Bevor es eine Literatur über die Mafia gab, gab es eine Literatur der Mafia, in der die Vorläufer der Ehrenmänner als positive Persönlichkeiten beschrieben wurden. Den Anfang machte der erfolgreiche Roman des Sizilianers Luigi Natoli alias William Galt, I Beati Paoli, der 1909 und 1910 in der Zeitung Giornale di Sicilia veröffentlicht wurde. (Dt.: Der Roman der Beati Paoli, Teil 1: Der Bastard von Palermo, Teil 2: In den Katakomben von Palermo, 1996 bzw. 1998.)
Die Beati Paoli könnte man als die Urahnen der Mafiosi betrachten, und nicht zufällig erinnerte Tommaso Buscetta in einer seiner ersten Aussagen als Kronzeuge daran, dass die Mafia »nicht erst jetzt entstanden ist, sie kommt aus der Vergangenheit. Am Anfang waren die Beati Paoli, die an der Seite der Armen gegen die Reichen kämpften […]. Und wir haben denselben Schwur geleistet, wir haben dieselbe Verpflichtung.«
In Wirklichkeit fehlt jeder sichere Beleg für die Existenz der Beati Paoli zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert. Zwar gab es bereits im 12. Jahrhundert in Palermo eine Geheimsekte oder Bruderschaft, sie trug jedoch den Namen Setta dei Vendicosi, Sekte der Rächer. Die mit Kapuzen verhüllten Männer trafen sich in Grotten und Höhlen, die nur über unterirdische Gänge erreichbar waren, wie sie das palmermitanische Viertel Capo heute noch durchziehen, und waren die Rächer und Beschützer der Unterdrückten gegen die Übermacht des Adels. Der Mafioso Salvatore Contorno hatte in seiner Familie aus dem Viertel Santa Maria del Gesù den Beinamen Coriolano della Floresta. So heißt der Titelheld eines weiteren Romans, den Luigi Natoli nach dem großen Erfolg der Beati Paoli schrieb und der den Geist der Mafia atmet.
Die am deutlichsten »heroische« Interpretation der Mafia jedoch stammt von dem palermitanischen Schriftsteller und Ethnologen Giuseppe Pitrè. Er schrieb Ende des 19. Jahrhunderts (Usi e costumi, credenze e pregiudizi del popolo siciliano, 1889), der Mafioso sei »kein Räuber und kein Gauner […]. Der Mafioso ist nur ein beherzter und tapferer Mann, der sich nichts gefallen lässt, und in diesem Sinn ist es geboten, ja unerlässlich, ein Mafioso zu sein […]. Die Mafia ist das Bewusstsein des eigenen Seins, die übersteigerte Vorstellung von der Macht des Individuums.«
Franchettis und Sonninos Untersuchung über Sizilien aus dem Jahr 1876 einmal ausgeklammert, tritt in der Literatur erst mit Leonardo Sciascia und mit Michele Pantaleone (Mafia e politica von 1962 und L’industria del potere von 1972) ein grundsätzlich anderes Bild der Mafia hervor.
Die große sizilianische Literatur von Verga über Pirandello, Capuana und Brancati bis hin zu Vittorini interessierte sich nicht für dieses Thema. In Pirandellos Werken tauchen zwar mafiose Figuren auf, aber sie werden nie als Mafiosi bezeichnet. Und bei Verga findet sich nur etwas Unausgesprochenes. Er lässt die Mafia zwar gelegentlich auftreten, nennt sie aber gleichfalls nie beim Namen. Die Mafia wurde erstmals von Giuseppe Tomasi di Lampedusa literarisch behandelt. In seinem Roman Il gattopardo (Der Leopard) erzählt er vom Übergang der großen Grundbesitzungen vom Landadel auf das Bürgertum Mitte des 19. Jahrhunderts. Und es fällt der berühmte Satz: »Wir waren die Leoparden, die Löwen. Unseren Platz werden die Schakale einnehmen, die Hyänen.« Hier, in dieser Umbruchszeit, liegt der eigentliche historische Ursprung der sizilianischen Mafia.
Der gegen Leonardo Sciascia erhobene Vorwurf, er sei von der Mafia »verhext« worden, ist sehr kleinlich. Er entstand im Zuge der Polemik nach Erscheinen seines erwähnten Artikels über die »Professionisti dell’Antimafia« (»Die Antimafia-Karrieristen«) im Jahr 1987, wo er beklagt, dass auch der Kampf gegen die Mafia zu einem machtpolitischen Instrument werden könne. Sciascias Überlegungen hatten durchaus einen wahren Kern, wenn man sieht, wie man auch heute mit Hilfe der Antimafia Karriere machen kann und wie schnell sich so mancher zu einem Mafiagegner stilisiert, obwohl er ganz andere Interessen verfolgt. Mit den Beispielen allerdings, auf die er sich bezog – Paolo Borsellino, damals Leitender Oberstaatsanwalt von Marsala, und Leoluca Orlando, damals Bürgermeister von Palermo –, lag Sciascia eindeutig daneben. Sizilien brauchte in jenen Jahren einen Wandel, einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit, und die Antimafia-Kämpfer Borsellino und Orlando standen – jeder auf seine Weise – für diesen Bruch.
Man darf jedoch den sizilianischen Schriftsteller nicht auf diese Polemik festnageln und alles ausklammern, was er zuvor geschrieben und gesagt hatte. Sciascia wurde von beiden Seiten gnadenlos vereinnahmt. Viele vergaßen, was er über den Wandel der Mafia von einer ländlich zu einer städtisch geprägten Organisation und insbesondere über ihre Ausbreitung in ganz Italien geschrieben hatte. Bereits 1979 hatte Sciascia in einem in Buchform erschienenen Interview mit der französischen Journalistin Marcelle Padovani, La Sicilia come Metafora (»Sizilien als Metapher«), von der »Palmengrenze« gesprochen, »die fünfzig Meter im Jahr vom Süden in den Norden hinaufwandert«. Diese »Palmengrenze« stand für die Infizierung Italiens durch ein ganz bestimmtes Sizilien, für die Infizierung durch die Mafia, für die »Sizilianisierung Italiens«.
Sciascias Artikel über die »Professionisti dell’Antimafia« entwertete in den Augen seiner Gegner alles, was er jemals über Sizilien geschrieben und mitgeteilt hatte. Man stellte sein zivilgesellschaftliches Engagement in Frage, überprüfte akribisch jede Zeile seines Romans Il giorno della civetta (1961. Dt. 1964: Der Tag der Eule) und warf ihm eine unpolitische Haltung, Indifferenz, die Stilisierung des Mafioso zum Mythos und einen abgrundtiefen Zynismus vor.
»Ich«, fuhr Don Mariano dann fort, »besitze eine gewisse Welterfahrung. Und was wir die Menschheit nennen – und wir nehmen den Mund gewaltig voll mit diesem schönen, hochtrabenden Wort Menschheit –, teile ich in fünf Kategorien ein: die Menschen, die Halbmenschen, die Menschlein, die (mit Verlaub gesagt) Arschkriecher und die Blablas […]. Ganz selten sind die Menschen, selten auch die Halbmenschen. Und ich wär’s zufrieden, wenn die Menschheit bei den Halbmenschen aufhörte […]. Aber nein, sie steigt noch tiefer hinab zu den Menschlein. Die sind wie die Kinder, die sich erwachsen vorkommen, Affen, die die gleichen Bewegungen wie die Großen machen […]. Und noch weiter unten die Arschkriecher, die schon ein ganzes Heer bilden […]. Und schließlich die Blablas, die wie die Enten in Tümpeln leben müssten. Denn ihr Leben hat nicht mehr Sinn und Verstand als das der Enten […]. Sie, auch wenn Sie mich auf diese Akte festnageln wollen, Sie sind ein Mensch […].«
»Sie ebenfalls«, sagte der Hauptmann gereizt.
Aus: Leonardo Sciascia, Der Tag der Eule;
dt. Übersetzung von Arianna Giachi
Der Erste, der Sciascia attackierte, war der Soziologe Pino Arlacchi. Ein paar Jahre später, wenngleich in einem anderen Ton und mit anderen Argumenten, folgte der Philosoph Manlio Sgalambro: »Hören wir endlich auf, die Verhältnisse in Sizilien mit dem Phänomen der Mafia zu erklären.« Ihm hielt Vincenzo Consolo, ein anderer großer sizilianischer Schriftsteller, entgegen: »Wenn Sgalambro so denkt, dann soll er uns doch sagen, dass die Mafia am Ende ist, dass Sizilien ein Paradies geworden ist, die beste aller möglichen Welten.« Nicht nur die real existierende Mafia, sondern auch ihr Bild in der Literatur spaltete also die Sizilianer, ließ die Emotionen hochkochen und alte Freundschaften zerbrechen. Ein neues Kapitel dieser nie endenden Auseinandersetzung über Mafia, Antimafia und Literatur wurde 1993 mit Sebastiano Vassallis Il cigno (Dt. 1996: Der Schwan) aufgeschlagen.
Protagonisten dieses historischen Romans sind der Marquis Emanuele Notarbartolo und der Auftraggeber seiner Ermordung, der Parlamentsabgeordnete Raffaele Palizzolo, der wegen seiner anmutigen, ja femininen Art, sich zu bewegen, den Spitznamen »der Schwan« trug. Gegen Vassalli wurden genau die gegenteiligen Vorwürfe erhoben wie zuvor gegen Sciascia. Er stelle die sizilianische Gesellschaft der Mitverschworenen in den Mittelpunkt und verschweige, dass es auch ein anderes Sizilien gab – ein Sizilien, das auf die Straße ging, um das Opfer zu würdigen. Er dämonisiere die Sizilianer.
In Wahrheit ist jeder, der über die Mafia schreibt, gezwungen, Partei zu ergreifen und damit zum Gefangenen von Gemeinplätzen und Lagerdenken zu werden. Am Ende steht immer eine Anklage: wegen eines Artikels, eines Romans, eines Essays. Angesichts der noch immer blutenden Wunden ist es nie leicht, ungeteilte Zustimmung zu erfahren.
Es sind die Historiker, die unser Verständnis von der Mafia erweitert haben: Henner Hess und Anton Blok, später Francesco Renda und Salvatore Lupo. Sie haben sich nicht auf Mutmaßungen über die Mafia beschränkt, sie haben sie studiert.
Ein Passus in Salvatore Lupos La storia della mafia (1993. Dt. 2002: Die Geschichte der Mafia) verdeutlicht, was die Cosa Nostra wirklich ist. Bezogen auf die Geschichte der Familie Greco aus Ciaculli schreibt Lupo: »Wir werden in dieser Geschichte der Mafia einer beunruhigenden Kontinuität von Gruppen, Orten, Erfahrungen und Bereichen mafioser Machenschaften begegnen. Seit mehr als hundert Jahren üben die Greco im Viertel Ciaculli und innerhalb der Mafiaelite der Stadt Palermo die Macht aus – hundert Jahre, in denen sich Wirtschaft, Gesellschaft und Politik grundlegend verändert haben. Alles hat sich verändert, doch diese territoriale Herrschaft ist geblieben.«
Die Einigung Italiens, die industrielle Revolution, der Erste Weltkrieg, der Faschismus, der Zweite Weltkrieg, die fünfziger und sechziger Jahre, die Landung des ersten Menschen auf dem Mond … und in Ciaculli haben nach wie vor die Greco das Kommando. Darin besteht die historische Kontinuität der Cosa Nostra. Das ist die Mafia.
Auch in der Zeitungsberichterstattung herrschte lange ein tiefes Schweigen: Über die Mafia wurde weder gesprochen noch geschrieben. Erst ab Mitte der fünfziger Jahre erhoben sich Stimmen gegen die Mafia. Die maßgeblichste und mutigste war die der Zeitung L’Ora aus Palermo. Sie wurde schon am Nachmittag gedruckt und war am frühen Abend an allen Kiosken im westlichen Sizilien erhältlich. Mit ihrer investigativen, kämpferischen Berichterstattung gelang es dieser kleinen Zeitung, sich in ganz Italien Gehör zu verschaffen und sich den Ruf als eine bedeutende Stimme des italienischen Journalismus zu erobern. Vittorio Nisticò war ein herausragender Chefredakteur, herausragend waren auch seine Mitarbeiter, die Journalisten Marcello Cimino, Giuliana Saladino, Mario Farinella, Felice Chilanti, Aldo Costa und Mauro De Mauro. Von ihnen stammen die ersten großen Untersuchungen zur Mafia von Corleone, zu Vito Ciancimino und Salvo Lima, zur Schutzgelderpressung auf den Schiffswerften und dem Obst- und Gemüsemarkt, zur Plünderung Palermos durch eine beispiellose Bauspekulation und zum Klientelsystem in der Region. Die Journalisten von L’Ora wurden bedroht und isoliert, das Redaktionsgebäude und die Druckerei mehrmals durch Bombenanschläge zerstört.
Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren war die Redaktion von L’Ora Ziel eines Bombenanschlags der Mafia. Den ersten führte die Bande Giuliano im Jahr 1947 aus.
Der Terroranschlag heute Morgen, der sehr viel verheerender war als der damalige, hatte vor allem ein Ziel: uns einzuschüchtern. Wir haben keinen Zweifel, dass er von Personen oder Gruppen geplant und durchgeführt wurde, die sich vor den Folgen unserer Pressekampagne fürchten.
L’Ora, 20. Oktober 1958
In L’Ora schrieben zahlreiche bedeutende Sizilianer: Leonardo Sciascia, Renato Guttuso, Michele Perriera, Lillo Roxas, Vincenzo Consolo und Michele Pantaleone, Enzo Sellerio, Bruno Caruso – und Danilo Dolci. Die Geschichte dieser Zeitung, die ihr Chefredakteur ein »Geschöpf aus Papier« nannte, ist die Geschichte von Männern und Frauen, von starken Leidenschaften, Tragödien und Hoffnungen.
Der aus Triest stammende Danilo Dolci kam in den fünfziger Jahren nach Sizilien, um denen, die noch nie eine Stimme gehabt hatten, Gehör zu verschaffen. Der Soziologe, Anthropologe, Philosoph, Musiker, Schriftsteller und Dichter war ein Grenzgänger. 1965 trug er fünfzig Zeugenaussagen über die mutmaßlichen Beziehungen des Ministers Bernardo Mattarella und des Staatssekretärs im Gesundheitsministerium Calogero Volpe zu Mafiakreisen zusammen. Die Dokumente übergab er dem parlamentarischen Antimafia-Ausschuss. Er wurde von den beiden Politikern verklagt, verlor den Prozess und wurde zu zwei Jahren Haft wegen Verleumdung verurteilt.
Die Mafia mag es vor zwanzig Jahren gegeben haben, heute ist sie am Ende. Aber ihr Journalisten beharrt immer noch darauf … Narren seid ihr, Narren!
Calogero Volpe, Vorsitzender der Democrazia Cristiana von
Caltanissetta, Parlamentsabgeordneter, zwischen 1960
und 1970 Staatssekretär, zunächst für Gesundheit, später
für Post und Telekommunikation
Die Zeitung L’Ora – wie Paese Sera in Rom aus dem Umfeld der Kommunistischen Partei – wandelte sich Ende der siebziger Jahre zu einer journalistischen Kooperative und stellte nach schweren finanziellen Nöten im Mai 1992 ihr Erscheinen ganz ein. Aber da war sie schon seit einiger Zeit nicht mehr Nisticòs »Geschöpf aus Papier«. Sie hatte dem italienischen Journalismus ihren Stempel aufgedrückt und viele unbeugsame Journalisten hervorgebracht, die heute in den Redaktionen ganz Italiens arbeiten.
Einen ganz anderen Journalismus vertritt Il Giornale di Sicilia, ein regierungsamtliches Blatt, das seit jeher dem politischen Establishment nahestand und stets bestrebt war, die jeweiligen Machthaber zu schonen und die blutigen Ereignisse, die damals die Insel erschütterten, in einem milden Licht erscheinen zu lassen.
An den heftigen Polemiken Anfang der achtziger Jahre war Il Giornale di Sicilia als Zeuge der Geschehnisse an vorderster Front beteiligt. Die Zeitung führte einen vehementen Angriff gegen Nando Dalla Chiesa, den Sohn des 1982 ermordeten Carabinieri-Generals, und beschrieb ihn als Schwärmer und ewig Gestrigen. Seine Schuld bestand darin, dass er den Sumpf, die Komplizenschaften und die Schrecknisse von Palermo anprangerte.
Ein Interview vom April 1984 gibt eine Vorstellung davon, wie der Chefredakteur und Herausgeber des Giornale di Sicilia, Antonio Ardizzone, die Situation in Sizilien beurteilte: »Die Mafia steht heute der politischen Macht weitgehend fern […]. Ich glaube nicht, dass man heute noch von organischen Verbindungen zwischen der Staatsmacht und der Mafia sprechen kann […]. Wir maßen uns nicht an, an die Stelle der Ermittler zu treten. Aber wir sprechen die Wahrheit aus, die ans Licht kommt, die volle Wahrheit.« Auf der Titelseite des Giornale di Sicilia standen in jenen Jahren Leitartikel mit der »Wahrheit« über Falcone und seinen Antimafia-Pool.
[…] Ein seltsames Bild geben diese Richter und Staatsanwälte ab, die heutzutage die Bühne der Justiz bevölkern: Ermittlungsrichter in kugelsicheren Westen, in der Hand eine Pistole, die in ihrem Helikopter herunterschweben und Tausende Dokumente beschlagnahmen, um anschließend wie Ritter ohne Furcht und Tadel wieder am Horizont zu entschwinden. Dies ist das Modell, das uns einige italienische Staatsanwälte in den letzten Jahren vorgeführt haben. Aber sind das wirklich Staatsanwälte? Sogar die Einsatzkräfte der Polizei bezweifeln es, wie jeder weiß, der einmal die Gelegenheit hatte, mit ihnen über dieses Thema zu sprechen, denn sie fühlen sich ihrer ureigenen Aufgabe enthoben. Und auch Carnevale scheint daran zu zweifeln, wenn er und seine Kollegen Haftbefehle und Gerichtsurteile kassieren, deren Beweisführung auf die eine oder andere Art schludrig und oberflächlich ist […]. Wenn dagegen ein Staatsanwalt nicht mit quietschenden Reifen in einer gepanzerten Alfetta losbraust, angestrahlt vom Scheinwerferlicht der Fernsehkameras, sondern sich einsam über seine Gesetzestexte beugt, um Verfahrensregeln einzuhalten und jede Seite zu ihrem Recht kommen zu lassen, dann genießt er keine öffentliche Aufmerksamkeit und findet leider auch nicht die gebührende Anerkennung und Förderung.
Giornale di Sicilia, 30. Juni 1986
In den großen Prozessen gegen die Mafia erlebte man nicht die Brillanz zielgerichteter Ermittlungsverfahren mit erdrückenden Beweismitteln, sondern den Schwulst demonstrativer Inszenierungen, die unter den Hieben dessen, was noch vom Rechtsstaat übrig ist, zerbröselten.
Giornale di Sicilia, 16. November 1986
Aber nicht nur Il Giornale di Sicilia führte einen flammenden Feldzug gegen Giovanni Falcone und die anderen Ermittler von Palermo. Auch einige Korrespondenten und Leitartikler der Zeitung Il Giornale aus Mailand beteiligten sich an dieser Kampagne. Und am 29. Oktober 1991 schrieb Lino Jannuzzi im Giornale di Napoli: »Die Strategie dieses Duos ist nach anfänglich berauschenden Momenten angesichts all der reuigen und aussagewilligen Mafiosi und der Maxi-Prozesse an einem Punkt des völligen Scheiterns angekommen. Falcone und De Gennaro sind die Hauptverantwortlichen für das Debakel des Staates gegenüber der Mafia.«
In Catania büßte unterdessen Pippo Fava sein Leben ein. Er wurde Anfang 1984 von der Mafia ermordet, ein Mensch mit Zivilcourage, der vollständig isoliert worden war. Zwei Jahre zuvor hatte er die Monatszeitschrift I siciliani gegründet, die von all dem berichtete, was in Catania unter den Teppich gekehrt wurde. In der Redaktion saßen junge, engagierte Journalisten, unter ihnen Favas Sohn Claudio. Die Zeitschrift verkaufte sich gut, verfügte aber kaum über Werbeeinnahmen. Ihre Titelseiten füllten Berichte über Graci, Rendo, Costanzo und Finocchiaro, die mächtigen Unternehmer Catanias. Pippo Fava nannte sie die vier Apokalyptischen Reiter. Er berichtete auch über Benedetto Santapaola und seine Helfershelfer – Mafiosi, die in den Schaltzentralen Catanias höchsten Respekt genossen. Pippo Fava war ein einsamer Rufer in der Wüste. Und er starb allein. In Catanias Tageszeitung La Sicilia konnten »wir nicht einmal einen Nachruf auf ihn veröffentlichen, weil das Wort Mafia darin nicht vorkommen durfte«, erinnert sich Claudio Fava.
Manche werden umgebracht, andere bedroht oder isoliert. In Sizilien fielen bisher acht Journalisten Mordanschlägen zum Opfer. Cosimo Cristina, Korrespondent von L’Ora aus Termini Imerese, wurde 1960 getötet. Er hatte von den Beziehungen der Bosse zu den »über jeden Verdacht Erhabenen«, den Geschäftsleuten und Beamten, berichtet. Mauro De Mauro, gleichfalls ein Reporter von L’Ora, wurde am 16. September 1970 entführt. Der dritte, Giovanni Spampinato, wurde am 27. Oktober 1972 ermordet. Er war Korrespondent von L’Ora in Ragusa und Faschisten auf der Spur, die mit der Mafia im Osten Siziliens gemeinsame Sache machten. Der vierte war Giuseppe Impastato von Radio Aut in Cinisi; seine Leiche wurde an der Eisenbahnstrecke Palermo–Trapani gefunden. In seinem Radiosender hatte er tagtäglich den übermächtigen Tano Badalamenti angegriffen. Das fünfte Mafiaopfer war Mario Francese, ein herausragender Reporter des Giornale di Sicilia, der seine Nase in die Skandale im Zusammenhang mit dem Bau des Garcia-Staudamms gesteckt hatte; sein Tod wurde von Totò Riina auf den 26. Januar 1979 festgesetzt. Giuseppe Fava wurde am 5. Januar 1984 von Auftragskillern des Santapaola-Clans ermordet. Mauro Rostagno musste am 26. September 1988 sterben; der Direktor von Rtc, einem kleinen Fernsehsender in Trapani, hatte über die dunkelsten Geheimnisse der sizilianischen Mafia und ihre Beziehungen zur Politik berichtet. Beppe Alfano, Korrespondent der Tageszeitung La Sicilia aus Barcellona Pozzo di Gotto in der Provinz Messina, wurde am 8. Januar 1993 getötet. Auch er hatte sich zu sehr für die Verflechtungen zwischen Mafia und Politik interessiert.
Ich habe angefangen, mit der Fernsehkamera zu den Leuten zu gehen, um sie zum Sprechen zu bringen. Ich habe einen Riesenkrach geschlagen mit Berichten über das Wasser (das knapp und verunreinigt ist), über den Müll (die stinkenden Städte, die zwielichtigen Geschäfte der städtischen Müllabfuhr) […]. Ich habe mich entschieden, nicht hinter einem Schreibtisch sitzend Fernsehen zu machen, sondern mich mit einem Mikrofon in der Hand unter die Leute zu mischen. Und in Trapani ist bereits das ein Affront gegen die Mafia. Die wahre Revolution findet hier in Trapani statt […]. Ich sehe keinen Zusammenhang mehr zum Marxismus. Und der Kampf gegen die Mafia ist heute genauso notwendig wie damals: Es geht um die Freude am Leben. Ah, Renato, wie schnell das Leben vergeht und wie langsam. Jetzt lese ich wie besessen ganz andere Bücher als früher. Bücher über den Maxi-Prozess, über die Mafia. Vor allem aber lese ich Anklageschriften. Ich versuche zu verstehen, zu rekonstruieren, zu entziffern. Cosa Nostra, die Kommissionen, die Ehrenmänner, die Geschäfte, die Vergabe öffentlicher Aufträge und die Schmiergeldzahlungen […].
Mauro Rostagno in einem Brief an den Gründer der
Roten Brigaden, Renato Curcio
Hinzu kommt die lange Liste von Journalisten und Schriftstellern, die bedroht werden. Einige sind gezwungen, unter Polizeischutz zu leben, wie Roberto Saviano, der uns die casalesische Camorra nahegebracht hat. Oder wie der Sizilianer Lirio Abbate. Saviano erhielt Morddrohungen, unter Abbates Wagen wurde ein primitiver Sprengkörper entdeckt. Doch das sind nur zwei prominente Beispiele, die es auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft haben. Der Fall Saviano gab Anlass zu heftigen Polemiken. Manche sind der Ansicht, um den Autor von Gomorrha (Dt. 2007: Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra) werde viel zu viel Wirbel gemacht.
Es ist ein schwieriges Problem. Wer bedroht und anschließend isoliert wird, muss auf jeden Fall geschützt werden. Dann bedarf es der Solidarität aller, die den Bedrohten wie ein Sicherheitsnetz oder ein Schutzschild umgibt. Das Opfer von Einschüchterungen darf nicht alleingelassen werden – das ist die einzig mögliche Antwort auf die Mafia.
Etwas anderes ist die Frage, wie ein von der Mafia bedrohter Journalist auf diese Bedrohung reagiert – oder wie andere gegen seinen Willen daraus Kapital schlagen. Einige, wie Roberto Saviano, sind nach den Drohungen populär oder sogar weltberühmt geworden. Anderen ist es gelungen, sich im Hintergrund zu halten und in aller Stille weiterzuarbeiten. Das kann eine persönliche Entscheidung sein, in jedem Fall aber lässt sich von außen schwer sagen, was richtig oder falsch ist. Es hängt von den jeweiligen Umständen ab und von der Wahrnehmung, den Grundsätzen und Zielen des Betroffenen.
Über dieses Thema zu sprechen und sich dabei immer nur auf andere zu beziehen ist so schwierig, dass ich es vorziehe, von meinen eigenen Erfahrungen zu erzählen: meinen Erfahrungen der letzten fünfundzwanzig Jahre, in denen ich aus Palermo über die Mafia berichtet habe.
Anonyme Briefen, einschüchternde Anrufe oder laut herausgeschriene Drohungen machten mir selten Angst. (Meist hielt ich es nicht für notwendig, Strafanzeige zu erstatten; das empfand ich stets als die Sache derer, die wir in Sizilien als »incagliacani« bezeichnen, »Hundefänger« – Leute von geringem Wert.) Angst, große Angst jedoch hatte ich vor einer anderen Botschaft der Mafia, die sehr viel raffinierter, heimtückischer und weniger leicht durchschaubar ist.
Einmal bestand der Anwalt und consigliori (Berater) einiger Bosse darauf, mir einen Kaffee auszugeben, und kam dann mit einem Lächeln auf den Lippen auf einen Artikel von mir zu sprechen, der drei, vier Monate zuvor erschienen war und der seinem Mandanten, einem der bekanntesten Drogenhändler Siziliens, »nicht gefallen« hatte. Lächelnd erzählte er mir in immer eindringlicheren Details von der Verärgerung seines Mandanten. Damals habe ich gezittert. Ein anderes Mal ließ man mich im Gespräch beiläufig wissen, was ich an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit gemacht und mit wem ich mich getroffen hatte: Man hatte mich observiert. Ich hatte große Angst – wie jedes Mal, wenn die Signale nicht direkt von den Bossen kamen, sondern mich auf beunruhigenden Umwegen erreichten: aus den Apparaten und aus zweifelhaften Ermittlerkreisen.
Die größte Angst aber – und ich glaube, das gilt für alle Journalisten, die über die Mafia berichten – erwächst aus der Einsamkeit. Das Gefühl der Einsamkeit ist am schlimmsten. Wer allein auf weiter Flur steht oder nur wenige Mitstreiter an seiner Seite hat, der ist extrem gefährdet. Er geht das größte Risiko ein.
Jede Bedrohung hat ihre Geschichte, ihr ermutigendes oder entmutigendes Drumherum. Anfang 2010 erhielten fünf kalabrische Journalisten binnen weniger Wochen Warnungen der ’Ndrangheta. Ihre Autos wurden in Brand gesteckt, sie bekamen Umschläge mit Patronenhülsen, anonyme Briefe. Die überregionale Presse – mit Ausnahme von La Repubblica, Il fatto quotidiano und Il manifesto – ignorierte die Nachricht. In Reggio Calabria und in der Ebene von Gioia Tauro brach eine regelrechte kriminelle Kampagne zur Unterdrückung der Berichterstattung los: Die Bosse wollten nicht, dass man über sie spricht. Doch trotz dieser Einschüchterungen, trotz der Strategie der Spannung, die die ’Ndrangheta in jenen Monaten verfolgte, wurde der Fall der fünf bedrohten Journalisten kaum öffentlich bekannt.
Die namenlosen Journalisten, die unbekannten Reporter, die in Sizilien, Kalabrien und Kampanien arbeiten, führen einen täglichen Krieg, von dem kaum jemand etwas weiß. Sie bilden ein Heer ohne Waffen, das eingekreist und umzingelt ist.
Den Vormittag des 22. Februar verbrachte ich mit Giuseppe Baldessarro, wir verabschiedeten uns kurz vor Mittag. Später erfuhr ich, was dann passierte. Giuseppe Baldessarro ist Journalist wie ich. Als politischer Korrespondent hat er diesem Haufen Banditen, die sich an den Futtertrögen der Steuergelder gütlich tun – oft dank der Wahlunterstützung durch die eigene Klientel und die ’Ndrangheta –, schon einigen Ärger bereitet.
Er landete den Knüller über die Stellenbesetzungen im kalabrischen Regionalrat: das Gesetz, dem zufolge die Mitarbeiter der Regionalräte für besondere Aufgaben auf unbefristete Zeit eingestellt werden. Diese Mitarbeiter werden von den Regionalräten direkt bestimmt und sind fast durchweg Freunde und Verwandte.
Vor zwei Tagen hat uns Baldessarro erzählt, wie ein Pfarrer, ein Kommunalrat und zwei Mafiosi zwischen den Regionalwahlen 2005 und den Kommunalwahlen 2007 ein politisches Strategiekonzept austüftelten.
Zwei Tage in Folge berichtete er ausführlicher als alle anderen Zeitungen darüber. Und die Reaktion? Eigentlich hätte die Hölle losbrechen müssen, aber nichts geschah. Es herrschte Schweigen.
Baldessarro war auch der Einzige, der den ehemaligen Europaabgeordneten der UDEUR, Armando Veneto, öffentlich anprangerte. Der Anwalt soll Leuten, die dem Clan der Pesce-Bellocco aus Rosarno nahestanden oder angehörten, ausgeklügelte Verteidigungsstrategien empfohlen haben, um Vergünstigungen – Strafaufschub oder Haftentlassung – zu erhalten. Diese Ratschläge hatte er nur aufgrund seiner intimen Kenntnis der Rotationsverfahren bei den Haftrichtern und den Richtern am Strafvollstreckungsgericht erteilen können. Veneto war schon ein paar Jahre zuvor in die Schlagzeilen geraten, als er die Grabrede für den Boss Gioacchino Piromalli senior gehalten hatte.
Nur: Wenn du wirklich einen Scoop, eine exklusive Meldung, landest, passiert in dieser tauben Stadt – gar nichts. Du bleibst isoliert. Dein Ruf verhallt im leeren Raum. Du hörst das Echo und danach das bedrückende Geräusch der Stille. Doch Giuseppe Baldessarros Berichte waren den Mafiagruppen, der Politik und gewissen Freimaurerkreisen schon immer ein Dorn im Auge.
Deshalb schickte man ihm den Brief mit den Gewehrpatronen, dazu die Warnung: »Bis hierher und nicht weiter.« Eine deutliche Botschaft. Klar und unmissverständlich.
Was Michele Albanese und Angela Corica passiert ist, gestern Filippo Maria Cutrupi und mir selbst und heute Peppe Baldessarro sehe ich als ein Zeichen dafür, dass etwas im Gange ist.
Ihr erkennt es nicht, ich schon.
Die derzeitigen Einschüchterungen markieren einen tiefen Graben. Sie zeigen eine Schranke auf, eine Grenze, eine Sperre. Es ist eine Grenzziehung gegenüber uns, gegenüber der Berichterstattung über diese Region. Mit einer Bombe vor der Generalstaatsanwaltschaft wurde diese Grenze auch den Richtern und Staatsanwälten von Reggio Calabria aufgezeigt.
Die Botschaft richtet sich an alle.
Doch wer diese Linie überschreitet, kämpft nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen zur Verteidigung von unser aller Würde. Wer diese Linie überschreitet, ist weder draufgängerisch noch gewissenlos.
Wer diese Linie überschreitet, sagt laut und deutlich, auf welcher Seite er steht.
Aus Antonino Monteleones Blog, Reggio Calabria,
23. Februar 2010
Als Korrespondent einer großen Zeitung ist es nicht weiter schwer, an einen Ort zu fahren, eine Mafiageschichte zu erzählen und am nächsten Tag wieder abzureisen. Etwas völlig anderes ist es, tagtäglich aus der sizilianischen, kalabrischen oder kampanischen Provinz zu berichten: über den korrupten Bürgermeister, über den Mafioso gleich nebenan, über diesen Killer oder jenen Drogenschmuggler, mit dem man als Kind die Schulbank gedrückt hat, über den raffgierigen oder mafiosen Politiker, der der Freund deiner Verwandten, der Schwager deiner Mutter oder der Cousin deines Cousins ist. Und das alles für eine Handvoll Euro. Diese namenlosen Reporter werden pro Artikel bezahlt, und ihnen kann jederzeit unter irgendeinem Vorwand gekündigt werden. Das ist die Situation in den kleinen Städten Süditaliens. Man braucht Mut, viel Mut, um anständigen Journalismus zu machen. Diese jungen Reporter haben oft Schwierigkeiten mit ihren Chefredakteuren und Herausgebern. Aber auch mit ihren Kollegen, die sie als fanatisch und unvorsichtig betrachten. Die Journalisten an der Zeitungsfront Süditaliens lassen sich in zwei Kategorien einteilen: die »Vorsichtigen« und die »Unvorsichtigen«. Apropos unvorsichtig: Vielleicht ist in diesem Zusammenhang eine Geschichte aufschlussreich, die mir vor zweiundzwanzig Jahren widerfahren, aber doch von allgemeinem Interesse ist, wenn man bedenkt, was zu der Zeit in Sizilien los war.
Am 16. März 1988 wurden in Palermo der Journalist Saverio Lodato von der Zeitung L’Unità und ich verhaftet und sieben Tage lang in einem Hochsicherheitsgefängnis festgehalten. Auch wir waren unvorsichtig gewesen. Die Anklage lautete auf »Beihilfe zur Unterschlagung im Amt«.
Wir hatten in unseren Zeitungen La Repubblica und L’Unità die Enthüllungen Antonino Calderones über die Beziehungen zwischen Mafia und Politik, Geheimdiensten und Großunternehmern veröffentlicht. Laut Anklage waren die Fotokopien dieser Aussageprotokolle Eigentum des Staates, das wir uns widerrechtlich angeeignet hätten. Darauf gründete sich der Vorwurf der Beihilfe zur Unterschlagung im Amt. Den Haftbefehl hatte Salvatore Curti Giardina unterschrieben, der Leitende Oberstaatsanwalt von Palermo, der in dieser Stadt bis dahin nicht einmal gegen einen Hühnerdieb einen Haftbefehl ausgestellt hatte. Jetzt konstruierte er diese bizarre Tathypothese. Mit dem Vorwurf der »Beihilfe zur Unterschlagung im Amt« jedenfalls konnte er unsere Festnahme begründen. Mit dem Straftatbestand der »Verletzung des strafprozessualen Untersuchungsgeheimnisses« hätte er uns auf freien Fuß lassen müssen. Der Unterschlagung im Amt habe sich der – unbekannt gebliebene – Beamte schuldig gemacht, der uns die Dokumente zugespielt hatte; wir hätten uns der Beihilfe schuldig gemacht. Der Vorwurf der Unterschlagung im Amt zielte auch darauf ab, uns zu diskreditieren. Eine solche Anklage ruft bei der unachtsamen Öffentlichkeit sofort die Vorstellung von Korruption und Schmiergeld wach. Und in solche Machenschaften wären ausgerechnet zwei Journalisten verwickelt, die der »Antimafia« nahestanden, wie man damals mit einer gewissen Geringschätzung sagte.
Die Anklage lautet auf eine Straftat nach Artikel 81, Absatz 1, Artikel 110 und Artikel 326 des Strafgesetzbuches in Tateinheit mit Unbekannten bei wiederholt ausgeführter Handlung in ein und derselben kriminellen Absicht. Es geht um die Veröffentlichung von Aussagen Antonino Calderones vor dem Untersuchungsrichter von Palermo, die dem Untersuchungsgeheimnis unterlagen […]. Angesichts auch der Gemeingefährlichkeit der Angeklagten, die sich aus der extremen Schwere der Tatbestände hinsichtlich der Notwendigkeit zum Schutz der Allgemeinheit ergibt, ordnen wir die Festnahme der genannten Beschuldigten an, die in eine Haftanstalt überführt und dort zu unserer Verfügung stehen sollen.
Salvatore Curti Giardina, Staatsanwalt von Palermo,
16. März 1988
Der Staatsanwalt – derselbe, der ein paar Jahre zuvor als Vorsitzender des Schwurgerichts die Mörder des Carabinieri-Hauptmanns Emanuele Basile wegen »zu vieler Indizien« zu Lasten der Angeklagten freigesprochen hatte – wollte uns ins Gefängnis stecken. Er wollte uns einsperren. Nachdem wir die Namen von Salvo Lima, dem mächtigsten Mann von Sizilien, und von Minister Aristide Gunnella im Zusammenhang mit der Mafia genannt hatten, verbrachten wir am 16. März 1988 die erste Nacht unseres Lebens in einer Gefängniszelle: in der Haftanstalt von Termini Imerese.
Gegen die Staatsanwaltschaft machten die Juristen der Magistratura democratica mobil, der linken Strömung innerhalb des Verbands der Richter und Staatsanwälte. Seinen Unmut über unsere Verhaftung bekundete auch Justizminister Giuliano Vassalli. Untersuchungsrichter Falcone verteidigte uns in einem Interview, und der Vorsitzende des parlamentarischen Antimafia-Ausschusses, Gerardo Chiaromonte, besuchte uns im Gefängnis.
Unser Fall kam vor das Haftprüfungsgericht, und nach einem regelrechten Eiertanz (um es sich mit niemandem zu verderben und weder die Staatsanwaltschaft komplett ins Unrecht zu setzen noch in einen sich zunehmend verschärfenden Streit hineingezogen zu werden) wurden wir schließlich auf freien Fuß gesetzt. Ein Jahr nach unserer Verhaftung sprach uns ein Ermittlungsrichter definitiv von der Anklage wegen Beihilfe zur Unterschlagung im Amt frei.
Wenige Wochen vor meiner Verhaftung hatte ich Curti Giardina aufgesucht, um Informationen zu laufenden Ermittlungen einzuholen. Noch heute, zwanzig Jahre später, erinnere ich mich an seine Worte: »Journalisten wie Sie sind fast so etwas wie Schnüffler.«
Es gibt viele Möglichkeiten, Journalisten, die über die Mafia schreiben, zum Schweigen zu bringen. Und nicht immer geht die Bedrohung von den Bossen aus. Manchmal erledigen auch andere die »Drecksarbeit«.
92. Haben Fernsehserien wie La Piovra (Allein gegen die Mafia) mehr der Mafia oder mehr dem Ansehen Italiens geschadet?
Wenn im Fernsehen oder im Kino Mafiafilme gezeigt werden, liegen in Italien bei einigen Leuten die Nerven blank. Ihre Sorge gilt mehr dem »guten Ruf« Italiens als dem, was den Italienern durch ihre Mafia angetan wird. Die Heuchelei ist ungeheuerlich. Jeder Roman und jeder Film dieses Genres löst bei diesen Leuten einen konditionierten Reflex aus.
Alles begann mit La Piovra. 1984 drehte der Regisseur Damiano Damiani die erste Staffel der Serie mit einem brillanten Michele Placido als Kommissar Corrado Cattani. La Piovra brachte erstmals die mafiosen Machenschaften auf die Fernsehschirme: Finanzdelikte, blutige Morde, Geld. Eine fiktive Handlung, die jedoch der Realität sehr nahe kam und die Italiener in ihren Bann zog. Die Serie erreichte durchschnittlich fünfzehn, manche Folgen sogar siebzehn Millionen Zuschauer. Die Serie wurde in achtzig weiteren Ländern ausgestrahlt.
2001 kam die zehnte Staffel heraus. Jahr für Jahr brach der Streit jedes Mal von neuem los. Einige lehnten die Fernsehserie als pädagogisch unklug und politisch tendenziös ab. Bevor Piovra 10 über die Bildschirme flimmerte, erklärte der Schauspieler Remo Girone (in der Serie spielte er den Bankier Tano Cariddi den »Schrecklichen«, eine Marionette der Cosa Nostra): »Diese Piovra hebt die großen Verdienste der Richter und Staatsanwälte im Kampf gegen die Mafia hervor und zeigt, wie ungerecht die Anfeindungen und Aggressionen von Politikern, Fernsehkanälen und Zeitungen sind. Nach Freisprüchen in einigen wichtigen Prozessen gerieten die Richter und Staatsanwälte unter Beschuss. La Piovra 10 lässt ihnen Gerechtigkeit widerfahren.« Nach dieser Ankündigung eskalierte der Konflikt. Die Gefahr war groß, dass Piovra 10 im italienischen Fernsehen nicht ausgestrahlt würde. Italien stand mitten im Wahlkampf, und es hieß, der Film werde die Wähler manipulieren; es sei daher besser, das Thema gar nicht erst anzusprechen. Für viele war das Problem nicht die Mafia an sich, sondern ihre Sichtbarkeit aufgrund ihrer Beziehungen zur Politik, zur Wirtschaft und zu korrupten Teilen der Staatsmacht.
Fernsehserien wie La Piovra haben ein negatives Bild unseres Landes im Ausland vermittelt. Hoffen wir, dass dies nie wieder geschieht.
Silvio Berlusconi, 1994
Wir haben die schlechte Angewohnheit, Filme über die Mafia zu machen, die dieses negative Bild unseres Landes in der ganzen Welt verbreiten. Ich hoffe, dass diese Mode jetzt vorbei ist.
Silvio Berlusconi, 2010
Anfangs hat das Kino die Mafia beschrieben, wie sie war. Doch die Geschichten, die das Kino erzählte, waren bald so gut, dass regelrechte Mafia-Vorbilder entstanden.
Der erste Mafiafilm stammt aus dem Jahr 1949 und trägt den Titel In nome della legge (Im Namen des Gesetzes); Regisseur war Pietro Germi. Seine Vorlage, der Roman Piccola pretura von Giuseppe Guido Lo Schiavo, erzählt von einem jungen Staatsanwalt aus dem Norden, der in eine sizilianische Kleinstadt kommt, mit einem der Honoratioren in Konflikt gerät und die omertà, das Gesetz des Schweigens, kennenlernt. In nome della legge hatte außergewöhnlich großen Erfolg. Die Kinokarte kostete damals 90 Lire, der Film spielte 401 Millionen Lire ein. Damals etablierte sich zwischen dem mafiosen Sizilien und dem Kino eine Beziehung, die bis heute anhält.
1961 kam Salvatore Giuliano (Wer erschoss Salvatore G.?) von Francesco Rosi in die Kinos, die Geschichte des Banditen aus Montelepre. Ein gelungener Film. Doch nach der Premiere im Kino Politeama in Palermo waren viele Sizilianer enttäuscht: Sie hatten ein Porträt Salvatore Giulianos als eine Art Robin Hood erwartet, der sich auf die Seite der armen Bauern in den Hügeln von Sagana stellt. Rosi jedoch zeichnete ein realistisches Bild Giulianos als einer Marionette der Bosse von Monreale.
Giuliano war nicht mehr und nicht weniger als ein Killer der Mafia. Als er sich in seinem Größenwahn gegen die Mafia stellte, wurde er beseitigt. Rosi hatte ästhetisch und politisch den Mut, die traurige und schändliche Geschichte Giulianos im Film zu verarbeiten. Sagen wir es gleich vorneweg: Rosis Film macht dem italienischen Kino alle Ehre. Ich kenne heute kein Land, in dem vergleichbar aktuelle und brisante Verhältnisse mit einem so unerschrockenen Willen zur Wahrheit behandelt werden […].
So erklärt sich auch, warum Rosi Salvatore Giuliano nicht zur Hauptfigur gemacht hat; er tritt nur am Rande in Erscheinung, als Anführer in weißem Mantel oder als Leichnam zwischen Eisblöcken wie ein blutender Thunfisch nach dem Fang.
Alberto Moravia, L’Espresso, 4. März 1962
1962 spielte Alberto Sordi den Mafioso im gleichnamigen Film von Alberto Lattuada. 1968 kam Il giorno della civetta (Der Tag der Eule) nach dem Roman von Leonardo Sciascia in der Regie von Damiano Damiani in die Kinos. Der Film wurde auf dem Marktplatz von Partinico mit Franco Nero und Claudia Cardinale gedreht. 1970 hatte Il sasso in bocca (Stein im Mund) von Giuseppe Ferrara großen Erfolg. 1972 entstand Der Pate von Francis Ford Coppola, der erste einer dreiteiligen Reihe mit Marlon Brando, Al Pacino, James Caan, Robert Duvall und Diane Keaton nach dem gleichnamigen Roman von Mario Puzo. Stärker als alle anderen Filme hat Der Pate das Bild der Mafia im Kino geprägt. In vieler Hinsicht ambivalent – besonders in der romantisch verklärenden Darstellung der Familie des Paten, die den »Bösen« gegenübergestellt wird, denen, die keine »moralischen Werte« mehr kennen –, zeigt der Film vor allem die Sprache der Ehrenmänner, ihre Gestik und ihr Verhalten absolut realistisch. Auf die Frage nach seinen Lieblingsfilmen antwortete der amerikanische Präsident Obama: »Einer der besten Filmen, die ich je gesehen habe, ist sicherlich Der Pate.« In Palermo spielte Der Pate, Teil eins, in der Kinosaison 1972/73 rund 212 Millionen Lire ein.
1973 wurde in Italien auch ein fulminanter Lucky Luciano mit Gian Maria Volontè in der Titelrolle gezeigt. Regie führte erneut Francesco Rosi, der mit diesem Film ein großes Porträt des berüchtigten Mafiabosses zeichnete.
Ein paar Jahre später kamen Mafiafilme minderer Qualität in die italienischen Kinos, die nur ein billiger Abklatsch der großen Meisterwerke dieses Genres waren: zahllose Titel, fast alle schlecht gemachte Kopien. Das änderte sich erst wieder in den achtziger und neunziger Jahren mit Goodfellas (Dt.: Good Fellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia) von Martin Scorsese und Die Ehre der Prizzis mit Jack Nicholson in der Hauptrolle. Von den italienischen Mafiafilmen aus jüngerer Zeit sind Un eroe borghese (Der Fall Sindona) erwähnenswert, der die Geschichte des ermordeten Mailänder Anwalts und Insolvenzverwalters Giorgio Ambrosoli erzählt, I cento passi über Giuseppe Impastato, aber auch Gomorrha von Matteo Garrone und Il divo von Paolo Sorrentino.
In exzentrischer Weise von der sizilianischen Mafia erzählt Johnny Stecchino, eine Verwechslungskomödie von und mit Roberto Benigni. Der Film entstand 1991, ein Jahr vor den Anschlägen von Capaci und in der Via D’Amelio. Die Mafiosi in diesem Film sprechen von den »Dramen Siziliens«: dem Verkehr, der Dürre, dem Ätna. Man glaubt, sizilianische Honoratioren reden zu hören oder Journalisten, die besonders »gebildet« von den Geschehnissen in Palermo berichten.
Mit der Cosa Nostra beschäftigt sich auch ein ausgesprochen unterhaltsames Musical, Tano da morire, in der Regie von Roberta Torre, das den Mythos Mafia im Rhythmus des Rap entweiht. Der Film wurde 1997 in Palermo gedreht. Die Mafia lässt sich hier zwar veralbern, kassierte aber Schutzgeld für die Aufnahmen im palermitanischen Viertel Vucciria: nach Angaben des pentito Marcello Fava dreißig Millionen Lire.
1989 wurde der Komiker Franco Franchi vom Ermittlungsrichter Falcone wegen Zugehörigkeit zur Mafia angeklagt. Franchi, im palermitanischen Viertel Vucciria geboren, war bei den privaten Festen der Bosse zu Gast. Der Mafiaaussteiger Antonino Calderone hatte ausgesagt, der äußerst populäre »Ciccio« sei ein Mitglied der Familie von Santa Maria del Gesù und eng mit Stefano Bontate verbunden. Ein Jahr später jedoch stellte der reumütige Mafioso Francesco Marino Mannoia, selbst ein Mitglied dieser Familie, klar: »Er ist kein Ehrenmann, auch wenn er Anfang 1976 nah dran war.« Franco Franchi, gegen den wegen Mitgliedschaft in einer mafiosen Vereinigung Ermittlungen liefen, wurde von allen Vorwürfen entlastet.
Ein paar Jahre zuvor, 1981, war der Schauspieler zusammen mit Barbara Bouchet und Giorgio Castellani in dem Film Crema, cioccolata e paprika aufgetreten. Hinter dem Pseudonym Giorgio Castellani verbirgt sich Giuseppe Greco, der Sohn Michele Grecos, des »Papstes« der Mafia von Ciaculli. Er arbeitete bereits als Regisseur, als er Ende der achtziger Jahre festgenommen und wegen Mitgliedschaft in einer mafiaartigen Vereinigung zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Vom Obersten Gerichtshof Italiens wurde Castellani-Greco freigesprochen und begann sofort mit den Dreharbeiten zu einem neuen Film, I Grimaldi, in dem er die Geschichte seiner Familie erzählt. Der Plot ist schlicht: Ein altersweiser Mann (die Ähnlichkeit mit dem Vater des Regisseurs ist unübersehbar), der mit dem alten Ehrenkodex aufgewachsen ist, wird von einer Drogenhändlerbande angegriffen, kann sie aber besiegen. In dem ganzen Film kommt kein einziges Mal das Wort Mafia vor. Es ist lediglich von »Selbstjustiz« die Rede und von dem Guten, das zuletzt über das Böse triumphiert.
Ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann.
Don Vito Corleone in Der Pate
Die spektakulärsten Verknüpfungen zwischen Mafia und Kino gab es freilich in Hollywood, in den goldenen Jahren des Kinos. Nancy Sinatra, die Tochter des weltberühmten Sängers und Schauspielers, machte nie einen Hehl daraus, dass sie »diese Leute« als Kind aus nächster Nähe kennenlernte. Die amerikanische Antidrogenbehörde und das FBI hatten Frank Sinatra wiederholt wegen seiner heiklen Kontakte insbesondere zu Lucky Luciano im Visier. Er pflegte seit Ende der dreißiger Jahre eine enge Beziehung zu dem reichsten Drogenboss Amerikas, wohl vor allem wegen der gemeinsamen Herkunft: Wie Sinatras Großeltern stammte auch Lucky Luciano aus dem sizilianischen Dorf Lercara Friddi. Legendär waren die rauschenden Feste der sizilianisch-amerikanischen Mafia in Las Vegas, an denen auch Sinatra teilnahm. Oder in Kuba, wo die Mafia mit Rum und Mojitos Orgien feierte und ihre Gipfeltreffen abhielt, zum Beispiel im Dezember 1946 im Hotel Nacional von Havanna.
Die Cosa Nostra hatte ein Hauptquartier im Kuba Fulgencio Batistas und betrachtete die Insel als ihren Hinterhof. Im Hotel Nacional ging die Crème de la crème der Mafia ein und aus: Albert Anastasia, Frank Costello, Joe Adonis, Vito Genovese, Tom Lucchese, Tony Accardi, Santo Trafficante und Meyer Lansky.
Laut FBI war Frank Sinatra »Eigentum der Mafia«; immer wieder hätten ihm »Freunde unter die Arme gegriffen«, heißt es in den Akten. Wenn seine Karriere ins Stocken geriet, wurde sie von einer unsichtbaren Hand wieder in Schwung gebracht. Francis Ford Coppolas Film Der Pate enthält mehrfach Anspielungen auf Sinatra und seine Freundschaft zu Mafiosi, die ihm Gefälligkeiten erwiesen. Am bekanntesten ist die Szene mit dem abgeschnittenen Pferdekopf im Bett des Produzenten. Dieser verweigert Johnny Fontane – die Figur ist Frank Sinatra nachempfunden – die Hauptrolle in einem Kriegsfilm, mit der er sich in Hollywood durchsetzen will. Am Ende bekommt Johnny Fontane seine Rolle.