Ein sehr seltsamer Tag 

Aus dem Wohnzimmer höre ich laute Stimmen. Der Papa und die Mama streiten. Das ist immer sehr interessant. Nichts wie hin! Durch die geöffnete Zimmertür sehe ich sofort, dass sich die beiden um den Baum streiten. Will den jeder von ihnen haben? Dann sollen sie ihn doch gerecht teilen. Das empfehlen sie den Kindern auch, wenn die sich um irgendwas Schönes streiten.

Ne, es geht wohl doch um etwas anderes, denn der Papa sagt aufgeregt: »Hierhin kommt er! Da war er auch im letzten Jahr!« Er zeigt vor den Fernsehapparat und schleppt den Baum zu der Stelle.

Komisch, sie hatten den Baum im letzten Jahr schon.

Die Mama widerspricht: »Nein, hierhin kommt er!« 

Energisch zeigt sie vor die Musiktruhe und schleppt das Nadelding dorthin. »Aua! Der pikt!«, sagt sie auch noch.

Sie ziehen den Baum hin und her, der Papa und die Mama. Irgendwie sieht das fast so aus, als würden sich zwei meiner Kollegen um einen besonders guten Knochen zanken. Ob ich mich einmische?

Nicht mehr nötig. Endlich haben sie sich auf eine Stelle geeinigt. Der Baum kommt jetzt neben die Terrassentür.

Als Nächstes zwängen sie ihn in das geschmacklose vierfüßige Ding. Ob er damit laufen kann? Hopp . . . versuch's doch, Baum. Das würde gut aussehen.



Aber ne, er steht ganz ruhig und stur da. Bisher jedenfalls. Der Papa und die Mama wirken allerdings weniger ruhig. Sie sind sich nämlich wieder nicht einig. Und deswegen kommt plötzlich Bewegung in den Baum. Die Mama dreht ihn nämlich so, dass die Äste, die man bisher nicht gesehen hat, nach vorne zeigen.

Jetzt sieht man sie gut. Dann geht sie ein Stück zurück und verkündet: »Genauso muss der Baum stehen!« !

»Ne«, sagt der Papa. »Wenn er so steht, sieht man seine schönsten Äste gar nicht.« Und er dreht den Baum ein Stück zurück.

Diesmal ist die Mama nicht einverstanden. Ob das ein Spiel ist? Hin und her drehen sie den Baum und sie sagen:

»So steht er gut.«

»Nein, auf keinen Fall. Aber so!«

»Oder doch lieber so?«

Bei der Dreherei werden ihre Köpfe rot und immer röter. Man kann sie fast mit diesen Giftpilzen im Wald verwechseln. Nur dass Papa und Mama keine weißen Punkte haben. Hoffentlich verträgt der Baum die Dreherei. An seiner Stelle wäre mir schon längst schwindelig. Als der arme Kerl endlich genauso steht wie ganz am Anfang, verkünden sie beide: »Jetzt ist es richtig.«

Die Mama will in die Küche gehen. Da fällt ihr noch etwas ein. Sie fragt den Papa: »Wo hast du eigentlich die Kerzen?«

Wieso sucht sie Kerzen? Das elektrische Licht brennt doch! Wir haben keinen Stromausfall wie vor ein paar Wochen. Naja, wahrscheinlich kommt er noch, der Stromausfall. Nun sagt der Papa: »Die Kerzen wolltest du mitbringen.«

»Ne, du«, kommt von ihr zurück.

»Ich weiß genau, dass du gesagt hast, ich bringe rote Kerzen mit«, behauptet er.

»Das kann gar nicht sein«, meint sie, »ich will nämlich gelbe.«

Da rufen sie beide: »Klaus!« Das ist der Älteste. Und es passiert noch ein Wunder. Klaus kommt sofort, als sie nach ihm rufen. Sonst trödelt er sehr.

»Lauf bitte schnell zum Kiosk und kauf vier Kartons rote Kerzen«, sagt Papa.

»Ne . . . gelbe«, sagt Mama.

»Also gut, zwei Kartons rote und zwei Kartons gelbe«, entscheidet Klaus. Im nächsten Augenblick rennt er los. Mensch, der hat es eilig und vier Kartons Kerzen will er holen.

Dann gibt es bestimmt lange keinen Strom. Jetzt höre ich Mama und sie klingt aufgeregt: »Es ist schon viel zu spät. Wir müssen uns beeilen. Die Verwandtschaft kommt in eineinhalb Stunden.«

Sie rast fast so schnell in die Küche, wie der Nachbarhund rast, wenn er vor mir davonläuft. Endlich verstehe ich was. Das wird heute eine Familienversammlung. Stromausfall und Rudeltreffen. Ganz klar.

Aber ne . . . dahinter steckt wahrscheinlich doch mehr. Der Papa steht nämlich im Wohnzimmer und sägt an den untersten Zweigen vom Baum herum. So was tut er nie, wenn die Verwandtschaft anrückt. Naja klar, auf die Idee kann er sonst auch gar nicht kommen, weil es normalerweise keine Bäume bei uns im Wohnzimmer gibt. Ob er Ast für Ast vom Baum absägt? Wahrscheinlich kriegt dann jeder Verwandte ein Stück Baum in die Pfoten. Ne . . . Hände heißt das ja bei denen. So wäre das grüne Ding portionsweise und gerecht verteilt. Aber warum zwängen sie den Baum vorher in einen Ständer? Und warum streiten sie, wo er stehen soll, wenn sie ihn danach Ast für Ast verschenken wollen?

Oje, ist das heute alles schwierig.

So . . . der Papa hört mit der Sägerei auf. Die meisten Zweige hat er dem Baum gelassen. Nur die untersten fehlen. Jetzt kommt Susanne zu ihm und zeigt ihm etwas. »Ist schön geworden«, flüstert er, »sehr schön.«

In dem Augenblick öffnet Mama die Wohnzimmertür. Susanne versteckt das schöne Ding hinterm Rücken und drückt sich an Mama vorbei.

Aha, Geheimnisse haben sie voreinander. Aber sonst tun sie so, als würden sie sich alles erzählen. Da spiele ich nicht mit. Los! Und hinter Susanne her. Ich werde ihr das geheimnisvolle Ding abjagen und es der Mama bringen. Schließlich gibt sie mir immer das Futter. Mama soll auch mal was von mir kriegen. Ich springe an Susanne hoch und habe es schon fast im Maul, das geheimnisvolle Päckchen. Da wird Susanne giftig und schimpft: »Lass das! Verschwinde!« Sie stößt mich weg. So eine Gemeinheit. Ich gebe auf und suche mir ein Plätzchen zum Ausruhen und Nachdenken.

Unter den Elternbetten im Schlafzimmer würde ich es mir gerne bequem machen. Die Schlafzimmertür steht offen. Aber da sehe ich lauter Pakete unter den Betten. Komisch. Das soll wohl die neue Abstellkammer werden? Ob ich sie öffne, die Pakete? Mal daran schnüffeln. Das erste riecht ja nicht besonders aufregend. Weiter hinten liegt eins, das viel spannender riecht.

Ich schiebe mich tief unter das Bett und ziehe das interessante Paket nach vorne. Dann zerre ich am Papier.

Hach . . . ich höre das richtig gerne, wenn Papier reißt. Bin nur gespannt, was da so toll und bunt eingepackt ist. Ich fetze daran herum. Leider stört mich jetzt die Mama. Sie kommt rein und jault entsetzt: »Flocki! Nicht! Lass das!« Die gönnt mir auch gar nichts. Schade. Sie ist wohl neidisch, weil sie keine so guten Zähne hat, die Mama.

An der Haustür klingelt's. Mensch, heute ist wirklich was los bei uns. Aber Moment mal, so klingelt nur mein Lieblingsfeind. Der Mann vom Paketauto. Er treibt sich in den letzten Tagen überhaupt auffallend oft bei uns herum.



Dem werde ich es zeigen! Ich belle, so laut ich kann, und rase zur Wohnungstür. Mama rast hinter mir her. Die ist heute ausgesprochen flink. Prima Wettlauf. Macht Spaß. Und Mama holt mich erst an der Wohnungstür ein. Ich belle mir die Lunge aus dem Hals, als Mama dem Mann die Tür öffnet. Oh, was der zu uns in die Wohnung schleppt. Hinter den Paketen erkenne ich ihn kaum, aber er ist es. Ich riech's deutlich.

Mama nimmt ihm die Pakete ab und bedankt sich. Ich belle noch mal sehr laut und schnappe nach ihm. Weg ist der Mann.

»Flocki, du Nervensäge!«, schimpft Mama mit mir. Was hat sie denn? Die sind heute alle viel größere Nervensägen als ich.

Warum liefert der Postmensch zurzeit eigentlich so viele Pakete bei uns ab? Findet er keinen, dem er sie sonst geben könnte?

Ach . . . das ist schon wieder eine Sache, die ich nicht verstehe.

Wohin verkrieche ich mich jetzt? Unter den Betten ist ja leider alles besetzt. Vielleicht versuche ich es noch einmal unter dem Sofa im Wohnzimmer?



Von dort habe ich eine gute Übersicht. Schon liege ich da. Das ist ein gemütliches Plätzchen. Klaus kommt gerade mit den Kerzenkartons zurück. Außerdem ruft der Papa ganz erschreckt: »Schon so spät! Und der Baum ist immer noch nicht fertig!« Ein neues Rätsel. Wieso ist der Baum immer noch nicht fertig? Was soll das heißen? Wächst er weiter? Das glaube ich nicht. Außerdem würde er dann zu groß für das Zimmer. Prächtig und grün steht das alte Nadelding auf seinen vier Füßen. Da passiert schon wieder was Komisches. Sie lassen ihn nicht einfach so stehen, den Baum. Nein, sie hängen bunte Bälle daran. Seltsam, seltsam.

Der Papa und der Klaus gehen in die Küche. Ich muss mir die Bälle mal aus der Nähe ansehen. Durchsichtig sind die meisten. Ein paar sehen farbig aus, rot, gelb und blau. Solche Bälle habe ich vorher noch nie gesehen. Wir spielen oft mit Bällen, die Kinder und ich. Die Dinger springen so schön, wenn man mit der Pfote kräftig draufhaut. Ob die am Baum das auch können? Ich haue mal gegen den roten Ball da vorne. Nur ein bisschen.



Ja ... er pendelt und hüpft. Ich haue noch einmal dagegen. Diesmal stärker. Auweia. Der platzt ja und fällt auseinander. Ein doofer Ball ist das. Aber wahrscheinlich stellt sich nur der rote so an. Jetzt probiere ich den kleinen gelben.

Leider ist der genauso doof. Liegt hier in tausend Stücken herum. Mit diesen Bällen will ich nichts mehr zu tun haben. Ich verstecke mich wieder unter dem Sofa. Sollen der Klaus und der Papa doch alleine mit den Bällen spielen.

Da kommen sie schon. Und der Papa schimpft sofort los: »Wer hat die Kugeln zerbrochen?« Ach, diese Bälle heißen Kugeln. Auch gut. Man kann ja nicht alles wissen. Ich bleibe jetzt wohl besser ganz still liegen und tue so, als wäre ich gar nicht im Zimmer. Der Papa beruhigt sich schnell wieder. Schließlich hat er noch mehr Kugeln. Und während er sie an die Zweige hängt, fragt Klaus: »Wann zünden wir den Baum an?« Ne, das gibt es nicht! Baum anzünden in der Wohnung. Das dürfen sie nicht. Die machen heute nur Quatsch. Mit zwei Sätzen springe ich zum Baum. Ich stelle mich davor und knurre jeden an, der näher kommt. Im Notfall werde ich auch beißen. Ich zeige ihnen schon mal meine Zähne, diesen Brandstiftern.

»Ich kann den Baum nicht schmücken, wenn mich der verrückte Kerl nicht ranlässt«, schimpft der Große.

Wer ist denn hier verrückt, hm? Erst den Baum schmücken und dann anzünden. Ich bin ganz verwirrt und verstehe gar nichts mehr. Sie sind ja sonst wirklich ziemlich normale, nette Leute. Aber heute ist irgendeine Schraube bei ihnen locker.

Eigentlich hat das schon vor ein paar Tagen angefangen. Auf einmal wurden sie alle sehr aufgeregt. Dann sind sie nicht mehr zur Schule und zur Arbeit gegangen. Wahrscheinlich ist es irgendwas mit den Nerven. Etwas sehr Ansteckendes.

Glücklicherweise habe ich eine Idee. Zum Baumanzünden brauchen sie doch garantiert diese kleinen Hölzchen mit rotem Kopf, die sie aus einer Schachtel nehmen. Streichhölzer nennen sie die.

Ich weiß genau, wo sie liegen. In der Küche, und zwar im offenen Schrank links neben der Tür. Tja, das mit dem Baumanzünden fällt wohl aus, meine Herrschaften. So einen Blödsinn macht ihr nicht, wenn ich das nicht will. Unauffällig pirsche ich in die Küche. Wirklich, da liegen die Streichhölzer ganz ordentlich, zwei Schachteln. Schon habe ich sie mir geschnappt.