morris?«, hatte sie gefragt.

»Nicht besonders gut.«

»Hattet ihr keinen privaten Kontakt?«

»Na ja, wenn man so lebt und arbeitet, wie wir es taten, dann ist es nicht so leicht, zwischen privatem und, nun ja, dem anderen zu unterscheiden. Dem Job und der Repräsentation und so.«

»Aber ihr wart keine guten Freunde?«

»Nein, das kann man nicht sagen. Aber wir waren auch keine Feinde.«

Sie waren unten am Strand gewesen. Sie hatte ihre Sandalen ausgezogen und war ins Wasser gegangen.

»Es ist gar nicht kalt«, hatte sie gesagt und ein wenig dabei gelacht. »Zumindest nicht, wenn man es mit zu Hause vergleicht.«

»Das ist ja kein richtiger Vergleich«, hatte er eingewandt.

»Zu Hause hättest du zwischen Eisblöcken waten müssen.«

Etwas später, am Nachmittag, hatte sie gesagt, dass ihr ein wenig schwindlig sei. Sie hatten sich im Zimmer ausgeruht. Sie war aufgestanden und hatte ein Glas Wasser getrunken, sich dann aber wieder hingelegt. Eine Stunde später war der Schwindel immer noch da.

»Bestimmt kommt das von der Sonne«, hatte sie gesagt.

»Ich sollte es heute Abend wohl etwas ruhiger angehen. Schön hier auf dem Zimmer bleiben.«

»Das mache ich auch«, hatte er gesagt.

»Nein, ich denke, du solltest dich mit Morris treffen. Es ist doch sicher schön, ein wenig davon zu reden, wie es war, als ihr hier wart.«

»Das ist nicht wichtig.«

»Ich finde, du solltest gehen. Ich komme schon klar.«

»Tja, aber dann gehe ich nur auf den einen Drink. Dann komme ich zurück. Vielleicht können wir uns was aufs Zimmer kommen lassen, wenn ich zurück bin.«

»Du musst dir keinen Stress machen«, hatte sie gesagt.

 

Er stolpert über die hohe Schwelle durch die Türöffnung. Da drinnen ist es schwarz, er hält die Arme vor sich ausgestreckt, um nicht gegen irgendetwas Hartes zu stoßen. Er hat die Tür hinter sich geschlossen. Dann sieht er eine Treppe direkt vor sich und einen schwachen Lichtschein von oben. Er geht die Treppe hinauf, die Treppenstufen sind genauso hoch wie die Schwelle. In der Gasse hört er Stimmen und Rufe, laufende Schritte. Er kommt am Treppenabsatz an, der um eine Ecke führt. Dann macht er eine Tür auf, und das Licht trifft ihn wie ein Schlag auf die Augen. Er steht auf einem Dach.

 

Morris war noch nicht da, als Richard die Bar betrat. Es war eine der ältesten der Stadt. Er hatte vor zwanzig Jahren selbst viele Male dort gesessen, an jenem hufeisenförmigen Tresen. So früh am Abend waren nicht viele Gäste dort gewesen. Er war eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit da. Er hatte an Gabriella gedacht und wollte nicht allzu lange dort sitzen.

Im Augenwinkel hatte er jemanden draußen vor dem Lokal aus einem Auto steigen sehen, aus einem schwarzen Auto. Er hatte den Kopf gewendet und gesehen, wie Dan Morris die Tür hinter sich zuwarf, dann war das Auto weitergefahren.

Er hatte Morris in die Bar kommen sehen, und dieser hatte fast erstaunt gewirkt, als er Richard schon dort sitzen sah. Es war immer noch eine Viertelstunde bis zur vereinbarten Zeit. Morris hatte sich auf den gepolsterten Stuhl neben ihn gesetzt.

»Wo ist Ihre Frau?«, hatte Morris gefragt.

»Sie fühlte sich leider nicht richtig wohl.«

»Das tut mir Leid.«

»Zu viel Sonne.«

»Die kann heimtückisch sein«, hatte Morris gesagt.

»Also wird es nichts aus dem Abendessen.«

»Das passt mir gut«, hatte Morris gesagt und sich zu ihm gebeugt. Plötzlich hatte er einen anderen Gesichtsausdruck.

»Dass Sie allein gekommen sind.« In seinem Gesicht war kein Lächeln mehr. »Darf man fragen, warum Sie hierher gekommen sind, Berger?«

 

Das Dach sieht wie ein schwarzer Tennisplatz aus, allerdings ohne Netz und ohne Publikum. Von hier aus kann er das Meer sehen. Er wünschte, er wäre jetzt dort, am Strand. Wenn er doch nur hinfliegen könnte. Wenn er doch nur irgendwo anders wäre, nur nicht hier. Er läuft zum Rand des Dachs. Um ihn herum liegt die weiße Stadt mit den schwarzen flachen Dächern, die alle aussehen wie Tennisplätze. Bis zum nächsten Dach sind es ungefähr drei Meter. Es ist genauso hoch wie das, auf dem er steht. Dazwischen liegt eine Gasse. Er will sich nicht vorbeugen, um zu sehen, wie tief es bis unten ist. Jetzt hört er Stimmen aus dem Treppenhaus. Die Tür hat er geschlossen. Er läuft zurück zur Tür, nimmt von dort Anlauf und rennt zum Rand und springt und fliegt.

 

»Darf man fragen, warum Sie geblieben sind, Morris?«, hatte Richard geantwortet.

»Hier rührt mich niemand an«, hatte Morris geantwortet, aber seine Augen hatten etwas anderes gesagt.

»Was soll das heißen? Niemand rührt Sie an?«

Morris hatte nicht geantwortet.

»Ist das eine Drohung?«, hatte Richard gefragt.

»Sie hätten nicht zurückkommen sollen. Das war dumm.«

»Das ist doch alles vergessen und begraben«, hatte Richard gesagt.

»Begraben vielleicht. Aber nicht vergessen.«

»Wir standen im Dienst der Vereinten Nationen, verdammt noch mal.« Richard hatte sich vorgebeugt. »Wir haben nur getan, was wir tun mussten. Niemand kann uns etwas vorwerfen. Keine Seite. Wir haben unseren Auftrag erfüllt.«

»Ja, das ist die offizielle Version.«

»Und darauf kommt es ja wohl an. Darauf kommt es doch immer an.«

Morris hatte die Straße draußen aufmerksam beobachtet.

»Sie glauben doch wohl nicht, dass denen Ihre Anwesenheit hier unbekannt ist?«, hatte Morris gesagt und sich wieder Richard zugewandt.

»Was können die mir schon anhaben?«

Morris hatte gelacht, ein Lachen, das, selbst wenn er es ewig versucht hätte, niemals die Augen erreicht hätte.

»Es geht hier nicht nur um Sie«, hatte Morris gesagt. »Wie sind Sie bloß so naiv geworden? Nehmen Ihre Frau mit hierher und lassen sie allein im Zimmer. Zeigen sich oben im Camp.«

Richard hatte nicht geantwortet.

»Es gibt nur einen einzigen Menschen, der Ihnen in diesem Moment Sicherheit garantieren kann«, hatte Morris gesagt.

»Und wer ist das?«

»Das bin ich.«

»Sicherheit wovor?«

»Ich bin der Einzige, der das leisten kann«, hatte Morris wiederholt, und sein Blick war zwischen der Straße draußen und der Bar, in der sie saßen, hin und her gewandert.

Der Barkeeper hatte im Hintergrund gewartet. Als er sich an die Theke gesetzt hatte, hatte Richard kurz das Gefühl gehabt, als komme er ihm bekannt vor, doch der Gedanke hatte sich wieder verflüchtigt. Die Männer hier waren sich trotz allem sehr ähnlich, zumindest konnte das einem Besucher so vorkommen. Das war immer so.

Der Barkeeper war mit einem Tablett gekommen, auf dem zwei Drinks in hohen Gläsern standen.

»Der erste des Abends geht aufs Haus«, hatte er gesagt und die Gläser vor sie hingestellt.

»Sind Sie hier so bekannt?«, hatte Richard gefragt.

»Ich nicht, aber Sie vielleicht«, hatte Morris geantwortet.

Richard hatte einen Schluck genommen und das Glas schweigend zur Hälfte geleert. Es hatte wie Brandy Sour geschmeckt. Er hatte nicht gefragt, was das war, sondern nur den süßsauren Geschmack verspürt.

 

Er landet auf der anderen Seite. Das eine Handgelenk schmerzt, aber er kann aufstehen und sich nach einem Ausweg umsehen, einer Tür irgendwo. Er hinkt zu einem anderen Rand hinüber, aber hier ist der Abstand zum nächsten Haus zu groß. Er wendet sich zur anderen Seite um. Dann hört er Stimmen und schwere Schritte, nach oben, auf ihn zu. Am anderen Ende des schwarzen Tennisplatzes sieht er drei Silhouetten. Er hört einen Schrei. Sein Blick löst sich im starken Sonnenschein auf.

 

Als er seine Augen öffnet, scheint eine Sonne hinein. Er schließt sie wieder. Irgendjemand rüttelt ihn an der Schulter. Er versucht, den Körper herumzudrehen und die Augen vor der Sonne geschützt zu öffnen. Er dreht den Kopf ins Licht und sieht jetzt, dass die Sonne eine Lampe ist.

»Richard? Richard?«

Da oben sieht er ein Gesicht schweben. Er versucht, den Blick zu fixieren. Dann erkennt er das Gesicht wieder.

»Wie geht es dir, Richard?«, fragt Gabriella.

»Wo … wo bin ich?«, fragt er und versucht sich zu bewegen, aber der restliche Körper scheint nicht auf die Signale vom Gehirn zu hören.

»Du bist hier«, sagt sie. »Du bist in unserem Zimmer.«

Plötzlich gelingt es ihm, eine Verbindung zwischen Gehirn und Armen herzustellen, und er richtet sich ein paar Zentimeter auf. Er sieht, dass sie nicht lügt. Das Fenster zum Strand hin steht offen. Es ist immer noch hell.

»Welcher Tag ist heute?«, fragt er stockend.

»Es ist Heiligabend«, antwortet sie.

»Und wie bin ich hierher gekommen?«, fragt er weiter.

»Du bist vor einer Viertelstunde durch diese Tür da gekommen, bist zu diesem Bett gegangen und hast dich hingelegt«, antwortet sie. »Mein lieber Richard, was ist denn bloß passiert? Du warst fast einen Tag lang verschwunden!«

 

Er versucht zu erzählen. Zunächst fängt er mit dem Schluss an. Er sagt, dass er keinerlei Erinnerung daran hat, wie er von dem Dach, auf dem er stand, zum Hotel gekommen ist. Das schwarze Dach ist die letzte Erinnerung, die er hat. Die erste Erinnerung sind die Grillen, sagt er. Und das laute Poltern an die Tür.

»Ich bin heute spät in der Nacht zur Polizei gegangen«, sagt sie. »Du warst ja nicht zurückgekommen. Sie haben versprochen, nach dir zu ermitteln, wie sie es genannt haben.«

»Sie haben mich gefunden«, sagt er.

»Aber, dann wärst du ja wohl nicht hier«, meint sie.

»Wenn es so ist, wie du sagst, dass sie dich gejagt haben. Haben sie dich gejagt, weil sie dachten, du hättest irgendwas getan?«

»Sie waren schließlich da«, sagt er. »Glaubst du, dass ich das alles geträumt habe? Mir alles ausgedacht habe?«

»Nein, nein.« Aber er kann in ihrem Gesicht lesen, dass seine Erzählung sie verwirrt. Meine Güte, er ist ja selbst davon verwirrt. Hat er vielleicht alles geträumt? Hatte er irgendwie unter Drogeneinfluss gestanden? War irgendetwas in dem Drink gewesen, den der Barkeeper ihm serviert hat? Brandy Sour. Verbirgt jeden anderen Geschmack. Er hatte diesen Drink nicht bestellt. Morris hatte ihn auch nicht bestellt, denn er war ja schließlich vor Morris gekommen. Wenn dieser es nicht schon im Voraus arrangiert hatte. Er wusste, dass man Leute hier mit Narkotika in Drinks betäubt hatte. Das war unter anderem eine Methode, neue Drogenkunden zu schaffen. War es so gewesen? Hatte er irgendein verdammtes Mittel oder ein Halluzinogen oder Ecstasy oder wie das alles hieß bekommen, das Halluzinationen erzeugte und das Gehirn ausschaltete? Es so weit ausschaltete, dass er vom Geräusch der Grillen und dem Poltern an der Tür aufwachte?

»Ich muss wieder dorthin zurück«, sagt er.

»Was meinst du?«

»Dieser Bungalow, das Apartmenthotel.« Er versucht aufzustehen. Jetzt geht es schon besser. »Ich will dorthin und rauskriegen, ob da auch nichts passiert ist.«

»Es wird ja wohl nichts passiert sein«, sagt sie. »Sonst wärst du sicher nicht hier. Da hätten sie dich doch schon festgenommen.«

»Ich muss dorthin fahren«, sagt er. »Ich will wissen, warum ich dort war. Und wie ich da hingekommen bin.«

»Jetzt?«, fragt sie. »Willst du jetzt da hinfahren?«

»Ja.« Er setzt die Füße auf den Boden. Sie haben wieder Gefühl. Er spürt den Schmerz. »Ich muss diese Sache aus der Welt schaffen.«

»Ich komme mit«, sagt sie.

»Nein.«

»Wie? Warum nicht?«

Er weiß nicht warum. Irgendetwas in ihm sagt nein. Vielleicht ist es das Entsetzen, das er in jenem Zimmer empfunden hat. Er will sie dem nicht aussetzen, selbst wenn es nur ein Traum oder ein Drogenrausch war.

»In einer halben Stunde bin ich zurück«, sagt er.

»Lass mich wenigstens draußen im Taxi warten«, bittet sie.

 

Er steigt aus dem Taxi. Er drückt ihre Hand, geht rasch über den Parkplatz und zur Rezeption hinein. Er geht über den glänzenden Fußboden. Die Frau hinter dem Tresen schaut auf. Er meint sie vom Morgen wiederzuerkennen, aber er ist nicht sicher. Wie könnte er auch sicher sein, schließlich ist er in zwei Sekunden hier durchgerannt.

Sie schaut ihn an, ohne ein Zeichen des Wiedererkennens. Ihr Gesicht drückt nur freundliche Professionalität aus.

»Womit kann ich dienen?«, fragt sie in weichem Englisch.

»Ich … würde gern eine Wohnung anschauen«, sagt er.

»Um sie … später im Winter dann zu mieten.« Er macht eine Geste mit der Hand. »Wir wollen etwas später im Winter zurückkommen, und dieses Hotel ist uns empfohlen worden.«

»Das freut mich zu hören«, sagt sie.

»Unsere Freunde haben in einer Wohnung mit einer sehr guten Lage gewohnt«, sagt er.

»Alle unsere Wohnungen haben eine sehr gute Lage«, sagt sie mit einem Lächeln.

»Natürlich«, sagt er und lächelt zurück. »Aber nachdem es nun gerade die war, vielleicht kann ich ja die mal anschauen, also, und dann noch eine andere?«

»Welche Nummer war es denn?«, fragt sie.

»Sechzehn.«

Sie tippt irgendetwas in den Computer. Dann wendet sie sich zu einer Reihe Schlüssel um, die hinter ihr an der Wand hängen.

»Wohnung Nummer sechzehn ist tatsächlich frei«, sagt sie und dreht sich wieder zu ihm um. »Sie haben Glück. Um diese Jahreszeit sind wir meist belegt.«

»Könnte ich sie dann mal anschauen?«, fragt er.

»Okay«, sagt sie und schaut ihn an. »Ich bin heute allein hier, deshalb kann ich niemanden mit Ihnen hinaufschicken.«

Sie sieht ihn wieder an, als sei er ein ehrlicher Mensch. »In Ordnung, Sie bekommen einen Schlüssel, aber ich möchte, dass Sie in zehn Minuten wieder hier sind.«

»Natürlich«, versichert er. »Wahrscheinlich noch schneller.«

 

Er folgt den Pfeilen, die die Wohnungsnummern angeben. Zwischen den Wohnungen verlaufen geflieste Wege, die von kräftigem Grün eingerahmt sind. Die Gerüche da drin sind schwer, es ist, als würde man in einem großen Zimmer gehen.

Er steht vor Nummer sechzehn und spürt, wie das Blut schneller durch seinen Körper schießt. Er holt tief Luft und schließt die Tür auf. Dann geht er in den Flur und schließt die Tür hinter sich. Er schließt sie ab, als wollte er kein Risiko eingehen. Das ist eine absurde Handlung, das sieht er ein. Er geht durch den dunklen Flur. Er sieht das Zimmer da vorn, erkennt die lange Gardine wieder, die sich im sanften Wind bewegt. Die Tür zur Terrasse ist zu. Draußen ist Dämmerung. Er geht ins Zimmer. Hört die Grillen draußen. Sie sind laut, es klingt wie stählerne Schreie, direkt in den Raum hinein, in dem er steht. Er schaut auf den Steinfußboden hinunter. Im Augenwinkel sieht er etwas. Er wendet den Kopf. Er sieht ein Gesicht. Einen Körper. Er sieht Flecken auf dem Körper. Er liegt auf dem Steinfußboden, halb unter einem Tisch. Es ist still.

Er versucht, aufzustehen. Plötzlich schlägt jemand gegen eine Tür, die zu der Wohnung gehören muss. Die Laute kommen durch einen dunklen Flur gestürzt, den er sehen kann, wenn er den Kopf in die andere Richtung dreht. Er hört ein Rufen, wie einen Schrei, der lauter ist als der der Zikaden, mehr von Eisen als von Stahl. Jemand wirft sich gegen die Tür.