III Der erste große Schlag gegen die Mafia: der Maxi-Prozess

78. Welche Bedeutung hatte der Maxi-Prozess?

Der Maxi-Prozess brachte die Cosa Nostra erstmals in große Bedrängnis, zugleich ist er das Symbol ihrer schweren Niederlage. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte wurden die Bosse der Cupola gerichtlich verurteilt und die »einheitliche, hierarchische Organisation der Cosa Nostra« vom Kassationsgericht, dem Obersten Gerichtshof Italiens, bestätigt. Die Mafia war also nicht, wie manche glauben machen wollten, eine lose Ansammlung einzelner Banden, die unabhängig voneinander operierten, sondern eine straffe Organisation mit einer klaren Führungsspitze, der Cupola oder Kommission.

Erstmals in Italien wurden Mafiosi nicht aus Mangel an Beweisen freigesprochen, sondern einzig und allein aufgrund der Tatsache verurteilt, dass sie Mafiosi waren, Mitglieder dieser kriminellen Organisation. Der Maxi-Prozess war der erste Sieg des italienischen Staates gegen die Cosa Nostra.

Er begann am 10. Februar 1986 in einem Hochsicherheitsgerichtssaal, dem sogenannten aula bunker, der für siebzig Milliarden Lire (rund 40 Millionen Euro) innerhalb weniger Monate nahe dem Ucciardone-Gefängnis in Palermo gebaut worden war. Nach zweiundzwanzig Verhandlungsmonaten und fünfunddreißig Beratungstagen des Richterkollegiums wurde am 17. Dezember 1987 das erstinstanzliche Urteil verkündet: Neunzehn Angeklagte wurden zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, und über weitere Angeklagte wurden insgesamt 2665 Jahre Haft verhängt; 114 Angeklagte wurden freigesprochen.

In der Berufung am 10. Dezember 1990 wurde die Zahl der lebenslangen Freiheitsstrafen auf zwölf und die der Haftjahre auf 1576 reduziert. Nicht nur die Aufhebung zahlreicher Urteile, auch die Urteilsbegründung der zweiten Instanz war ganz nach dem Geschmack der Mafiosi. Die Tatsache der einheitlichen Organisation, so hieß es jetzt, reiche nicht aus, »um der Kommission die Verantwortung für alle Morde an hochrangigen Persönlichkeiten in Palermo zuzuschreiben«. Wurde das erstinstanzliche Urteil von den Mafiosi als politisch motiviert betrachtet (nach den Hunderten Toten, die sie auf den Straßen Palermos hinterlassen hatten, war kein anderer Schiedsspruch zu erwarten gewesen), so ebnete die Urteilsbegründung der Berufungsinstanz in gewisser Weise den Weg für die Prozesse vor dem Kassationsgericht, um Falcones Anklage in ihrem Aufbau auseinanderzunehmen und seine Ermittlungsarbeit zunichte zu machen.

Mit haarspalterischen Begründungen und Rechtsverdrehungen hatte Richter Corrado Carnevale (Spitzname: der »Urteilskiller«) als Vorsitzender der ersten Strafkammer des Kassationsgerichts Hunderte Urteile aus anderen Prozessen gegen die Bosse von Mafia, Camorra und ’Ndrangheta aufgehoben. Doch 1991 fand am Obersten Gerichtshof ein erbittertes Tauziehen statt, um – letztlich erfolgreich – zu verhindern, dass Richter Carnevale weiterhin automatisch alle Fälle im Bereich der Mafiakriminalität vorgelegt bekam. Am 30. Januar 1992 sprachen die Vereinigten Kammern des Kassationsgerichts im Maxi-Prozess von Palermo das letzte Wort. Der Oberste Gerichtshof erklärte nicht nur die meisten erstinstanzlichen Urteile für rechtskräftig, sondern bestätigte auch die Hauptpunkte von Falcones Anklageschrift zur zentralistischen Struktur der Organisation. Das Urteil bedeutete vor allem eines: Die Mafia existierte, es gab sie tatsächlich.

 

Am 10. November 1987 zogen wir uns zur Beratung zurück, fünfunddreißig Tage lang, vollständig isoliert von der Außenwelt. Es war zweifellos die langwierigste Urteilsfindung seit Menschengedenken. Unser üblicher Tagesablauf (wir waren zwei Berufsrichter und sechs Schöffen) begann um neun Uhr morgens, um ein Uhr gab es eine Mittagspause, von drei Uhr nachmittags bis acht Uhr abends wurde die Beratung fortgesetzt, bis zum Abendessen […]. Weil es im damaligen Klima durchaus vorstellbar schien, dass man versuchen würde, die Richter und Schöffen zu vergiften, traf das Justizministerium eine Vereinbarung mit einer Firma, die uns einen absolut vertrauenswürdigen Koch zur Verfügung stellte. Er bereitete unsere Mahlzeiten aus frischen, unverarbeiteten Zutaten zu, um Manipulationen im Vorfeld auszuschließen. Eine Begegnung mit dem Koch war für uns nicht vorgesehen.

 

Pietro Grasso, in Per non morire di mafia, 2009

 

Der Maxi-Prozess war das Ergebnis der Ermittlungen eines jungen Untersuchungsrichters, der gerade erst aus Trapani nach Palermo gekommen war: Giovanni Falcone. Der Leiter der Ermittlungsbehörde von Palermo, Untersuchungsrichter Rocco Chinnici, der die Nachfolge des von den Corleonesern ermordeten Cesare Terranova angetreten hatte, übergab Falcone Ende 1979 die Akten zur Mafia des palermitanischen Viertels Uditore. Hier herrschten die mächtigen und sehr reichen Familien Spatola, Inzerillo, Gambino und Di Maggio. Sie waren die Aristokratie der Cosa Nostra.

Falcone begann ihre unternehmerischen Aktivitäten zu untersuchen, ihre Bankkonten und ihre Geldtransfers in die Vereinigten Staaten, wo die Verwandten der Bosse lebten. Seine Finanzuntersuchung war die erste Revolution der Antimafia-Staatsanwaltschaft. Falcone erstellte ein Organigramm der Cosa Nostra, das die Verbindungen der Mafiosi und der einzelnen Gruppen untereinander zeigte, und bereitete damit den Maxi-Prozess vor.

Seine Ermittlungen versetzten die Stadt und auch die Justizbehörden in helle Aufregung. Eines Morgens rief Generalstaatsanwalt Giovanni Pizzillo den Leiter der Ermittlungsbehörde, Rocco Chinnici, zu sich und sagte ihm, Falcone ruiniere mit seinen Ermittlungen in Zusammenarbeit mit der Finanzpolizei die Wirtschaft Palermos. »Übertragen Sie ihm einfache Prozesse.« Falcone war gefährlich geworden. Er fuhr im gepanzerten Wagen mit einer Polizeieskorte durch Palermo. Kinobesuche waren für ihn nicht mehr möglich. Die Bewohner des Hauses, in dem er in der Via Notarbartolo wohnte, beklagten sich über das Sirenengeheul. Seine Ermittlungen gegen die Mafiafamilien Spatola und Inzerillo hatten sein Leben schlagartig verändert. Und auch in Palermo war nichts mehr wie zuvor.

 

Die Bewohner von Palermo und der Insel haben die Mafia kennengelernt. Sie haben aber auch andere Dinge gelernt: zum Beispiel, dass die Mafia fast immer straflos davonkommt. Sie haben von den 300 Urteilen der ersten Strafkammer des Kassationsgerichts gelesen; von den Mördern, die seit Jahrzehnten in den Bars der Via Ruggiero Settimo ein und aus gehen und von denen nur per Zufall mal einer festgenommen wird. Sie haben erfahren, dass in den Adressbüchern der großen Mafiosi die Telefonnummern hoher Vertreter des Staates notiert sind – ihre Geheimnummern, versteht sich. Palermo ist eine Stadt des tiefen Schweigens, das nur von heftigen Gewitterstürmen unterbrochen wird.

 

Aus: Giorgio Bocca, L’Inferno, 1992 (Dt.: Verfilzt und

vergiftet. Ein Land in den Fängen der Mafia, 1994)

 

In den ersten Julitagen des Jahres 1983 unterzeichnete Chefermittler Chinnici einen Ermittlungsbescheid gegen Nino und Ignazio Salvo, die mächtigen Steuereintreiber aus Salemi. Sie waren Freunde des Politikers Salvo Lima von der Democrazia Cristiana und Geldgeber der Andreotti-Strömung der Democrazia Cristiana in Sizilien. Am 29. Juli fiel Chinnici einem Attentat »libanesischer Art« zum Opfer. Er wurde durch eine Autobombe im Zentrum von Palermo getötet. Die Cosa Nostra wollte sich nicht den Prozess machen lassen.

Chinnicis Nachfolger wurde der dreiundsechzigjährige Antonino Caponnetto, ein aus Caltanissetta stammender Untersuchungsrichter, der den größten Teil seines Berufslebens in Florenz verbracht hatte. Seine Ankunft in Palermo war ein Segen. In jenen Monaten Ende 1983 entstand in einem dunklen Zwischengeschoss des Justizpalastes von Palermo der berühmte Antimafia-Pool, ein Sonderausschuss zur Bekämpfung der Mafia, in dem die Untersuchungsrichter Giovanni Falcone, Paolo Borsellino, Leonardo Guarnotta und Giuseppe Di Lello zusammenarbeiteten. Drei Jahre später – nach drei Jahren der Isolation und Angst, der Widerstände und Feindseligkeiten eines Großteils der palermitanischen Justiz und der italienischen Richter- und Staatsanwaltschaft – begannen die Untersuchungsrichter die Anklageschriften zu formulieren, die zur Eröffnung des Hauptverfahrens gegen 707 Beschuldigte führten. Insgesamt 8632 Seiten in 22 Ordnern und mit 438 Anklagepunkten: 120 Morde, Mitgliedschaft in einer mafiaartigen kriminellen Vereinigung, Entführung, Erpressung, Drogenhandel und Zigarettenschmuggel.

Die Untersuchung richtete sich zunächst gegen die Familien Spatola und Inzerillo, konnte aber dank der Ermittlungen der Polizeibeamten Antonino Ninni Cassarà und Giuseppe Beppe Montana schon bald ausgeweitet werden. Es waren außergewöhnliche, moderne Fahnder, vor allem aber waren sie absolut integer. Sie waren weder mit denen verfilzt, die in Palermo das Sagen hatten, noch hatten sie etwas mit jenem anderen Palermo zu tun, das gleichgültig, zynisch und fatalistisch war. Cassarà und Montana erstellten einen Bericht über 162 Mafiosi, den rapporto dei 162: über Michele Greco und 161 weitere aus verschiedenen Familien der Stadt und Provinz Palermo, die eng miteinander verbunden und den Bezirkschefs (capimandamento) und den Bossen der Kommission gegenüber rechenschaftspflichtig waren.

Ein erstklassiger Informant hatte Ninni Cassarà Zugang zu den Geheimnissen der Cosa Nostra verschafft: ein Mafioso, der vieles, aber nicht alles erzählte, vor allem aber das, was er sagte, nicht zu Protokoll geben wollte. Es handelte sich um Salvatore Totuccio Contorno, einen Ehrenmann der Familie aus dem palermitanischen Viertel Santa Maria del Gesù. In seinen Berichten an Falcone bezeichnete Polizeikommissar Cassarà ihn mit dem Codenamen »Prima Luce« (»Lichtschimmer«).

 

Die Cosa Nostra ist am Ende: Totuccio, du kannst reden.

 

Tommaso Buscetta zu Salvatore Contorno, Büro der

Kriminalpolizei Latium, September 1984

 

Tommaso Buscetta hatte sich drei Monate zuvor der Justiz als Kronzeuge zur Verfügung gestellt. Am 16. Juli 1984 begann der damals Sechsundfünfzigjährige vor dem Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und dem Leiter der Kriminalpolizei Rom, Gianni De Gennaro, auszupacken. Seine Aussagen in einem Polizeibüro wurden auf Tausenden Seiten protokolliert. In den Vereinigten Staaten, in Brasilien und auch in Italien war Buscetta mehrfach verhaftet worden. Die brasilianische Polizei hatte ihn gefoltert, ihm die Fußnägel ausgerissen und Elektroschocks verabreicht. Sie hatte ihn in ein Flugzeug gesetzt, während des Fluges die Tür geöffnet und damit gedroht, ihn hinauszustoßen. Bis auf seinen Namen hatte Buscetta nie auch nur ein Wort gesagt. Doch in jenem Sommer 1984, nach seiner Festnahme in Brasilien, war ihm klar geworden, dass »seine« Cosa Nostra nicht mehr existierte. Er, der die ganze Welt bereist hatte, begriff, dass für die Stammesgesellschaft, in der er aufgewachsen war, ein wohl unaufhaltsamer Niedergang begonnen hatte.

Buscetta erläuterte Falcone das Prinzip der Territorialität, die Regeln der kriminellen Organisation und den Sprachcode der Ehrenmänner. Er nannte Tausende Namen, Familie um Familie, in jedem Winkel Siziliens. Nach ihm gab es Hunderte weitere pentiti, aber Buscetta war der wertvollste Kronzeuge von allen. Er lieferte Falcone und seinen Nachfolgern den Schlüssel zum Verständnis der Informationen, die aus dem innersten Zirkel der Cosa Nostra kamen.

Doch bevor er auspackte, sagte Buscetta zu dem Untersuchungsrichter: »Ich möchte Sie warnen. Nach diesem Verhör werden Sie berühmt sein, aber Ihr Leben ist für immer gezeichnet. Man wird versuchen, Sie physisch und beruflich zu vernichten. Vergessen Sie nie, dass jede offene Rechnung mit der Cosa Nostra irgendwann einmal beglichen wird.«

 

Chefermittler Rocco Chinnici wurde ermordet, so wie früher oder später alle Ermittler, die wirklich ernst machen, ermordet werden.

 

Antonino Ninni Cassarà, Leiter der Ermittlungs-

abteilung der Kriminalpolizei Palermo, gegenüber der

Zeitung L’Unità im Juli 1985

 

Am 28. Juli 1985, sechs Monate vor Beginn des Maxi-Prozesses, wurde Polizeikommissar Beppe Montana von Totò Riinas Auftragskillern ermordet. Eine Woche später, am 6. August, töteten sie auch Ninni Cassarà – vor den Augen seiner Frau, die vom Balkon aus mit ansehen musste, wie ein neunköpfiges Killerkommando mit Kalaschnikows auf ihren Mann feuerte.

Palermo befand sich im Krieg. Aus Furcht vor Anschlägen wurden Giovanni Falcone und Paolo Borsellino mit ihren Angehörigen eiligst aus Sizilien abgezogen und auf der Gefängnisinsel Asinara vor der sardischen Küste im Gästehaus der Haftanstalt untergebracht. Dort erarbeiteten sie ihre Anklageschriften für den Maxi-Prozess. Ein paar Monate später präsentierte der Staat den beiden Ermittlungsrichtern die Rechnung für ihren Aufenthalt: zigtausende Lire für die konsumierten Getränke. Dies war das Italien, das Mitte der achtziger Jahre gegen die Mafia kämpfte.

Im Sumpf von Palermo endete der Maxi-Prozess zwar mit Verurteilungen, aber Falcone geriet zunehmend ins Abseits. Alle betrachteten ihn jetzt als ihren Feind: die Mafia, die Politik, sogar die Richter und Staatsanwälte. Zuerst wurde er im Justizapparat isoliert, unter den Kollegen in Sizilien und Rom. Nach den erstinstanzlichen Urteilen im Maxi-Prozess Ende 1987 begann für Giovanni Falcone eine schreckliche Zeit des Terrors durch anonyme Briefe, Drohungen und Bomben: eine Destabilisierung, die 1987 begann und am 23. Mai 1992 mit seinem Tod endete. Man wollte ihn aufhalten, mit allen Mitteln.

Das erste klare Signal für diese fast flächendeckende Feindseligkeit war die Ernennung eines Nachfolgers für Antonino Caponnetto als Leiter der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsbehörde von Palermo. Der naheliegende Kandidat war Falcone. Offiziell befürworteten ihn alle, in Wirklichkeit wollte ihn kaum jemand als Leiter dieser Behörde. Es begannen die Machenschaften hinter den Kulissen, um ihn auszubooten. Überraschend wurde Antonino Meli als Kandidat ins Spiel gebracht, der Vorsitzende des Schwurgerichts Caltanissetta, der kurz vor seiner Pensionierung stand. Monate zuvor hatte er sich um das Amt des Gerichtspräsidenten von Palermo beworben, wurde aber von einer Falcone feindlich gesinnten Gruppe innerhalb der Richterschaft überredet, diese Bewerbung zurückzuziehen und sich um den Posten des Chefermittlers zu bemühen. Er hatte Falcone siebzehn Dienstjahre voraus. Damit gedachte er seinen Mitbewerber aus dem Feld zu schlagen, obwohl Falcone das Phänomen Mafia genau kannte und seine Qualifikation für dieses Amt längst unter Beweis gestellt hatte. Im Obersten Richterrat versicherte man Meli, er werde Caponnettos Nachfolger. Diese Zusicherung erhielt auch Falcone. Doch der Oberste Richterrat CSM (Consiglio Superiore della Magistratura) in Rom wählte Meli, Falcone wurde fallen gelassen. Nicht einmal alle, die innerhalb des CSM zu seiner politischen Strömung gehörten, stimmten für ihn. Und die Magistratura democratica, der linke Flügel im Verband der Richter und Staatsanwälte, entzog ihm seine Unterstützung – mit der einzigen Ausnahme Gian Carlo Casellis.

 

In den vergangenen Jahren, in denen ich Ermittlungen zur Mafiakriminalität geführt habe, habe ich stillschweigend die unvermeidlichen Vorwürfe hingenommen, ich sei von Geltungsdrang getrieben und würde unsauber arbeiten. Überzeugt, der Gesellschaft einen nützlichen Dienst zu erweisen, war ich glücklich, meine Pflicht tun zu können, und sagte mir, dies gehöre nun einmal zu den vielen Unannehmlichkeiten, welche die mir anvertrauten Aufgaben mit sich bringen. Ich war mir zudem sicher, die öffentliche Beobachtung der Gerichtsverhandlungen würde zu guter Letzt zeigen – was ja tatsächlich der Fall war –, dass die Ermittlungen, an denen ich beteiligt war, in vollem Einklang mit den Gesetzen durchgeführt wurden. Als sich die Frage der Nachfolge für den Leiter der Ermittlungsbehörde von Palermo, Dr. Caponnetto, stellte, reichte ich meine Bewerbung ein, im Glauben, dies sei der einzige Weg, den Abbau des Bestands an wertvollen Kenntnissen und Professionalität zu vermeiden. Vielleicht war ich zu vermessen, und es gab andere, die die Kontinuität der Behörde in souveräner Weise gewährleisten konnten […]. Doch meine Befürchtungen wurden leider wahr: Die Ermittlungen gegen die Mafia kamen ins Stocken, und der empfindliche Apparat, den die sogenannte Antimafia-Gruppe innerhalb der Ermittlungsbehörde von Palermo bildet, tritt mittlerweile auf der Stelle; auf die Gründe dafür möchte ich hier nicht eingehen. Paolo Borsellino, dessen Freundschaft ich mir als Ehre anrechne, stellte wieder einmal seine staatsbürgerliche Gesinnung und seinen Mut unter Beweis, als er Versäumnisse und Untätigkeit bei der Bekämpfung des Phänomens Mafia öffentlich anprangerte, die für jedermann klar erkennbar sind.

 

Giovanni Falcone, Brief an den Obersten Richterrat CSM,

30. Juli 1988

 

Schon nach wenigen Tagen in seinem neuen Amt als Chefermittler in Palermo begann Antonino Meli mit der systematischen Demontage aller von Falcone geleiteten Ermittlungen. Sein Ziel war die Zerschlagung des Antimafia-Pools. Im Einklang mit der Linie der ersten Strafkammer des Kassationsgerichts unter Vorsitz des Richters Carnevale (in dessen erstaunlichen Urteilen die Cosa Nostra als eine »lose Ansammlung einzelner Banden« ohne eine gemeinsame strategische Führung bezeichnet worden war) splitterte Meli die Ermittlungen, die auf den Aussagen des Mafiaaussteigers und Kronzeugen Antonino Calderone basierten, in rund zwanzig Einzelverfahren auf, mit denen er die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften beauftragte.

Mit einem Federstrich und einem Rundschreiben würgte er die Ermittlungen ab und warf den gerichtlichen Kampf gegen die Mafia um zwanzig Jahre zurück.

Die Ermittler des Antimafia-Pools drohten mit Rücktritt. Paolo Borsellino, Falcones Freund und Mitstreiter, der inzwischen Leitender Oberstaatsanwalt von Marsala geworden war, beklagte in einem Interview mit den Tageszeitungen La Repubblica und L’Unità »das Ende des Kampfes gegen die Mafia« und wurde vom Obersten Richterrat dafür zur Rede gestellt. Jetzt, im Sommer 1988, begann der »Fall Palermo«, die erste einer ganzen Reihe politisch-juristischer Affären, in deren Mittelpunkt stets Giovanni Falcone und seine Ermittlungen zur Cosa Nostra standen.

Nach Antonino Melis Ernennung schloss sich für Falcone noch eine Tür: die des Hochkommissariats zur Bekämpfung der Mafia. Die Stelle des Hochkommissars bekam Domenico Sica, ein Staatsanwalt aus Rom, der ohne viel Erfolg zu allen ungelösten Rätseln Italiens ermittelte und so gut wie keine Ahnung von der Mafia, ihren Strukturen und ihrer Funktionsweise hatte. Für Falcone begann jetzt eine dramatische Phase mit noch heftigeren Anfeindungen.

Im ländlichen Bagheria, nur wenige Kilometer von Palermo entfernt, wurde am 26. Mai 1989 Salvatore Contorno festgenommen. Der ehemalige Mafioso und Kronzeuge der Justiz war nach Sizilien zurückgekehrt, um sich an den Mafiosi zu rächen, die mehrere seiner Familienangehörigen ermordet hatten. Irgendjemand benutzte Contorno, um Falcone zu schaden. Ein anonymer Briefschreiber (als Il Corvo, der Rabe, bekannt geworden) behauptete, Untersuchungsrichter Falcone und die Führung der Polizei hätten Salvatore Contorno nach Sizilien eingeschleust und zu einem »Killer im Auftrag des Staates« gemacht.

Der Corvo war gut informiert, er kannte viele Details der Geschichte. Nach wenigen Wochen konzentrierte sich der Verdacht auf den Staatsanwalt Alberto Di Pisa, der sich mit einem Angriff auf Falcone zu verteidigen suchte. Er behauptete, er habe den anonymen Brief zwar nicht geschrieben, stimme aber mit dessen Inhalt überein. Es wurde ein Untersuchungsverfahren eingeleitet, an dessen Ende Di Pisa entlastet wurde. Nach einem grotesken und trickreichen Verwirrspiel mit Di Pisas Fingerabdrücken wurde er in erster Instanz der Verleumdung in einem besonders schweren Fall schuldig gesprochen und für »die anonymen Denunziationen verantwortlich« gemacht, in der Berufung jedoch freigesprochen: Die fotografischen Aufnahmen des Fingerabdrucks auf dem anonymen Brief, die zum Abgleich mit den Fingerabdrücken des Staatsanwalts im Labor des militärischen Geheimdienstes in Forte Braschi angefertigt worden waren, wurden vom Gericht nicht als Beweismittel zugelassen. Die Generalstaatsanwaltschaft verzichtete darauf, den Freispruch vor dem Kassationsgericht anzufechten. Heute ist Alberto Di Pisa Leiter der Staatsanwaltschaft Marsala und sitzt am selben Schreibtisch, an dem zwanzig Jahre zuvor Paolo Borsellino gesessen hatte.

 

De Gennaro und mit ihm die Leitung der römischen Kriminalpolizei waren genauestens darüber informiert, dass Contorno nach Palermo gekommen war, um sich an den Corleonesern zu rächen und Totò Riina aus seinem Versteck zu holen. All das war im Übrigen mit der Justiz und insbesondere mit den Untersuchungsrichtern Falcone, Ayala und Giammanco abgesprochen, mit denen sich De Gennaro zu dieser Zeit in Palermo getroffen hatte […].

De Gennaro und die ihm unterstellten Staatsanwälte haben also Contorno nach Palermo geholt, wohl wissend, dass er schwere Straftaten begehen würde. Es handelt sich um schwerwiegende Verantwortlichkeiten, wenn man bedenkt, dass Contorno Mineo, Baiamonte, Aspetti, Messicati und Cerva getötet hat […]. Dies sind äußerst gravierende Tatbestände. Es sind regelrechte Morde im Namen des Staates.

 

Aus dem anonymen Brief des Corvo vom Juni 1989, der an

die Staatsanwaltschaft, an den Hochkommissar Domenico

Sica und den Carabinieri-Kommandanten von Palermo,

Oberst Mori, gerichtet war

 

Eine weitaus gefährlichere Folge der Beschuldigungen des anonymen Briefschreibers war der Sprengstoffanschlag von Addaura. Dem Corvo zufolge hatte Falcone Contorno die Lizenz zum Töten erteilt und somit gegen die Spielregeln verstoßen. Damit war er von der Mafia zum Tod verurteilt. Der Corvo konstruierte eine falsche Dynamik der Ereignisse, um ein vordergründiges Motiv für die Ermordung Giovanni Falcones aufzubauen. Er legte eine falsche Spur, die das Attentat von Addaura vorwegnahm.

Am 21. Juni 1989 wurden auf den Klippen von Addaura, vor dem Haus, das Falcone für den Sommer gemietet hatte, achtundfünfzig Dynamitpatronen und Sprenggelatine gefunden. An jenem Tag hatte Falcone zwei Kollegen aus der Schweiz zu Gast: Carla Del Ponte und Claudio Lehmann. In Palermo wurde das Gerücht in Umlauf gebracht, der Ermittlungsrichter selbst habe das Attentat inszeniert, und es sei nur deshalb gescheitert, weil es fingiert gewesen sei. Erschüttert und geängstigt sagte der sonst in seinen Äußerungen eher zurückhaltende Falcone jetzt: »Wir haben es mit raffinierten Köpfen zu tun, die versuchen, bestimmte Aktionen der Mafia zu steuern. Womöglich gibt es Verbindungen zwischen der Führung der Cosa Nostra und geheimen Zentren der Macht, die ganz andere Interessen verfolgen. Ich habe den Eindruck, dies ist das plausibelste Szenario, wenn wir wirklich verstehen wollen, warum jemand mich umbringen will.« Bereits damals also mutmaßte Falcone, was zwanzig Jahre später, 2009, die Staatsanwälte herausfanden: Das Attentat von Addaura war nicht nur von den Bossen, sondern auch von Mitarbeitern der Geheimdienste organisiert worden.

Ein paar Monate nach Addaura wurde Falcone Oberstaatsanwalt in Palermo. Sein Vorgesetzter jedoch war Pietro Giammanco, der Freund einflussreicher Politiker der Democrazia Cristiana, die mit Salvo Lima verbunden waren. Falcone fühlte sich in dieser Behörde nicht wohl, er wurde auf Schritt und Tritt überwacht. Anfang 1991 verließ er Sizilien und ging als Leiter der Generaldirektion für Strafsachen ans Justizministerium nach Rom; Justizminister war Claudio Martelli. Als Kandidat für die Direzione nazionale antimafia (DNA), die Nationale Antimafia-Behörde oder Superprocura, wurde er vom Obersten Richterrat erneut abgelehnt und damit ein weiteres Mal isoliert. Damit war Falcones Tod vorprogrammiert. Er war zum Abschuss freigegeben.

Dieselben, die ihn zu Lebzeiten mit Schmutz beworfen und seine Arbeit behindert hatten, hoben ihn nach seinem Tod in den Himmel. Die politischen Kräfte und Strömungen innerhalb des Justizapparats, die ihn seit Beginn der Ermittlungen zum Maxi-Prozess angegriffen und wahlweise als »Kommunisten«, »Sheriff« und »Torquemada« (nach dem spanischen Großinquisitor des 15. Jahrhunderts) beschimpft hatten, hielten ihn jetzt anderen Staatsanwälten als leuchtendes Beispiel vor. Dies war das schäbige, das scheinheilige Italien.

An seinem letzten Tag als Staatsanwalt in Sizilien war Falcone bei einem Prozess in Catania als Zeuge geladen. Es war der 28. Februar 1991. An diesem Vormittag begegnete ich ihm im Gerichtssaal. Bevor er in den Zeugenstand trat, gingen ich und zwei weitere Journalisten – Francesco La Licata von La Stampa und Felice Cavallaro vom Corriere della Sera – zu ihm, um ihn zum Mittagessen einzuladen. Er sah uns mit listigem, forschendem Blick an, denn wir waren ihm stets auf den Fersen, um ihm ein Statement abzuringen. Dann verzog er den Mund zu einem Lächeln: »Gut, aber unter zwei Bedingungen: keine Interviews, und das Restaurant suche ich aus.« Die erste Bedingung Falcones überraschte uns nicht, wir waren seine Schweigsamkeit gewohnt. Was uns verblüffte, war das Restaurant, in dem er Meeresfrüchte essen wollte: das Costa Azzurra in Ognina am alten Hafen von Catania. Wir kannten es und wussten, dass es von den Ehrenmännern der Familie Santapaola frequentiert wurde, den Bossen im Osten Siziliens, die aufs engste mit den Corleonesern verbunden waren.

Falcone wollte nicht provozieren. Das Restaurant, in dem die Mafiosi ein und aus gingen, hatte er ausgewählt, weil es der sicherste Ort war, um in Ruhe zu essen. Doch leider irrte sich Falcone diesmal.

Wir trafen gegen vierzehn Uhr im Costa Azzurra ein. Das Lokal war leer, bis auf ein Pärchen im hinteren Teil und einen Rechtsanwalt, der in einer Ecke nahe der Küche mit dem Essen fast fertig war. Falcone setzte sich ans Kopfende des Tisches, wir gruppierten uns um ihn herum, seine Eskorte war ein paar Meter entfernt. Sobald der Besitzer, Francesco Alioto, Falcone erblickte, hörte er gar nicht mehr auf, sich zu verbeugen und um ihn herumzuscharwenzeln. Dann servierte er uns den frischesten Fisch, den er hatte. Wir aßen und unterhielten uns stundenlang, ohne uns irgendwelche Notizen zu machen. Gegen drei kam auch Pietro Grasso, damals Mitarbeiter im Justizministerium. Giovanni Falcone war motiviert, er freute sich auf die vor ihm liegende Aufgabe in der Generaldirektion für Strafsachen in Rom. Und obwohl er uns vorgewarnt hatte – »keine Interviews« –, wusste er genau (und war insgeheim damit einverstanden), dass alles, was er sagte, am nächsten Tag in unseren Zeitungen stehen würde. Und so geschah es auch diesmal. Am späten Nachmittag verabschiedeten wir uns von ihm und kehrten ins Hotel zurück, um das, was er gesagt hatte, aufzuschreiben.

Keiner von uns hatte bemerkt, dass uns in dem Restaurant jemand entdeckt hatte, der ein Attentat plante. Die Mafiosi hatten alles vorbereitet, der Anschlag wurde nur deshalb nicht ausgeführt, weil die Killer ihren Boss Nitto Santapaola nicht kontaktieren konnten, um die Freigabe zum Abschuss zu erhalten. Die Geschichte wurde den Ermittlern ein paar Jahre später von mehreren Kronzeugen aus Catania geschildert. Ich erfuhr erst achtzehn Jahre später davon, im Sommer 2009, als ich per Zufall eine Zeitung aufschlug und ein Interview mit dem nunmehrigen Leiter der Nationalen Antimafia-Behörde DNA, Pietro Grasso, las, der daran erinnerte, dass er ebenfalls einst nur knapp dem Tod in einem Restaurant in Catania entkommen war.

 

Sie wissen, wie es ist, mit dem Tod im Nacken zu leben …

Ich bin doch Sizilianer, ein echter Sizilianer. Für mich ist das Leben so viel wert wie ein Knopf an diesem Jackett …

 

Was ist ein Mafioso?

Ein Mafioso ist einer, der sich mit der Macht auskennt, der also versteht, was die Macht ist, und ihre Funktionsweise und ihre Mechanismen durchschaut. Aber nicht alle verstehen, was ein Mafioso wirklich ist. Selbst manchen meiner besten Freunde habe ich es nicht erklären können, Sizilianern wie ich, Palermitanern wie ich […]. Und natürlich ist die Mafia nicht einfach nur eine kriminelle Organisation. Sonst wäre sie längst zerschlagen worden, wie der Terrorismus.

 

Aber warum gehen Sie ausgerechnet jetzt, warum verlassen Sie Palermo und wechseln in ein Ministerium in Rom? Wir haben bis heute in Palermo alles getan, um ein sauberes Zimmer zu bauen, um es möglichst gut zu renovieren, wie ein tüchtiger Maurer. Aber das reicht nicht aus, es kann nicht ausreichen […]. Der Kampf gegen die Mafia darf sich nicht auf ein einziges Zimmer beschränken, der Kampf gegen die Mafia muss sich auf das gesamte Haus erstrecken. Neben dem Maurer braucht man auch einen Bauingenieur. Ich gehe nach Rom, um am Bau dieses Hauses mitzuarbeiten. Wir müssen jetzt in größeren Dimensionen denken und allen klarmachen, dass das Problem keine Grenzen kennt und nicht nur Sizilien, nicht nur Italien betrifft. Es geht jetzt darum, eine gemeinsame europäische Strafgesetzgebung zu schaffen. Die wirtschaftliche Einheit reicht nicht aus, um ein wirklich ziviles Europa aufzubauen, wir müssen aufmerksam auf die Vereinigten Staaten schauen, ja, auf die Amerikaner. Von ihnen können wir einiges lernen.

 

Wir sprechen vom Kampf gegen die Mafia. Haben Sie in den vergangenen Monaten seitens irgendeiner Partei positive Signale entdeckt?

Der Kampf gegen die Mafia ist bis heute eine Frage von Personen. Es gibt keine Partei des Guten oder des Bösen. Auch hier geht die Front quer durch alle Lager […]. Es ist nicht einfach eine Frage der Parteizugehörigkeit. Das Unverständnis ist parteiübergreifend.

 

Es herrscht allenthalben große Mutlosigkeit. Selbst Staatsanwälte des alten Antimafia-Pools von Palermo scheinen kein Vertrauen mehr in einen Staat zu haben, der nicht einmal imstande ist, sich selbst zu verteidigen.

Ich, Giovanni Falcone, bin ein Vertreter dieses Staates. Ich glaube an die Institutionen. Andere bilden sich ein, sie könnten die Dinge von außen ins Lot bringen. Aber der Maurer und der Bauingenieur müssen im Innern des Zimmers, im Innern des Hauses sein.

 

Dottore, ist die Haftentlassung des »Papstes« von Ciaculli eine Niederlage der italienischen Justiz?

Alle Prozesse, in denen es nicht gelingt, den Schuldigen in Haft zu behalten, sind eine Niederlage des Staates. Aber Vorsicht, das ist ganz allgemein gesprochen, und es gilt auch für die Prozesse, bei denen Beweise fehlen, bei denen uns in der Hauptverhandlung die Indizien zwischen den Fingern zerbröseln. Wenn stichhaltige Beweise fehlen, wäre es meiner Ansicht nach besser, einen Prozess erst gar nicht zu beginnen.

 

In den vergangenen Monaten wurde Ihnen vorgeworfen, Sie hätten nach all den Jahren das Handtuch geworfen. Eine Vollbremsung nach dem gescheiterten Attentat von Addaura …

Wer arbeitet, kann nicht jeden Tag etwas vorlegen. Ein Mensch ist dann wirklich ein Mensch, ein reifer Mensch, wenn er nicht ständig etwas beweisen muss. Sicher wäre ich glücklich, überglücklich, wenn es hieße: »Der ist gut, der ist richtig gut, dieser Giovanni Falcone.« Aber man braucht Reife, ich habe gelernt, wie unverzichtbar dies ist, man kann es nicht allen recht machen.

 

Eine letzte Frage: Wie geht es Ihnen heute, wie fühlen Sie sich jetzt nach zwölf außergewöhnlichen, schweren Jahren, die Sie in Palermo verbracht haben?

Ich fühle mich wie jemand, der in ein vom Sturm aufgewühltes Meer eintaucht.

 

La Repubblica, 1. März 1991