ELF

»Sie war letzte Nacht völlig durchnässt«, erklärte ich Caleb, als wir schließlich den Wald erreichten, in dem sein Camp lag.

Ardens Hustenanfälle waren mit jedem Kilometer lauter geworden und ihre Schritte immer langsamer, bis sie schließlich nicht mehr weiterlaufen konnte. Caleb und ich hatten sie auf einen Karren gelegt, den wir unterwegs gefunden hatten – auf die Seite war RADIO FLYER gepinselt –, und hatten sie abwechselnd gezogen. In der einen Minute klapperten ihre Zähne und in der nächsten krümmte sie sich über die Seitenwand des Karrens und versuchte, den blutigen Schleim auszuhusten. Schließlich schlief sie ein, ihr Körper lehnte gegen die ergatterten Konservendosen. »Es kommt bestimmt vom Fluss und dem Regen.«

»Ich habe mal einen Jungen gekannt, der auch diese Krankheit hatte«, sagte Caleb.

Wir hievten sie aus dem Wagen und legten ihre Arme über unsere Schultern.

»Und was ist passiert?«, fragte ich. Caleb gab keine Antwort. »Caleb?«

»Vielleicht ist es ja was anderes«, erwiderte er. Doch selbst im blassen Licht des Nachthimmels wirkte sein Gesicht angespannt.

»Mir geht’s gut«, murmelte Arden und versuchte, sich aufzurichten. In ihren Mundwinkeln klebte angetrockneter Speichel.

Wir bahnten uns den Weg durch den dichten grauen Wald, die Blätter kitzelten mich im Vorübergehen im Nacken. Tiere raschelten im Gebüsch. In der Ferne heulte ein Rudel streunender Hunde, das hungrig auf die nächste Mahlzeit wartete. Schließlich öffnete sich der Wald auf eine Lichtung und es war der überwältigendste Ausblick meines Lebens. Vor uns lag ein riesiger See, auf dessen pechschwarzer Oberfläche sich Tausende von Sternen spiegelten.

»Lake Tahoe«, erklärte Caleb.

Ich sah zum Himmel und betrachtete die funkelnden weißen Sternengruppen. Einige waren so hell, dass sie fast blau wirkten. Andere verschwammen in der Ferne wie schimmernder Staub.

»Das ist wunderschön.« Doch diese Worte beschrieben nicht annähernd die Ehrfurcht, die mich in diesem Augenblick erfüllte. Vor der Kulisse des Himmels fühlte ich mich winzig klein. »Schau mal, Arden.« Ich stupste sie am Arm. Wie gern hätte ich meine Farben und Pinsel dabeigehabt, um wenigstens einen blassen Eindruck der Szenerie festzuhalten. Es gab nur uns, einen schwarzen Ring Land und diese strahlende Kuppel.

Doch Arden krümmte sich vor Schmerz.

»Wo ist das Camp?«, fragte ich, meine Ehrfurcht verwandelte sich in Angst. »Wir müssen sie jetzt unbedingt dorthin bringen, sie braucht Ruhe.«

»Du stehst direkt davor«, erklärte Caleb. Er ging auf den steilen, schlammigen Hang zu, der mit Unkraut überwuchert und mit abgebrochenen Zweigen bedeckt war.

Verwirrt beobachtete ich, wie Caleb an einem angefaulten Holzklotz im Boden zerrte und ein großes Brett von der Größe einer Tür zum Vorschein kam. Er zog es hoch. Dahinter führte ein schwarzes Loch tief in eine Seite des Berges. »Geht rein«, forderte er uns auf und bedeutete mir vorzugehen.

Mein Magen grummelte. Mein Kopf fühlte sich leer an. Als ich in die Schwärze hinabstarrte, kehrten alle Ängste zurück. Mit Caleb draußen in der Wildnis zu sein, war schon riskant genug. Mir war nicht in den Sinn gekommen, dass das Camp eine unterirdische Höhle sein könnte. Im Freien konnte ich jederzeit davonlaufen. Aber unten im Dunkeln …

Ich trat einen Schritt zurück. »Nein …«, murmelte ich leise. »Das kann ich nicht.«

»Eve.« Caleb hielt mir seine Hand entgegen. »Arden braucht Hilfe – und zwar jetzt. Komm rein. Wir tun euch nichts.«

Neben mir zitterte Arden. Sie hustete und öffnete die Augen gerade lange genug, um etwas zu murmeln, das wie »Hör zu« klang. Als ich sie in den schwach erleuchteten Tunnel führte, stützte sie sich auf mich. Meine Hände zitterten. Hinter mir schloss Caleb die Tür.

»Hier lang«, forderte er mich auf und legte sich Ardens anderen Arm über die Schulter, um mir beim Stützen zu helfen. Als wir uns im Dunkeln vorwärtsbewegten, scheuerte die kalte Lehmwand an meinen Armen. Der Boden unter meinen Füßen fühlte sich hart an.

»Habt ihr diesen Tunnel – gefunden?«, fragte ich, meine Stimme hallte in der leeren Höhle wider.

Caleb bog scharf nach rechts ab und führte uns einen weiteren Gang hinunter, er erahnte den Weg im Dunkeln. »Wir haben ihn gegraben.« Weit vor uns hörte ich die Geräusche einer größeren Gruppe. Entfernte Stimmen, das Klappern von Töpfen, schwaches Johlen.

»Ihr habt diese Gänge in den Berg gegraben?«, fragte ich. Arden hustete wieder, sie ließ die Füße jetzt nachschleifen.

Caleb erwiderte einige Zeit nichts. »Ja.« Während wir weiterliefen, konnte ich ihn atmen hören. »Nach der Epidemie brachte man mich in ein improvisiertes Waisenhaus in einer verlassenen Kirche. Kinder – Jungen und Mädchen – schliefen auf Kirchenbänken und in Schränken, manchmal kuschelten wir uns zu fünft aneinander, um warm zu werden. Ich erinnere mich nur an einen Erwachsenen – die Frau, die die Konservendosen für uns öffnete. Sie nannte uns die ›Überreste‹. Nach ein paar Monaten tauchten die Laster auf und brachten die Mädchen in die Schulen. Die Jungen kamen in Camps – Arbeitslager –, wo wir den ganzen Tag, jeden Tag, irgendetwas bauten.« Jedes seiner Worte war sorgfältig abgewogen. Er blickte auf den Boden vor uns.

»Wann bist du entkommen?«, fragte ich. Wir liefen durch den Tunnel auf ein Licht zu, das, je näher wir kamen, immer heller leuchtete.

»Vor fünf Jahren. Der Höhlenbau fing gerade an, als ich hier ankam«, antwortete Caleb. Ich wollte noch mehr wissen, wer das organisiert hatte und wie, aber ich wollte nicht weiter in ihn dringen.

Als wir um eine Ecke bogen, öffnete sich der Gang in einen großen runden Raum mit einer Feuerstelle in der Mitte. Die Höhle erinnerte mich an den Unterschlupf eines Tieres. Dicke graue Steine stützten die Lehmwände und vier weitere Tunnel zweigten von dem riesigen Raum ab. Bevor wir einen weiteren Schritt machen konnten, zischte ein Pfeil an meinem Gesicht vorbei und hätte um Haaresbreite mein Ohr gestreift.

»Pass auf, wo du rumläufst!« Ein muskulöser, sehniger Junge lachte. Er ging auf die Wand neben uns zu, in die zwei riesige Kreise eingemeißelt waren, die eine Zielscheibe darstellten. Als er den Pfeil mit einem kräftigen Ruck herauszog, musterte er mich durchdringend.

Um das Feuer saß eine Horde Jungs mit bloßen Oberkörpern. Bei Calebs Anblick stießen sie wilde Schreie aus.

»Wir haben uns schon gefragt, wo du steckst«, rief ein Junge mit einem dichten Helm aus schwarzem Haar. Als eine Art primitives Willkommen schlugen sie sich mit den Fäusten auf die Brust. Als sich die Jungen umdrehten, um mich anzustarren, stellte ich mich kerzengerade auf.

»Wenigstens war die Jagd erfolgreich«, zischte der mit dem Pfeil. Er musterte meine nackten Beine, das Shirt, das locker über meine Brüste fiel. Ich hätte gern mehr angehabt oder mich hinter irgendetwas versteckt. »Schaut, was wir hier haben, Jungs! Eine Dame …« Er machte einen Schritt auf mich zu, doch Caleb wehrte ihn mit ausgestreckter Hand ab.

»Es reicht, Charlie«, sagte er warnend.

Zwei andere, um die fünfzehn, schleppten aus einem Seitentunnel ein Wildschwein heran. Als sie ihre Beute auf den Boden legten, ergoss sich ein Schwall klumpigen Bluts aus dem Tier.

»Weiß Leif Bescheid?«, fragte einer. Er war groß und dünn, auf seiner Nase hing schief eine kaputte Brille.

»Wird er schon noch früh genug«, erwiderte Caleb.

Ein Junge kniete sich neben den Wildschweinkadaver und wetzte zwei Messerklingen gegeneinander. Bei dem penetranten Schleifgeräusch stellten sich mir die Haare auf den Armen auf. Seine Augen wanderten über Ardens Körper und als er genug gesehen hatte, machte er sich über das Wildschwein her und hackte auf seinen Nacken ein. Knochensplitter flogen ihm ins Gesicht. Es war barbarisch, wie sein Messer immer und immer wieder auf der Stelle landete, wo der Kopf des Tieres am Körper ansetzte. Ich zuckte bei jedem Hieb zusammen.

Erst als der Kopf abgetrennt war und über den Boden rollte, hielt der Junge inne. Das Wildschwein starrte mich an, über seinen Pupillen lag ein grauer Schleier. Ich wollte weglaufen, den Weg zurück, den wir gekommen waren, und erst stehen bleiben, wenn ich an der frischen Luft war. Doch als ich spürte, wie Arden kraftlos neben mir zusammensackte, wurde mir wieder bewusst, warum wir hier waren. Sobald es ihr besser ginge, würden wir gehen, weg aus dieser nasskalten Höhle, wo mich diese Jungen anstarrten, als würden sie mich am liebsten verschlingen.

Ein stämmiger Junge mit blondem, verfilztem Haar warf mehr Holzscheite ins Feuer. Er musterte Ardens schmalen Körper. »Sie können in meinem Zimmer wohnen«, lachte er. Ich umklammerte Arden. »Ich teile mein Bett gern.«

»Sie werden in niemandes Zimmer schlafen«, unterbrach ihn eine barsche Stimme. »Sie bleiben überhaupt nicht hier.«

Aus einem der Tunnel auf der anderen Seite des Feuers tauchte ein älterer Junge auf. Er trug Shorts, die ihm über die Knie reichten, und auf seiner Brust kräuselten sich dunkle Haare. Sein schwarzer Schopf war zu einer Art Knoten hochgebunden und gab den Blick auf dicke Narben frei, die im Zickzack über seine Schultern liefen. Hinter ihm tauchte eine Gruppe älterer Jungen auf, die sich in den Raum drängten. Ich bekam Gänsehaut vor Angst. Es waren mindestens noch zehn von ihnen, allesamt größer und breiter als ich. Und sie sahen wütend aus.

»Das ist nicht gut«, hauchte Arden.

Caleb stellte sich zwischen sie und uns. »Hier gibt es keine Diskussion, Leif. Ich habe sie im Wald gefunden. Ein Bär hat sie angegriffen.« Ich sah auf den schmutzigen Boden und wich den durchdringenden Blicken aus. »Sie müssen hierbleiben.«

Leifs Augen waren dunkelbraun und von einem dichten schwarzen Wimpernkranz umgeben. »Es ist zu gefährlich. Du kennst das Verhältnis des Königs zu seinen Säuen. Er lässt womöglich schon nach ihnen suchen.« Er kam auf uns zu, bis sein Gesicht nur eine Armeslänge von Calebs entfernt war. Er war so nahe, dass ich die Blätterreste in seinen Haaren erkennen konnte und die Asche auf seinen angespannten, muskulösen Armen.

»Säue?«, flüsterte Arden, ich spürte ihren glühenden Atem in meinem Nacken. »Das sind wir also?«

»So nennt man uns vielleicht«, erwiderte ich. »Aber deshalb sind wir das noch lange nicht.«

Die Gruppe Jungen umringte uns und verstellte uns den Fluchtweg. Arden hustete, ihr Körper bebte vor Anstrengung.

»Ist sie krank?«, fragte ein Junge mit Zahnlücke und sein Gesicht wurde weicher. Ich bemerkte eine Tätowierung auf seiner Schulter – das von einem Kreis umschlossene Wappen des Neuen Amerika. Es war dieselbe Tätowierung, die Caleb auch hatte, an genau der gleichen Stelle. Ich sah in die Runde und stellte fest, dass alle Jungen tätowiert waren.

»Sehr sogar«, antwortete ich. Bei dieser Bemerkung wichen sie zurück und fingen zu flüstern an, ein kleiner pausbäckiger murmelte etwas, das wie »Seuche« klang. Ardens Kopf kippte zur Seite und legte sich schwer auf meine Schulter.

Caleb und Leif starrten sich immer noch an. »Wenn wir sie hinauswerfen, wird sie sterben. Das lasse ich nicht zu.«

Leifs Mundwinkel verzog sich missbilligend, er erinnerte mich an einen zähnefletschenden Hund. »Dann müssen sie im Westzimmer bleiben, weg von den anderen«, sagte er schließlich. Da Arden kaum den Kopf heben konnte, starrte er mich mit seinen schmalen, fast schwarzen Augen an. »Du wirst die Höhle nicht ohne Erlaubnis verlassen. Und du hältst dich von uns fern. Verstanden?«

Leif warf dem Jungen, der neben ihm stand und einen flachen Stapel Schüsseln trug, einen Blick zu. Sofort kniete sich der Junge hin und füllte zwei der Schüsseln mit Bohnen aus einem Topf, der neben dem Feuer stand. Anschließend reichte er sie Leif. Ich trat einen Schritt vor. Leifs kräftige Schultern befanden sich fast auf meiner Augenhöhe. Er hielt mir eine Schüssel entgegen. Ich griff danach, doch er ließ sie nicht los.

»Willkommen«, sagte er mit einer Stimme, die klarmachte, dass er genau das Gegenteil meinte. Er ließ mich einen Moment dort stehen, während sein Blick über mein Gesicht glitt und dann tiefer wanderte zu meinen Brüsten, meiner Taille, meinen Beinen. Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg, und versuchte, ihm die Schüssel abzunehmen. Plötzlich lockerte er seinen Griff und ich taumelte nach hinten. Die Bohnen ergossen sich über mein Shirt. Ein anderer Junge brach in lautes, gefühlloses Gelächter aus.

Ich wischte an dem Fleck herum, meine Wangen waren knallrot und brannten. Es war noch nicht genug, dass ich schutzlos in diesem Camp war, noch nicht genug, dass Leif mir Angst einjagte. Nein, er musste mich auch noch demütigen.

»Kommt«, forderte uns Caleb auf und nahm Leif Ardens Schüssel aus der Hand. »Ich zeige euch euer Quartier.« Er legte einen Arm um Arden und wir liefen den Tunnel hinunter, der von einer Reihe Taschenlampen erleuchtet wurde, die man in der Erde verankert hatte. »Jetzt kennt ihr Leif«, flüsterte Caleb.

Ich drehte mich in dem Moment um, als Leif wütend nach dem Kopf des Wildschweins trat. Die anderen Jungen gingen wieder ihren Beschäftigungen nach. Der große schoss einen weiteren Pfeil ab, zwei dünnere rangen miteinander und ein paar andere arbeiteten fieberhaft daran, Fleischstücke auf angespitzte Stöcke zu spießen. Sofort fiel mir Herr der Fliegen ein und der Tag, als Lehrerin Florence die Szene vorgelesen hatte, in der Simon von einer Bande verrohter Jungen ermordet wird. Als Motivation hatte sie Gruppendynamik innerhalb einer Bande angeführt. »Wenn Männer plötzlich isoliert sind und sich gegenseitig in ihrer Gewalttätigkeit bestärken, sind sie am gefährlichsten«, hatte sie uns, mit dem aufgeschlagenen Buch auf ihrem Schoß auf der Tischkante sitzend, erklärt.

Als ich an das Gejohle dachte, an die Augen, die meinen Körper schamlos gemustert hatten, und das Geflüster zwischen ihnen, wusste ich: Ein paar Dinge, die sie uns erzählt hatte, waren wahr. Sogar jetzt.