Mafia ist das vielleicht weltweit bekannteste italienische Wort. Es findet sich in den Wörterbüchern und Lexika aller Länder, von Lateinamerika bis Australien und vom Maghreb bis Japan. Mit ziemlicher Sicherheit hat es seinen Ursprung im arabischen maha fat, das soviel wie Schutz, Immunität bedeutet.
Das Wort »Mafia« hatte vor hundert Jahren eine andere Bedeutung als in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts oder nach der Ermordung der Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Jede Epoche hatte ihre eigene Mafia.
Sie ist eine Geheimorganisation mit ihren Regeln und ihren Bossen, ihren Territorien und ihrem Heer von Mördern, die sich als Ehrenmänner bezeichnen.
Die Kriminalität der Mafia ist anders als die gewöhnliche Kriminalität. Die gewöhnliche Kriminalität war immer ein Randphänomen der Gesellschaft und wurde vom Staat stets bekämpft. Die Kriminalität der Mafia dagegen war stets Teil der Gesellschaft und wurde vom Staat geschützt.
Seit dem 25. April 1865. An jenem Tag tauchte das Wort »Mafia« zum ersten Mal in einem Bericht auf, den der Präfekt von Palermo, Filippo Antonio Gualterio, an den Innenminister schickte. Über die Mafia redet – und schwafelt – man seit 150 Jahren.
Auch wenn 1865 das offizielle Entstehungsdatum ist, so begann die »Inkubationszeit« der Mafia doch mindestens hundert Jahre früher: unter den Bourbonen, im Königreich beider Sizilien. Damals munkelte man von Sekten, Bünden und Bruderschaften unter dem Kommando eines Anführers, der ein Landbesitzer, eine prominente Persönlichkeit oder gar ein Priester sein konnte.
Zwei Jahre vor Gualterios Bericht wurde in Palermo ein Theaterstück in sizilianischem Dialekt aufgeführt, das den Titel trug: I mafiusi della Vicaria (Vicaria war das alte Gefängnis der Stadt). Doch in dieser volkstümlichen Komödie, die Gaspare Mosca geschrieben und Giuseppe Rizzotto 1863 erfolgreich inszeniert hatte, kam »Mafiosi« nur im Titel vor.
In den Latifundien der Provinzen im Inselinnern, in Palermo und vor allem in den ländlichen Gebieten rund um die Stadt: in den Zitronen- und Orangengärten der Ebene von Palermo, die einst Conca d’Oro, Goldenes Becken, genannt wurde, aber auch im gesamten Küstenstreifen von Cefalù bis zur Westspitze Siziliens. Dort war die Mafia, wie die Präfekten in ihren Berichten Ende des 19. Jahrhunderts schrieben, »in den Sitten und Gebräuchen verwurzelt und wurde mit dem Blut vererbt«.
Ihre Ursprünge liegen also vor allem im Großraum Palermo und in den Latifundien, von denen sich im Lauf der Jahrzehnte die Barone, Grafen und »Ritter« zurückzogen. An ihrer Stelle schwangen sich die campieri (Feldhüter) und soprastanti (Aufseher) zu Herren auf. Sie standen zwischen den Landbesitzern und den Halbpächtern (mezzadri) und wurden dafür bezahlt, dass sie die Interessen der Aristokraten gegen die Bauern verteidigten, die das Land für sich beanspruchten.
»Von Polizzello aus wird ganz Sizilien verteidigt.« Dieser Schlachtruf erscholl noch Mitte des vorigen Jahrhunderts über die ganze Insel. Polizzello war ein Latifundium an der Grenze zwischen den Provinzen Palermo, Agrigent und Caltanissetta. Mit der großen Landreform von 1950 waren die Feldhüter von Mittelsmännern zu Landbesitzern aufgestiegen. Etwa 500 000 Hektar sizilianischen Bodens waren in die Hand der Familien Genco Russo und Vizzini im Inselinnern, Di Carlo in der Provinz Agrigent und Licari in der Provinz Trapani gelangt. Die Caruana und die Cuntrera aus Siculiana waren die Feldhüter des Barons Agnello und Francesco Messina Denaro Feldhüter der D’Alì aus Trapani gewesen. Die Familie des Bosses Michele Greco betreute die Ländereien der Adelsfamilie Tagliavia und eignete sich dann ihren Grundbesitz einschließlich des Guts Verbumcaudo an: 130 Hektar, die vom Madonien-Gebirge bis zum Fluss Imera hinunterreichten. Auch Luciano Liggio war Feldhüter gewesen und hatte das Gut Strasatto bei Corleone verwaltet.
Die Adligen waren inzwischen alle in die Stadt gezogen und verprassten dort ihr Vermögen. In Palermo hatten sie Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre damit begonnen, ihre Ländereien mit herrlichen Villen aus dem 18. Jahrhundert zu verscherbeln – Bauland für aufstrebende Mafiosi im Tausch gegen Bargeld, das die mittlerweile völlig verarmten Barone so dringend benötigten. Hier entstanden dann die Mietskasernen der Mafia.
Der Ehrenmann ist wie eine Spinne. Das ganze Leben lang spinnt er, knüpft er Netze von Freundschaften, Gefälligkeiten, Erpressungen und Bekanntschaften. Die Ehrenmänner betrachten sich als Repräsentanten einer kriminellen Elite und fühlen sich gewöhnlichen Kriminellen überlegen: Ihnen ist klar, dass sie die allerschlimmsten sind. Sie leben in einer geschlossenen Welt mit festen Regeln, die sie strikt einhalten müssen. Wer in die Cosa Nostra eintritt, kommt nicht mehr heraus. Die Cosa Nostra verlässt man nur als Toter.
Einige werden erwählt, anderen ist es vorbestimmt. Einige werden in die Cosa Nostra aufgenommen, weil sie die Eigenschaften unter Beweis stellen, die für eine Mitgliedschaft in der Geheimorganisation erforderlich sind, andere folgen mit ihrem Beitritt einer Familientradition. Leonardo Messina, einem Ehrenmann aus der Provinz Caltanissetta, war es vorherbestimmt. »Ich vertrete die siebte Generation, die der Cosa Nostra angehört. Es war mir vom Schicksal vorherbestimmt, in meinem Heimatort San Cataldo eine wichtige Persönlichkeit zu werden. Und in gewisser Weise bin ich es ja auch geworden«, erzählte Messina im Sommer 1992, als er sich von der Mafia lossagte.
Die Ehrenmänner sind umgeben von ihren Leuten: einer Schar von Helfern und Unterstützern, die der Cosa Nostra von außen dienen. Sie sind die avvicinati, die Angesprochenen, all jene, die früher oder später in die Organisation eintreten könnten.
Über einen langen Zeitraum hinweg, der je nach Person zwei, zehn oder auch fünfzehn Jahre dauern kann, wird der avvicinato begleitet, beobachtet und unterwiesen, nach allen Regeln der Kunst. Die Mafiosi erziehen ihn, studieren ihn und bringen ihm das Schießen und Töten bei. Sie stellen ihn auf die Probe. Wenn sie meinen, er sei so weit, geben sie ihm zu verstehen, dass er bald in die Organisation eintreten kann. Das entscheidende Moment für diesen mafiosen Werdegang ist der Initiationsritus.
Früher hatte diese Zeremonie Ähnlichkeit mit einem Fest. Der Neuling wurde von seinem Paten allen anderen Mitgliedern der Familie vorgestellt, er wurde in die ersten Geheimnisse der Cosa Nostra eingeweiht, und zwar unmittelbar nach der punciuta (bei der die Kuppe des Zeigefingers der rechten Hand – der Schießhand – mit einer Nadel angestochen wird) und nach dem Treueschwur auf ein Heiligenbildchen, das in seinen Händen verbrannt wird. Damit war der »Angesprochene« eingebunden (combinato). Die Palermitaner benutzten für die punciuta den Dorn einer bitteren Orange. Man sagt, die Familie Di Cristina aus Riesi habe eine goldene Anstecknadel benutzt.
Die Cosa Nostra nimmt nicht jeden auf. Die Universität des Verbrechens fordert zunächst Tapferkeit, die Fähigkeit, Gewaltakte auszuführen, somit auch zu töten. Das sind jedoch nicht die wichtigsten Voraussetzungen. Töten zu können ist eine notwendige Fähigkeit, aber noch nicht ausreichend.
Giovanni Falcone, aus Cose di Cosa Nostra, 1991.
Dt. unter dem Titel Inside Mafia, 1992
Über fünftausend. Die letzte Zählung der Ermittler ergab exakt 5113 Mafiosi, verteilt auf 181 Familien im Westen Siziliens und in deutlich geringerem Umfang im Osten. Die einzige Provinz der Insel, in der es keine Familie der Cosa Nostra gibt, ist Ragusa. Die meisten Mafiosi gibt es in Palermo: 3201 Mitglieder und 89 Familien. Viele von ihnen landeten nach den Attentaten im Sommer 1992 im Gefängnis, wo sie, teilweise zu mehrfacher lebenslanger Haft verurteilt, kaum noch eine Chance auf ein Leben in Freiheit haben.
Ihre Mitglieder nennen die Mafia nicht Mafia, sondern Cosa Nostra, »unsere Sache«. Sich selbst bezeichnen sie als »Ehrenmänner« oder »Soldaten«, nicht als Mafiosi. Die allgemein Cupola, Kuppel, genannte Regierung der Cosa Nostra heißt bei den Ehrenmännern »Kommission«.
8. Warum gibt es in Ragusa keine Cosa Nostra? Gibt es andere Dörfer oder Städte in Sizilien ohne Ehrenmänner?
Im südlichsten Streifen der Insel, der geographisch ein paar Dutzend Kilometer südlich von Tunis liegt, wurden bereits im späten 16. Jahrhundert (als Ragusa zur Grafschaft Modica gehörte, dem wichtigsten Feudalstaat Siziliens) Abertausende Hektar Land an die Bauern verteilt. Damit wurde Jahrhunderte früher als in anderen Gegenden Siziliens das Latifundiensystem aufgebrochen, das die Grundlage für die Entstehung der Mafia bildete – und damit ergab sich auch für den Landadel und das entstehende Bürgertum eine andere Entwicklung.
In den letzten vierzig Jahren versuchte die Mafia auch in Ragusa Fuß zu fassen, auch aufgrund der räumlichen Nähe zu kleineren Zentren der Cosa Nostra wie Riesi und Mazzarino, Niscemi und in jüngerer Zeit Gela. Jedenfalls verfügte die Cosa Nostra in Ragusa nie über eine eigene Familie, sondern lediglich über örtliche kriminelle Banden als Bezugspunkt.
Auch an einigen Orten im Osten der Insel hat die Cosa Nostra keine Vertreter. Die Sizilianer sagten früher selbst, dass es auf dieser Seite keine Mafia gibt. Daher nannten sie Messina città babba, die dumme, arglose Stadt: eine Stadt ohne Mafia. In Wahrheit ist die Cosa Nostra zwar in den westlichen Provinzen Siziliens entstanden, hat sich aber in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch auf die andere Seite ausgebreitet. Die erste Familie der Cosa Nostra entstand 1925 in Catania. Anfang der fünfziger Jahre zogen die Conti aus Palma di Montechiaro in der Provinz Agrigent nach Ramacca und baten die Familie von Catania um die Erlaubnis, dort eine weitere Mafiafamilie zu gründen. Städte wie Messina oder Syrakus wurden im Laufe der Zeit immer weniger »arglos« und immer mafialastiger.
Wie eine Pyramide. Ihre Basis bilden die Ehrenmänner, ihr Kern ist die »Familie«, die territorial organisiert ist und einen Ort oder ein Stadtviertel kontrolliert. Je nach Größe der Familie bilden die Ehrenmänner Gruppen aus zehn, zwanzig, manchmal auch dreißig Mitgliedern, die sogenannten decine (von decina, etwa zehn), mit einem capodecina (Zehnerführer) an der Spitze. Jede Familie hat einen Boss, der »Repräsentant« genannt wird. Der Boss hat einen Stellvertreter sowie einen oder mehrere Berater (consiglieri).
Mehrere Familien, in der Regel zwei oder drei, bilden einen Bezirk (mandamento). Die capimandamento (Bezirkschefs) wählen aus ihren Reihen den Chef der Provinzkommission, die das höchste Entscheidungsgremium auf territorialer Ebene darstellt. Wenn eine Familie keinen Boss hat, weil er im Gefängnis sitzt oder ermordet wurde, ernennt die Kommission einen Statthalter (reggente), bis ein neuer Boss bestimmt ist. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts richteten die Bosse auch ein provinzübergreifendes Gremium ein, um die Geschäfte und Interessen der Cosa Nostra in den verschiedenen Territorien der Insel zu regeln.
Vor dreißig Jahren verfügte die Cosa Nostra auch über eine Regionalkommission mit Giuseppe Calderone an der Spitze, einem Mafioso aus Catania, der aber nur ein Ehrenamt bekleidete. Ein paar Mafiaaussteiger, die als Kronzeugen mit der Justiz zusammenarbeiteten, sprachen darüber hinaus von einer »Weltkommission«, die jedoch in den Augen der Ermittler eher Phantasie als Realität ist.
Diese Struktur hatte Bestand, bis Totò Riina die Organisation immer stärker zentralisierte. Er erweiterte die Bezirke willkürlich und zu seinem eigenen Vorteil und krempelte die geographischen Machtverhältnisse innerhalb der Mafia vollkommen um. Er allein legte die Grenzen eines Bezirks fest und bestimmte, welche Familien darin zusammengefasst wurden. Totò Riina entschied, dass die Cosa Nostra keine Geheimgesellschaft mehr sein sollte, in der es in gewisser Weise sogar »demokratisch« zuging, wie es der Mafioso Leonardo Messina beschrieben hatte: In manchen Familien (etwa des Viertels Santa Maria del Gesù in Palermo) wurde der »Repräsentant« nach einer internen Debatte gewählt. Riina, der Boss von Corleone, setzte dieser Tradition ein Ende, die fast eineinhalb Jahrhunderte lang befolgt worden war. Er bemächtigte sich der Cosa Nostra durch einen Putsch, der ihn zum Diktator machte und es ihm erlaubte, mindestens zwanzig Jahre lang die Spitze der Pyramide zu besetzen. Cosa Nostra (»unsere Sache«) wurde zu Cosa Sua (»seine Sache«).
Die erste Regel ist das Schweigen. Der Ehrenmann darf sich den anderen nicht zu erkennen geben, er darf nicht sagen, dass er zur Mafia gehört. Er weiß jederzeit genau, wie er sich zu verhalten hat. In einer auf dem Geheimnis beruhenden Gesellschaft kommt es einzig und allein darauf an, was man sagt und was man nicht sagt. Was gesagt wird, kann über Leben und Tod entscheiden.
Der Ehrenmann spricht wenig und hört viel zu. Einem anderen Ehrenmann gegenüber jedoch ist er verpflichtet, stets die Wahrheit zu sagen: Das ist eine weitere Regel der Cosa Nostra, die der internen Kommunikation dient. Die ist ohnehin gering, und gerade deshalb muss gewährleistet sein, dass die innerhalb der Organisation kursierenden Nachrichten stimmen.
Doch Regeln sind dazu da, dass man sie bricht, auch in Mafiakreisen. Die Ehrenmänner sagen nicht die Wahrheit, wenn sie einander befehden; sie sagen nicht die Wahrheit, wenn sie falsche Spuren legen wollen; sie sagen nicht die Wahrheit, wenn die Bosse ihren Gefolgsleuten gewisse heikle Angelegenheiten vorenthalten wollen.
Wenn der Ehrenmann etwas tut, was als ein schwerwiegendes Vergehen betrachtet wird, wenn er »krumm« ist, storto, wie sie es nennen, muss er sterben. Bei einem geringfügigeren Vergehen wird er entweder ins Aus gestellt (im Mafiajargon posato, »weggestellt«) oder »aus der Vertraulichkeit entlassen« (messo fuori confidenza). Der Ausgestoßene weiß nicht, warum er plötzlich außerhalb der Familie steht. Wer aus der Vertraulichkeit entlassen wurde, wird von seinem capodecina darüber informiert.
Auch wichtige Mafiabosse wurden kaltgestellt, zum Beispiel Tommaso Buscetta, der später zum Kronzeugen der Justiz wurde. Sein turbulentes Liebesleben mit drei Frauen und mehreren Geliebten war ein Lebensstil, der der Cosa Nostra nicht gefiel. Kaltgestellt wurde sogar Gaetano Badalamenti, der damals an der Spitze der Kommission von Palermo stand. Aber niemand hat je erfahren – und weder Buscetta noch sonst jemand hat es erzählt –, aus welchem Grund die anderen Bosse der Organisation diese Entscheidung trafen.
Die Welt der Cosa Nostra ist voller Gesetze, Regeln und Richtlinien, die streng zu befolgen sind. Ein Ehrenmann darf sich beispielsweise nie aus freien Stücken einem anderen Ehrenmann vorstellen. Das hat einen einfachen Grund: Keiner der beiden hätte die Gewissheit, mit einem Mitglied der Organisation zu sprechen. Es muss immer ein dritter Ehrenmann dabei sein, der beide als Ehrenmänner kennt und für sie einsteht. Gewöhnlich sagt er bei der Vorstellung: »Er ist wie wir« (lui è come a noi). Oder: »Er ist von derselben Sache« (questo è la stessa cosa).
Das Familienoberhaupt (capofamiglia) wird von allen Mitgliedern der Familie gewählt. Der Vizechef (sottocapo) wird vom Familienoberhaupt berufen, ebenso der Zehnerführer (capodecina) […]. Das Familienoberhaupt behält stets das letzte Wort. Der Berater (consigliere) hat die Aufgabe, die Familie zusammenzuhalten und Ratschläge zum Wohl der Familie zu erteilen.
Der Bezirk (mandamento) entspricht einer Familie, die einen Sitz in der Kommission hat.
Der Kommission gehören alle Bezirkschefs (capimandamento) an […]. Sie soll den Ausgleich unter den Familien und innerhalb der Cosa Nostra herstellen und die heikelsten Probleme erörtern und lösen.
Man kann sich nicht von sich aus einem anderen unserer Freunde vorstellen, das tut ein Dritter. Man schaut die Frauen unserer Freunde nicht an.
Man macht sich nicht mit der Polizei gemein. Man besucht weder Kneipen, noch tritt man Vereinen bei. Man hat die Pflicht, für die Cosa Nostra jederzeit verfügbar zu sein, selbst wenn die Ehefrau kurz vor der Entbindung steht. Der Ehefrau ist Respekt zu zollen.
Man darf sich nicht Gelder aneignen, die anderen oder anderen Familien gehören.
Niemand kann der Cosa Nostra beitreten, der einen engen Verwandten in den Reihen der Ordnungskräfte hat, in dessen Familie es einen Fall von ehelicher Untreue gibt, der übles Verhalten zeigt oder die Werte der Moral nicht hochhält.
Aus den am 5. November 2007 im Versteck von
Salvatore Lo Piccolo beschlagnahmten Papieren
Da gibt es vieles, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung. Die Gebote und Verbote gelten heute noch wie vor hundert Jahren. Ende 2007 wurde im Versteck des palermitanischen Bosses Salvatore Lo Piccolo, der siebenundzwanzig Jahre lang untergetaucht war, ein Heft mit den Regeln der Cosa Nostra gefunden, eine Art Fibel für die avvicinati, denen früher oder später die Ehre zuteil werden sollte, der Organisation beizutreten.
Es handelt sich um einen Auszug dessen, was man als die »Verfassung« der Cosa Nostra bezeichnen könnte. Diese Regeln galten in den 1930er Jahren, als Melchiorre Allegra sie enthüllte, ein Arzt aus Gibellina, der den Carabinieri seine Mitgliedschaft in der Mafia gestand. Sie galten zur Zeit Tommaso Buscettas, und sie gelten noch heute, bei der Cosa Nostra der letzten Jahre.
Ehrenmännern ist es kategorisch verboten, sich an die Justiz zu wenden: jemanden anzuzeigen oder zu beschuldigen oder eine Zeugenaussage zu leisten. Ein Ehrenmann darf sich zur Lösung eines Problems niemals an den Staat wenden. Eine Ausnahme allerdings gibt es: wenn ihm sein Auto gestohlen wird. In diesem Fall darf der Mafioso bei der Polizei Anzeige erstatten. So ist er auf der sicheren Seite, falls der Dieb eine Straftat begeht.
Ein anderes Verbot der Cosa Nostra geht in die späten 1970er Jahre zurück, als die Kommission den Entschluss fasste, in Sizilien keine Entführungen mehr durchzuführen. Die Corleoneser hatten ohne Wissen der anderen Familien gerade Luciano Cassina entführt, den Sohn des größten Unternehmers von Palermo. Damals organisierte bereits seit ein paar Jahren Luciano Liggio, der gleichfalls zu den Corleonesern gehörte, Entführungen in Mailand und in der Lombardei. Nun beschloss die Kommission von Palermo, künftig auf Entführungen zu verzichten, die nur Angst und soziale Spannungen schürten und die Cosa Nostra dem Druck polizeilicher Ermittlungen aussetzten. Vor allem aber, so die Argumentation der Mafiosi, lehne »die Bevölkerung derartige Aktionen vehement ab; und wir sind mit den Leuten und nicht gegen sie«.
Ein weiteres Verbot betrifft die Zuhälterei. Mit Sex Geld zu verdienen war für die sizilianischen Ehrenmänner schon immer unehrenhaft, im Unterschied zur amerikanischen Cosa Nostra, die sich seit jeher an den »Mädchen« bereichert hat. Dasselbe gilt für Glücksspiel und Wucher.
In den letzten Jahren allerdings verlangt die Cosa Nostra auch von den Betreibern von Spielhöllen und von den Wucherern in Palermo Schutzgeld (den pizzo). Die Mafiosi führen zwar selbst keine Spielhöllen und verleihen kein Geld gegen Wucherzinsen, holen sich aber trotzdem so oder so den Zaster, die piccioli, die bei Glücksspiel und Wucher anfallen.
Die Cosa Nostra tut alles, was Reichtum verspricht, und findet dann immer einen Weg, um sich moralisch zu rechtfertigen und die eigenen Grundsätze zu wahren.
Im Herbst 1989 begann der Untersuchungsrichter Giovanni Falcone mit dem Verhör des Mafiaaussteigers Francesco Marino Mannoia. »Das Milieu der Schmuggler«, sagte Mannoia, »war für einen Ehrenmann wie mich wenig würdevoll.« Doch Mitte bis Ende der sechziger Jahre, als die Geschäfte der Cosa Nostra in eine Krise gerieten, wurden viele dieser Schmuggler zu Ehrenmännern gemacht, auch solche, die nach Ansicht der Mafia jener Zeit gar nicht die dafür notwendigen »Qualitäten« aufwiesen. So wie Tommaso Spadaro, der König der Kalsa, eines Viertels in der Innenstadt von Palermo: viel zu angeberisch, viel zu auffällig für die sprichwörtliche Diskretion der Ehrenmänner. Doch Spadaro half der Cosa Nostra, zu Geld zu kommen. Und so nahmen sie ihn in die Familie von Porta Nuova auf, wo Pippo Calò das Sagen hatte; auch Michele Zaza, der von der Insel Procida im Golf von Neapel stammt, wurde aufgenommen.
Bis vor nicht allzu langer Zeit war es undenkbar, dass ein Nichtsizilianer ein Ehrenmann werden konnte. Aber Tommaso Spadaro und Michele Zaza beherrschten den Zigarettenschmuggel im gesamten Tyrrhenischen Meer, und durch ihre Aufnahme in die ehrenwerte Gesellschaft bemächtigte sich die Cosa Nostra ihrer Schiffe, ihrer Routen und ihrer Kontakte. Und schon bald schmuggelten die Schiffe nicht mehr nur Zigaretten, sondern auch Drogen.
Der Kopf eines Mannes wurde auf dem rechten Vordersitz eines grünen Ford Escort gefunden, der auf der Piazza Giulio Cesare, fünfzig Meter vom Hauptbahnhof Palermo entfernt, in zweiter Reihe abgestellt worden war. Im Kofferraum fanden die Ermittler den Körper des Ermordeten. An der Windschutzscheibe des Fahrzeugs wurde um 11.35 Uhr ein Strafzettel wegen Falschparkens befestigt. Die Polizei musste Hunderte Neugierige auf Distanz halten, während sie auf den Staatsanwalt wartete. Das Opfer trug eine braune Hose und ein blaues T-Shirt. Laut dem Gerichtsmediziner war dem Mann mit einer Säge der Kopf abgeschnitten worden. Die Leiche hatte man in einen großen Müllsack gesteckt. Der Ermordete konnte identifiziert werden: Es handelt sich um Vito Riccobono, vierzig Jahre alt, der aus dem Viertel Kalsa nahe dem Hauptbahnhof stammte und wegen Zigarettenschmuggels vorbestraft war.
Nachrichtenagentur Ansa, 8. Juni 1983
Wann immer sie es für notwendig erachtet. Wenn sie in einer Krise steckt, wenn ihr inneres Gleichgewicht gestört ist und sich die Probleme anders nicht mehr lösen lassen. Sie tötet auch, wenn sie mit jemandem abrechnen will.
Es gibt verschiedene Arten des Mafiamords: den präventiven und den demonstrativen. Die Mafia mordet präventiv, um eine Gefahr von der Organisation abzuwenden. Der demonstrative Mord dagegen dient als Warnung und bedeutet eine Drohung, die Angst erzeugt.
Präventiv war die Ermordung des Untersuchungsrichters Cesare Terranova am 25. September 1979, kurz bevor er sein Amt als Leiter der Ermittlungsbehörde von Palermo antreten konnte. Terranova hatte Ende der 1950er Jahre die Corleoneser entdeckt, als er zum Mafiakrieg ermittelte, den Luciano Liggio in Corleone bei Palermo gegen Michele Navarra entfacht hatte.
Als einen demonstrativen Mord kann man den Anschlag auf Mario Francese betrachten, den Gerichtsreporter des Giornale di Sicilia, der am 26. Januar 1979 gleichfalls von den Corleonesern getötet wurde. Sie brachten ihn zum Schweigen, doch seine Ermordung hatte einschüchternde Wirkung auf alle Journalisten, die über die Mafia schrieben.
Manche Mafiamorde sind präventiv und demonstrativ zugleich, etwa der an dem christdemokratischen Präsidenten der Region Sizilien, Piersanti Mattarella, am Dreikönigstag des Jahres 1980. Mattarella hatte kurz zuvor angekündigt, für alle leitenden Beamten der Region, die »Unantastbaren«, das Rotationsverfahren einzuführen, und eine Überprüfung der Vergabe von öffentlichen Bauaufträgen angeordnet, die die Gemeinde Palermo den Bossen zugeschanzt hatte. Er war entschlossen, in seiner Partei aufzuräumen und die sizilianische Democrazia Cristiana zu erneuern.
Wenn die Mafia früher nicht schoss, sondern sich ruhig und unauffällig verhielt, so war dies ein Zeichen dafür, dass innerhalb der Cosa Nostra alles gut lief, dass alles in Ordnung war. Wenn sie heute nicht schießt, dann deshalb, weil ihr die Kraft dazu fehlt, und vor allem, weil sie kein Interesse daran hat, in den Fokus der Öffentlichkeit zu treten: Sie möchte nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Es gab natürlich Phasen, in denen die Mafia schoss, um ihre Vormachtstellung zu behaupten – beispielsweise 1980/81, als der zweite Mafiakrieg die Corleoneser an die Macht brachte.
Der Mafiamord unterliegt strengen Regeln. Ohne die Genehmigung seines Familienoberhaupts darf ein Ehrenmann keinen Mord begehen, nicht einmal in dem Territorium, in dem er lebt. Wenn der Mord einen anderen Bezirk betrifft, ist seine Familie gezwungen, die Genehmigung des jeweiligen Bezirkschefs einzuholen. Das ist das Territorialitätsprinzip der Cosa Nostra.
Bei Morden an prominenten Persönlichkeiten – Richtern und Staatsanwälten, Politikern, Polizisten, Carabinieri-Offizieren und Journalisten – liegt die Entscheidung allein bei der Kommission.
Wie es am zweckmäßigsten ist. Wenn die Öffentlichkeit erfahren soll, dass die Organisation jemanden umgebracht hat, ist ihre Handschrift erkennbar. Wenn sie die Sache lieber im Verborgenen hält, lässt sie die Leiche spurlos verschwinden. Ein solcher Mord heißt in Sizilien lupara bianca, »weiße Flinte«: eine Entführung ohne Rückkehr, ein Mord ohne Leiche.
Die lupara bianca ist die geräuschloseste Art, jemanden umzubringen, aber auch die komplizierteste, die am schwersten durchzuführende. Man muss das Opfer nämlich in eine Falle locken, und in der Regel ist die Zielperson schon alarmiert, sie ahnt bereits, dass sie erledigt werden soll. Wem kann es also gelingen, sie in einen Hinterhalt zu locken, wer kann sie dazu überreden, in eine Falle zu tappen? Ein guter Freund, ein Verwandter, ein Cousin, ein Onkel, ja sogar ein Bruder: jemand, der das volle Vertrauen des Opfers genießt und es verrät, um sein eigenes Leben zu retten. Man beruhigt das Opfer und wiegt es in Sicherheit. Es ringt sich dazu durch, ein Treffen zu akzeptieren, es geht hin und wird von vier Männern erdrosselt. Nach dem Mord findet man nur den abgestellten Wagen des Opfers, mit dem Schlüssel im Zündschloss. Keine Patronenhülsen. Kein Blut, keinen Toten, den die Familie betrauern kann, und keine Leiche, um polizeiliche Ermittlungen aufzunehmen. Die Mafiosi sagen, die lupara bianca sei die »sauberste« Art, jemanden umzubringen.
Während des Baubooms in den sechziger Jahren wurden viele dieser Leichen im frisch gegossenen Beton entsorgt. Man sagt, sie ruhen in den tragenden Wänden von Palermos Wohnhäusern. In den achtziger und neunziger Jahren wurden sie in Säure aufgelöst. Wo es keine Leiche gibt, gibt es auch kein Verbrechen: Ohne das corpus delicti gibt es auch kein Delikt. Die Schränke der Ermittlungsbehörden Siziliens – bei den Gerichten, den Mordkommissionen der Polizei und den Einsatzgruppen der Carabinieri – quellen über von Akten, auf deren Deckel nur der Buchstabe M für Mafioso, ein Kreuz und das Wörtchen »verschwunden« stehen.
Durch die lupara bianca kommen nicht nur Ehrenmänner zu Tode. Man lässt auch gefährliche Zeugen verschwinden: solche, die zu viel gesehen und zu viel gehört haben.
Es war fast neun Uhr abends, als er direkt vor seinem Haus in der Via delle Magnolie verschwand, einer Straße im neuen Teil Palermos. Nach Verlassen der Redaktion hatte er mit seinem BMW vor der Bar in der Via Pirandello angehalten und ein halbes Pfund gemahlenen Kaffee gekauft, drei Päckchen filterlose Zigaretten der Marke Nazionali und eine Flasche Bourbon. Er war gerade dabei einzuparken, als seine Tochter Franca, die am Tag darauf heiraten sollte, vom Fenster aus beobachtete, wie ihr Vater »mit zwei oder drei Männern sprach«. Dann fuhr der BMW plötzlich wieder los. Man fand den Wagen am nächsten Morgen am anderen Ende der Stadt. So ist Mauro De Mauro am Abend des 16. September 1970 verschwunden, für immer.
Er war ein Reporter von L’Ora, der Tageszeitung jenes anderen Palermo, das sich gegen üble Machenschaften und gegen die Mafia engagierte. Er wurde 1921 in Foggia geboren, ein Bruder war im Krieg ums Leben gekommen, ein anderer, Tullio, war ein angesehener Sprachwissenschaftler, der Jahre später Bildungsminister werden sollte. Wenige Tage vor seinem Tod hatte Mauro De Mauro seinen Kollegen in der Redaktion anvertraut: »Ich bin an einer Geschichte dran, die Italien erzittern lassen wird.«
Als Jugendlicher hatte De Mauro den Fürsten Junio Valerio Borghese kennengelernt und sich zum Dienst unter dessen Kommando in der Decima Mas gemeldet, der Marineinfanterie von Mussolinis Republik von Salò. 1945 setzte er sich unter falschem Namen nach Sizilien ab, 1960 trat er der Redaktion von L’Ora bei.
Jahre nach seinem Verschwinden gaben mehrere Mafiaaussteiger an, De Mauro sei von den Mafiosi Emanuele D’Agostino und Stefano Giaconia entführt und erdrosselt, seine Leiche im Flussbett des Oreto unweit der Mündung vergraben worden. Vorher aber habe man ihn »verhört«, um zu erfahren, ob er mit jemandem über den Staatsstreich gesprochen hatte, den Fürst Borghese gerade vorbereitete [vgl. Kap. 66]. Die Cosa Nostra war in ein Komplott mit den Generälen verstrickt. De Mauros Leiche wurde nie gefunden. Vierzig Jahre danach ist Mauro De Mauros Tod immer noch ein Rätsel.
Aus: Francesco Viviano, Mauro De Mauro,
La verità scomoda, Reggio Emilia, 2009
Früher war die klassische Mordwaffe der Mafia die lupara, eine Schrotflinte mit kurzem Lauf. Da die lupara aber unhandlich und wenig effizient ist, verwenden die Mafiosi heutzutage alles Mögliche, je nach den Umständen.
Die bei Mafiadelikten verwendeten Waffen geben viel mehr Aufschluss, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Der Waffentyp erklärt, wie die Organisation vorgegangen ist, um einen Mord zu verüben. Will man der Mafia auf die Schliche kommen, muss man in einem ersten Schritt untersuchen, welche Waffen sie einsetzt. In Sizilien sprechen die Waffen. Und auch die Toten sprechen.
Der sogenannte Mafiakrieg, der 1981 begann (vgl. v. a. Kap. 61), wurde mit einer Kalaschnikow eingeläutet, dem Sturmgewehr sowjetischer Bauart, das von den Ehrenmännern bis dahin noch nie benutzt worden war. Im April starb Stefano Bontate, der Boss der Mafia von Palermo, im Kugelhagel einer Kalaschnikow. Im Mai folgte Salvatore Inzerillo. Im Juni 1982 war Alfio Ferlito an der Reihe, ein Mafioso aus Catania. Am 3. September tötete dieselbe Kalaschnikow den Carabinieri-General Carlo Alberto Dalla Chiesa und seine Frau Emanuela Setti Carraro. Die ballistische Untersuchung ergab, dass eine Mafiagruppe eine andere bekämpft und auch den General und Polizeipräfekten umgebracht hatte. Damals verfügten die Ermittler noch nicht über eine solche Fülle an Kenntnissen über die Cosa Nostra wie heute. Niemand wusste, was in der Organisation wirklich vorging. Die Kalaschnikow war daher so etwas wie ein Fingerabdruck. Sie ebnete den Weg für weitreichende Ermittlungen.
Bei einem Mafiamord ist nie irgendeine Art von Fetischismus im Spiel. Man könnte meinen, wenn Mafiosi ihre Opfer in Säure auflösen, seien sie grausamer als andere Verbrecher. Während des Mafiakriegs haben sie viele Angehörige feindlicher Clans auf diese Weise spurlos verschwinden lassen – auch Giuseppe Di Matteo, den elfjährigen Sohn eines Mafiaaussteigers. Bei dieser Art zu töten geht es nicht darum, die eigene Grausamkeit vorzuführen, sondern allein um Zweckmäßigkeit. Wenn eine Leiche verschwindet, ist es viel schwerer, Ermittlungen zu führen, Indizien zu sammeln und Zeugen zu vernehmen. Die Mafiosi sind da sehr pragmatisch.
Während des Mafiakrieges sorgte die incaprettamento genannte Fesselungstechnik für Aufsehen: Dem Opfer wurden Fuß- und Handgelenke mit einem Seil auf dem Rücken zusammengebunden und das Seil um den Hals gelegt. Wenn dann die Beinmuskeln erschlafften, erdrosselte sich das Opfer selbst. Mehrere Mafiaaussteiger, von denen die Staatsanwälte wissen wollten, warum sie mit solcher Grausamkeit töteten, fielen aus allen Wolken: »Von wegen Grausamkeit«, antworteten sie, »wir haben sie auf diese Weise umgebracht, weil die Leichen dann leichter im Kofferraum zu verstecken und zu transportieren waren.«
Anfang der achtziger Jahre griff in Palermo eine Art Psychose um sich: Alle prüften das Heck der Autos, die in den Straßen der Stadt abgestellt waren. Wenn das Auto tiefer lag und die Stoßstange fast den Boden berührte, lief es einem kalt den Rücken hinunter: Das bedeutete, dass ein Gewicht – das Gewicht eines Toten – den Wagen nach unten drückte.
Giovanni Falcone musste oft an den sizilianischen Schriftsteller Leonardo Sciascia denken: »Er behauptet nicht umsonst, dass in Sizilien die schlimmsten Cartesianer leben.« Die Mafiosi handeln sehr rational: Sie töten nur, wenn es notwendig und zweckmäßig ist. Sie wägen immer das Pro und Contra eines Mordes ab, denn zuweilen kann ein toter Feind mehr Schaden anrichten als ein lebender.
Am bekanntesten ist die Ermordung Giovanni Falcones. Es war klar, dass die Cosa Nostra den Untersuchungsrichter ermorden würde: Sie hatte es ihm geschworen und wartete nur den günstigsten Augenblick ab. Die Entscheidung trafen Totò Riina und seine Corleoneser bereits im Dezember 1991. Gaspare Spatuzza, einer der letzten Kronzeugen der Justiz, sagte aus, schon im Frühjahr 1992 – noch vor dem tödlichen Attentat in Capaci – sei ein Anschlag auf Giovanni Falcone geplant gewesen. Die Gewehre und Pistolen für Falcones Ermordung hatte Spatuzza selbst nach Rom gebracht. Die Mafiosi waren bereits vor einer Trattoria in Stellung gegangen, in der Falcone gern zu Abend aß. Es war nicht schwierig, ihn in Rom zu ermorden, da er sich stets ohne Eskorte bewegte. Es genügte ein traditioneller Anschlag mit zwei, höchstens drei Schützen; und auch der Fluchtweg war einfach. Trotz dieser günstigen Logistik erhielt Spatuzza den Befehl, nach Sizilien zurückzukehren.
Man wollte Giovanni Falcone nicht auf »einfache« Weise umbringen: Man wollte ein Blutbad. Und nicht in Rom, sondern in Palermo. Ein Hinterhalt in Rom mit Pistolen und Gewehren – »minderen Waffen«, wie Gaspare Spatuzza sagte – hätte eine ganz andere Bedeutung gehabt als ein blutiger Sprengstoffanschlag in Palermo, der einen gewaltigen Krater in die Autobahn riss. Dieses »terroristische« Muster sollte bei der Ermordung Falcones klar erkennbar sein. Die Cosa Nostra wollte den spektakulären Mord, sie wollte diesen Tod mit dieser Bedeutung versehen.
Männer wie ich heiraten die passende Frau. Eine, die von der Cosa Nostra von Kindheit an überwacht wird, genau wie wir […]. Das wichtigste Kapital eines Ehrenmannes ist eine Ehefrau, die sich ihrer Rolle stets bewusst bleibt.
Leonardo Messina, Ehrenmann der Familie von
San Cataldo, in einer Anhörung vor dem Antimafia-
Ausschuss des Parlaments, 4. Dezember 1992
Die Frauen stehen für den Bruch, für das Aushebeln bis dahin gültiger Regeln. Diese Rolle spielten sie gelegentlich auch schon früher. Andererseits gab es Frauen, die – wenn auch nur für kurze Zeit – in der Verbrecherorganisation höhere Positionen erlangten.
Giusy Vitale zum Beispiel, die nach der Verhaftung ihres Bruders Vito, des Bosses von Partinico, die Familie führte und sich dann der Justiz als Kronzeugin zur Verfügung stellte. Giusy Vitale war allerdings eine große Ausnahme. Dasselbe gilt für Maria Grazia Genova, die Schwester eines Mafioso aus Delia, einem Dorf in der Provinz Caltanissetta. Maria Grazia, die unter dem Namen Maragè bekannt wurde, war bereits in den 1960er Jahren für »gemeingefährlich« erklärt und zum Zwangsaufenthalt an einen anderen Ort gebracht worden.
Ninetta Bagarella entschloss sich, gemeinsam mit ihrem zur Fahndung ausgeschriebenen Ehemann Salvatore Riina unterzutauchen. Ihre vier Kinder brachte sie in einer Klinik in der Via Dante zur Welt, unweit der Piazza Politeama, wo die Familie versteckt lebte – vierundzwanzigeinhalb Jahre lang, bis zu Riinas Verhaftung.
Die Rolle der Frauen innerhalb der Mafia ist sehr umstritten. Mit Sicherheit gab es nie eine Frau, die offiziell in die ehrenwerte Gesellschaft aufgenommen, Chefin eines Bezirks der Cosa Nostra oder beauftragt wurde, jemanden zu ermorden. Ihre Rolle innerhalb der Mafia hat sich im Lauf der Zeit verändert, genau wie ihre Stellung in der Gesellschaft.
Manchmal war die Ehefrau oder Partnerin eines Mafioso ausschlaggebend für dessen Entscheidung, die Seiten zu wechseln. Hinter manchen wichtigen Kronzeugen, den sogenannten pentiti, steckte eine Frau, die für die Zukunft stand, für ein neues Leben. Ohne eine solche Frau hätten viele pentiti der Cosa Nostra diesen Schritt nie getan. Es war eine Entscheidung für das Leben und gegen den Tod: Jene Frauen zogen ihre Männer aus der geschlossenen Welt der Mafiafamilie heraus, die die Bindung an die ehrenwerte Gesellschaft stets höher bewertete als die Bindung an eine Frau. In einem so archaischen System wie der Mafia sind die Frauen »frischer Wind« und im Organismus der Mafia eine Art natürlicher Antikörper.
Rita Simoncini hatte entscheidenden Anteil am Entschluss Francesco Marino Mannoias, mit der Justiz zusammenzuarbeiten.
Mannoia wurde 1989 Kronzeuge und war der erste Corleoneser, der diesen Schritt tat. Als die Mafiosi herausfanden, dass er mit dem Untersuchungsrichter Falcone sprach, brachten sie seine Mutter, seine Schwester und eine Tante um. Seine Ehe mit Rosa Vernengo, der Tochter Pietro Vernengos, eines Ehrenmannes von Santa Maria del Gesù und aus derselben Familie wie Mannoia, war von der Familie arrangiert worden, aber verliebt war er in Rita.
Sie war es, die sich eines Tages an den Leiter der Kriminalpolizei Gianni De Gennaro und seinen Vize Antonio Manganelli wandte. An der Hand hielt sie Cristina, ihre und Mannoias Tochter. »Ich habe lange mit Francesco geredet«, sagte sie. »Er möchte aussagen, aber nur vor De Gennaro und dem Untersuchungsrichter Falcone, weil er nur ihnen vertraut. Er möchte mit mir leben, und das geht nur, wenn er aus der Cosa Nostra aussteigt.« Für Francesco Marino Mannoia war Rita die Zukunft und das Leben. Die Cosa Nostra war die Vergangenheit und der Tod.
Mafiosi heiraten fast immer jemanden aus ihrer eigenen Familie oder einen engen Verwandten anderer Mafiosi. Außenstehende werden nicht gern aufgenommen. Es gibt Eheschließungen zwischen den Inzerillo und den Spatola, den Gambino und den Di Maggio; zwischen den Badalamenti aus Cinisi, den Rimi aus Alcamo und den Familien Plaja und Buccellato aus Castellammare del Golfo. Auch innerhalb des Clans der Corleoneser wurde geheiratet: Salvatore Riina ehelichte Ninetta Bagarella, die Schwester von Calogero und Leoluca Bagarella, die zu unterschiedlichen Zeiten eng an seiner Seite standen. Riina hatte Ninettas älterem Bruder Calogero Bagarella seine Schwester Arcangela zur Ehe versprochen. Nach Calogero Bagarellas Tod bei der Schießerei auf dem Viale Lazio in Palermo im Dezember 1969 suchte sich Arcangela Riina keinen anderen Mann.
Brüder tun sich mit Schwestern zusammen. Dabei geht es nicht um Liebe, sondern um die Vermischung des Bluts, um einen lebenslangen Pakt, ein ewiges Bündnis. Dies erklärt auch die Reaktion einiger Mafiafrauen auf den Entschluss ihrer Männer, mit der Justiz zusammenzuarbeiten.
Giusy Spadaro und Angela Marino, die mit den reuigen Brüdern Pasquale und Emanuele Di Filippo verheiratet waren, wandten sich an Journalisten, um ihnen mitzuteilen: »Wir sind nicht die Frauen, sondern die ehemaligen Frauen dieser Dreckskerle. Für uns sind sie gestorben. Unseren Kindern haben wir gesagt, dass sie keinen Vater mehr haben, dass sie ihn verleugnen und für immer aus ihrem Gedächtnis streichen müssen.« Doch nach ein paar Jahren kehrten die beiden zu ihren Männern zurück, die im Rahmen des Zeugenschutzprogramms irgendwo versteckt lebten. Die Mutter der beiden Brüder sagt heute noch: »Diese zwei Rindviecher habe nicht ich in die Welt gesetzt.«
Die Frauen spielen eine schillernde, schwer zu fassende Rolle innerhalb der Mafia. Einige schmuggeln für ihre Männer Botschaften aus dem Gefängnis heraus, andere verstecken Waffen oder verbergen untergetauchte Mafiosi, andere fungieren als Drogenkuriere oder betreiben Geldwäsche. Es gibt aber auch welche, die nicht mehr in der Welt der Mafia leben wollen und ihre Männer zum Widerstand drängen.
Auch innerhalb der Mafia wandelt sich das Verhältnis zwischen Mann und Frau, wenn auch langsamer – im Guten wie im Schlechten. Beim Maxi-Prozess Mitte der achtziger Jahre (vgl. Kap. 78) waren von den 460 Angeklagten nur vier Frauen. Eine wurde wegen falscher Zeugenaussage vor Gericht gestellt, eine andere wegen Strafvereitelung, zwei wegen Drogenhandels. Heute beteiligen sich die Frauen immer stärker an den Aktivitäten der Mafiafamilie. Andere, vor allem junge und ganz junge Frauen, gleichfalls im mafiosen Milieu groß geworden, sind jedoch empfänglich für die Einflüsse der Außenwelt. Sie kleiden sich wie andere Mädchen, hören dieselbe Musik und lesen dieselben Bücher wie sie. Sie verbringen ihre Ferien an denselben Orten wie ihre Altersgenossinnen, essen in denselben Pizzerien und haben denselben Geschmack. Die Welt verändert sich und zwingt auch die Mitglieder der Mafiaclans, sich zu verändern.
Vor zehn Jahren war ich im palermitanischen Stadtteil Arenella auf Wohnungssuche. Man stellte mir einen gewissen Signor Piero vor, der mir, wie es hieß, eine Wohnung vermitteln könne, die meinen Wünschen entspreche. Ich erkannte ihn auf Anhieb wieder: Er war ein Mafioso, Bruder eines Mafioso, dem ich häufig im Gericht begegnete. Wir taten so, als würden wir einander nicht kennen. Während wir so redeten, fiel mir auf, dass er wahnsinnig viele Haarschuppen hatte. Das merkte er, und er unterbrach sich und sagte: »Denken Sie nur nicht, dass ich diese Schuppen wegen der Bullen bekommen hätte. Meine Tochter hat mich nervös gemacht, daher kommen diese ganzen Schuppen.« Ich ließ mir weiterhin nichts anmerken. Er aber fuhr fort: »Meine Tochter ist sechzehn, sie läuft in einem Minirock aus schwarzem Leder rum und hat es sich in den Kopf gesetzt, am Konservatorium Musik zu studieren!« Sein Tonfall und sein Blick verrieten mir, was sein Problem war: Er konnte zu Hause nicht mehr bestimmen. Und wenn er zu Hause nicht mehr das Sagen hatte, wie konnte er dann in seinem Viertel den Ton angeben?
In »Signor Pieros« Blick entdeckte ich fast so etwas wie Resignation – es war der Anfang vom Ende seiner Welt. Manche Begegnung, manches Gespräch mit diesen Leuten öffnet einem die Augen – mehr, als es ein Gerichtsprozess oder ein Buch über die Geschichte der Cosa Nostra je könnte.
Nichts stört mich mehr, als für einen Mafiaexperten oder, wie man heute sagt, einen »Mafiologen« gehalten zu werden. Ich bin nur jemand, der an einem Ort im westlichen Sizilien geboren wurde und bis heute dort lebt und der immer versucht hat, die Wirklichkeit um sich herum, die Geschehnisse und die Menschen zu verstehen.
Leonardo Sciascia, Corriere della Sera, 19. September 1982
24. Ist die Mafia auch die Hüterin der Sexualmoral ihrer Mitglieder und von deren Familienangehörigen?
Eine Regel der Mafia besagt, Ehrenmänner dürften keine Geliebte haben. In den siebziger Jahren wurde die mafiose Familie von Porta Nuova abfällig »die Familie der Straßenkehrer« genannt, weil zwei ihrer Bosse eine Geliebte hatten. Das galt als unschicklich. Die Form zu wahren blieb für die Cosa Nostra stets das Allerwichtigste. Doch häufig verbirgt die Form das Wesentliche. Vordergründig war es moralisch unschicklich, eine Geliebte zu haben, weil die Familie intakt bleiben und man Kindern und Verwandten ein gutes Beispiel geben sollte. In Wahrheit waren Liebschaften nur aus praktischen Gründen nicht gern gesehen. Die Ehrenmänner befürchteten, dass die Ehefrau oder die Geliebte eines Mafioso früher oder später durchdrehen, eine Eifersuchtsszene machen und den Mann, den sie liebte, womöglich verraten könnte – und damit nicht nur ihn, sondern die ganze Organisation in Gefahr bringen würde.
Tatsächlich sind viele Ehrenmänner nicht monogam, aber sie stellen ihre »Eroberungen« nie zur Schau. Wenn sie eine Geliebte haben, versuchen sie, die Beziehung geheim zu halten, ohne es also herumzuerzählen und ohne es den anderen Ehrenmännern »offiziell« mitzuteilen.
Corleone, Mitte der neunziger Jahre. Der Mittelschullehrer und Ehrenmann Leoluca Di Miceli hatte eine große Zukunft in der Cosa Nostra vor sich. Im Ort hieß es, er werde es noch zum Boss bringen. Doch dann wurden plötzlich Gerüchte über ihn in Umlauf gebracht. Nicht gerade schmeichelhafte Gerüchte, insbesondere in Mafiakreisen. Man munkelte von einer übermäßigen Schwäche Leolucas für die Frauen. Er war zu sehr mit ihnen beschäftigt. Er verlor zu viel Zeit mit ihnen. Sein Aufstieg in der Cosa Nostra endete abrupt. Und in Corleone kursierte ein weiteres Gerücht über ihn: »Lehrer Di Miceli denkt mehr mit dem Köpfchen unten als mit dem Köpfchen oben.«
La Repubblica, 8. November 2007
Die Gegenüberstellung von Totò Riina und Tommaso Buscetta im Hochsicherheitsgerichtssaal von Palermo im Frühjahr 1993 verdeutlicht, wie die Mafia über Sexualmoral und Familie denkt.
Es war der Prozess wegen der sogenannten delitti trasversali, der Ermordung von Angehörigen reuiger Mafiosi. Riina und Buscetta hätten über Morde, Vergeltung und Rache reden sollen, doch Totò Riina bat den Präsidenten des Schwurgerichts um das Wort und sagte: »Ich spreche nicht mit Leuten von niedriger Moral. Mein Großvater wurde mit vierzig Jahren Witwer, allein mit fünf Kindern, aber er suchte sich keine andere Frau. Meine Mutter wurde mit sechsunddreißig Jahren Witwe. Wir in Corleone leben alle moralisch anständig.« Das war eine Anspielung auf das turbulente Liebesleben Buscettas. Der Mafiaaussteiger gab eiskalt zurück: »Totò Riina wirft mir Frauengeschichten vor – dass ich mehrere Frauen gehabt habe. Dabei ist er für den Tod meiner Kinder und meiner Angehörigen verantwortlich, er hat viele Unschuldige niedermetzeln lassen. Es stimmt, ich habe an die Frauen gedacht, während du allein mit deiner Frau ins Bett gegangen bist, weil du bloß für die Cosa Nostra Zeit hattest.« Das war die vielleicht schlimmste Kränkung, die Totò Riina je in seinem Leben zu ertragen hatte: dass jemand so über seine Frau sprach und in sein Privatleben und seine Intimität eindrang.
Ehebruch gefällt der Cosa Nostra natürlich noch weniger, wenn es die Frau ist, die den Verrat begeht und die Ehre der Familie »besudelt«. In diesem Fall wird ein Exempel statuiert.
Einigen Kronzeugen zufolge ordnete Antonio Pipitone, der Boss des Viertels Acquasanta in Palermo, 1983 die Ermordung seiner Tochter Rosalia an. Sie war verheiratet, hatte aber ein Verhältnis mit einem Cousin zweiten Grades. Der Mord geschah in einer Drogerie mitten in Acquasanta. Zwei Auftragskiller täuschten einen Raubüberfall vor und brachten die Frau um, die sich in dem Laden aufhielt. Am Tag nach dem Mord beging der Geliebte und Cousin, Simone Di Trapani, Selbstmord. Die Ehre war gerettet.
Ein paar Jahre zuvor hatte ein anderer Boss der Cosa Nostra, Giuseppe Lucchese, seine Schwester Giuseppina und seine Schwägerin Luisa Gritti eigenhändig umgebracht. Auch sie hatten außereheliche Beziehungen. In einer Mafiafamilie darf es keine »Gehörnten« geben.
Wenn einer, der alle Voraussetzungen aufweist, um ein Ehrenmann zu werden, eine übel beleumundete Schwester hat – »Missratene« nennt man sie in diesem Milieu –, wird er schwerlich zur Cosa Nostra zugelassen. Ehebruch wird bei den Ehrenmännern toleriert, bei den Frauen nie. Im Gespräch über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen meinte der Mafioso Gaspare Mutolo: »Unsereins hat immer darauf geachtet, welches Bild er abgibt.«
Wenn die ungeschriebenen Gesetze der Cosa Nostra außereheliche Beziehungen verbieten, dann erst recht homosexuelle. Vor vielen Jahren kursierte in Palermo das Gerücht, der Boss einer Familie im Ostteil der Stadt sei schwul. Wahrscheinlich war es erfunden. Wer es in Umlauf gebracht hatte, war auf jeden Fall leichtsinnig: Einen Boss als Schwulen zu bezeichnen hieß, sein Leben zu riskieren.
Die Zeiten haben sich kaum geändert. Ein bekennender Schwuler wird nie in der Cosa Nostra aufgenommen werden, man wird ihn nie zum Initiationsritual mit dem brennenden Heiligenbildchen in der Hand zulassen. In einer geschlossenen Gesellschaft wie der sizilianischen Cosa Nostra wird Homosexualität niemals akzeptiert oder auch nur toleriert werden. In einem kürzlich veröffentlichten Interview behauptete der Oberstaatsanwalt von Palermo, Antonio Ingroia, es gebe homosexuelle Mafiosi, die sich nicht outen. Wer sich als schwul outet, ist in der Cosa Nostra verloren.
In den USA sieht es nicht viel anders aus. Es stimmt zwar, dass Johnny D’Amato, ein Boss der Familie Cavalcante in New Jersey, der die Drehbuchautoren zur US-amerikanischen Fernsehserie Die Sopranos inspirierte, homosexuell war. Aber es trifft auch zu, dass ein anderer Mafioso aus seiner Familie, Anthony Capo, ihn auf Befehl von Stefano Vitabile umbrachte, »weil Johnny mit anderen Männern herummachte«.
1992, unmittelbar nach dem tödlichen Bombenanschlag auf Paolo Borsellino und seine fünf Leibwächter, bezichtigte der Mafiaaussteiger Vincenzo Scarantino sich selbst, das mit Sprengstoff beladene Auto gestohlen zu haben (vgl. auch Kap. 104). Im Verlauf des Prozesses kam heraus, dass Scarantino Beziehungen zu Transvestiten unterhielt. Die Verteidiger nahmen diese Information als Beleg für die mangelnde Glaubwürdigkeit Scarantinos: »Er weiß nichts, er ist kein Ehrenmann, weil er homosexuell ist.« Tatsächlich wusste Scarantino aus vielen anderen Gründen kaum etwas, aber seine sexuellen Vorlieben wurden dazu benutzt, seine Darstellung des Attentats zu entkräften.
Zur Homosexualität in Mafiakreisen weiß man letztlich noch recht wenig. Ende 2000 hat der sizilianische Psychiater Girolamo Lo Verso die Wut und den Schmerz der Waisen nach dem Mafiakrieg der frühen achtziger Jahre (vgl. Kap. 61) in einer Studie beschrieben. Manche Abkömmlinge bedeutender Familien waren drogensüchtig geworden, andere paranoid. Sie hatten ihren Bezugspunkt verloren – ihre Väter, die in den Stadtvierteln gottgleiche Herrscher über Leben und Tod gewesen waren. Jetzt fühlten sie sich allein, verstört, unsicher, von sexuellen Zweifeln geplagt. Sie gaben zu, »sich nicht mehr als Männer zu fühlen«.
Die Mafiosi haben sich einen eigenen Gott geschaffen, um sich auf der Seite der Gerechten zu fühlen. Diese Gewissheit nimmt ihnen auch das Schuldgefühl. Der Cosa Nostra beizutreten ist wie die Bekehrung zu einer anderen Religion.
Der Mafioso Antonino Calderone sagte über seinen von ihm vergötterten Bruder Pippo, er habe »sich für einen Auserwählten Gottes, nicht für einen normalen Menschen« gehalten. Die Mafiosi sind überzeugt, Gott habe sie unter den gewöhnlichen Sterblichen erwählt. »Die anderen« zu töten ist nicht töten. Ihr Opfer ist ein Niemand, ein Nichts.
Der Mafioso Leonardo Messina sagte, die Regeln der Cosa Nostra ähnelten »den zehn Geboten: Du sollst nicht stehlen, du sollst die Frau deines Nächsten nicht begehren […]«. Er behauptete, die Cosa Nostra gehe auf den Apostel Petrus zurück, und sprach sogar von einer »Bibel der Cosa Nostra«, die auf dem Land bei Riesi vergraben sei. Gott und die Bibel als Gottes Gesetz. Und sie, die Ehrenmänner, als Mittler dazwischen.
Der Gott der Mafiosi ist natürlich ein böser Gott, der ihren Regeln entspricht und das Gute ins Böse verkehrt. Auf diese Weise gibt es keinen Konflikt zwischen der Religion und der Treue gegenüber den Grundsätzen der Organisation.
Nitto Santapaola, der Boss der Cosa Nostra von Catania, ging bei der Ordensgemeinschaft der Salesianer in die Schule, und die Familie wollte ursprünglich, dass er Priester wird. Don Calò Vizzini, der Boss von Villalba, hatte Bischöfe und Priester in seiner engeren Verwandtschaft. In Provenzanos Versteck fand man Tausende von Heiligenbildchen, Kreuzen und Marienfiguren. Der Mafiaboss Pietro Aglieri, dessen eine Schwester eine Nonne war, hatte in seinem Versteck einen kleinen Altar. Auf der ersten Bank in der ersten Reihe der Pfarrkirche von Siculiana sind die Namen der Drogenhändler Caruana und Cuntrera ins Holz gemeißelt, als Anerkennung für einen großzügigen Obolus. Die beiden Bosse mit fester Basis in Kanada waren so religiös – und wollten es ihren Anhängern auch demonstrieren –, dass sie jedes Jahr am 3. Mai die Skulptur des gekreuzigten Christus von Siculiana nach Montreal brachten und dort für ihre ausgewanderten Landsleute in einer Prozession durch die Stadt tragen ließen. Michele Greco, der nicht umsonst als der »Papst« der Mafia galt, betete Tag und Nacht.
Die religiöse Symbolik der Mafia ist offenkundig und beginnt bereits mit dem Initiationsritual. Der Schwur auf das Heiligenbild der Madonna dell’Annunziata, Schutzpatronin der Cosa Nostra, deren Fest an Mariä Verkündigung (am 25. März) gefeiert wird, wird mit folgenden Worten geleistet: »Als Heilige bete ich dich an, als Papier verbrenne ich dich. So wie dieses Papier verbrennt, soll mein Fleisch brennen, wenn ich eines Tages die Cosa Nostra verraten sollte.«
Die Sünde der Mafia gibt es nicht. Wo steht diese Sünde geschrieben? Such dir einen klugen Priester, der von diesen Dingen etwas versteht.
Giuseppe Guttadauro, Arzt und Boss des Bezirks
Brancaccio, im Gespräch mit einem Freund, Palermo,
21. Januar 2001
Solche hat es immer gegeben. Der berühmteste war Pater Agostino Coppola, ein Neffe des Schiebers Francesco Coppola, genannt Frank Tre Dita (Dreifinger-Frank). In Pater Agostinos Sakristei fand man auch Lösegelder aus Entführungen, die Luciano Liggio und seine Bande in Mailand durchführten (vgl. Kap. 12). Nach Jahren, die er im Ucciardone-Gefängnis von Palermo verbrachte, und nach etlichen Skandalen wurde Pater Agostino von seinem Priesteramt suspendiert, und er heiratete. Er hatte seine Frau in einer Krankenstation kennengelernt, wo sich der ehemalige Priester im »Krankenhausarrest« aufhielt. Die Frau war eine Gynäkologin und »aus gutem Haus«: Francesca Caruana aus Siculiana. Ein reumütiger Mafioso erzählte später, Agostino Coppola sei punciutu, in den Finger gestochen, und damit offiziell zum Ehrenmann gemacht worden.
Ein weiterer mafioser Geistlicher war Francesco Castronovo, Pater Giacinto. Bereits Mitte der sechziger Jahre hatte Polizeikommissar Angelo Mangano ihn im Verdacht, mit den Bossen befreundet zu sein, und war überzeugt, Luciano Liggio habe ein paar Monate lang in seiner Klostergemeinschaft im Viertel Santa Maria del Gesù in Palermo Zuflucht gefunden. In demselben Kloster wurde Pater Giacinto fünfzehn Jahre später wegen seiner Nähe zu Stefano Bontate umgebracht. In seiner Zelle wurde eine 38er Pistole beschlagnahmt, die der Mönch unter seinem Kopfkissen versteckt hielt. Seine Mörder wurden nie gefunden.
In dem Dorf Mazzarino im Inneren Siziliens terrorisierten die Klosterbrüder Ende der fünfziger Jahre die örtliche Bevölkerung. Vier von ihnen wurden verhaftet: Pater Carmelo, Pater Agrippino, Pater Venanzio und Pater Vittorio. Die Anklage: Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung, Mord, Erpressung und Nötigung.
Es gab der Mafia »eingegliederte« und der Mafia »nahestehende« Priester. Der Karmeliterpater Mario Frittitta, der 1997 wegen Strafvereitelung verhaftet und dann vor Gericht freigesprochen wurde, las im Versteck des flüchtigen Pietro Aglieri die Messe. Viel gemunkelt wurde in den sechziger und siebziger Jahren auch über zwei Bischöfe der Diözese Monreale, der größten und reichsten Siziliens: Corrado Mingo und Salvatore Cassisa. Es hieß, drei Priester ihrer Diözese hätten am 16. April 1974 die Ehe zwischen Salvatore Riina und Antonina »Ninetta« Bagarella geschlossen. Einer der drei Priester war Pater Agostino Coppola, die Identität der beiden anderen wurde nie aufgedeckt. Riina und Bagarella heirateten zwischen den Pinien und dem Meer von Cinisi im Wohnzimmer einer Villa, in dem ein Altar errichtet worden war.
In der Frage der Mafia ist die Kirche Siziliens bis heute gespalten. Gewiss, es ist nicht mehr dieselbe Kirche wie vor dreißig oder vierzig Jahren, als der Erzbischof von Palermo, Ernesto Ruffini, auf die Frage eines Journalisten – »Eminenz, was ist die Mafia?« – antwortete: »Eine Waschmittelmarke, denke ich.« Der Kardinal behauptete auch, die Mafia sei »eine Erfindung der Kommunisten, um die Democrazia Cristiana zu schädigen und die vielen Sizilianer, die sie wählen«.
Der Erzbischof besuchte dann und wann die Favarella, das Landgut Michele Grecos, den man »den Papst« nannte. Er sagte kein Wort, als die Mönche von Mazzarino verhaftet wurden, und er verteidigte die Plünderung Palermos durch die Bauspekulation Limas und Cianciminos (vgl. Kap. 67). Berühmt wurde sein Ausspruch: »In Palermo sind für das Volk Stadtviertel entstanden, die den modernsten Städten in nichts nachstehen.« Er äußerte sich auch dann nicht, als in der Stadt der Krieg zwischen den Greco und den La Barbera tobte und an den Straßenecken mit Sprengstoff bestückte Pkws in die Luft flogen.
Nach dem x-ten Blutbad merkte der Vatikan plötzlich, was da in Palermo los war. Der Staatssekretär des Heiligen Stuhls (unter Paul VI., der seit wenigen Monaten Papst war) schickte Erzbischof Ruffini einen höflichen Brief, um ihn auf das Problem der Mafia aufmerksam zu machen.
An Seine Eminenz Kardinal Ernesto Ruffini, Erzbischof von Palermo
Ich erlaube mir, Ihrem besonnenen Urteil die Frage vorzulegen, ob es nicht angebracht wäre, auch seitens der Kirche mit den ihr eigenen Mitteln der Unterweisung, Überzeugung, Missbilligung und moralischen Erneuerung positiv und systematisch darauf hinzuwirken, die Mentalität der sogenannten Mafia von der religiösen Denkweise zu trennen und diese zu einer konsequenteren Beachtung der christlichen Grundsätze zu ermutigen.
Monsignor Angelo Dell’Acqua, 5. August 1963,
aus dem historischen Archiv der Erzdiözese Palermo
Es erstaunt mich doch sehr, wie man annehmen kann, die Mentalität der sogenannten Mafia sei mit der religiösen Mentalität verknüpft. Diese verleumderische Unterstellung wird vor allem außerhalb der Insel Sizilien von den Sozialkommunisten in Umlauf gebracht, welche die Democrazia Cristiana beschuldigen, von der Mafia unterstützt zu werden, während sie ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen gerade im Wettbewerb mit mafiosen Organisatoren oder solchen, die sie dafür halten, verfolgen.
Seine Eminenz Kardinal Ernesto Ruffini
an Monsignor Angelo Dell’Acqua, 11. September 1963,
aus dem historischen Archiv der Erzdiözese Palermo
Die erste aufsehenerregende Wende der Kirche Siziliens erfolgte mit Kardinal Salvatore Pappalardo und seiner Predigt, in der er Palermo mit dem 219 v. Chr. durch Hannibal eroberten Sagunt verglich. Das war im September 1982 anlässlich der Begräbnisfeier für den ermordeten Carabinieri-General Carlo Alberto Dalla Chiesa. Eine schmerzlich anklagende Predigt, in der er die Mafia scharf angriff.
Acht Monate später begab sich Kardinal Pappalardo in das Gefängnis Ucciardone, um wie jedes Jahr mit den Häftlingen die Ostermesse zu feiern. Kein einziger Mafioso erschien, und der Kardinal blieb allein in der Gefängniskapelle – ein Signal der Bosse an die Kirche. Seitdem war der Kardinal in seinen Predigten sehr viel vorsichtiger, sei es wegen dieser Botschaft der Mafia, sei es, weil er nicht als »Antimafia-Kardinal« in die Geschichte eingehen wollte.
Ein Teil der Kirche hat sich stets offen gegen die Mafia gestellt, ein Teil blieb gleichgültig, und ein Teil war mit ihr verstrickt oder stand ihr zumindest kulturell nahe. Laut einer neueren Untersuchung der Soziologin Alessandra Dino, die sich eingehend mit der Dynamik der palermitanischen Mafia befasst, zeigt die katholische Kirche Siziliens ein vielschichtiges Bild, wenn es um die Mafia und um Mafiosi geht. In ihrer aufschlussreichen Studie La Mafia devota (2008; Die fromme Mafia) wertet sie einen Fragebogen aus, den sie unter den Geistlichen Palermos verteilt hatte. Fünfzehn Prozent der Befragten sind mit dem Thema vertraut und sich des wahren Wesens der Mafia bewusst. Zwanzig Prozent kennen die Mafia »vom Hörensagen« und finden nicht gerade schmeichelhafte Worte für die Staatsanwälte der Antimafia-Pools (vgl. Kap. 78). Die übrigen fünfundsechzig Prozent der Priester und Ordensleute meinen, die Kirche solle sich nicht um Mafia oder Antimafia kümmern, da die Bosse keine direkte Bedrohung darstellten.
Ein Vorposten der Antimafia in den achtziger Jahren war das Studienzentrum »Pedro Arrupe« der Jesuiten in Palermo unter Leitung von Bartolomeo Sorge und Ennio Pintacuda, eine politische Denkfabrik. Dort sprach man zum ersten Mal von der Notwendigkeit, die Democrazia Cristiana zu »erneuern« und sich von der Mafia und deren kriminellen Verstrickungen mit der Politik zu distanzieren. Das Zentrum Pedro Arrupe wurde von der Polizei beschützt: Pater Sorge und Pater Pintacuda standen unter Personenschutz.
Am 23. Mai 1993, dem ersten Jahrestag des tödlichen Attentats auf Giovanni Falcone, las Pater Pintacuda die Messe, umringt von fünf mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizisten. Aber in Sizilien wurden viele Priester bedroht. Und nicht nur bedroht.
Der Priester Giuseppe »Pino« Puglisi wurde ermordet – im palermitanischen Viertel Brancaccio, wo die Brüder Giuseppe und Filippo Graviano das Sagen hatten und Don Pino ihnen »auf die Nerven ging«. Dies gab sein Mörder Salvatore Grigoli zu Protokoll, nachdem er die Seiten gewechselt hatte. In seinen Predigten wetterte er gegen die Mafia. In Brancaccio hieß es, das Sozialzentrum Padre Nostro, wohin Don Pino die Gläubigen einlud, sei »ein Bullennest«. Manche Mitglieder seiner Pfarrgemeinde gingen erst zu ihm und berichteten dann alles den Brüdern Graviano.
Monat für Monat wurde Don Pino immer stärker isoliert. Am Abend des 15. September 1993 – es war sein sechsundfünfzigster Geburtstag – passten sie ihn vor seinem Haus ab und töteten ihn. Anfangs versuchten sie es als Raubüberfall darzustellen, dann verbreiteten sie Gerüchte über seine angebliche Homosexualität, ja sogar pädophile Neigungen. Damit sollte der Tote in den Dreck gezogen werden. Das ist typisch bei Mafiaverbrechen: Auf die physische Vernichtung folgt der Rufmord.
»Die Kirche war immer bereit, einen Flüchtigen der Cosa Nostra zu verstecken«, sagte Grigoli später aus. »Sie half den Notleidenden. Don Pinos Kirche war anders. Schon seit Monaten hieß es bei der Cosa Nostra, die Kirche sei nicht mehr wie früher.« Wenige Monate vor dem Mord an dem Pfarrer von Brancaccio hatte Johannes Paul II. Sizilien besucht und am 9. Mai 1993 im Tal der Tempel von Agrigent seinen Bann gesprochen: »Mafiosi, bekehrt euch. Der Tag des Gerichts wird kommen, an dem ihr für eure Missetaten Rechenschaft ablegen müsst.«
Wenn ich vor Ihnen stehe, sollen Sie die Schwere meiner Bedeutung spüren, und Sie sollen sie unterschwellig spüren. Ich werde Sie niemals bedrohen, ich werde immer mit einem Lächeln kommen, und Sie wissen, dass hinter diesem Lächeln eine Bedrohung steckt, die über Ihrem Kopf schwebt. Ich werde nicht kommen und zu Ihnen sagen: Das und das tue ich Ihnen an. Wenn Sie mich verstehen, gut; wenn nicht, haben Sie die Konsequenzen zu tragen.
Tommaso Buscetta zu Giovanni Falcone, Juli 1984
Die Hauptaktivität der Cosa Nostra ist die Schutzgelderpressung. Für die sizilianische Mafia ist das Schutzgeld, der pizzo, alles. Die Bosse können auf den Drogenhandel verzichten, auf Geldwäsche. Aber ohne die Schutzgelderpressung wäre die Cosa Nostra am Ende. Mit der Schutzgelderpressung, in Palermo messa a posto (das In-Ordnung-Bringen) genannt, gibt sich die Mafia zu erkennen und beherrscht ihr Territorium.
Wer den pizzo als zweitrangige Nebentätigkeit der Organisation betrachtet, zeigt seine mangelnde Kenntnis der Cosa Nostra. Gewöhnlich unterscheiden dieselben Leute auch zwischen der Mafia, die schießt, der Mafia, die Geschäfte macht, der Mafia, die Politik betreibt, und der Mafia, die Gerichtsprozesse zurechtbiegt. Nichts ist abwegiger, als von verschiedenen Ebenen der Mafia auszugehen. Es gibt nur eine Mafia, nur eine Cosa Nostra. Je nach dem Zeitpunkt und nach den Erfordernissen schießt sie oder verhält sich ruhig, trifft sie Vereinbarungen mit dem Staat oder richtet ein Blutbad an, knüpft sie Beziehungen zur Politik oder bedroht die Politik, favorisiert sie bestimmte Geschäfte oder wendet sich anderen zu. Was auch immer geschieht und welche Strategie sie gerade verfolgt, Schutzgeld erpresst sie immer. Sie bringt immer etwas »in Ordnung«.
Alle. Noch immer lehnen sich wenige, sehr wenige dagegen auf. Aber früher gab es nicht einmal die.
Es funktioniert folgendermaßen: Jemand gründet eine Firma – ein Geschäft, eine kleine Fabrik, ein Unternehmen –, und nachdem er die Genehmigungen beantragt hat (manchmal auch schon vorher), fängt er an, sich Sorgen zu machen, wenn noch keiner gekommen ist, um die Dinge »in Ordnung zu bringen«. Er erschrickt, fragt sich, warum noch keiner vorbeigekommen ist, und fragt die anderen Geschäftsleute, warum er noch keine Forderung erhalten hat. Häufig versucht das Opfer selbst, die Dinge »in Ordnung zu bringen«, bevor jemand ihn darauf anspricht. Denn so weiß er, dass er künftig keine Probleme haben wird, dass er und seine Familie in Ruhe leben können. In einer Stadt wie Palermo ist die Sehnsucht nach der Mafia immer noch sehr groß.
Das hängt davon ab, wie groß das Geschäft ist und ob das Opfer »freundschaftliche« Beziehungen zu den Erpressern unterhält. Das Monatsgeld (mesata) für einen Laden mittlerer Größe beläuft sich auf etwa siebenhundert Euro, und es wird – trotz der Bezeichnung – häufig nur alle neunzig Tage kassiert. Es ist wie eine Steuer, die man allerdings nicht hinterziehen kann. Die Eintreiber sind gnadenlos: Wer nicht zahlt, geht ein großes Risiko ein, wer zahlt, schließt eine Art Lebensversicherung ab.
Die Tarife sind von Zone zu Zone, von Bezirk zu Bezirk unterschiedlich. Der Besitzer eines Juwelierladens oder eines eleganten Geschäfts kann zwei- oder auch dreitausend Euro im Monat zahlen. Bei Kaufhäusern können es bis zu zehntausend Euro sein.
Auch Ratenzahlung ist möglich. Die Bosse haben Verständnis: Sie gewähren Aufschub, stimmen Tilgungsplänen zu und räumen manchmal sogar einen kleinen Rabatt ein. Zu Weihnachten und zu Ostern muss aber alles beglichen sein. Von der Schutzgeldzahlung sind nur Geschäftsleute ausgenommen, die einen Trauerfall in der Familie haben.
Wenn der Ladenbesitzer sich nicht selbst darum bemüht, herauszufinden, wem er das Schutzgeld übergeben soll, bekommt er einen Anruf: »Du musst dir jemanden suchen.« Ein paar Tage lang passiert nichts. Alles ist ruhig. Dann, eines Morgens, will er seinen Laden aufsperren, und das Schlüsselloch ist mit Schnellkleber versiegelt: ein Signal, dass jemand kommen wird, um das Schutzgeld einzufordern. Die geräuschloseste Waffe der Schutzgeldmafia in den letzten Jahren war der Kleber. Nach den blutigen Attentaten mit zahlreichen Toten hat die Cosa Nostra auch bei der Schutzgelderpressung ihre Strategie geändert. Sie möchte kein Aufsehen mehr erregen. Es reicht ein Kleber.
Dem Ladenbesitzer bricht der kalte Schweiß aus. Endlich geben sie sich zu erkennen. In der Regel wird ein gut gekleideter junger Mann mit höflichen Manieren vorstellig. Er redet fast nie von Geld, von Schutzgeld. Er verlangt lediglich eine Spende: für die Gefängnisinsassen, für Anwaltshonorare, für das Stadtteilfest. Manche der Betroffenen zahlen den gesamten Betrag, und zwar sofort, andere machen sich auf die Suche nach einem Freund oder Bekannten, um einen Rabatt auf den pizzo zu erhalten.
Das Schutzgeld ist nicht nur eine reichlich sprudelnde Einnahmequelle. Es ist vor allem eine Machtdemonstration. Alle müssen zahlen: auch die Mafiosi. Das mag paradox erscheinen, ist aber die Regel. Die Macht der Cosa Nostra gründet sich auf Regeln. Und die Regel besagt, wenn ein Mafioso ein Geschäft eröffnen möchte oder eine Baustelle in einer Gegend plant, in der eine andere Familie das Sagen hat, muss auch er zahlen. Sogar Giovanni Brusca, der Attentäter von Capaci, zahlte Schutzgeld für einen Bauauftrag in einem Territorium, das nicht das seine war. Das ist die vollendete Form des mafiosen Pragmatismus.
Seit zwei, drei Jahren beschließen in Palermo immer mehr Geschäftsleute, sich nicht zu beugen. In ganz Palermo sind es derzeit etwa siebzig.
Die Cosa Nostra kann es verkraften, wenn einer von hundert Geschäftsinhabern nicht zahlt – das verbucht sie als unternehmerisches Risiko. Wenn aber einer nicht schweigt, sondern eine Kampagne gegen das Schutzgeld startet, gibt er ein schlechtes Beispiel und gerät politisch und militärisch ins Visier der Organisation.
So geschah es vor beinahe zwanzig Jahren Libero Grassi, einem Textilunternehmer. Er hatte sich nicht nur geweigert, die Erpresser zu bezahlen, sondern sie im Fernsehen an den Pranger gestellt. Am 29. August 1991 erschossen sie ihn.
Salvatore Cozzo, der Präsident des Industriellenverbandes von Palermo, hatte ihn wenige Tage vorher öffentlich gerügt, er mache »zu viel Wirbel«. Ein weiteres Mitglied des Verbandes ließ gar verlauten: »Wenn wir alle zahlen, zahlen wir weniger.«
Beim ersten Mal verlangten sie von mir Geld für ihre armen eingesperrten Freunde, die kleinen Handlanger der Mafia, die im Ucciardone-Gefängnis hinter Gittern saßen. Das war der allererste Kontakt. Ich sagte sofort nein. Ich weigerte mich zu zahlen. Dann fing es mit den Drohanrufen an: Behalte dein Lager im Blick; gib auf deinen Sohn acht; pass auf dich auf. Der Anrufer stellte sich als »Bauingenieur Anzalone« vor, er wollte mit mir persönlich sprechen. Er drohte, die Werkstatt in Brand zu stecken. Da ich nicht vorhatte, ein Bestechungsgeld an die Mafia zu zahlen, beschloss ich, diese Leute anzuzeigen […].
Erpressung ist die Mutter aller Verbrechen, weil sie die Kontrolle über das Territorium begründet, festigt und erweitert. Das Schutzgeld ist Ausdruck der Territorialherrschaft der Cosa Nostra über die Stadt Palermo: Durch das Schutzgeld wird die Mafia zum Staat.
Brief von Libero Grassi, veröffentlicht am 30. August 1991,
einen Tag nach seinem Tod, im Corriere della Sera
35. Wie funktioniert die Schutzgelderpressung? Wie wird das Geld eingesammelt, und wo landen die erpressten Summen?
In der Regel ist der Erpresser nicht vorbestraft. Für seinen Job erhält er rund tausend Euro im Monat. Gleichzeitig wird er beobachtet und getestet, um zu sehen, ob er eines Tages selbst zum Ehrenmann werden kann. Ganz Palermo ist ein Tummelplatz für Schutzgelderpressungen. Häufig erhält der Erpresser auch die Erlaubnis, auf eigene Faust zu dealen, während er seine Runde dreht. Alles, was er sammelt, bringt er dem Boss der Familie, die in dem Gebiet das Sagen hat. Salvatore Lo Piccolo, der Boss des Bezirks San Lorenzo-Tommaso Natale, hatte vierhundert Schutzgeldeintreiber – das sind allerdings nur diejenigen, die im Zuge der polizeilichen Ermittlungen entlarvt wurden. Aus seiner Buchführung, die man bei seiner Verhaftung Ende 2007 in seinem Versteck fand, wurde ersichtlich, dass Lo Piccolo allein mit Schutzgelderpressung einen Umsatz von zweieinhalb Millionen Euro im Monat erzielte. Pietro Grasso, der Leiter der nationalen Antimafia-Staatsanwaltschaft, nannte es »den Lohn der Angst«.
Es gibt keinen freien Markt in Palermo. Die Cosa Nostra beherrscht das Marktgeschehen auf eine Weise, die sich ein Nichtsizilianer oder jemand, der nicht in Sizilien lebt, kaum vorstellen kann. Im Viertel Noce wollte der Inhaber eines Schuhgeschäfts vor ein paar Jahren seinen Laden vergrößern und ein zweites Schaufenster einrichten. Ein anderer Schuhhändler in der Nähe wandte sich an die Ehrenmänner, um seinen Konkurrenten an der Erweiterung zu hindern. Ein Fischhändler in der Via dell’Orsa Maggiore beklagte sich bei den Mafiosi über einen Kollegen in derselben Straße, dem man daraufhin seine Tätigkeit untersagte. Doch dann fand auch er einen Beschützer und konnte weiter Fisch verkaufen – unter einer Bedingung: Er durfte seine Waren nicht ausstellen. In Palermo wird alles kontrolliert. Ein Bankräuber übergibt einen Teil seiner Beute an die Ehrenmänner des Bezirks, in dem der Überfall stattgefunden hat.
Die Cosa Nostra steckt in einer schweren Krise, doch die Schutzgelderpressung funktioniert nach wie vor – und zwar nach denselben alten Regeln. Manche Geschäftsleute zahlen seit mehr als dreißig Jahren. Wenn im Jahr 1970 ein Mafioso von einem Geschäftsmann Schutzgeld verlangte, bittet heute der Sohn des Mafioso den Sohn des Geschäftsmanns zur Kasse.
In einer Anhörung vor dem parlamentarischen Antimafia-Ausschuss sagte Gaspare Mutolo 1993: »In Palermo zahlen die Leute ganz diszipliniert.« Er wollte damit sagen, dass auch die Opfer der Erpressung letztlich auf ihre Kosten kommen: Sie sind überzeugt, dass die Protektion der Bosse sie weniger teuer zu stehen kommt als der Schutz durch den Staat.
Staatsanwalt Maurizio De Lucia, der achtzehn Jahre lang gegen die Schutzgelderpresser in Palermo ermittelte, kommt zu folgendem Fazit: »Für die Mafiaorganisation ist die Schutzgelderpressung vor allem ein Instrument der sozialen Kontrolle mit einem Geflecht von Abhängigkeiten, Loyalitäten und Dankbezeugungen. Auf diesem Weg erhält die Cosa Nostra Zugang zu den legalen Geschäften. Das Sicherheitspaket der Mafia AG umfasst eine Versicherung gegen Diebstahl, Überfälle und Sachbeschädigung, aber auch einen Liefervertrag, eine ganz besondere Arbeitsagentur, eine stets verfügbare Kreditlinie und einen Schalter, an dem man vorsprechen kann, um Konflikte und Wettbewerbsprobleme zu klären.«
Die Geschichte von Addiopizzo (»Adieu Schutzgeld«, oder auch: »Schutzgeld nein danke«) zählt zu den merkwürdigsten im Sizilien der letzten Jahre. Eines Morgens Ende Juni 2004 waren die Häusermauern in Palermo mit Klebezetteln bepflastert, auf denen stand: »Ein Volk, das Schutzgeld zahlt, ist ein Volk ohne Würde.«
Ein paar junge Leute, die sich ein paar Monate zuvor mit dem Gedanken trugen, einen Pub zu eröffnen, fragten sich: »Und was machen wir, wenn die Schutzgeld von uns verlangen?« Aus dem Pub wurde nichts, stattdessen wandten sie sich mit diesem Aufruf an die Öffentlichkeit. Sie scharten Geschäftsleute um sich, die sich der Schutzgeldforderung widersetzten, und appellierten an die Einwohner Palermos, nicht in Geschäften zu kaufen, die den Mafiosi nahestanden oder Schutzgeld zahlten. Und sie gründeten ein Komitee. Damit begann das Abenteuer von Addiopizzo. Sie beließen es nicht bei ein paar Slogans, sondern stürzten sich in mühevolle und komplizierte Kleinarbeit. Staatsanwalt Pietro Grasso, Polizeipräfekt Giosuè Marino, Polizeipräsident Giuseppe Caruso und der Vorsitzende des parlamentarischen Antimafia-Ausschusses Francesco Forgione stellten sich schnell auf ihre Seite. Ebenso Tano Grasso, ein ehemaliger Schuhhändler, der zwanzig Jahre zuvor zur Galionsfigur der Einwohner von Capo d’Orlando geworden war, die sich gegen die Schutzgelderpressung aufgelehnt hatten.
Addiopizzo hat bisher wenig und zugleich schon sehr viel verändert: Die Rechtsstaatlichkeit wurde gestärkt, wenn auch geringfügig, und es wurden kleine Schritte in Richtung Freiheit unternommen. Keine Revolution, aber immerhin wurde der Beweis erbracht, dass man etwas tun kann und tun muss. Bisher haben sich fast dreihundert Kaufleute und Unternehmer Addiopizzo angeschlossen und beziehen damit gegen die Schutzgelderpressung Stellung – und zwar öffentlich, was in Palermo von großer Bedeutung ist.
Im Januar 2005, wenige Monate, nachdem die Addiopizzo-Initiatoren ihre Arbeit aufgenommen hatten, hielten Staatsanwälte und Unternehmensvertreter im Teatro Biondo eine Tagung gegen die Schutzgelderpressung ab. Der Saal war halb leer. Außer Behördenvertretern, ein paar Staatsanwälten und einem halben Dutzend Gewerkschaftern war kaum jemand gekommen, nicht einmal die Vertreter der Branchenverbände Palermos. Von den dreihunderttausend Geschäftsleuten, die es in Sizilien gibt, erschien nur ein Einziger: Bruno Piazzese aus Syrakus. Er hatte auf der Insel Ortigia einen Pub eröffnet, auf den schon dreimal ein Brandanschlag verübt worden war.
Ein paar Jahre später fand am selben Ort wieder eine Veranstaltung gegen die Schutzgelderpressung statt. Diesmal war der Saal voll, und der jetzige Präsident des Industriellenverbandes, Ivan Lo Bello, kündigte an: »Wer zahlt, wird aus unserem Verband ausgeschlossen.«
Nach der mutigen Abkehr von der Mafia müssen die Unternehmer der Insel nun durch ihr Handeln zeigen, auf welcher Seite sie stehen, und in den eigenen Reihen aufräumen. Lippenbekenntnisse, Tagungen, Interviews und Fernsehauftritte reichen nicht mehr aus. Das Risiko ist groß: Den Erklärungen müssen Taten folgen, sonst könnte sich das Ganze als reine PR-Aktion und politisches Taktieren erweisen: alles verändern, damit alles beim Alten bleibt. Diese Gefahr besteht in Sizilien immer.
Der Heroinhandel brachte der Cosa Nostra früher immensen Reichtum. Sie belieferte den gesamten Markt, von Südostasien bis in die Vereinigten Staaten. Heute bereichert sie sich durch öffentliche Aufträge. Wo immer es etwas zu tun gibt, ist sie zur Stelle. Wo ein Kalkwerk oder eine Betonfabrik steht, riecht es nach Mafia. Als ich klein war, sagte man mir, es gebe eine todsichere Methode, einen Mafioso zu erkennen: »Schau auf seine Schuhe, er trägt schöne Schuhe, an denen aber stets der Dreck einer Baustelle klebt.«
In letzter Zeit hat sich das System geändert, mit dem die Vergabe öffentlicher Bauaufträge beeinflusst, eine Ausschreibung gesteuert und der Kuchen aufgeteilt wird. Früher bekamen in Sizilien einige alles. Das galt als normal, als naturgegeben. Die öffentlichen Bauaufträge teilten drei, vier Konzerne untereinander auf. Im westlichen Sizilien bekamen die Cassina zweiundfünfzig Jahre lang die Zuschläge für die Instandhaltung der Straßen und der Kanalisation in Palermo. Im östlichen Sizilien waren es die Cavalieri del lavoro (»Ritter der Arbeit«) und Herren von Catania: die Costanzo, Graci und Rendo. Dabei sind dies nur die Namen der größten Unternehmensgruppen. Das mafiose und politisch-mafiose Management der Bauaufträge gab es in jeder Provinz Siziliens. Es lag in der Hand derer, die im jeweiligen Territorium das Sagen hatten, in der Politik und in der Mafia.
Das änderte sich, als sich die Cosa Nostra veränderte: als die Corleoneser kamen. Seit Totò Riina war die Mafia an der Aufteilung des Kuchens nicht mehr nur beteiligt, sie hat darüber entschieden, wie der Kuchen aufgeteilt wird.
Riina hat das »System des runden Tischs« eingeführt. Man setzte sich zu dritt zusammen: Politiker, Baufirmen und Mafia. Die Baufirma zahlte Schutzgeld sowohl an die Politiker als auch an die Mafiosi: eine Abgabe von drei Prozent. Darüber hinaus erhielten die Mafiosi das Monopol für Erdarbeiten, für die Lieferung von Zement oder Kies aus ihren Gruben und für die Auswahl des Baustellenpersonals. Entsprechend diesem System wurden in den 1980er und 1990er Jahren in Sizilien Krankenhäuser, Staudämme, Regierungssitze, Straßen und Autobahnen, Gerichtsgebäude, Kasernen und Hochsicherheitsgerichtssäle für Tausende Milliarden Lire gebaut.
Die Ausschreibungen waren allesamt von Anfang an manipuliert. Die Firmen trafen Absprachen, und dann entschied die Cosa Nostra, wann wie vorzugehen war. Die Corleoneser hatten die vollständige Kontrolle über diese Abläufe. Ihnen standen »Fachleute« zur Verfügung: Unternehmer wie Angelo Siino, den sie »Totò Riinas Bauminister« nannten; Beamte wie Giuseppe »Peppuccio« Zito, Pino Lipari und Francesco Martello. Wer nicht einverstanden war, musste sterben. In weniger als zehn Jahren, zwischen 1979 und 1988, wurden in Sizilien einundfünfzig Unternehmer ermordet.
Nicht nur sizilianische Firmen waren am »System des runden Tischs« beteiligt, auch die großen Unternehmen Norditaliens hatten die unausgesprochene Übereinkunft akzeptiert, bereitwillig und in absolutem Stillschweigen, der omertà.
Dann änderte man dieses System. Die von den Corleonesern kontrollierten Bauaufträge wurden nicht mehr von Totò Riinas »Minister« gemanagt, dem man jetzt nur noch kleinere Projekte zuwies, sondern von dem größten sizilianischen Bauunternehmer Filippo Salamone aus Agrigent. Sein politischer Gewährsmann war der Präsident der Regionalregierung, Rino Nicolosi. Von nun an gab es einen neuen Sturmangriff auf die Pfründe. Die Cosa Nostra beteiligte sich jetzt mit einigen großen Firmen direkt am System der öffentlichen Bauaufträge, etwa mit der Firma Calcestruzzi von Raul Gardini, der gegen entsprechendes Entgelt zuließ, dass die Mafia in Sizilien mit dem guten Namen seines Unternehmens auftrat..
Heute gibt es für öffentliche Bauaufträge keinen »Vermittlungsausschuss« mehr. Die kriminelle Organisation ist zwar im Umbruch, hat aber nach wie vor ihre eigenen Leute in der Regionalverwaltung, die schon in den Startlöchern sitzen, um sich der kommenden Großaufträge anzunehmen, allem voran des Großprojekts der Brücke über die Straße von Messina.
Sollte sie je gebaut werden, wird es für die sizilianische und die kalabrische Mafia ein kolossales Geschäft. Die Bosse von Cosa Nostra und ’Ndrangheta bereiten sich schon seit Jahren darauf vor. Auf diesen Zug wollen alle aufspringen. Die Staatsanwaltschaften ermitteln bereits zu den Landenteignungen, zu Dutzenden Baufirmen der Provinzen Agrigent und Trapani (die schon nach Messina umgezogen sind), zu Kleinunternehmern und Strohmännern, die ihre Lkws und Betonmischer in Sizilien und in Villa San Giovanni auf dem Festland bereits in Stellung gebracht haben. Fast eintausend sizilianische und kalabrische Unternehmen und über fünftausend verdächtige Firmen wurden bisher überprüft.
Eine Zahl verdeutlicht das Ausmaß des potenziellen Gewinns: Das Budget für das öffentliche Gesundheitssystem in Sizilien beträgt gut acht Milliarden Euro, ein Drittel des Haushalts der Region. Nach Untersuchungen der sizilianischen Gewerkschaften wird ein Drittel dieser Gelder von der Mafia und durch Misswirtschaft zweckentfremdet. Wo es etwas zu verdienen gibt, ist die Mafia nicht weit.
Bernardo Provenzano hatte zu Beginn der achtziger Jahre als Erster verstanden, dass das öffentliche Gesundheitswesen eine nie versiegende Geldquelle ist. Zur selben Zeit begannen die ersten polizeilichen Ermittlungen zum Einfluss der Mafia auf den Betrieb von Krankenhäusern.
Die Politiker bereichern sich am Gesundheitssystem. In der ab 2001 von Salvatore (Totò) Cuffaro geführten Regionalregierung hielten sechs von zwölf Ministern Beteiligungen an Privatkliniken und Gesundheitszentren. Während der zweiten Regierung Cuffaro war die Liste der Abgeordneten, die stille Teilhaber an Gesundheitsunternehmen waren, endlos lang.
Das Gesundheitswesen stellt eine gewaltige Wirtschaftsmacht dar. In den Krankenhäusern Siziliens arbeiten fast elftausend Ärzte, über fünfzigtausend weitere sind in diesem Sektor beschäftigt. Bei den letzten Kommunalwahlen in Palermo waren von den 1464 Kandidaten 250 Ärzte. Alle wollen einen Arzt in ihrer Partei haben. Alle wollen einen Arzt in ihrer Mafiafamilie haben. Er bringt Stimmen und das Einverständnis der Wähler.
Die Parteien besetzen die Chefposten der Gesundheitsbetriebe mit ihren eigenen Leuten. Es sind immer dieselben, seit dreißig Jahren: ein Clan von Managern, die quasi auf Lebenszeit berufen werden. Auch die Mafia hat ihre Leute in den Krankenhäusern. Es gab und gibt Bosse und Bezirkschefs, die sich zwischen ihren Gipfeltreffen den Arztkittel überziehen und Krankenhausabteilungen leiten.
Einer der letzten Mafiosi im weißen Kittel, die ins Gefängnis kamen, war Giuseppe Guttadauro, Bezirkschef von Brancaccio und ehemaliger stellvertretender Chefarzt der chirurgischen Abteilung des städtischen Krankenhauses. Ein weiterer ist Antonino Cinà, Bezirkschef von San Lorenzo und Arzt Totò Riinas und Bernardo Provenzanos. Doch Ärzte im engeren Umkreis der Mafia gab es immer viele. Domenico Miceli beispielsweise arbeitete im Poliklinikum und war Stadtrat von Palermo. Auch Salvatore Aragona ist Chirurg. Der Radiologe Giovanni Mercadante war Regionalratsabgeordneter der Berlusconi-Partei Forza Italia.
In der Vergangenheit war es nicht anders. Michele Navarra, der Boss von Corleone, leitete das dortige Krankenhaus, das Ospedale dei Bianchi. Francesco Barbaccia war HNO-Arzt im Ucciardone-Gefängnis. Barbaccia stammte aus Godrano, einer kleinen Gemeinde in den Hügeln um Palermo, und wurde von Gaetano Badalamenti in die Familie von Cinisi aufgenommen. Badalamenti kam es gelegen, einen Arzt als Ehrenmann zu haben, der ihm im Gefängnis zu Diensten stand. Francesco Barbaccia wurde auch für zwei Legislaturperioden ins Parlament gewählt; er kandidierte für die Democrazia Cristiana. Berühmt wurde er wegen seines beharrlichen Schweigens: Er ergriff im Parlament kein einziges Mal das Wort, unterzeichnete nie eine Anfrage und hielt sein Leben lang nie eine öffentliche Rede.
In den letzten Jahren trat schließlich noch der letzte Stern des mafiosen Gesundheitswesens in Erscheinung: Michele Aiello, der Beschützer Bernardo Provenzanos. Er deckte ihn finanziell und verteidigte ihn gegen die Polizei.
Drei Jahre lang war er der größte Steuerzahler Palermos, aber niemand kannte ihn. Er war anonym, unsichtbar. Er begann als Bauunternehmer und gewann Ausschreibungen für die Feld- und Waldwege halb Siziliens, dann wurde er zum »König« der sizilianischen Kliniken und steinreich. Er war Besitzer der Villa Santa Teresa, einer Privatklinik in Bagheria, die als Einzige im westlichen Sizilien über ein PET-Gerät [Positronen-Emissions-Tomographie] für die Krebsfrüherkennung verfügte. Die Klinik war in der Region »akkreditiert«, noch bevor sie ihre Tore geöffnet hatte.
Wer es wissen sollte, wusste es: Eine Strahlentherapie würde nicht, wie in der Gebührentabelle vorgesehen, viertausend, sondern dreißigtausend Euro kosten. Die »Preisliste« hatte Aiello im Hinterzimmer eines Bekleidungsgeschäfts mit Totò Cuffaro ausgearbeitet, dem Regionalpräsidenten Siziliens. Jahr für Jahr entnahm Villa Teresa den Kassen der öffentlichen Gesundheitsversorgung Siziliens vierzig Millionen Euro. Nach der Verhaftung des Klinikkönigs sank die Gebühr für Untersuchungen in der Villa Teresa plötzlich um fünfundsiebzig Prozent. Die Antimafia zahlt sich schnell aus.
Michele Aiello war ein Strohmann Bernardo Provenzanos und von Leuten aus dem Staatsapparat umgeben, die ihn über Ermittlungen gegen ihn und Provenzano auf dem Laufenden hielten. Wenn die Fahnder des untergetauchten Mafiabosses sicher waren, in einem Dorf oder einem Gehöft seine Spuren gefunden zu haben, war der Unterschlupf zwar noch warm, aber Provenzano war wie vom Erdboden verschluckt. Er war stets bestens informiert. Er und der Klinikkönig hatten überall ihre Spitzel.
Einer seiner Informanten scheint Totò Cuffaro gewesen zu sein, der nach 2000 der mächtigste Politiker der Insel war […].
La Repubblica, 23. Januar 2010
Der ehemalige Regionalratspräsident Totò Cuffaro sitzt seit dem 22. Januar 2011 im römischen Gefängnis Rebibbia eine siebenjährige Haftstrafe ab, weil er die Cosa Nostra »in schwerwiegender Weise begünstigt« hat.