VIER

Als ich die Augen öffnete, sah ich als Erstes den Himmel: ein blaues, grenzenloses Etwas; so viel größer, als ich ihn mir je vorgestellt hatte. In den ganzen zwölf Jahren an der Schule hatte ich immer nur den Ausschnitt zwischen der einen und der anderen Mauer gesehen. Jetzt, da sich der Himmel direkt über mir wölbte, bemerkte ich die violetten und gelben Streifen auf diesem riesigen Schirm, die nun im frühen Morgenlicht sichtbar wurden.

Aus Angst, stehen zu bleiben, war ich in der letzten Nacht so weit und so schnell gerannt, wie ich konnte. Ich war unter zerfallenen Brücken durchgekrochen und über tiefe Gräben geklettert, bis ich schließlich das wunderbare vom Mondlicht angestrahlte Schild mit einer 80 erblickt hatte. Erst da hatte ich mich in einem Graben ausgeruht, meine Beine waren einfach zu müde gewesen, um noch einen einzigen Schritt weiterzugehen. Meine Hose starrte vor Dreck, mein Hals war trocken.

Ich kletterte auf den harten flachen Bergkamm und spähte in den Morgen hinaus. Auf dem Abhang wuchsen büschelweise Blumen, hohes, unglaublich grünes Gras und Bäume, die in ungewöhnlichen Winkeln trieben und miteinander verschlungen waren. Wenn ich an die Bilder dachte, wie die Welt vor der Epidemie ausgesehen hatte, konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen. Da gab es Fotos von akkuraten, gepflegten Rasenflächen und Reihenhäusern in gepflasterten Straßen, wo die Büsche zu perfekten Vierecken gestutzt waren. Hier sah es entschieden anders aus.

Am Horizont rannte eine Hirschkuh durch eine alte Tankstelle. Vor der Seuche wurde beinahe alles mit Öl angetrieben. Da es jedoch keine Arbeiter mehr gab, um die Raffinerien zu betreiben, hatte man sie geschlossen. Öl stand jetzt nur noch der Regierung des Königs zu, darüber hinaus gab es eine festgesetzte Zuteilung für jede Schule. Die Hirschkuh blieb stehen, um das Gras zu fressen, das zwischen den verrosteten Zapfsäulen wuchs. Am Himmel änderten dichte Vogelschwärme ihre Richtung, ihre Flügel schillerten im hellen Morgenlicht. Ich stampfte mit einem Fuß auf den Felsabsatz und spürte, wie flach und hart der Untergrund war. Erst da bemerkte ich, dass ich auf einer dick mit Moos bewachsenen Straße stand.

»Hallo?«, fragte eine Stimme. »Hallo?«

Ich wirbelte herum, um zu sehen, wo sie herkam, die Männerstimme weckte von Neuem alle Ängste in mir. Mir fielen die Geschichten über den Wald ein, über Banden von Abtrünnigen, die hier draußen hausten und auf Bäumen lebten. Mein Blick fiel auf eine verwitterte Hütte ein paar Meter weiter. Sie war mit Efeu überwuchert und die Tür verriegelt. Geduckt kroch ich näher, damit mich niemand sah.

Erneut erklang die Stimme. »Halt die Schnauze!«

Ich erstarrte. In der Schule durften wir solche Worte nicht benutzen. Sie waren »unangemessen« und wir kannten sie nur aus Büchern.

»Halt die Schnauze!«, brüllte die Stimme erneut von irgendwo über mir.

Ich sah auf. Dort, auf dem Dach der Hütte, thronte ein großer roter Papagei, der mich mit schief gelegtem Kopf musterte.

»Klingeling! Klingeling! Wer ist da?« Er pickte auf etwas ein, das auf dem Dach lag.

In einem Kinderbuch über einen Piraten, der anderen ihre Schätze raubte, hatte ich schon einmal einen Papagei gesehen. Pip und ich hatten die Geschichte in den Archiven gelesen und die wasserfleckigen Illustrationen mit den Fingern berührt.

Pip. Irgendwo, kilometerweit entfernt, entdeckte sie gerade mein leeres Bett mit den zerknitterten und kalten Laken. In aller Eile würde man neue Pläne für die Abschlussfeier schmieden. Weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass ich aus freiem Entschluss gegangen war, würden Ruby und sie sich möglicherweise Sorgen machen, dass ich gekidnappt worden war. Vielleicht würde Amelia, die übereifrige Zweitbeste, die bei den Abschlussfeierlichkeiten die Begrüßung übernehmen sollte, meine Rede halten und die Mädchen über die Brücke führen. Wann würden sie die Wahrheit herausfinden? Wenn sie den Fuß auf das kahle Ufer auf der anderen Seite setzten? Wenn die Türen aufschwangen und den Blick auf den fabrikartigen Saal freigaben?

Ich streckte die Hand nach dem Vogel aus, aber er wich zurück. »Wie heißt du?«, fragte ich. Fast fürchtete ich mich vor meiner eigenen Stimme.

Der Papagei starrte mich mit seinen schwarzen Knopfaugen an. »Peter! Wo bist du, Peter?«, krächzte er und hüpfte über das Dach.

»War Peter dein Besitzer?«, fragte ich. Der Papagei kratzte sich mit einer Kralle. »Wo kommst du her?« Wahrscheinlich war Peter vor langer Zeit während der Epidemie gestorben oder hatte den Vogel im darauffolgenden Chaos ausgesetzt. Der Vogel hatte trotzdem zehn Jahre überlebt. Diese simple Tatsache erfüllte mich mit Hoffnung.

Gern hätte ich dem Papagei noch weitere Fragen gestellt, doch er flatterte plötzlich davon und war nur noch ein roter Fleck am blauen Himmel. Ich folgte ihm mit den Augen und beobachtete, wie er in der Ferne verschwand. Da bemerkte ich die Umrisse, die zwischen den Bäumen den Abhang hinunterkamen und sich der Straße näherten. Selbst aus sechzig Metern Entfernung konnte ich die Gewehre erkennen, die sie über der Schulter trugen.

Einen Moment lang fürchtete ich mich vor diesen fremden und ungewohnten Geschöpfen. Sie waren so viel größer und breiter als Frauen. Selbst ihr Gang war anders, schwerer, als bereite ihnen jeder Schritt große Mühe. Alle trugen Hosen und Stiefel; einige hatten kein Hemd an und zeigten ihre ledrigen gebräunten Oberkörper.

Sie bewegten sich als Gruppe vorwärts, bis einer von ihnen sein Gewehr in Anschlag brachte und auf die Hirschkuh zielte, die neben den Zapfsäulen graste. Das Tier fiel mit einem Schuss, sein Bein zuckte vor Schmerz. Erst in diesem Moment stieg Panik in mir auf. Ich stand mitten in der Wildnis, im gnadenlosen Tageslicht, und eine Bande näherte sich. Ich rüttelte an der Hüttentür, riss den Efeu herunter, bis ein rostiges altes Hängeschloss zum Vorschein kam.

Die Bande war schon zu nah, um zu fliehen. In der Hoffnung, es würde aufbrechen, zerrte und zog ich an dem Schloss und schlug mit der Hand dagegen. Bitte geh auf, flehte ich, bitte. Ich spähte noch einmal um die Ecke der Hütte und sah, wie sich die Männer unter dem Tankstellenvordach um die Hirschkuh zusammendrängten. Einer hackte auf das Tier ein, zog ihm die Haut ab, als würde er eine Frucht schälen. Es wehrte und wand sich, es lebte noch.

Ich rüttelte an der Tür und plötzlich wünschte ich mir, die Schulleiterin käme die Straße heruntergerast und die Wächterinnen würden mich auf die Ladefläche eines Regierungsjeeps ziehen. Wir würden den Weg zurückfahren, den ich gekommen war, die Männer würden auf uns schießen, bis sie nur noch schwarze Punkte am Horizont wären. Bis ich in Sicherheit wäre.

Doch meine Fantasie löste sich in Luft auf – wie Nebel, der in der Morgensonne verdampfte. Die Schulleiterin war nicht meine Beschützerin und die Schule war nicht länger sicher.

Es war nirgendwo sicher.

Endlich gab das Schloss nach und ich stolperte in die dunkle Hütte hinein. Nachdem ich meinen Rucksack hereingezogen hatte, machte ich die Tür zu und lief eilig einen schmalen Gang hinunter, der in einen größeren Raum führte. Die schmutzbedeckten Fenster waren so dicht mit Ranken überwuchert, dass man nicht hinaussehen konnte. Ich tastete mich vorwärts und merkte, dass es keine Hütte war, sondern ein lang gestrecktes Haus, das in den Hügel hineinragte und zur Hälfte von Gras überwachsen war. Die Mauern waren uneben und fleckig wie eine Steinwand.

Die fremden Stimmen waren sehr nah. »Komm schon, Raff, schmeiß die Haut in die Tasche und lass uns verschwinden.«

»Du kannst mich mal, du Drecksack«, gab der andere zurück. Ihre Stimmen klangen tief und schroff. Sie sprachen nicht das gewählte Englisch, das wir in der Schule gelernt hatten.

Ich hatte ein ganzes Jahr lang in dem Kurs gesessen, der über die Gefahren aufklärte, die von Männern und Jungen ausgingen, und hatte in allen Einzelheiten gelernt, wie Frauen durch das andere Geschlecht verletzt werden konnten. Zuerst kam die Einheit über »Manipulation und Liebeskummer«. Wir lasen Romeo und Julia sehr genau und analysierten, wie Romeo Julia verführte und schließlich ihren Tod herbeiführte. Lehrerin Mildred hielt einen Vortrag über eine Beziehung, die sie vor der Epidemie gehabt hatte, und die Hochgefühle, die sich so schnell in verzweifelte, wutentbrannte Abgründe verwandelt hatten. Sie weinte, als sie erzählte, wie ihr »Geliebter« sie nach der Geburt ihres ersten Kindes verließ, einem kleinen Mädchen, das später an der Seuche gestorben war. Als Grund für sein Gehen hatte er »Verwirrung« angeführt. Während der Einheit über »Häusliche Versklavung« zeigte man uns alte Werbeanzeigen von Frauen mit Schürzen. Die Lektion über »Bandenmentalität« war allerdings die erschreckendste von allen.

Lehrerin Agnes zeigte uns Aufnahmen, die in einer Mauer verborgene Sicherheitskameras gemacht hatten. Die Bilder waren verschwommen, aber man erkannte drei Gestalten – drei Männer. Sie trieben einen anderen in die Enge, entrissen ihm die Vorräte an seinem Gürtel und richteten ihn mit einer Schrotflinte hin. Wochenlang wachte ich deshalb mitten in der Nacht schweißüberströmt auf. Immer wieder sah ich diesen weißen Blitz vor mir und den reglosen Körper des Mannes, der mit verdrehten Beinen auf dem Boden lag.

»Du hättest nicht noch einen umzulegen brauchen, du mordgeiles Monster!«, rief eine andere Stimme. Ich verkroch mich tiefer ins Haus und drückte mich gegen eine unebene, wackelige Wand. Die Luft war heiß und roch durchdringend nach Schimmel und etwas Schärferem, etwas Chemischem. Ich zog mir das Shirt übers Gesicht und versuchte, flach zu atmen, während die Männer draußen vorbeistapften.

Sie waren jetzt ganz in der Nähe. Ich konnte sie hören, bei jedem Schritt gaben die abgebrochenen Äste auf der Erde ein furchterregendes Knacken von sich. Vor der Hütte blieb jemand stehen. Er holte ächzend Luft und spuckte würgend Schleim aus. »Was is’n da?«, rief ein anderer. Seine Stimme klang weiter entfernt, höher. Vielleicht stand er auf der Straße.

Der andere räusperte sich und blankes Entsetzen schnürte mir die Kehle zu. Ich drückte mich fester an die Steinwand und versuchte, mit geschlossenen Augen ruhig stehen zu bleiben. Geh weg, bitte, bitte, dachte ich.

»Das Schloss is aufgebrochen! Geht schon mal vor, ich werf da mal ’nen Blick rein.«

Ich wich so weit ich konnte zurück und wünschte mir, ich könnte mich in die kalten Steine hineindrücken und hinter ihrer schartigen Oberfläche verschwinden. In so vielen Lektionen hatte man uns erklärt, was sich hinter der Schulmauer befand. Lehrerin Helene hatte Fotografien einer Frau hochgehalten, der ein wilder Hund das halbe Gesicht zerfleischt hatte. Für den Fall, dass wir in der Wildnis auf uns allein gestellt wären, konnte sie allerdings nur mit einem einzigen Ratschlag aufwarten. Sie hatten uns keine Überlebenstechniken beigebracht. Ich konnte kein Feuer machen, ich konnte nicht jagen, ich könnte mich nicht gegen diesen Mann zur Wehr setzen. Geht wieder zurück, hatte die Lehrerin einfach gesagt. Tut, was immer ihr tun müsst, um zur Schule zurückzukommen.

Die Tür wurde aufgestoßen. Ich erwartete, dass er hereinstürmen und mich schreiend ins Freie zerren würde. Doch als Licht durch die längliche Hütte flutete, waren mir die Bande auf der Straße und die Bilder aus dem Kurs und die Absichten des Mannes vor mir, nur einige Meter entfernt, plötzlich egal. Denn im Sonnenlicht erkannte man, dass die Mauern nicht aus unbearbeiteten Steinen, sondern aus Hunderten von Totenköpfen bestanden, die schwarzen, leeren Augenhöhlen starrten mich an. Ich presste die Hand auf den Mund, um nicht laut loszuschreien.

»Sind bloß Knochen drin«, brüllte der Mann. Damit schlug er die Tür zu und ich blieb mit den Skeletten im Dunkeln zurück.

Zitternd harrte ich noch einige Stunden dort aus, bis ich sicher sein konnte, dass die Männer verschwunden waren.