Sechzehn
Obwohl Montalbanos Büro am anderen Ende des Kommissariats lag, hörte er das Geschrei, das sich erhob, als Fazio mit der Witwe im Wagen eintraf. Es waren zwar nur ein paar Journalisten und Fotografen da, aber denen mußten sich Dutzende von Nichtstuern und Neugierigen angeschlossen haben.
»Signora, warum hat man Sie verhaftet?«
»Schauen Sie hierher, Signora!«
»Lassen Sie uns durch!«
Dann wurde es relativ ruhig, und es klopfte an seiner Tür. Fazio kam herein. »Wie war's?«
»Sie hat keinen großen Widerstand geleistet. Sie hat sich erst aufgeregt, als sie die Journalisten gesehen hat.«
»Und ihr Sohn?«
»Ein Mann stand neben ihr auf dem Friedhof, dem alle kondolierten. Ich hielt ihn für den Sohn. Aber als ich zu der Witwe sagte, daß wir sie mitnehmen, hat er sich umgedreht und ist weggegangen. Das kann nicht ihr Sohn gewesen sein.«
»Doch, Fazio, das war er. Er ist ein zartes Seelchen und erträgt den Anblick seiner verhafteten Mutter nicht. Der Gedanke an die Anwaltskosten versetzt ihn in Angst und Schrecken. Laß die Signora rein.«
»Comu a una latra! Wie eine Diebin behandelt man mich!« rief die Witwe empört, sobald sie vor dem Commissario stand.
Montalbano setzte ein strenges Gesicht auf. »Habt ihr die Signora etwa schlecht behandelt?!« Drehbuchmäßig tat Fazio ganz verlegen. »Na ja, es war doch eine Verhaftung…«
»Hat irgend jemand was von Verhaftung gesagt? Setzen Sie sich doch, Signora, und bitte entschuldigen Sie dieses bedauerliche Mißverständnis. Wir brauchen nur ein paar Minuten, gerade so lange, bis wir Ihre Aussage zu Protokoll genommen haben. Dann sind Sie auch schon fertig und können nach Hause gehen.«
Fazio setzte sich an die Schreibmaschine, Montalbano ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Die Witwe schien sich wieder beruhigt zu haben, aber der Commissario sah, wie ihre Nerven unter der Haut hüpften wie Flöhe auf einem streunenden Hund.
»Signora, korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre. Sie sagten, wie Sie sich bestimmt erinnern, daß Sie an dem Morgen, als Ihr Mann ermordet wurde, aufstanden, ins Badezimmer gingen, sich dort anzogen, ihre Handtasche aus dem Eßzimmer holten und dann die Wohnung verließen. Stimmt das?«
»Stimmt genau.«
»Ist Ihnen zu Hause nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Was sollte mir denn auffallen?«
»Zum Beispiel, daß die Tür zum Arbeitszimmer, anders als sonst, geschlossen war.«
Das war auf gut Glück gesagt, er hatte jedoch ins Schwarze getroffen. Die Gesichtsfarbe der Signora wechselte von rot zu weiß. Aber ihre Stimme war fest. »Ich glaube, sie war offen, mein Mann hat sie nie zugemacht.«
»O nein, Signora. Als ich nach Ihrer Rückkehr aus Fiacca zusammen mit Ihnen die Wohnung betrat, war die Tür geschlossen. Ich habe sie dann aufgemacht.«
»Es ist doch egal, ob sie offen oder zu war.«
»Sie haben recht, das ist völlig nebensächlich.« Die Witwe konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken.
»Signora, an dem Morgen, als Ihr Mann umgebracht wurde, fuhren Sie nach Fiacca, um Ihre kranke Schwester zu besuchen. Stimmt das?«
»So war es.«
»Aber Sie hatten etwas vergessen. Deshalb stiegen Sie an der Abzweigung in Cannatello aus dem Bus, warteten auf den Bus aus der Gegenrichtung und fuhren nach Vigàta zurück. Was hatten Sie denn vergessen?« Die Witwe lächelte, auf diese Frage war sie vorbereitet. »Ich bin an jenem Morgen in Cannatello nicht ausgestiegen.«
»Signora, wir haben zwei Busfahrer, die es bezeugen.«
»Die haben schon recht, aber das war nicht an dem Morgen, sondern zwei Tage vorher. Die Busfahrer irren sich im Tag.«
Sie war gewieft und schlagfertig. Jetzt mußte die Falle her. Montalbano öffnete eine Schublade in seinem Schreibtisch und holte das Küchenmesser heraus, das in einer Zellophantüte steckte.
»Mit diesem Messer, Signora, wurde Ihr Mann ermordet. Ein einziger Stich in den Rücken.«
Die Witwe änderte ihren Gesichtsausdruck nicht und sagte kein Wort.
»Haben Sie es schon mal gesehen?«
»Solche Messer gibt es überall.«
Langsam griff der Commissario noch mal in die Schublade und holte die Zellophantüte mit der Tasse heraus. »Kennen Sie diese Tasse?«
»Haben Sie sie genommen? Ich habe sie überall gesucht und meine ganze Wohnung auf den Kopf gestellt!«
»Sie gehört also Ihnen. Sie erkennen Sie offiziell.«
»Natürlich. Was wollen Sie denn mit dieser Tasse?«
»Ich brauche sie, um Sie hinter Gitter zu bringen.« Unter allen möglichen Reaktionen entschied sich die Witwe für eine, die der Commissario fast bewundernswert fand. Denn die Signora wandte ihren Kopf Fazio zu und fragte freundlich, als sei sie zu einem Höflichkeitsbesuch gekommen: »Spinnt der jetzt?«
Fazio hätte am liebsten offen und ehrlich geantwortet, daß der Commissario seiner Meinung nach von Geburt an nicht richtig ticke, aber er hielt den Mund und starrte aus dem Fenster.
»Ich erzähle Ihnen jetzt, was geschehen ist«, sagte Montalbano. »Also, an jenem Morgen klingelt der Wecker, Sie stehen auf und gehen ins Bad. Sie müssen an der Tür zum Arbeitszimmer vorbei und sehen, daß sie geschlossen ist. Sie denken sich erst nichts dabei, aber dann fällt es Ihnen wieder ein. Und als sie aus dem Bad kommen, öffnen Sie die Tür. Aber ich glaube nicht, daß Sie reingegangen sind. Sie bleiben einen Augenblick auf der Schwelle stehen, gehen in die Küche, holen ein Messer und stecken es in Ihre Handtasche. Dann gehen Sie aus dem Haus, nehmen den Bus, steigen in Cannatello aus, steigen um in den Bus nach Vigàta und fahren wieder heim. Sie öffnen die Tür und sehen Ihren Mann, der gerade die Wohnung verlassen will. Es kommt zu einem Streit, Ihr Mann öffnet die Tür des Fahrstuhls, der schon in Ihrer Etage ist, weil Sie ihn gerade benutzt haben, Sie folgen ihm, stechen ihn nieder, Ihr Mann dreht sich halb um sich selbst und fällt zu Boden. Sie setzen den Fahrstuhl in Bewegung, fahren ins Erdgeschoß und verlassen das Haus. Und niemand sieht Sie. Das war Ihr großes Glück.«
»Und warum soll ich das getan haben?« fragte die Signora ruhig. Und fügte mit einer für den Ort und die Situation unglaublichen Ironie hinzu:
»Nur weil mein Mann die Tür zum Arbeitszimmer zugemacht hatte?«
Montalbano deutete im Sitzen eine bewundernde Verbeugung an.
»Nein, Signora, weil hinter dieser Tür etwas war.«
»Und was war da?«
»Karima. Die Geliebte Ihres Mannes.«
»Aber Sie haben doch gerade selbst gesagt, daß ich gar nicht in dem Zimmer war!«
»Sie brauchten nicht reinzugehen. Es kamen Ihnen nämlich Parfumschwaden entgegen, von demselben Parfüm, das Karima überreichlich benutzte. Es heißt Volupté. Es ist sehr intensiv und hält lange an. Der Duft hing auch in den Kleidern Ihres Mannes, und Sie haben ihn wahrscheinlich schon öfter gerochen. Als ich an dem Abend, als Sie heimkamen, das Arbeitszimmer betrat, roch es dort immer noch danach, wenn auch weniger stark.« Die Witwe Lapecora schwieg; sie dachte über die Worte des Commissario nach.
»Darf ich Sie was fragen?« erkundigte sie sich dann. »Was Sie wollen.«
»Warum bin ich Ihrer Meinung nach nicht in das Arbeitszimmer gegangen und habe erst diese Frau umgebracht?«
»Weil Ihr Gehirn präzise wie eine Schweizer Uhr und schnell wie ein Computer funktioniert. Wenn Karima gesehen hätte, daß die Tür aufgeht, wäre sie auf der Hut gewesen und hätte sofort reagieren können. Ihr Mann, der auf das Geschrei hin sofort gekommen wäre, hätte Sie mit Karimas Hilfe entwaffnet. Aber Sie taten, als hätten Sie nichts gemerkt, um die beiden kurz darauf in flagranti erwischen zu können.«
»Und wie erklären Sie sich - wenn man Ihren Gedankengängen folgt -, daß nur mein Mann umgebracht wurde?«
»Als Sie zurückkamen, war Karima nicht mehr da.«
»Sagen Sie mal, wer hat Ihnen diese hübsche Geschichte eigentlich erzählt, Sie waren doch gar nicht dabei?«
»Ihre Fingerabdrücke auf der Tasse und auf dem Messer.«
»Auf dem Messer nicht!« fuhr sie auf.
»Warum nicht auf dem Messer?«
Die Signora biß sich auf die Lippen.
»Die Tasse gehört mir, das Messer nicht.«
»Auch das Messer gehört Ihnen, es ist ein Fingerabdruck von Ihnen drauf. Klar und deutlich.«
»Das kann gar nicht sein!«
Fazio starrte seinen Chef an, er wußte, daß auf dem Messer kein Fingerabdruck war; das war der heikelste Moment des Bluffs.
»Sie gehen davon aus, daß es keine Fingerabdrücke gibt, weil Sie Handschuhe trugen, als Sie Ihren Mann niederstachen. Die hatten Sie angezogen, als Sie sich vor der Abreise in Schale warfen. Aber wissen Sie, Signora, der Fingerabdruck, den wir abgenommen haben, stammt nicht von jenem Morgen, sondern vom Tag zuvor, als Sie mit dem Messer erst einen Fisch putzten und es dann saubermachten und in die Küchenschublade zurücklegten. Der Fingerabdruck ist nämlich nicht am Griff, sondern an der Klinge, und zwar genau an ihrem Ende. Und jetzt gehen Sie mit Fazio rüber, dann nehmen wir Ihre Fingerabdrücke ab und vergleichen sie.«
»Er war ein Schwein«, sagte Signora Lapecora, »und hat einen solchen Tod verdient. Er hat die Schlampe in meine Wohnung mitgenommen und sich den ganzen Tag mit ihr in meinem Bett vergnügt, wenn ich weg war.«
»Soll das heißen, Sie haben aus Eifersucht gehandelt?«
»Epirchi sinnò? Warum nicht?«
»Aber hatten Sie nicht schon drei anonyme Briefe bekommen? Sie konnten die beiden doch auch im Büro in der Salita Granet überraschen.«
»So etwas tue ich nicht. Mir ist das Blut zu Kopf gestiegen, als ich begriff, daß er die Nutte in meine Wohnung mitgenommen hatte.«
»Ich glaube, daß Ihnen das Blut schon ein paar Tage vorher zu Kopf gestiegen ist, Signora.«
»Wann denn?«
»Als Sie feststellten, daß Ihr Mann eine hohe Summe von seinem Bankdepot abgehoben hat.« Auch diesmal bluffte der Commissario. Er hatte Glück. »Zweihundert Millionen«, rief die Witwe wütend und verzweifelt. »Zweihundert Millionen für diese Nuttensau!« Daher also stammte ein Teil des Geldes auf dem Sparbuch.
»Wenn ich ihm nicht Einhalt geboten hätte, hätte der noch das Büro, die Wohnung und das Bankdepot durchgebracht!«
»Wollen wir jetzt das Protokoll aufnehmen, Signora? Aber vorher noch eine Frage: Was sagte Ihr Mann zu Ihnen, als er Sie kommen sah?«
»Er sagte: »Hau ab, ich muß ins Büro.« Vielleicht hatte er mit der Schlampe gestritten, die war schon weg, und er wollte hinter ihr her.«
»Signor Questore? Hier ist Montalbano. Ich wollte Ihnen sagen, daß ich Signora Lapecora gerade dazu gebracht habe, den Mord an ihrem Mann zu gestehen.«
»Gratuliere. Warum hat sie es getan?«
»Eigennutz, den sie als Eifersucht kaschiert. Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Kann ich eine kurze Pressekonferenz abhalten?« Keine Antwort.
»Signor Questore? Ich habe gefragt, ob ich…«
»Ich habe schon verstanden, Montalbano. Aber ich bin sprachlos vor Staunen. Sie wollen freiwillig eine Pressekonferenz abhalten? Ich kann es nicht glauben!«
»Aber es ist so!«
»In Ordnung, lassen Sie sich nicht aufhalten. Aber dann möchte ich von Ihnen hören, was dahintersteckt.«
»Sie behaupten also, daß Signora Lapecora schon lange von der Beziehung zwischen ihrem Mann und Karima gewußt hat?« fragte Galluzzos Schwager in seiner Eigenschaft als Korrespondent von »Televigata«.
»Ja. Aus immerhin drei anonymen Briefen, die ihr Mann ihr geschickt hatte.«
Sie begriffen nicht sofort.
»Meinen Sie damit, daß Signor Lapecora sich selbst bezichtigt hat?« fragte ein Journalist verblüfft. »Ja. Weil Karima begonnen hatte, ihn zu erpressen. Er hoffte auf eine Reaktion seiner Frau, die ihn aus der Situation, in die er sich gebracht hatte, erlöste. Aber die Signora schritt nicht ein. Und sein Sohn auch nicht.«
»Aber warum hat er sich dann nicht einfach an die Polizei gewandt?«
»Weil er einen großen Skandal befürchtete. Er hoffte auf die Hilfe seiner Frau, dann hätte die Angelegenheit sozusagen in der Familie bleiben können.«
»Und wo ist diese Karima jetzt?«
»Wir wissen es nicht. Sie ist mit ihrem kleinen Sohn untergetaucht. Eine Freundin von ihr, die sich wegen des Verschwindens von Mutter und Sohn Sorgen machte, hat sogar >Retelibera< gebeten, ein Foto von ihnen zu bringen. Aber bis jetzt ist keiner der beiden aufgetaucht.« Sie dankten und gingen. Montalbano grinste zufrieden. Das erste Puzzle war - nach dem vorgegebenen Schema - perfekt gelegt. Fahrid, Ahmed und Aisha gehörten nicht dazu. Wenn man diese drei passend einsetzte, sähe das Bild des Puzzles ganz anders aus.
Es war noch zu früh für die Verabredung mit Valente. Montalbano hielt vor dem Restaurant, in dem er schon das letzte Mal gewesen war. Er verputzte ein sauté di vongole col pangrattato, eine üppige Portion spaghetti in bianco con le vongole, einen rombo al forno con origano e limone caramellato und zur Abrundung einen sformatino di cioccolato amaro con salsa all'arancia. Als er fertig war, stand er auf, ging in die Küche und drückte dem Koch bewegt die Hand, ohne ein Wort zu sagen. Auf dem Weg zu Valentes Büro sang er im Auto aus voller Kehle: »Guarda come dondolo, guarda come dondolo, col twist…«
Valente bat Montalbano in einen Raum neben seinem Zimmer.
»Das haben wir schon öfter gemacht«, sagte er. »Wir lassen die Tür halb offen, und wenn du nicht gut hörst, kannst du mit diesem kleinen Spiegel sehen, was in meinem Büro vorgeht, wenn du ihn richtig einstellst.«
»Paß auf, Valente, es geht um Sekunden.«
»Laß uns nur machen.«
Commendatore Spadaccia kam in Valentes Büro; man sah sofort, daß er nervös war.
»Entschuldigen Sie, Dottor Valente, aber ich verstehe das nicht. Sie hätten doch auch in die Prefettura kommen können, dann würde ich nicht soviel Zeit verlieren. Ich habe nämlich viel zu tun.«
»Verzeihen Sie, Commendatore«, sagte Valente ekelhaft devot. »Sie haben vollkommen recht. Ich werde es wiedergutmachen und Sie nicht länger als fünf Minuten aufhalten. Es gibt nur noch eine Kleinigkeit zu klären.«
»Bitte.«
»Sie sagten mir letztes Mal, der Prefetto sei gewissermaßen aufgefordert worden…«
Der Commendatore hob gebieterisch die Hand, und Valente verstummte augenblicklich.
»Wenn ich das gesagt habe, dann habe ich mich falsch ausgedrückt. Sua Eccellenza ist nicht im Bilde. Im übrigen handelte es sich um einen Schwachsinn, wie er jeden Tag hundertmal vorkommt. Das Ministerium in Rom hat mich angerufen, Sua Eccellenza wird wegen solcher Scheißgeschichten nicht behelligt.«
Anscheinend hatte der Prefetto von seinem Stabschef eine Erklärung verlangt, nachdem ihn der falsche Journalist vom »Corriere« angerufen hatte. Es war wohl eine ziemlich lebhafte Unterredung gewesen, deren Echo in den starken Worten des Commendatore widerhallte. »Und weiter?« drängte Spadaccia.
Valente breitete die Arme aus; ein Heiligenschein schwebte über seinem Haupt. »Ich bin fertig«, sagte er.
Spadaccia stutzte und blickte um sich, als wollte er sich der Wirklichkeit vergewissern, die ihn umgab. »Heißt das, daß Sie keine weiteren Fragen an mich haben?«
»Genau.«
Spadaccia schlug mit der Hand so laut auf den Schreibtisch, daß sogar Montalbano im Nebenzimmer zusammenzuckte.
»Wenn Sie mich dermaßen verarschen, werde ich Sie dafür zur Rechenschaft ziehen!«
Wütend rauschte er hinaus. Montalbano lief ans Fenster; seine Nerven waren angespannt. Er sah, wie der Commendatore fluchtartig das Haus verließ und auf sein Auto zuging; der Chauffeur stieg aus, um ihm den Wagenschlag zu öffnen. Genau in diesem Augenblick entstieg einem eben angekommenen Streifenwagen Angelo Prestìa, den sogleich ein Polizeibeamter am Arm packte. Spadaccia und der Kapitän des Fischkutters standen sich fast Angesicht zu Angesicht gegenüber. Sie wechselten kein Wort, und jeder setzte seinen Weg fort.
Auf das Freudengewieher Montalbanos hin, das er manchmal ausstieß, wenn sich etwas in die richtige Richtung bewegte, stürzte Valente erschrocken ins Nebenzimmer.
»Was ist denn mit dir los?«
»Geschafft!« rief Montalbano.
»Setzen Sie sich da hin!« hörten sie einen Beamten sagen, der Prestia ins Büro geführt hatte.
Valente und Montalbano blieben, wo sie waren, zündeten sich eine Zigarette an, rauchten, ohne etwas zu sagen, und ließen den Kapitän der Santopadre derweil auf kleiner Flamme schmoren.
Ihre Gesichter verhießen gar nichts Gutes, als sie hereinkamen. Valente pflanzte sich hinter seinen Schreibtisch, Montalbano nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben ihn.
»Jetzt reicht's aber langsam!« fuhr der Kapitän die beiden an.
Ihm war nicht klar, daß er mit seinem aggressiven Gehabe Valente und Montalbano verriet, was ihm durch den Kopf ging: Er war nämlich überzeugt, Commendator Spadaccia sei gekommen, um zu bestätigen, daß er die Wahrheit gesagt habe. Er fühlte sich sicher, konnte sich also entrüstet zeigen.
Auf dem Schreibtisch lag eine dicke Aktenmappe, auf der in riesigen Lettern Angelo Prestia stand; dick war sie, weil sie einen Stoß alter Rundschreiben enthielt, aber das wußte der Kapitän nicht. Valente schlug sie auf und nahm Spadaccias Visitenkarte heraus.
»Die hast du uns gegeben, bestätigst du das?«
Der Übergang vom früheren »Sie« zum bullenmäßigen »du« beunruhigte Prestia.
»Klar bestätige ich das. Der Commendatore hat sie mir gegeben und gesagt, ich könnte mich an ihn wenden, falls ich nach der Reise mit dem Tunesier Scherereien kriegen sollte. Das habe ich auch getan.«
»Irrtum!« sagte Montalbano, kalt wie ein Fisch. »Aber das hat er gesagt!«
»Klar hat er das gesagt, aber sobald es brenzlig wurde, hast du dich nicht an ihn gewandt, sondern uns die Visitenkarte gegeben. Und diesen galantuomo damit in Schwierigkeiten gebracht.«
»Schwierigkeiten? Welche Schwierigkeiten denn?«
»In einen vorsätzlichen Mord verwickelt zu sein ist jawohl nicht lustig.« Prestia schwieg.
»Mein Kollege Montalbano«, mischte sich Valente ein, »erklärt dir gerade den Grund dafür, warum die Sache so gelaufen ist.«
»Wie denn?«
»Wenn du Spadaccias Visitenkarte nicht uns gegeben, sondern dich direkt an ihn gewandt hättest, hätte er versucht, unterderhand alles in Ordnung zu bringen. Du aber hast die Polizei eingeschaltet, als du uns die Visitenkarte gegeben hast. Spadaccia hatte also gar keine andere Wahl, als alles abzustreiten.«
»Wie bitte?!«
»Sissignore. Spadaccia hat dich nie gesehen und nie von dir gehört. Er hat eine Erklärung abgegeben, die wir in unseren Akten haben.«
»Dieses Schwein!« knurrte Prestia und fragte: »Und wie soll ich Ihrer Meinung nach zu seiner Visitenkarte gekommen sein?«
Montalbano lachte lauthals.
»Auch da hat er dich sauber angeschmiert«, sagte er. »Er hat uns die Fotokopie einer Anzeige gebracht, die er vor zehn Tagen bei der Questura in Trapani erstattet hat. Sein Portemonnaie war ihm gestohlen worden, in dem unter anderem auch vier oder fünf - ich weiß nicht mehr genau - Visitenkarten waren.«
»Er hat dich über Bord geworfen«, sagte Valente.
»Und das Wasser ist ziemlich tief«, fügte Montalbano hinzu.
»Wer weiß, wie lange du schwimmen kannst«, setzte Valente noch eins drauf.
Große Schweißflecken zeichneten sich unter Prestias Achseln ab. Im Büro breitete sich ein unangenehmer Geruch nach Moschus und Knoblauch aus, den Montalbano in Gedanken faulig-grün nannte. Prestia stützte seinen Kopf in die Hände und murmelte: »Die haben mich reingelegt.«
Er blieb noch eine Weile so sitzen, dann faßte er offenbar einen Entschluß:
»Kann ich mit einem Anwalt sprechen?«
»Einem Anwalt?« fragte Valente sehr erstaunt. »Wozu brauchst du einen Anwalt?« fragte auch Montalbano.
»Ich dachte…«
»Was dachtest du denn?«
»Daß wir dich verhaften?«
Das Duo funktionierte wie am Schnürchen. »Verhaften Sie mich denn nicht?«
»Keineswegs.«
»Du kannst gehen, wenn du willst.«
Prestia brauchte fünf Minuten, bis er sich von seinem Stuhl trennen konnte, und nahm dann buchstäblich Reißaus.
»Und jetzt?« fragte Valente; ihm war klar, daß er in ein Wespennest gestochen hatte.
»Jetzt wird Prestia Spadaccia auf die Pelle rücken. Und sie sind mit dem nächsten Schachzug dran.« Valente machte ein besorgtes Gesicht. »Was hast du denn?«
»Ich weiß nicht… Ich hab' da meine Zweifel… Ich fürchte, sie bringen Prestia zum Schweigen. Und wir wären dafür verantwortlich.«
»Prestia spielt inzwischen eine zu große Rolle. Wenn sie ihn aus dem Weg räumen, können sie gleich ihre Unterschrift unter die ganze Geschichte setzen. Nein, ich bin überzeugt, daß sie ihn zwar zum Schweigen bringen werden, aber es wird sie einen Haufen Geld kosten.«
»Kann ich dich was fragen?«
»Natürlich.«
»Warum hängst du dich so in diese Geschichte rein?«
»Und du, warum hängst du dich mit rein?«
»Erstens weil ich genauso ein Bulle bin wie du, und zweitens amüsiere ich mich dabei.«
»Der erste Grund gilt auch für mich. Der zweite ist, daß ich mir einen Gewinn davon verspreche.«
»Was willst du denn da gewinnen?«
»Ich hab' genau im Kopf, was für mich dabei rausspringt. Und wetten, daß du auch was davon haben wirst?«
Fest entschlossen der Versuchung zu widerstehen, raste Montalbano mit hundertzwanzig Sachen an dem Restaurant vorbei, in dem er sich zu Mittag den Bauch vollgeschlagen hatte. Doch nach fünfhundert Metern vergaß er alle guten Vorsätze und bremste, woraufhin das Auto hinter ihm wie wild hupte. Als der Wagen ihn überholte, warf der Mann am Steuer ihm wütende Blicke zu und zeigte ihm die Hörner. Montalbano machte eine Kehrtwendung, was auf diesem Straßenabschnitt strengstens verboten war, ging schnurstracks in die Küche und fragte den Koch ohne ein Wort der Begrüßung: »Wie machen Sie denn die triglie di scoglio?«