Ein sehr, sehr seltsamer Tag 

Die Streichhölzer findet garantiert niemand mehr. Eine Schachtel habe ich sehr vorsichtig in der Erde vom Blumentopf-Gummibaum eingebuddelt. Danach habe ich die Erde wieder glatt gestrichen. Es fällt überhaupt nicht auf, dass da was vergraben wurde. Die zweite Schachtel liegt unter dem Teppich hinterm Sofa. Bis dorthin kommt kein Mensch, nicht mal mit dem Staubsauger. Das sieht man deutlich. Da liegt nämlich jede Menge Staub.

Na ja, jetzt ist er wenigstens nicht mehr alleine, der Staub.

Am Baum wird hier jedenfalls nicht gezündelt. Leider läuft meine Familie immer noch sehr aufgeregt herum. Was tue ich bloß, damit sie etwas ruhiger werden? Ob ich dem Papa einen großen Knochen bringe? Mich beruhigt die Kauerei sehr. Jawohl! Papa soll den Knochen zum Knabbern haben, sogar meinen Lieblingsknochen. Ich hole ihn unterm Sofakissen vor. Da habe ich ihn versteckt. Hm, das Kissen riecht jetzt schon fast so gut wie mein Knochen.

Ich lege den Knochen neben den Baum, an dem der Papa immer mehr Kugeln aufhängt. So ein schöner Knochen, Papa! Guck! Vorsicht! Du sollst gucken! Nicht noch mal stolpern, Großer. Schon passiert. . . und direkt über meinen Knochen. Der Papa schimpft sofort irgendwas von einem unmöglichen Köter. Ich glaube, der meint mich. »Köter!«, hat er gesagt. Hm . . . das überhöre ich doch glatt. Beleidigt greife ich mir den Knochen und verschwinde unter dem Sofa. Das Knabberding kriegt er nicht. Hat er gar nicht verdient.

Vielleicht sollte ich meine Familie rausschicken? Frische Luft beruhigt.

Ich renne zur Wohnungstür und jaule. Dann wissen sie, ich muss Gassi. Dabei muss ich jetzt eigentlich gar nicht. Aber sie sollten rausgehen. Unbedingt sogar. Vor allem der Papa und die Mama.

Für die zwei ist das sowieso sehr wichtig, mit mir rauszugehen, fällt mir ein. Wenn wir draußen sind, bücken sie sich nämlich immer nach Stöckchen. Die werfen sie dann in der Gegend herum. Ich bringe sie ihnen sofort zurück, damit sie sich noch mal bücken können. Das ist gesund für sie. Gymnastik. Komisch, sie glauben, glaube ich, dass das Stöckchenholen wichtig für mich wäre. Naja . . . meinetwegen sollen sie das glauben. Warum kommen sie denn nicht? Ich jaule noch mal vor der Wohnungstür. Aus der Küche höre ich ein Geräusch. Und wen sehe ich da? Die Mama. Und was tut sie? Sie schneidet sich so was Ähnliches wie Brot ab. Ganz dick. Stollen nennt sie es. Mit guter Butter, sagt sie immer dazu. Den Stollen futtert sie ziemlich gierig. Ich weiß genau, was jetzt kommt.

Ich kenn sie doch, die Mama.

Jawohl, sie säbelt sich noch so ein Stück »mit guter Butter« ab. Dann guckt sie an sich runter, Richtung Bauch, seufzt und sagt: »Das ist mein Verderben.«

Ich habe in letzter Zeit oft gesehen, wie sie Stollen futtert und seufzt, dass das ihr Verderben ist. Immer wieder steigt die Mama danach auf die Waage und stöhnt. Ich habe den Stollen auch mal probiert. Mein Geschmack ist er nicht. Die drei Kinder essen mal ein bisschen davon, aber Mama nascht am meisten. Papa sagt: »Sie teilt den Stollen genau. Die Hälfte für sich. Die andere Hälfte für den Rest der Familie.«

Sie mag wohl nicht, dass sie vom Naschen dicker wird. Das wird sie aber. Rundum. Ehrlich, ich find's ja schön. Für mich sieht sie rundlich irgendwie . . . hm . . . schmackhafter aus. Nach guter Butter und nicht so sehr nach dünnem Knochen. Genau.

Sie selbst gefällt sich zur Zeit leider nicht, wenn sie sich im großen Spiegel ansieht. Also . . . wenn ich zu viel futtere, nimmt die Mama mir immer das Futter weg. Ob ich das mit ihr auch mal mache? An der Haustür wird's sowieso langweilig. Die übersehen und überhören mich heute. Gassi gehen fällt aus. Gut, ich marschiere in die Küche. Die Mama guckt verträumt vor sich hin. In der Hand hält sie ein Stück von dem guten Butterding. Heimlich nehme ich das große Stück Stollen zwischen die Zähne und vom Tisch. Wohin damit? Ganz einfach, es passt prima unter die Elternbetten hinter die Pakete. Die Mama freut sich bestimmt, dass sie nicht mehr seufzen muss. Mutterschutz war das. Im Augenblick seufzt Mama auch nicht. Sie sagt zu den Kindern: »Zieht euch um! Und der Hund muss gekämmt werden.« Bloß nicht. Das sollen sie schnell vergessen. Die Kämmerei ziept nämlich.

Moment mal, ich glaube, dass ich was verstanden habe. Sie ziehen sich manchmal um, wenn sie weggehen. Wahrscheinlich gehen sie also weg . . . sozusagen Gassi. Und ich darf mit, denn ich soll ja noch gekämmt werden. Aber die Verwandtschaft kommt hierher, das ganze Familienrudel. Jetzt dämmert's mir. Klar . . . weil die Verwandtschaft kommt, geht meine Familie. Sonst wäre hier nicht genug Platz für die anderen.



Nur, was soll der Baum? Wahrscheinlich kommt er auch mit. Vielleicht hat man meine Straßenbäume draußen abgehackt. Das wäre dann der Ersatzbaum und sie schmücken ihn, damit er schön aussieht. Aber warum wollen sie ihn anzünden? Keine Ahnung. Man kann die Menschen eben nicht ganz verstehen, tröste ich mich. Ich ziehe zur Küchentür um. Herrlich duftet es dort. Vor allem der große Vogel riecht. . . hm . . . wunderbar. Dazu kommt noch ein Geruch. Irgendeine besonders gute Wurst muss das sein. Wo steckt die Mama? Ach . . . ich höre sie im Badezimmer. Dass der Stollen verschwunden ist, hat sie noch gar nicht bemerkt. Die Küchentür und die Speisekammertür sind beide weit offen. Sehr nett. Also, schwupp, auf leisen Sohlen in die Küche und zur Speisekammer geschlichen. Da steh ich vor einer unglaublich prachtvollen Wurst. Ein Duft. . . zum Verlieben. Zum Auffressen herrlich. Das halte ich nicht aus. Die hole ich mir.



Schon geschehen. Und jetzt husche ich unauffällig mit der Wurst im Maul über den Flur und suche uns ein gemütliches Plätzchen, meiner duftigen Wurst und mir. Keiner hat uns gesehen. Unter dem Wohnzimmersofa liege ich sehr gemütlich, die Wurst zwischen den Pfoten. Der Große hängt Sachen an den Baum, den er nachher anzünden möchte. Die Mama weiß das bestimmt und verbietet es ihm trotzdem nicht. Im Gegenteil, sie kommt rein und lobt ihn dafür, wie schön das alles aussieht. Verstehe ich nicht, aber die Wurst schmeckt. Naja . . . und das mit der Anzünderei kann er sowieso vergessen. Jetzt klopfen die Kinder an die Tür und fragen: »Wie lange dauert's denn noch?«

»Na . . . eine halbe Stunde«, antwortet die Mama. Warum klopfen die Kinder plötzlich? Das tun sie sonst nicht. Egal. . . noch ein Happen und die Wurst ist aufgefuttert. Leider. Lecker war's. Ich verziehe mich an die frische Luft. Das ist gut nach dem Essen. Und vielleicht vergessen sie in der Zwischenzeit, dass sie mich eigentlich kämmen und bürsten wollen. Diese Tierquäler. »Wo kommst du denn her?«, fragt der Papa, als ich unter dem Sofa vorkrieche. Dumme Frage. Er sieht doch, wo ich herkomme. Ich verschwinde in Richtung Haustür. Und der Papa macht die Wohnzimmertür hinter mir zu. Im Flur flüstern die Kinder miteinander. Der Kleinste schleicht gerade zur Wohnzimmertür und guckt durchs Schlüsselloch. He . . . das gefällt mir gar nicht. Ich muss das Weggehen wohl verschieben. Jetzt renne ich zum Kleinsten am Schlüsselloch und belle. »Psst«, machen die Kinder, Ich bin aber erst ruhig, als sie alle drei im Zimmer von Klaus verschwinden.

Da liegen noch mehr Päckchen. Und was tun die Kinder denn nun wieder Fürchterliches? Sie stellen sich nebeneinander. Ziehen jeder ein ganz ernstes Gesicht. Dann machen sie die Münder auf und geben ziemlich grässliche Töne von sich.

Ich jaule entsetzt und will flüchten. Leider ist die Tür zu. »Stör uns nicht«, sagt Susanne. »Wir üben.« Die Überei klingt katastrophal und sehr unverständlich. Nach schlimmstem Jaulen. Irgendwas mit »Stille Nacht« kommt darin vor. Wenn die Kinder nur still wären!



Aber im Gegenteil. Sie werden immer lauter.

Da hilft nur eines. Ich muss noch lauter jaulen.

So höre ich sie wenigstens nicht mehr.

Hoffentlich schaffe ich das.

Ich strenge mich wirklich riesig an. Jaule, so laut ich kann. Und sie jaulen auch.

Moment mal, jetzt klingt's etwas besser. Ich jaule ein wenig leiser und ähnlicher als sie. Und dann jaulen wir zusammen das von der »Stillen Nacht«.

Gut klingt das, finden sie. Naja. Ich meine mehr, dass es nicht mehr völlig unerträglich klingt.

Susanne schlägt vor: »Der Flocki muss nachher mitsingen! Er kann das prima.«

Aha, das ist also singen. Endlich lobt mich heute mal jemand. Sie sind ganz begeistert.

»Ein schöner gemischter Chor mit Hund«, sagt Klaus.

Nun meinen sie, dass wir genug geübt haben. Na gut. Sie lassen mich aus dem Kinderzimmer. Ich renne zur Haustür und belle. Der Kleinste ruft: »Flocki muss Gassi!« Er macht mir die Tür auf. Nett von ihm. Von meiner Familie will wohl keiner mit raus, obwohl sie es nötig hätten. »Der Hund ist nicht gekämmt!«, ruft Susanne hinter mir her.

Erst üben wir miteinander.

Dann so eine Gemeinheit.

»Alte Petze!«, knurre ich. Leider versteht sie mich nicht.