Neunzehn
Wo er schon mal dabei war, trampelte er auch noch auf dem Handy herum, bis es entzwei war. Er vollendete sein Werk mit dem Hammer aus der Werkzeugkiste. Danach trat er zum Colonnello, der immer noch auf dem Boden lag und wimmerte. Als er merkte, daß der Commissario vor ihm stand, bedeckte er wie ein kleines Kind sein Gesicht mit den Armen. »Aufhören, bitte!« flehte er.
Was war das nur für ein Mann? Wegen eines Schlages und dem bißchen Blut, das aus seiner aufgeplatzten Lippe tropfte, war er zu einem solchen Häuflein Elend zusammengeschrumpft? Montalbano packte ihn am Revers, hob ihn hoch und setzte ihn auf einen Stuhl. Zitternd wischte sich Lohengrin Pera das Blut mit seiner bestickten Briefmarke ab, aber als er den roten Fleck auf dem Stoff sah, schloß er die Augen und schien in Ohnmacht zu fallen. »Ich… ich ekle mich vor Blut«, wisperte er. »Vor deinem eigenen oder dem der anderen?« erkundigte sich Montalbano.
Er ging in die Küche, holte eine halbvolle Flasche Whisky und ein Glas und stellte beides vor den Colonnello hin. »Ich trinke keinen Alkohol.«
Nach seinem Wutanfall war Montalbano jetzt deutlich ruhiger.
Wenn der Colonnello - überlegte er - telefoniert hätte, um Hilfe zu holen, dann waren die Leute, die ihm beistehen würden, bestimmt nicht weit, nur ein paar Autominuten vom Haus entfernt. Das war die eigentliche Gefahr. Da klingelte es an der Tür. »Dottore? Ich bin's, Fazio.« Er öffnete die Tür zur Hälfte.
»Hör zu, Fazio, mein Gespräch mit dieser Person, die ich erwähnt habe, ist noch nicht zu Ende. Bleib im Auto, wenn ich dich brauche, ruf ich dich. Aber gib acht - es kann sein, daß sich in der Nähe zwielichtige Gestalten herumtreiben. Nimm jeden fest, der sich dem Haus nähert.« Er schloß die Tür und setzte sich wieder vor Lohengrin Pera, der schwermütigen Gedanken nachzuhängen schien. »Versuch mich jetzt zu verstehen, denn demnächst verstehst du gar nichts mehr.«
»Was haben Sie mit mir vor?« fragte der Colonnello und wurde blaß.
»Nichts Blutiges, keine Sorge. Ich habe dich in der Hand, das hast du hoffentlich kapiert. Du warst so blöd, alles vor einer Videokamera auszuplaudern. Wenn ich das Band senden lasse, ist im internationalen Verbrechertum der Teufel los, und dann kannst du an irgendeiner Straßenecke Lollis verkaufen.
Aber wenn du Karimas Leichnam finden läßt und meine Beförderung stoppst - paß aber auf, daß beides gleichzeitig geschieht -, dann gebe ich dir mein Ehrenwort, daß ich das Band vernichten werde. Du mußt mir vertrauen. Hast du das alles begriffen?«
Lohengrin Pera nickte mit dem Köpfchen, und in diesem Augenblick sah der Commissario, daß das Messer vom Tisch verschwunden war. Der Colonnello mußte es an sich genommen haben, während er mit Fazio gesprochen hatte.
»Sag mal, gibt es deiner Meinung nach giftige Würmer?« fragte Montalbano. Pera sah in fragend an.
»Leg in deinem eigenen Interesse das Messer weg, das du unter dem Jackett hast.«
Der Colonnello gehorchte wortlos und legte das Messer auf den Tisch. Montalbano öffnete die Whiskyflasche, füllte das Glas randvoll und reichte es Lohengrin Pera, der angewidert das Gesicht verzog und sich abwandte. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich nicht trinke.«
»Trink.«
»Ich kann nicht, bitte.«
Montalbano drückte ihm mit zwei Fingern seiner linken Hand die Bäckchen zusammen und zwang ihn, sein Mündchen zu öffnen.
Fazio wartete schon seit einer Dreiviertelstunde im Wagen und war hundemüde, als er den Commissario rufen hörte. Er ging ins Haus und sah als erstes einen betrunkenen Zwerg, der sich aufs Hemd gekotzt hatte. Der Zwerg konnte nicht mehr gerade stehen, lehnte sich mal an einen Stuhl, mal an eine Wand und versuchte Celeste Aida zu singen.
Auf dem Boden sah Fazio eine Brille und ein Handy, beides zertrümmert; auf dem Tisch lagen neben einer leeren Whiskyflasche und einem ebenfalls leeren Glas drei oder vier Blatt Papier und Ausweise.
»Hör gut zu, Fazio«, sagte der Commissario. »Ich erzähle dir jetzt genau, was los war, falls man dir Fragen stellt. Als ich gestern gegen Mitternacht heimkam, habe ich am Anfang des Feldwegs, der hierherführt, das Auto dieses Signore da gefunden, einen BMW, der mir den Weg versperrt hat. Er war völlig betrunken. Ich habe ihn ins Haus gebracht, weil er nicht mehr in der Lage war zu fahren. Er hatte keine Papiere dabei, nichts. Ich habe alles mögliche gegen den Rausch unternommen und dann dich angerufen, damit du mir hilfst.«
»Alles klar«, sagte Fazio.
»Und jetzt nimmst du ihn - er wiegt ja nichts -, verstaust ihn in seinem BMW, setzt dich ans Steuer und steckst ihn in den Haftraum. Ich komme mit unserem Wagen nach.«
»Und wie kommen Sie dann wieder hierher?«
»Du bringst mich zurück, du schaffst das schon. Und morgen früh, sobald er wieder nüchtern ist, setzt du ihn auf freien Fuß.«
Als Montalbano wieder zu Hause ankam, nahm er die Pistole aus dem Handschuhfach seines Wagens, wo er sie immer aufbewahrte, und steckte sie sich in den Gürtel. Dann kehrte er die Bruchstücke des Handys und der Brille zusammen und wickelte sie in Zeitungspapier. Er nahm das Schäufelchen, das Mimi Francois geschenkt hatte, und hob direkt neben der Veranda zwei tiefe Löcher aus. In eines legte er das Päckchen und schaufelte das Loch wieder zu, in das andere die Papierbögen und die zerschnipselten Ausweise. Er schüttete Benzin darüber und zündete sie an. Als sie zu Asche geworden waren, schaufelte er auch dieses Loch wieder zu. Es begann hell zu werden. Er ging in die Küche, machte sich einen starken Kaffee und trank ihn. Dann rasierte er sich und stellte sich unter die Dusche. Er wollte die Aufnahme ganz entspannt genießen. Er schob die kleine Kassette in die größere, wie Nicolò es ihm gezeigt hatte, schaltete den Fernseher und den Videorecorder ein und ließ sich in seinem Sessel nieder. Als nach ein paar Sekunden noch nichts zu sehen war, stand er auf und kontrollierte die Geräte, weil er glaubte, er hätte irgendwas falsch zusammengestöpselt. Für solche Sachen hatte er nämlich überhaupt kein Talent, und vor Computern hatte er einen richtigen Horror. Es passierte immer noch nichts. Er zog die große Kassette heraus, öffnete sie und sah hinein. Es kam ihm vor, als sei die kleine Kassette nicht richtig eingelegt; er drückte sie ganz hinein und schob das Ganze noch mal in den Videorecorder. Nichts, aber auch gar nichts war auf dem Bildschirm zu sehen. Was, zum Teufel, funktionierte da nicht? Noch während er sich das fragte, erstarrte er, denn ihm war ein Verdacht gekommen. Er lief ans Telefon.
»Pronto?« sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung und brachte jeden einzelnen Buchstaben nur mit größter Mühe heraus.
»Nicolo? Hier ist Montalbano.«
»Wer denn sonst, buttanazza della miseria!«
»Ich muß dich was fragen.«
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
»Entschuldigung. Erinnerst du dich an die Kamera, die du mir gegeben hast?«
»Und?«
»Welche Taste muß man denn drücken, wenn man aufnehmen will, die obere oder die untere?«
»Die obere, du Idiot.« Er hatte auf die falsche Taste gedrückt.
Er zog sich wieder aus, schlüpfte in die Badehose, ging mutig ins eiskalte Wasser und schwamm. Als er müde wurde, spielte er toten Mann und überlegte, daß es gar nicht so schlimm war, daß er nichts aufgenommen hatte. Wichtig war nur, daß der Colonnello es geglaubt hatte und weiterhin glaubte. Er schwamm ans Ufer zurück, ging nach Hause, warf sich, naß wie er war, aufs Bett und schlief ein.
Es war schon neun vorbei, als er aufwachte. Er hatte das sichere Gefühl, daß er nicht in der Lage war, ins Büro zu gehen und seiner Routinearbeit nachzugehen. Er beschloß, Mimi anzurufen.
»Pronti! Pronti! Wer spricht denn da?«
»Catare, ich bin's, Montalbano.«
»Sind Sie es wirklich?«
»Ich bin's wirklich. Gib mir Dottor Augello.«
»Pronto, Salvo. Wo bist du denn?«
»Zu Haus. Mimi, ich kann nicht ins Büro kommen.«
»Bist du krank?«
»Nein. Aber ich fühl' mich weder heute noch morgen danach. Ich brauche vier oder fünf Tage Erholung. Kannst du mich vertreten?«
»Klar.«
»Danke.«
»Warte, leg noch nicht auf.«
»Was ist denn ?«
»Ich mach' mir Sorgen, Salvo. Du bist seit ein paar Tagen so komisch. Was ist denn los? Mach mir keinen Kummer!«
»Mimi, ich brauche nur ein bißchen Erholung, das ist alles.«
»Wo fährst du hin?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich ruf dich an.«
Aber er wußte genau, wo er hin wollte. In Marinella packte er in fünf Minuten seinen Koffer. Um die Bücher auszusuchen, die er mitnehmen wollte, brauchte er etwas länger. In Blockbuchstaben schrieb er eine Nachricht an seine Haushälterin Adelina, in der er ihr mitteilte, daß er in einer Woche wieder da sei. Als er in Mazàra in der Trattoria ankam, wurde er wie ein verlorener Sohn empfangen. »Sie vermieten doch auch Zimmer, nicht wahr?«
»Ja, oben haben wir fünf Zimmer. Aber es ist keine Saison, und nur eines ist bewohnt.«
Man zeigte ihm ein großes, helles Zimmer mit Blick aufs Meer.
Er streckte sich auf dem Bett aus; seine Gedanken waren wie weggeflogen, aber seine Brust war von einer glückliehen Melancholie erfüllt. Er wollte gerade die Leinen losmachen, um in Richtung »the country sleep« in See zu stechen, als es klopfte. »Herein, es ist offen.«
Der Koch stand in der Tür. Er war ein großer Mann von bemerkenswerten Ausmaßen, um die Vierzig, mit schwarzen Augen und dunkler Haut.
»Was ist? Kommen Sie nicht runter? Ich habe erfahren, daß Sie hier sind, und etwas für Sie gekocht, was…« Was der Koch für ihn zubereitet hatte, konnte er nicht mehr hören, weil schon sanfte, allerliebste Musik, eine Musik wie aus dem Paradies, in seinen Ohren erklang.
Seit einer Stunde beobachtete Montalbano jetzt schon ein Ruderboot, das sich langsam dem Ufer näherte. An Bord war ein Mann, der kraftvoll und in gleichmäßigem Rhythmus ruderte. Auch der Wirt der Trattoria mußte das Boot gesehen haben, denn Montalbano hörte ihn schreien: »Luid, der Cavaliere ist wieder da!«
Der Commissario sah zu, wie Luicino, der sechzehnjährige Sohn des Wirts, ins Wasser ging und das Boot auf den Strand schob, damit der Insasse trockenen Fußes an Land kam. Der Cavaliere, dessen Namen Montalbano noch nicht kannte, war elegant gekleidet, inklusive Krawatte. Dazu ein weißer Panama mit schwarzem Band, wie es sich gehörte.
»Cavaliere, haben Sie was gefangen?« fragte der Wirt.
»Einen Scheißdreck hab' ich gefangen.«
Er ging wohl auf die Siebzig zu, ein hagerer, nervöser Mann.
Später hörte Montalbano, wie der Cavaliere im Zimmer nebenan auf und ab ging.
»Ich habe hier für Sie gedeckt«, sagte der Wirt gleich, als Montalbano zum Abendessen erschien, und führte ihn in ein Zimmerchen, in dem nur zwei Tische Platz hatten. Der Commissario war ihm dankbar, denn der große Saal dröhnte vom Stimmengewirr und Gelächter einer lauten Gesellschaft.
»Ich habe für zwei Personen gedeckt«, fuhr der Wirt fort. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn der Cavaliere mit Ihnen speist?«
Er hatte schon etwas dagegen, denn wie immer fürchtete er, beim Essen reden zu müssen.
Kurz darauf stellte sich der hagere Siebzigjährige mit einer leichten Verbeugung vor.
»Liborio Pintacuda, und ich bin kein Cavaliere. Ich muß Sie warnen, auch wenn es aussieht, als wüßte ich mich nicht zu benehmen«, fuhr der Cavaliere, der keiner war, fort, als er sich hingesetzt hatte. »Ich esse nicht, während ich spreche. Folglich spreche ich auch nicht, während ich esse.«
»Willkommen im Club«, sagte Montalbano und seufzte erleichtert auf. Die pasta ai granchi di mare war anmutig wie ein erstklassiger Tänzer, aber die spigola farcita con salsa di zafferano raubte ihm auf eine Weise den Atem, daß er fast erschrak.
»Glauben Sie, daß sich ein solches Wunder wiederholen kann?« fragte er Pintacuda und zeigte auf seinen inzwisehen leeren Teller. Sie waren fertig mit Essen, konnten also das Wort wieder ergreifen.
»Es wird sich wiederholen, keine Sorge, wie das Blutwunder von San Gennaro«, sagte Pintacuda. »Ich komme schon seit vielen Jahren hierher, und niemals, wirklich niemals, hat mich Taninos Küche enttäuscht.«
»In einem großen Restaurant würde man Tanino mit Gold aufwiegen«, stellte der Commissario fest. »So ist es. Letztes Jahr war ein Franzose hier, der Besitzer eines berühmten Pariser Restaurants. Er fiel vor Tanino fast auf die Knie und flehte ihn an, nach Paris mitzukommen. Keine Chance. Tanino sagt, daß er hier zu Hause ist und hier auch sterben will.«
»Jemand muß ihm doch beigebracht haben, so zu kochen, das kann keine natürliche Begabung sein.«
»Wissen Sie, bis vor zehn Jahren war Tanino ein kleiner Dieb und Dealer. Rein in den Knast, raus aus dem Knast. Dann ist ihm eines Nachts die Muttergottes erschienen.«
»Sie scherzen wohl!«
»Nichts läge mir ferner. Er erzählt, daß die Muttergottes seine Hände in die ihren genommen, ihm in die Augen geschaut und gesagt habe, daß er ab sofort ein großer Koch sei.«
»Ach was!«
»Sie wußten nichts von der Muttergottes, haben aber angesichts dieser spigola ganz klar ein Wort gebraucht: Wunder. Aber ich sehe schon, daß Sie nicht an das Übernatürliche glauben, also wechseln wir das Thema. Was tun Sie hier, Commissario?«
Montalbano schrak zusammen. Er hatte dort niemandem verraten, welchem Beruf er nachging. »Ich habe Sie im Fernsehen bei der Pressekonferenz gesehen, nach der Festnahme dieser Frau, die ihren Mann umgebracht hat«, erklärte Pintacuda.
»Tun Sie mir den Gefallen und sagen Sie niemandem, wer ich bin.«
»Aber hier wissen alle, wer Sie sind, Commissario. Allerdings haben sie begriffen, daß Sie nicht erkannt werden wollen, und tun so, als wüßten sie nichts.«
»Und was machen Sie Schönes?«
»Ich war Lehrer für Philosophie, falls man das Lehren von Philosophie als schön bezeichnen kann.«
»Ist es das nicht?«
»Überhaupt nicht. Die Kinder langweilen sich, ihnen liegt nichts mehr daran, sich mit den Gedanken von Hegel und Kant zu beschäftigen. Man müßte den Philosophieunterricht durch ein Fach ersetzen, das man »Gebrauchsanweisungen« oder ähnlich nennen könnte. Dann hätte er vielleicht noch Sinn.«
»Gebrauchsanweisungen wofür?«
»Für das Leben, mein Verehrter. Wissen Sie, was Benedetto Croce in seinen Erinnerungen schreibt? Er sagt, daß die Erfahrung ihn gelehrt habe, das Leben als eine ernste Angelegenheit zu betrachten, als ein zu lösendes Problem. Klingt einleuchtend, nicht wahr? So ist es aber nicht. Man müßte den Jugendlichen philosophisch erklären, was es zum Beispiel bedeutet, wenn sie am Samstag abend im Auto unterwegs sind und in ein anderes Auto rasen.
Und ihnen sagen, wie man das philosophisch vermeiden könnte. Aber wir haben noch genug Zeit, uns darüber zu unterhalten, ich habe gehört, daß Sie ein paar Tage hierbleiben wollen.«
»Ja. Leben Sie allein?«
»In den zwei Wochen, die ich hier verbringe, bin ich ganz allein. Aber in Trapani lebe ich in einem großen Haus, zusammen mit meiner Frau, vier Töchtern, die alle verheiratet sind, und acht Enkelkindern, die ich den ganzen Tag um mich habe, wenn sie nicht in der Schule sind. Spätestens alle drei Monate flüchte ich mich hierher und hinterlasse weder Adresse noch Telefonnummer. Ich reinige mich, ich bade mich im Alleinsein, dieser Ort ist für mich wie eine Klinik, in der ich mich von einem Zuviel an Gefühlen entgifte. Spielen Sie Schach?«
Tags darauflag Montalbano nachmittags auf dem Bett und las zum zwanzigsten Mal Der Abbé als Fälscher von Sciascia, als ihm einfiel, daß er vergessen hatte, Valente über den Pakt in Kenntnis zu setzen, den er mit dem Colonnello geschlossen hatte. Falls sein Kollege in Mazàra weiterermittelte, konnte es gefährlich für ihn werden. Er ging hinunter zum Telefon. «Valente? Hier ist Montalbano.«
»Salvo, wo, zum Teufel, steckst du denn? Ich habe im Büro angerufen, und deine Kollegen sagten, sie hätten keine Nachricht von dir.«
»Was wolltest du denn von mir? Gibt's was Neues?«
»Ja. Heute morgen hat mich der Questore angerufen und mir mitgeteilt, daß mein Versetzungsantrag ganz unerwartet bewilligt wurde. Ich gehe nach Sestri.« Giulia, Valentes Frau, stammte aus Sestri, und auch ihre Eltern lebten dort. Bisher war jeder Antrag des Vicequestore auf Versetzung nach Ligurien abgelehnt worden. »Hab' ich dir nicht gesagt, daß bei der ganzen Geschichte auch für dich was rausspringt?« erinnerte Montalbano ihn.
»Glaubst du…?«
»Klar. Sie ziehen dich aus dem Verkehr, und du hast keinen Grund zu protestieren, ganz im Gegenteil. Ab wann läuft die Versetzung?«
»Ab sofort.«
»Siehst du? Ich komme noch bei dir vorbei, bevor du weggehst.«
Lohengrin Pera und seine Kumpane von der Bande hatten sich schnell in Bewegung gesetzt. Es war allerdings fraglich, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Er wollte die Probe aufs Exempel machen. Wenn die es so eilig hatten, die Sache zu erledigen, hatten sie ihm bestimmt auch schon ein Zeichen geschickt. Die italienische Bürokratie, die gewöhnlich unglaublich langsam war, funktionierte blitzschnell, wenn es galt, den Bürger übers Ohr zu hauen: In Anbetracht dieser Binsenweisheit rief er seinen Questore an.
»Montalbano! Dio santo, wo stecken Sie eigentlich?«
»Ich möchte mich entschuldigen, daß ich Ihnen nicht Bescheid gesagt habe. Ich habe mir ein paar Tage freigenommen.«
»Ich verstehe. Sind Sie bei…«
»Nein. Wollten Sie mich sprechen? Brauchen Sie mich?«
»Ja, ich wollte Sie sprechen, aber ich brauche Sie nicht. Erholen Sie sich nur. Erinnern Sie sich, daß ich Sie zur Beförderung vorschlagen mußte?«
»Allerdings.«
»Nun, heute morgen rief mich Commendator Ragusa vom Ministerium an. Er ist ein guter Freund von mir. Er hat mir mitgeteilt, daß gegen Ihre Beförderung… ich meine, es sind anscheinend Hindernisse aufgetreten, ich weiß nicht, welcher Art. Ragusa wollte oder konnte mir nicht mehr sagen. Er gab mir auch zu verstehen, daß es vergeblich und möglicherweise riskant sei, auf der Beförderung zu beharren. Ich bin wirklich bestürzt und gekränkt, das können Sie mir glauben.«
»Ich nicht.«
»Das weiß ich! Sie freuen sich wohl, nicht wahr?«
»Ich freue mich sogar doppelt, Signor Questore.«
»Doppelt?«
»Das erkläre ich Ihnen dann persönlich.«
Wie beruhigend - alles lief wie am Schnürchen.
Es war noch dunkel, als Liborio Pintacuda ihn am nächsten Morgen mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand weckte. »Ich erwarte Sie im Boot.«
Pintacuda hatte ihn zu dem aussichtslosen Angelvormittag eingeladen, und der Commissario hatte angenommen. Er zog Jeans und ein langärmeliges Hemd an: Es wäre ihm peinlich gewesen, zusammen mit einem elegant gekleideten Signore im Boot zu sitzen und nur eine Badehose anzuhaben.
Angeln war für den Professore offenbar dasselbe wie Essen:
Er sagte kein Wort, außer wenn er hin und wieder die Fische verfluchte, die nicht anbissen.
Gegen neun Uhr morgens, als die Sonne schon hoch stand, konnte Montalbano nicht mehr an sich halten.
»Mein Vater liegt im Sterben«, sagte er.
»Mein Beileid«, sagte der Professore, ohne den Blick von der Angelschnur abzuwenden.
Der Commissario fand die Bemerkung unangebracht, fehl am Platz.
»Er ist noch nicht tot, er liegt im Sterben«, erklärte er. »Das macht keinen Unterschied. Ihr Vater ist für Sie in dem Augenblick gestorben, als Sie erfuhren, daß er im Sterben liegt. Alles übrige sind sozusagen Formalitäten des Körpers, nichts weiter. Lebt er bei Ihnen?«
»Nein, in einem anderen Dorf.«
»Allein?«
»Ja. Und ich finde nicht den Mut, ihn zu besuchen, jetzt, wo er stirbt. Ich kann einfach nicht. Allein der Gedanke daran macht mir angst. Ich werde nie die Kraft haben, das Krankenhaus zu betreten.«
Der Alte sagte nichts, sondern erneuerte nur den Köder, den die Fische dankend gefressen hatten. Dann erst sprach er.
»Wissen Sie, ich habe zufällig den Fall verfolgt, der Der Hund aus Terracotta genannt wurde. Da haben Sie in einem Waffenhandel nicht weiterermittelt, sondern sich verbissen auf ein Verbrechen gestürzt, das vor fünfzig Jahren verübt wurde und dessen Aufklärung keinerlei brauchbare Ergebnisse bringen konnte. Ist Ihnen eigentlich klar, warum Sie das gemacht haben?«
»Aus Neugierde?« fragte Montalbano vorsichtig.
»Nein, mein Lieber. Auf raffinierte Weise ist es Ihnen gelungen, Ihren unerfreulichen Beruf zwar auszuüben, dabei aber die Realität des Alltags hinter sich zu lassen. Offensichtlich belastet Sie dieser Alltag manchmal zu sehr. Dann nehmen Sie Reißaus. Wie ich, wenn ich hier Zuflucht suche. Aber sobald ich wieder zu Hause bin, schrumpft der Gewinn gleich auf die Hälfte zusammen. Daß Ihr Vater sterben wird, ist eine Tatsache, aber Sie weigern sich, sich persönlich davon zu überzeugen und sie damit zu akzeptieren. Sie sind wie ein Kind, das die Augen schließt und meint, dann wäre die Welt verschwunden.« Jetzt sah Professor Liborio Pintacuda dem Commissario ins Gesicht.
»Wann entscheiden Sie sich, erwachsen zu werden, Montalbano?«
Zwanzig
Als Montalbano zum Abendessen hinunterging, beschloß er, am nächsten Morgen nach Vigàta zurückzukehren; er war schon seit fünf Tagen fort. Luicino hatte wie immer in dem Zimmerchen gedeckt; Pintacuda saß bereits an seinem Platz und erwartete ihn. »Morgen fahre ich ab«, verkündete Montalbano. »Ich nicht, ich brauche noch eine Woche Entgiftung.« Luicino brachte gleich den ersten Gang, die beiden machten ihren Mund also nur zum Essen auf. Als der zweite Gang kam, erlebten sie eine Überraschung. »Polpette!« rief der Professore indigniert. »Polpette sind Hundefutter!«
Der Commissario ließ sich nicht aus der Fassung bringen, der Duft, der ihm in die Nase stieg, war voll und würzig. »Was ist mit Tanino, ist er krank?« erkundigte sich Pintacuda beunruhigt.
»Nossignore, er ist in der Küche«, antwortete Luicino. Erst jetzt zerteilte der Professore mit der Gabel eine polpetta und steckte sich ein Stückchen in den Mund. Montalbano hatte sich noch nicht gerührt. Pintacuda kaute langsam, schloß die Augen halb und stieß einen ächzenden Laut aus.
»Wer im Sterben liegt und das hier ißt, fährt auch gern zur Hölle«, sagte er leise.
Der Commissario steckte sich eine halbe polpetta in den Mund und machte sich mit Zunge und Gaumen an eine erkennungsdienstliche Analyse, die die von facomuzzi deutlich in den Schatten stellte. Also: Fisch und - da gab es keinen Zweifel - Zwiebeln, Peperoncino, verquirltes Ei, Salz, Pfeffer, Semmelbrösel. Doch bei diesem Appell fehlten noch zwei Gewürze, die sich hinter dem Geschmack der Butter versteckten, in der die polpette gebraten waren. Beim zweiten Bissen fand er heraus, was er zuerst nicht entdeckt hatte: Kreuzkümmel und Koriander. »Koftas!« rief er erstaunt. »Was haben Sie gesagt?« fragte Pintacuda.
»Wir essen hier ein indisches Gericht, das nach allen Regeln der Kunst zubereitet ist.«
»Es ist mir scheißegal, wo es herkommt«, sagte der Professore. »Ich weiß nur, daß es ein Traum ist. Und ich bitte Sie, mich nicht mehr anzusprechen, bis wir fertig gegessen haben.«
Pintacuda ließ den Tisch abdecken und schlug das gewohnte Schachspiel vor, das Montalbano gewöhnlich verlor.
»Entschuldigen Sie, aber ich will mich vorher noch von Tanino verabschieden.«
»Ich komme mit.«
Der Koch stauchte gerade seinen Gehilfen zusammen, der die Pfannen nicht richtig gesäubert hatte.
»Wenn sie am nächsten Tag noch nach dem Essen vom Abend vorher riechen, weiß man ja gar nicht, was man ißt!« erklärte er den Gästen.
»Sagen Sie, stimmt es, daß Sie nie aus Sizilien rausgekommen sind?« fragte Montalbano.
Versehentlich hatte er wohl den Tonfall eines Bullen angenommen, denn Tanino fühlte sich anscheinend in seine kriminelle Vergangenheit zurückversetzt. »Niemals, ich schwör's, Commissario! Ich habe Zeugen dafür!«
Er konnte dieses Gericht also nicht in irgendeinem Restaurant mit fremdländischer Küche gelernt haben. »Hatten Sie jemals mit Leuten aus Indien zu tun?«
»Mit Indianern meinen Sie? Mit denen aus dem Kino?«
»Ist schon gut«, sagte Montalbano und umarmte den wundergeheilten Koch zum Abschied.
In den fünf Tagen, die er weg gewesen war - berichtete Fazio -, war nichts Besonderes vorgefallen. Carmelo Arnone - der mit dem Tabakgeschäft am Bahnhof - hatte wegen einer Weibergeschichte viermal auf Angelo Cannizzaro - den mit der Kurzwarenhandlung - geschossen. Mimi Augello, der zufällig anwesend war, hatte beherzt eingegriffen und den Schützen entwaffnet. »Dann ist Cannizzaro ja mit dem Schrecken davongekommen«, stellte Montalbano fest.
Alle Welt wußte, daß Carmelo Arnone nicht mit einer Knarre umgehen konnte, er traf nicht mal eine Kuh aus zehn Zentimetern Entfernung.
»Von wegen!«
»Hat er ihn erwischt?« fragte Montalbano verblüfft. Eigentlich, erklärte Fazio, hat er es auch diesmal nicht geschafft. Aber eine Kugel prallte am Laternenpfahl ab, flog zurück und blieb in Cannizzaros Rücken stecken. Es war keine schlimme Wunde, das Projektil hatte an Kraft verloren. Doch wie ein Lauffeuer verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, Carmelo Arnone habe Angelo Cannizzaro feige in den Rücken geschossen. Dessen Bruder Pasqualino - der Saubohnenhändler mit den zwei Zentimeter dicken Brillengläsern - bewaffnete sich und schoß auf Carmelo Arnone, als dieser ihm über den Weg lief, verfehlte dabei aber sowohl das Ziel als auch die Person. Er hatte Carmelo Arnone nämlich mit dessen Bruder Filippo - dem mit dem Obst- und Gemüseladen - verwechselt, weil er auf eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Arnone-Brüdern hereingefallen war. Das Ziel hatte er verfehlt, weil der erste Schuß irgendwo ins Blaue gegangen war und der zweite einen Händler aus Canicatti, der sich geschäftlich in Vigàta aufhielt, am linken kleinen Finger verletzt hatte. Und dann hatte die Pistole eine Ladehemmung, sonst hätte Pasqualino Arnone, der blindlings um sich schoß, ein Blutbad angerichtet. Ach ja, dann waren da noch zwei Diebstähle, vier scippi und drei ausgebrannte Autos. Die übliche Routine.
Es klopfte, und herein kam Tortorella, der die Tür mit dem Fuß aufstieß, weil er mindestens drei Kilo Papier auf seine Arme geladen hatte.
»Ich dachte, wenn Sie schon mal da sind…«
»Tortore, du redest ja, als wäre ich hundert Jahre lang fort gewesen!«
Er unterschrieb nie, ohne vorher sorgfältig zu lesen, worum es sich handelte, und so wurde es Mittag, bis der Stapel um etwas mehr als ein Kilo geschmolzen war. Sein Magen machte sich langsam bemerkbar, aber er entschied, nicht in die Trattoria San Calogero zu gehen, so schnell wollte er das Andenken des Kochs Tanino, der direkt von der Muttergottes inspiriert wurde, nicht entweihen. Der Treuebruch sollte durch eine vorherige Abstinenz wenigstens ein bißchen gerechtfertigt werden. Um acht Uhr abends war er mit Unterschreiben fertig, und da taten ihm nicht nur die Finger, sondern der ganze Arm weh.
Als er nach Hause kam, hatte er großen Hunger, ein richtiges Loch im Bauch. Was sollte er jetzt tun ? Ofen und Kühlschrank öffnen und schauen, was Adelina für ihn vorbereitet hatte? Er überlegte, wenn er von einem Restaurant zum nächsten wechselte, konnte man das technisch als Treuebruch bezeichnen, aber wenn er von Tanino zu Adelina wechselte, dann war das was ganz anderes, das konnte man sogar als Rückkehr in die Familie nach einem Seitensprungbetrachten. Der Backofen war leer, im Kühlschrank waren ein Dutzend Oliven, drei Sardinen, ein bißchen Thunfisch aus Lampedusa in einem Glas. Das Brot lag eingewickelt auf dem Küchentisch neben einem Zettel, den seine Haushälterin ihm geschrieben hatte.
Doppo che vossia nonni miffa sapìri quanno che tonna, iu priparo epriparo e doppo sonno obbligatta a gittari nilla munnizza lagrazzia di Diu. Non priparo cchiù nenti. Sie sagen mir nie, wann Sie wiederkommen, und ich koche und koche, und dann muß ich diese Gottesgaben in den Müll werfen. Ich koche gar nichts mehr.
Sie weigerte sich, weiterhin eine solche Verschwendung zu betreiben, aber wahrscheinlich war sie vor allem beleidigt, weil er ihr nicht gesagt hatte, wo er hinfuhr (»E va beni ca iu sugnu una cammarera, ma vossia certi voti mi tratta comu una cammarera! Ich weiß schon, daß ich eine Haushälterin bin, aber deswegen müssen Sie mich noch lange nicht so behandeln!«)
Lustlos aß er zwei Oliven mit Brot und trank dazu vom Wein seines Vaters. Er schaltete den Fernseher an, es war Zeit für die Nachrichten bei »Retelibera«. Nicolò Zito beendete gerade seinen Kommentar zur Verhaftung eines Stadtrats aus Fela wegen Unterschlagung öffentlicher Gelder und Erpressung. Dann ging er zu den Tagesnachrichten über. Am Stadtrand von Sommatino, zwischen Caltanissetta und Enna, war die Leiche einer Frau im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung gefunden worden.
Montalbano saß plötzlich kerzengerade im Sessel. Die Frau war erwürgt, in einen Sack gesteckt und dann in einen ziemlich tiefen trockenen Brunnen geworfen worden. Neben ihr lag ein kleiner Koffer, anhand dessen das Opfer eindeutig hatte identifiziert werden können: Karima Moussa, vierunddreißig Jahre alt, in Tunis geboren, aber seit einigen Jahren in Vigàta lebend. Auf dem kleinen Bildschirm erschien das Foto von Karima mit Francois, das der Commissario Nicolò gegeben hatte. Erinnerten sich die Zuschauer, daß »Retelibera« über das Verschwinden der Frau berichtet hatte? Von dem Kind, ihrem Sohn, gab es immer noch keine Spur. Nach Aussage von Commissario Diliberto, der in dem Fall ermittelte, könnte der unbekannte Zuhälter der Tunesierin als Mörder in Frage kommen. Auf jeden Fall blieben, wie aus dem Kommissariat zu erfahren war, noch viele Fragen zu klären.
Montalbano wieherte, schaltete den Fernseher aus und grinste. Lohengrin Pera hatte Wort gehalten. Er stand auf, reckte sich, setzte sich wieder hin und schlief plötzlich im Sessel ein. Er schlief wie ein Tier, so gut wie traumlos, wie ein Kartoffelsack.
Am nächsten Morgen telefonierte er vom Büro aus mit dem Questore und lud sich selbst zum Abendessen ein. Dann rief er im Kommissariat von Sommatino an. »Diliberto? Hier ist Montalbano. Ich rufe aus Vigàta an.« »Ciao, Kollege. Was gibt's?«
»Ich rufe wegen dieser Frau an, die ihr in dem Brunnen gefunden habt.«
»Karima Moussa.«
»Ja. Habt ihr sie eindeutig identifiziert?«
»Ohne jeden Zweifel. In dem Koffer war unter anderem eine Scheckkarte der Banca Agricola von Montelusa.«
»Entschuldige, wenn ich dich unterbreche. Aber es könnte schließlich jeder…«
»Laß mich ausreden. Vor drei Jahren hatte die Frau einen Unfall und wurde im Krankenhaus in Montelusa mit zwölf Stichen am linken Arm genäht. Sie stimmen überein. Die Naht ist noch zu sehen, obwohl der Leichnam schon ziemlich verwest ist.«
»Hör zu, Diliberto, ich hatte ein paar Tage frei und bin erst seit heute morgen wieder in Vigàta. Ich bin nicht auf dem laufenden, von dem Leichenfund habe ich in einem lokalen Sender gehört. In dem Bericht hieß es, es sei noch manches fraglich.«
»Aber nicht die Identifizierung. Ich bin sicher, daß die Frau anderswo ermordet und nicht an dem Ort vergraben wurde, den wir durch einen anonymen Hinweis entdeckt haben. Deshalb frage ich mich: Warum wurde die Leiche wieder ausgegraben und woanders hingebracht? Wozu war das nötig?«
»Woher weißt du das so genau?«
»An Karimas Koffer waren Spuren organischen Materials, das von der ersten Stelle stammt. Da lag er auch schon neben der Leiche. Dann hat jemand den Koffer in Zeitungspapier gewickelt und zu dem Brunnen gebracht, in dem er gefunden wurde.«
»Und?«
»Die Zeitung trägt das Datum von vor drei Tagen. Aber die Frau wurde mindestens zehn Tage vor diesem Datum umgebracht. Der Gerichtsarzt ist hundertprozentig sicher. Ich versuche also zu begreifen, warum man sie woanders hingebracht hat. Aber ich habe keine Ahnung; ich kann es mir einfach nicht erklären.«
Montalbano hatte schon eine Ahnung, aber das konnte er seinem Kollegen nicht sagen.
Diese bescheuerten Geheimdienste stellten sich aber auch immer so saudumm an! Wie damals, als die Leute glauben sollten, daß an einem bestimmten Tag ein libysches Flugzeug in der Sila abgestürzt wäre, und sie ein Riesentheater mit viel Krach und Feuer inszeniert hatten. Bei der Obduktion kam dann heraus, daß der Pilot des Flugzeugs schon zwei Wochen vor dem Absturz gestorben war. Die fliegende Leiche.
Nach dem schlichten, aber ausgezeichneten Abendessen machten Montalbano und sein Chef es sich im Arbeitszimmer bequem. Die Frau des Questore zog sich ebenfalls zurück; sie wollte fernsehen.
Montalbanos Bericht dauerte lange und war so ausführlich, daß er nicht mal Lohengrin Peras Brille ausließ, die er absichtlich zertreten hatte. Irgendwann wurde die Erzählung zu einer Beichte. Aber die Absolution durch seinen Chef ließ auf sich warten. Er war verärgert, daß er nicht mit von der Partie gewesen war.
»Montalbano, Sie sind gemein. Sie haben mir die Möglichkeit verwehrt, mich ein bißchen zu amüsieren, bevor ich in Pension gehe.«
Livia, Liebes, Du wirst Dich über diesen Brief aus mindestens zwei Gründen wundern. Der erste Grund ist der Brief an sich, daß ich ihn überhaupt schreibe und abschicke. Ungeschriebene Briefe habe ich Dir schon viele geschickt, fast jeden Tag einen. Mir ist klar geworden, daß ich Dir in all diesen Jahren nur ab und zu eine schäbige Ansichtskarte mit »bürokratischen und kommissarischen Grüßen« geschickt habe, wie du das nennst.
Der zweite Grund, der Dich nicht nur wundern, sondern, wie ich glaube, auch freuen wird, ist sein Inhalt.
Seit Deiner Abreise vor genau fünfundfünfzig Tagen (wie du siehst, zähle ich mit) ist viel geschehen, von dem manches uns beide angeht. Doch zu sagen, es sei »geschehen«, ist nicht richtig, eigentlich müßte man sagen, daß ich es habe geschehen lassen.
Du hast mir mal vorgeworfen, ich würde manchmal Gott spielen, indem ich mit kleineren oder größeren Unterlassungen und auch mehr oder weniger unrechtmäßigen Fälschungen den Lauf der Dinge (anderer Leute) ändere. Vielleicht stimmt das, das heißt, es stimmt sogar sicher, aber meinst Du nicht, daß das auch zu meinem Job gehört?
Jedenfalls sage ich Dir gleich, daß ich Dir von einer weiteren Übertretung, wenn man es so nennen will, schreibe, die ich begangen habe, um eine Reihe von Ereignissen zu unseren Gunsten zu beeinflussen, also nicht für oder gegen jemand anderen. Doch zuerst will ich Dir von Francois erzählen.
Wir haben seinen Namen nicht mehr ausgesprochen, weder Du noch ich, seit Du mir in Deiner letzten Nacht in Marinella vorgeworfen hast, ich würde nicht begreifen, daß dieses Kind das Kind sein könnte, das wir zusammen nie haben würden. Außerdem hat Dich die Art und Weise verletzt, wie ich Dir das Kind weggenommen habe. Aber schau, ich hatte Angst, und ich hatte allen Grund dazu. Francois war ein gefährlicher Zeuge geworden, und ich befürchtete, sie würden ihn verschwinden lassen (»neutralisieren« heißt das bei denen beschönigend).
Daß wir diesen Namen nicht mehr ausgesprochen haben, hat unsere Telefongespräche belastet, sie waren ausweichend und ein bißchen lieblos. Weißt Du, der Grund, warum ich bisher nie von Francois gesprochen habe und Du vielleicht den Eindruck hattest, ich hätte ihn vergessen, liegt darin, daß ich keine gefährlichen Illusionen in Dir wecken wollte. Wenn ich Dir jetzt von ihm schreibe, bedeutet das, daß ich da keine Befürchtungen mehr habe. Erinnerst Du dich an den Morgen in Marinella, als Francois weglief, um seine Mutter zu suchen? Als wir dann zusammen wieder nach Hause gingen, sagte er mir, er wolle nicht ins Waisenhaus. Ich antwortete ihm, das würde auch nie geschehen. Ich gab ihm mein Ehrenwort, und wir drückten uns die Hand. Ich war eine Verpflichtung eingegangen, die ich um jeden Preis einhalten wollte. In diesen fünfundfünzig Tagen hat Mimi Augello auf meine Bitte hin dreimal in der Woche bei seiner Schwester angerufen, um zu hören, wie es dem Jungen geht. Die Antwort war immer positiv. Vorgestern habe ich ihn zusammen mit Mimi besucht (apropos, Du müßtest Mimi eigentlich einen Brief schreiben und ihm für seinen großzügigen Freundschaftsdienst danken). Ich hatte Gelegenheit, Francois ein paar Minuten lang zu beobachten, während er mit Augellos gleichaltrigem Neffen spielte: Er war fröhlich und unbeschwert. Und als er mich dann sah (er hat mich sofort erkannt), änderte sich sein Gesichtsausdruck, plötzlich war er irgendwie traurig. Bei Kindern setzt die Erinnerung zeitweilig aus wie bei alten Menschen: Bestimmt mußte er an seine Mutter denken. Er hat mich fest umarmt, mich mit glänzenden Augen angeschaut, aber nicht geweint - ich glaube, er weint nicht so leicht -, und mir dann nicht die Frage gestellt, die ich befürchtet hatte, nämlich ob ich etwas von Karima wüßte. Er hat nur leise gesagt:
»Bring mich zu Livia.«
Nicht zu seiner Mutter, zu Dir. Er muß zu der Überzeugung gekommen sein, daß er seine Mutter nie mehr wiedersehen wird. Und das entspricht leider der Wahrheit.
Du weißt, daß ich aus trauriger Erfahrung von Anfang an überzeugt war, daß Karima umgebracht worden war. Um zu erreichen, was ich vorhatte, mußte ich in einer riskanten Aktion die Komplizen des Mörders dazu bringen, sich zu erkennen zu geben. Der nächste Schritt bestand darin, sie zu zwingen, Karimas Leichnam auffinden zu lassen, und zwar so, daß er zweifelsfrei identifiziert werden konnte. Es ist, Gott sei Dank, geglückt. So konnte ich mich »offiziell« um Francois' Angelegenheiten kümmern, der inzwischen für mutterlos erklärt wurde. Sehr hilfreich war der Questore, der all seine Kontakte aktiviert hat. Wenn Karimas Leichnam nicht gefunden worden wäre, hätte mir die Bürokratie unendlich viele Knüppel zwischen die Beine geworfen, und unser Problem wäre noch jahrelang nicht gelöst.
Ich merke gerade, daß mein Brief zu lang wird, deshalb jetzt in Kurzform:
1. Francois befindet sich vor dem tunesischen und unserem Gesetz in einer paradoxen Lage. Er ist ein nichtexistierendes Waisenkind, weil seine Geburt weder in Sizilien noch in Tunesien registriert ist.
2. Der Richter in Montelusa, der sich mit diesen Dingen befaßt, hat Francois' Situation insoweit geregelt - nur bis die bürokratische Seite erledigt ist -, als er ihn vorübergehend der Obhut von Mimis Schwester anvertraut hat.
3. Dieser Richter hat mir auch erklärt, daß eine Adoption durch eine unverheiratete Frau in Italien theoretisch schon möglich sei, aber er hat hinzugefügt, das sei in Wirklichkeit leeres Geschwätz. Er hat mir von einer Schauspielerin erzählt, die sich seit Jahren mit Amtsbescheiden, Gutachten und Urteilsformeln herumschlägt, die sich alle widersprechen.
4. Nach Meinung des Richters sollten wir, um Zeit zu sparen, am besten heiraten.
5. Bereite also alle Unterlagen vor. Ich umarme und küsse Dich. Salvo
p.s. Ein Notar aus Vigàta, mit dem ich befreundet bin, wird einen Fonds von einer halben Milliarde verwalten, der auf Francois' Namen angelegt ist und über den er verfügen kann, wenn er volljährig ist. Ich finde es richtig, daß »unser« Sohn offiziell in dem Augenblick geboren wird, in dem er unser Haus betritt, aber mehr als richtig finde ich es, daß die Frau, die seine richtige Mutter war und der das Geld gehörte, ihm dabei hilft, sein Leben zu bestreiten.
»IHR VATER IST AM ENDE WENN SIE IHN NOCH MAL SEHEN WOLLEN DÜRFEN SIE KEINE ZEIT VERLIEREN. PRESTIFILIPPO ARCANGELO.«
Montalbano hatte diese Nachricht erwartet, aber als er sie las, kehrte der Schmerz zurück, dumpf wie damals, als er von der Krankheit seines Vaters erfahren hatte, aber schlimmer noch durch die Angst vor dem, was jetzt seine Pflicht war - sich über das Bett zu beugen, seinem Vater die Stirn zu küssen, den brüchigen Atem des Sterbenden zu hören, ihm in die Augen zu sehen, irgendwas Tröstliches zu sagen.
Würde er die Kraft dazu haben? Schweißgebadet dachte er, daß dies die unvermeidliche Prüfung war, wenn es wirklich notwendig war, erwachsen zu werden, wie Professor Pintacuda gesagt hatte.
Francois soll später einmal keine Angst vor meinem Tod haben, dachte er. Und bei diesem Gedanken, der ihn schon deshalb erstaunte, weil er ihn gedacht hatte, wurde es ihm vorübergehend leichter ums Herz.
An der Ortseinfahrt von Valmontana sah er nach vier Stunden Fahrt ein Schild, das den Weg zur Porticelli-Klinik anzeigte.
Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz der Klinik ab und stieg aus. Er spürte sein Herz direkt unter dem Adamsapfel klopfen.
»Ich heiße Montalbano. Mein Vater ist hier Patient, ich möchte ihn besuchen.«
Der Mann an der Information sah ihn kurz an und wies dann auf einen kleinen Raum.
»Nehmen Sie bitte Platz. Ich rufe Professor Brancato.« Er setzte sich in einen Sessel und nahm eine der Zeitschriften, die auf dem Tischchen lagen. Er legte sie gleich wieder hin; seine Hände waren so schweißnaß, daß das Deckblatt sofort feucht geworden war.
Der Professore kam herein, ein ernster Mann um die Fünfzig im weißen Kittel. Er drückte dem Commissario die Hand.
»Signor Montalbano? Es tut mir wirklich leid - Ihr Vater ist vor zwei Stunden sanft entschlafen.«
»Danke«, sagte Montalbano.
Der Professore sah ihn etwas irritiert an. Aber der Commissario dankte nicht ihm.