17
Vorsichtig bog ich das Dickicht vor meinem Gesicht beiseite und betrachtete die Lichtung vor der Felswand. Zur Tarnung ins Gesicht geschmierter Schlamm machte meine Züge unkenntlich. Etwa ein halbes Dutzend Männer hockte um ein Feuer, etwa die Hälfte Wächter. Die andere Hälfte war auf Posten und tat all die unnützen Dinge, die Männer auf Wache so tun.
Hier befand sich ein Seiteneingang in die Bergfestung, und genau wie bei dem auf der Vorderseite befindlichen Haupteingang verhinderte ein von W'Watchun errichtetes unsichtbares Tor den Zutritt. Die Männer von Khon dem Mak konnten nicht hinein. Allerdings konnte auch niemand heraus, jedenfalls nicht ohne Kampf.
Der Eingang selbst klaffte so weit auf wie das Maul eines Risslacas. Chekaran hatte recht gehabt: die Schweber hatten genug Raum, um hineinfliegen zu können.
Ein paar auf jeder Seite postierte Varter würden dieses Unterfangen allerdings sehr schwierig gestalten.
Die Zwillinge, die für alle Zeiten einander und gleichzeitig Kregen umkreisen, strahlten ihr rötliches Licht aus, das den Blättern eine leicht purpurne Färbung verlieh. Also hatten diese Paktuns genug Licht, um uns zu beschießen, während wir in den Eingang flogen. Schlechtes Cess für sie alle!
Ich ließ die Blätter behutsam in ihre ursprüngliche Lage zurückgleiten und kroch den sanften Abhang zu der Stelle zurück, an der Ronun und Chekaran warteten. Die beiden Schweber standen ein Stück weiter auf dem Landeplatz, den wir gewählt hatten, als wir uns im Tiefflug außer Sicht des Feindes herangepirscht hatten.
Ich beschrieb mit leiser Stimme die Situation vor dem Höhleneingang.
»Der Meister«, sagte Chekaran, »wird das Tor lange genug senken. Doch wir müssen uns trotzdem beeilen.«
»Aye.«
»Wenn wir dort hineinkommen wollen«, sagte Ronun mit sich sträubendem Gefieder, »müssen wir gegen diese Blintze kämpfen, bei Rhapaporgolam dem Seelenräuber!«
Unglücklicherweise fiel mir dazu kein vernünftiges Gegenargument ein.
Die beiden Flugboote müßten warten, bis wir den Eingang gesäubert hätten, und könnten erst dann einfliegen. Als ich erwähnte, daß wir ein Signal brauchten, um den beiden Piloten mitzuteilen, daß alles in Ordnung sei, erklärte Chekaran, der Illusionszauberer werde es schon wissen. Queyd-arn-tung, mehr war dazu nicht zu sagen, bei Krun!
Wir hatten in dem gekaperten Schweber eine gutgefüllte Waffenkammer entdeckt, und so konnten Armbrüste ausgegeben werden. Ein Bolzenhagel würde unsere Chancen auf wundersame Weise erhöhen. Als jeder bereit war und wußte, welche Position er einzunehmen und was er zu tun hatte, nahmen wir Aufstellung und stürmten die Lichtung.
Hinter dem Eingang in der Felswand erstreckte sich ein Gewirr aus natürlichen Felsspalten und Öffnungen, von denen viele zu Gemächern vergrößert worden waren. Der ganze Berg war ziemlich ungewöhnlich. Vor langer Zeit hatten titanische Erdstöße ein gewaltiges Felsmassiv von dem übrigen Gebirge abgespalten, nachfolgende vulkanische Erdbewegungen hatten dann eine seiner Seiten wie mit einem Messer senkrecht abgeschnitten. Dort gab es einen langen Weg in die Tiefe, einen verdammt langen Weg, bei Krun!
Als wir an dieser beeindruckenden Felswand vorbeigeflogen waren und ich den Kopf über die Reling gebeugt hatte, waren in der Tiefe nur undurchdringliche Schatten zu sehen gewesen.
Von dort stieg eine seltsame Aura des Schreckens in die Höhe, die wirklich sehr beunruhigend war, bei Djan!
Der Seiteneingang befand sich an der Flanke des Berges. Ulak das Auge starrte die Armbrüste mit gerunzelter Stirn an. Ich befahl ihm, sich um die Vartermannschaft der einen Seite zu kümmern, ich nähme die andere Seite.
Dann fielen mir die Unternehmungen mit Seg ein, und ich sagte: »Eine kleine Wette, Ulak?«
Er nickte. »Gut. Aber ich glaube nicht, daß du gewinnen wirst.«
Die Einzelheiten waren schnell geklärt. Eine bestimmte Zeitspanne, der Wetteinsatz Gold, die genaue Unterscheidung zwischen einer Verwundung und einem tödlichen Schuß. Welch unwichtigen Zeitvertreib sich Kämpfer doch einfallen lassen, um das Entsetzen der Schlacht zu erleichtern!
Ich sah mir Ronuns Juruk an, sah die entschlossenen wilden Gesichter mit den heruntergezogenen Brauen und seufzte. Wie viele dieser prächtigen Burschen würden in schrecklich kurzer Zeit ins Gras gebissen haben? Wie viele von ihnen würden Garnath den Stämmigen auf seiner Reise durch die undurchdringlichen Nebel zu den Eisgletschern von Sicce begleiten? Wie viele würden den Weg in die dahinterliegenden sonnigen Hochländer finden?
Was Garnath anging, so würde man ihm nach den vorgeschriebenen Ritualen ein ordentliches Begräbnis bereiten und die richtigen Worte über seiner Leiche sprechen, um ihm für seine Reise Trost zu spenden. Danach würden wir ein Noumjiksirn abhalten und uns bei der fröhlichen Totenfeier an ihn erinnern, wie er als Lebender gewesen war. Die Jungs dieser Juruk würden vermutlich mehr trinken, als gut für sie war.
Die Entscheidung war gefallen und das Angriffsziel festgesetzt (eigentlich waren es zwei Ziele, da es sich um eine ganze Reihe von Vartern handelte). Der Plan verlangte nach einem Bolzenhagel, der die Lichtung säuberte, während Ulak und ich uns um die Wurfgeschütze kümmerten. Gut. Ich mußte mich zusammenreißen und die ganzen morbiden Gedanken verbannen. Brassud! Genau das würde mein alter Dom Seg Segutorio sagen, die Bogensehne spannen und so schnell schießen, daß ihm das Auge kaum folgen konnte.
Die Zwillinge sandten ihr weiches, zartes rosa Licht aus. Das Feuer knisterte und ließ gelbe und rote Funken aufstieben. Die Jungs waren bereit.
Ich gab das Signal.
Nicht ein Armbrustbolzen des ersten Geschoßhagels verfehlte sein Ziel. Männer stürzten zu Boden. Schreie zerrissen die Nachtluft. Ich konzentrierte mich darauf, den großen lohischen Langbogen so schnell zu spannen und abzuschießen, wie es nur möglich war, dabei fühlte ich mich wie immer im Geist von Segs unerbittlichem, mein Handwerk kritisch begutachtendem Blick beobachtet; da blieb keine Zeit, um nachzusehen, wie Ulak vorankam.
Das Feuer tauchte diese Szene wie aus einer Herrelldrinischen Hölle in düsterrotes Licht. Männer warfen sich auf der Suche nach Deckung blindlings zu Boden. Viele lagen reglos da. Zwei Paktuns – das silberne und goldene Funkeln an ihren Kehlen verkündete ihren Status – erwiderten das Feuer. Ich wechselte das Ziel und schaltete den Zhan-Paktun aus – ein schreckliches Tun, bei Djan. Ein Armbrustbolzen ließ den Mort-Paktun zusammensacken.
Der Zeitpunkt war gekommen, ich wußte es.
In genau diesem Augenblick schwebte hinter uns der Bug der Galoppierenden Zorca in Sicht. Der erbeutete Schweber folgte dichtauf.
»Alle Mann an Bord!« rief ich mit der weittragenden alten Vordecksstimme. Den Befehl überhörte keiner.
Beide Vartermannschaften waren zu den Eisgletschern von Sicce geschickt worden. Trotzdem mußten wir ganz schön flink sein.
Ulak sprang über das Schanzkleid, die Jungs hielten sich dicht hinter ihm. Mit eingespanntem Pfeil und bis zum Ohrläppchen durchgezogener Sehne sah ich mir das Bild der Verwüstung an. Nichts regte sich. Zufrieden entspannte ich den Bogen und schwang mich an Bord. Der Flieger schoß wie eine Rakete nach vorn, das zweite Flugboot schloß sich ihm an, und wir rasten auf das finstere Tor im Felsen zu.
Meine düsteren Befürchtungen hatten sich als überflüssig erwiesen. Wir hatten nicht einen Mann verloren. Soviel zur Zaghaftigkeit eines Befehlshabers!
Aber schon in dem Augenblick, als mir dieser läuternde Gedanke durch den alten Voskschädel ging, kam die nächste Sorge. Wenn es W'Watchun nun nicht geschafft hatte, sein verdammtes Tor zu öffnen? Wir würden mit ihm zusammenstoßen und bei unserer Geschwindigkeit als Trümmerregen zu Boden prasseln.
Ein paar Momente lang hüllte uns undurchdringliche Finsternis ein. Ich fühlte keinen Unterschied, weder in meinem Körper noch in meinem Verstand, aber wir waren durch. Mit dramatischer Plötzlichkeit flammten Lichter auf und enthüllten eine lange schmale Höhle. Die Luft war kühl. Die Fackeln bemühten sich, die Umgebung zu erhellen – die Düsternis zu bannen, wie man in Clishdrin sagt –, aber dieser Ort besaß eine Atmosphäre, die an eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe gemahnte.
Keine Menschenseele war zu sehen. Nach vorn verengte sich die Höhle zu einem schlecht beleuchteten Tunneleingang. Modergeruch lag in der Luft.
Naghan landete die Galoppierende Zorca auf dem steinigen Boden.
»Wir gehen zu Fuß weiter.« Chekaran ging in die Kabine und kam mit dem Illusionszauberer zurück, den er wie zuvor wie einen Säugling im Arm trug.
Die Sylvies halfen den beiden Ausreißerinnen von Bord.
»Bleibt zusammen!« befahl Ronun kurz angebunden und übernahm die Führung.
Ich überließ dem Rapa-Cadade die Vorhut, ging als letzter und übernahm die Nachhut.
Wir liefen eine beträchtliche Strecke, bogen um ein paar Abzweigungen, und das Fackellicht hinter uns erlosch. Das war ein unheimlicher Eindruck. Keiner sagte viel. Die Wände warfen jedes Geräusch als Echo zurück.
Ich jedoch fand eine ganz andere Tatsache seltsam, um nicht zu sagen unglaublich: Da bewegten wir uns durch einen geheimnisvollen Tunnel unter dem Erdboden, ohne daß sich uns jemand in den Weg stellte. Es gab keine Fallen. Es gab keine Ungeheuer. Das war für mich das Merkwürdigste an diesem Ort, bei Krun!
Von unseren leisen Geräuschen abgesehen war der Tunnel von tödlicher Stille erfüllt. Ich sah immer wieder über die Schulter zurück, die Hand am Schwertgriff, nur für alle Fälle.
Vor uns fiel weißes Licht in den Gang. Meine Kameraden verwandelten sich in schwarze Silhouetten. Wir bogen um die Ecke, dann standen wir am Eingang einer riesigen Höhle. Dort bot sich uns ein seltsames, unheimliches Bild.
Man konnte unmöglich alles auf einen Blick in sich aufnehmen. Als sich meine Augen an das seltsame Licht gewöhnt hatten und ich die Einzelheiten erkannte, trat ein junger Mann im schwarzen Gewand und mit schwarzem Zylinder auf dem Kopf auf uns zu. Der Hut war etwa halb so hoch wie die der anderen Illusionszauberer. Sein Gesicht war verkniffen, die Augen tränten, und sein junger Mund bebte. Als er W'Watchun erblickte, schrie er entsetzt auf.
Der Zauberer schaffte es, ein paar kaum verständliche Worte zu murmeln. Der darauffolgende Ruf des Jungen zerriß die gedämpfte Stille dieses Ortes.
»Eine Sänfte für den Meister!«
Vier Brukajs tauchten wie aus dem Nichts auf. Sie trugen eine Sänfte, in die Chekaran W'Watchun behutsam hineinsetzte. Ich hörte, wie der Illusionszauberer die Worte »Beeil dich, Nalgre!« hauchte.
Die Brukajs liefen mit der Sänfte los, und dieser Nalgre blieb an ihrer Seite, mit einer Hand das polierte Holz umklammernd. Offensichtlich wußten alle, was sie da taten. Schließlich waren wir deshalb ja auch zu diesem Ort geflogen. Jetzt konnte ich mich in Ruhe in dieser geheimnisvollen Halle umschauen.
Der erste Eindruck war der einer riesigen Bürostube, in deren Mitte Reihen von gerade ausgerichteten Tischen aufgestellt worden waren. Leise, irgendwie unheimliche Musik erfüllte die Luft. Aber das Bild einer Bürostube wurde völlig von der absoluten Reglosigkeit der Leute zunichte gemacht, die vor den Tischen auf dem Boden saßen. Alle hatten die Lotusposition eingenommen. Ihre Köpfe waren gebeugt. Viele von ihnen waren mit weißem Haar gekrönt, dabei handelte es sich bei den Leuten nicht um Gons. Sie litten unter Chivrel, jener schrecklichen Krankheit, über die keiner redet. Ich hatte mich mit vielen Ärzten darüber unterhalten, und keiner von ihnen hatte auch nur eine Idee, woher die Krankheit kam.
Die meisten der Leute sahen alt aus, was bei den äußerst langlebigen Menschen Kregens erst in ihren letzten Jahren passiert. Einige der Männer waren jedoch nicht alt. Sie schienen stark und gesund zu sein, trotzdem saßen sie reglos und mit geschlossenen Augen zwischen den vielen Alten.
Eine kleine Och-Dame ging zwischen den Reihen umher und löffelte Brei in die Münder, die sich bei der Berührung durch den Löffel automatisch öffneten. Balkone ragten aus den Wänden, einige waren mit Vorhängen versehen. Zwischen den Menschenreihen verbanden dicke Säulen den Boden mit der Decke. Ein die Luft verpestender moschusartiger Geruch legte sich mir schwer auf die Zunge. Bei Vox, dies schien ein verderblicher Ort zu sein.
Die Sänfte bewegte sich vorwärts, und ich folgte ihr. Chekaran ging auf der Nalgre gegenüberliegenden Seite neben seinem Meister her. Ronun sammelte seine Juruk und eskortierte die Damen an einen Ort, der ihnen Chekaran zugewiesen hatte. Das hier war ein geheimer Stützpunkt, und ich fragte mich, welche Aussicht wir wohl hatten, ihn je wieder zu verlassen.
Vermutlich bessere als die Leute in ihren Lotuspositionen. Es existierte ein Schichtsystem, denn ein Och führte einen Burschen heran, der wie ein Zombie daherstolperte. Er nahm den Platz des Mannes ein, den der Och auf die Beine zog und dann in die Schatten unter einem Balkon führte. Hier waren alle Arten von Diffs vertreten, allerdings relativ wenige Hytaks und keine Pachaks.
Während ich hinter der Sänfte hereilte und mich neugierig umsah, verschwanden die letzten Söldner aus meinem Blickfeld. Ich glaubte nicht, daß Ulak unsere Wette vergessen hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie sie ausgegangen war. Er wüßte es sicher, denn er war ein Underker und deshalb nicht nur empfindlich, was seine Bogenschützenkunst anging, sondern bildete sich auch noch eine Menge darauf ein; das war nun einmal die Art dieser Diff-Rasse.
Auf den Tod zu wetten, ist bei Licht besehen eine bedrückende Sache. Es ist Teil jener Maske, die diejenigen aufsetzen, die sich ihren Lebensunterhalt als bezahlte Kämpfer verdienen. Es ist zu vergleichen mit dem scheinbar gefühllosen Übergang zur Tagesordnung nach einem Kampf, während normale Leute nach einem derartigen Erlebnis vor Entsetzen zittern würden. In den Gesellschaftsformen, die ich auf Kregen kennengelernt habe, überlebt keiner, der nur mit seinem Können prahlt und mit dem Schwert herumfuchtelt.
Was würden wohl, fragte ich mich angesichts dieser Überlegungen mit nicht unbeträchtlicher Schadenfreude, die berühmten Tchekedos von den anderen Kämpfern Kregens halten, falls sie von der Leine gelassen würden?
Diese düsteren Gedanken heiterten mich ein wenig auf. Dieser Ort konnte einen Mann trübsinnig machen. Er machte einen ganz kribbelig, wie man in Clishdrin sagt. Außerdem ging von ihm eine Bedrohung aus, die man nicht außer Acht lassen konnte.
Die kleine Prozession verschwand am anderen Ende des Raumes durch einen bogenförmigen Durchgang unter einem Balkon. Ein paar kurze, mit Teppichen ausgelegte und von Lampen erhellte Korridore führten uns in einen Vorraum. Nalgre und Chekaran hoben den Illusionszauberer aus der Sänfte und legten ihn auf ein Sofa. Eine Frau, die offensichtlich unser Kommen erwartet hatte, stand von ihrem Stuhl auf.
Alles spielte sich recht gelassen ab, doch diese Leute wurden unverkennbar von einem Gefühl der Dringlichkeit angetrieben. Die Frau war eine Venahim und hatte die für ihre Rasse typischen schweren Knochenwülste über Augen und Stirn, war allerdings kleiner als Frau E'Eolana, die in Prebaya meine Kameradin Veda geheilt hatte. Doch ihre Augen blickten genauso durchdringend. Ihr Gewand war ebenfalls hellgelb und wurde von einem Silbergürtel zusammengehalten.
Chekaran raunte mir zu: »Der Meister leidet keine Schmerzen. Wir brauchen keine Nadelstecherin. Frau H'Havalini wird ihm helfen, sich zu entspannen.«
Die Venahim-Heilerin bewegte die Hände und wandte eine Technik namens Schonbium an, ohne W'Watchun ein einziges Mal dabei zu berühren. W'Watchun zeigte eine Reaktion, sein Gesicht gewann in wunderbar kurzer Zeit an Farbe und entspannte sich.
Nalgre brachte einen goldenen Weinpokal und schenkte einen Becher voll, und W'Watchun trank einen Schluck. Er setzte sich auf, obwohl sein Blick noch immer von dunklen Schatten heimgesucht wurde. Er sprach mit volltönender Stimme.
»Bringt mich zu ihnen, sofort!«
»Ja, Meister«, sagten Chekaran und Nalgre im Chor.
Der Zauberer brauchte nur wenig Hilfe, als sie den Vorraum durch eine Tür verließen, über der wilde Teufelsfratzen höhnisch in die Tiefe grinsten. Ich schloß mich ihnen an und ließ Frau H'Havalini zurück, als sie gerade einen Becher Wein an die schmalen Lippen hob.
Das Gemach, das wir betraten, war genauso seltsam wie alles, was ich hier bis jetzt zu Gesicht bekommen hatte – wenn nicht sogar noch seltsamer.
Der Raum war nicht sonderlich groß. Große grüne Kerzen brannten mit starrer blauer Flamme. Neun goldene Sofas waren im Halbkreis angeordnet. Fünf von ihnen waren von Männern mit Beschlag belegt – in dem Gemach hielt sich keine einzige Frau auf –, die dort stocksteif, mit bleichem Gesicht und leicht schwitzend lagen. Jeder streckte die Arme aus und umklammerte die Hand des jeweiligen Nachbarn, bis auf den Mann am Anfang des Halbkreises und den Fünften, der links neben sich keinen Partner mehr hatte. Alle trugen die schwarze Kleidung der Illusionszauberer. Die Stille war fast körperlich spürbar. Der Geruch von Verfall und Verwesung verpestete die Luft.
Mit Unterstützung seines Dieners und seines Schülers streckte sich W'Watchun auf dem nächsten goldenen Sofa aus und nahm die Hand seines Nachbarn.
Die fünf Männer keuchten auf und würgten; die auf dem Rücken liegenden Körper zuckten, als würden sie mit glühend heißen Eisen gebrandmarkt.
»Meister!« Die fünf Männer krächzten das Wort beinahe gleichzeitig.
»Sans, konzentriert euch!« Der Zauberer sprach mit unerbittlicher Härte. »Konzentriert euch, oder wir sind verloren!«
Die Atmosphäre nahm mir die Luft zum Atmen, sie klebte wie Stränge aus Spinnenseide an mir, bedrückend und von Magie erfüllt. Nalgre winkte. Dankbar folgte ich ihm und Chekaran aus dem Gemach. Draußen im Vorzimmer atmete ich erst einmal tief durch und griff nach dem Weinpokal.
Dann trank ich, wütend über die unheimlichen Begleitumstände und voller Unbehagen über das erstickende Gefühl entfesselter Magie, den Becher mit einem Zug leer, fuhr mir mit dem Handrücken über die Lippen und sagte: »Bei Mutter Zinzu der Gesegneten! Das war nötig!«
Diese einfache Geste und die vertrauten Wörter holten meine Gedanken aus dem schrecklichen Reich der Thaumaturgie zurück und konfrontierten sie mit den praktischen Problemen, denen ich gegenüberstand.
Die seltsamen Vorgänge an diesem Ort hatten mir eine genaue Vorstellung davon gegeben, was hier geschah. Die in der großen Höhle in Lotusposition sitzenden Männer schufen die geistige Kraft, die für W'Watchuns unsichtbaren Wall um Winlan sorgte. Die Zauberer auf den goldenen Sofas setzten sich mit aller Kraft gegen den Angriff der Magier zur Wehr, die hier einbrechen wollten. Nalgre, der mit vollem Namen Nalgre S'Scholian hieß, erklärte es mir. Unter Anleitung der Zauberer benutzten die Männer in der Höhle ihre inneren Kräfte dazu, den Wall aufrechtzuerhalten. So weit hatte ich recht gehabt. Es handelte sich da allerdings nicht direkt um die Kraft des Geistes oder des Ib, sondern um eine tiefsitzende innere Kraftquelle, die nur ein Zauberer mit dem richtigen Wissen und Können hervorlocken konnte.
Die Männer waren in der Hauptsache verurteilte Verbrecher, denen man Gelegenheit gegeben hatte, der Hinrichtung zu entgehen, und die nicht wußten, auf welches Halbleben sie sich da einließen. Sie verließen diesen Ort nie mehr.
Was nun die Illusionszauberer anging, so waren vier der neun Magier – die Neun war auf Kregen die magische Zahl – desertiert und hatten W'Watchun verraten. Ihr Anführer war San Partagus, der sich für den nächsten Meister hielt.
Der magische Kampf war ziemlich ausgewogen; auf der einen Seite W'Watchun und seine fünf Getreuen, auf der anderen Partagus und seine vier Verbündeten. Furneys Unterstützung war ein ernstes Problem, aber Nalgre zufolge würde W'Watchun die Angriffe aufhalten können. Die Kräfte der einzelnen waren ungleich verteilt; die vier Verräter waren mächtiger als die fünf, die dageblieben waren. Ich sparte mir jeden Kommentar, fragte mich aber, ob das nicht meistens der Grund war, warum es überhaupt zu Verrat kam.
Die Heilerin war gegangen. Der Pokal war so gut wie leer gewesen. Nun, ich wünschte ihr Glück, bei den Anforderungen mußte sie bei Kräften bleiben.
Es war ein langer Tag gewesen, aber die Aufregungen hatten mich auf Trab gehalten, und ich fühlte mich nicht müde. Aber ich war hungrig, und Nalgre ließ eine Mahlzeit bringen. Ich war noch mit den Palines beschäftigt, als er mich in einen düsteren, nur von ein paar dünnen Wachskerzen erhellten Raum geleitete. Ein junger Bursche im schwarzen Zauberergewand erhob sich bei unserem Eintreten. Er hatte sich aufmerksam ein weißes Tuch angesehen, das an der Wand hing.
»Alles ruhig, Nalgre.«
Nalgre verzog das junge Gesicht. »Gut.«
Nun ist die Magie für jene, die sich in den Zauberkünsten auskennen, ein mächtiges Werkzeug. Doch ihre Erscheinungsformen begreifen selbst Laien wie ich. Also konnte ich mir denken, was hier geschah.
Als könnte Nalgre meine Gedanken lesen, schenkte er mir einen düsteren Blick. »Wenn du willst, kann ich es dir zeigen.«
»Bitte.«
Er stellte sich hinter mich und legte mir die Finger auf die Schläfen. Ich empfand den Druck als ein sanftes Gefühl. Einen Augenblick lang passierte gar nichts. Dann – nun, bei Krun, ich staunte nicht schlecht, das kann ich Ihnen sagen!
Ein Bild nahm auf dem weißen Laken Gestalt an. Zu sehen war ein typisches Lager mit Paktuns, die sich um Feuer und Kochtöpfen versammelten, vielen Zelten von verschiedener Wichtigkeit, patrouillierenden Wachen. Ich entdeckte keine Satteltiere. Der sternengesprenkelte Nachthimmel, an dem sich die Zwillinge zeigten, erinnerte mich an frische Luft, und ich schluckte den Geschmack dieses Ortes hinunter. Ich begriff, was ich da sah.
»Die Illusionszauberer befinden sich in dem Zelt mit der schwarzen Flagge«, sagte Nalgre finster. »Es gibt eine Menge Söldner.«
Bevor ich darauf etwas erwidern konnte, erblickte ich den Rast. Hyr Kov Khon der Mak trat mit einer Rüstung bekleidet aus einem flaggengeschmückten Zelt; er nagte gerade einen Hühnerknochen ab und warf ihn über die Schulter. An seiner Seite stolzierte Kov Grogan. Die beiden Schurken verdienten meine Aufmerksamkeit, und ich vertrödelte meine Zeit inmitten einer Horde von Zauberern, die sich eines magischen Angriffs erwehrten!
Mich überkam etwas von der heißen Wut, von der ich mich in meinen frühen Tagen auf Kregen so oft hatte leiten lassen.
Bei dem Hängebauch und den dicken Oberschenkeln der heiligen Dame von Belschutz! Die Magie erledigte ihren Teil. Nun mußte ich, der einfache Dray Prescot, losziehen und meinen Teil erledigen.
Nalgre gab mir ohne weiteres die gewünschten Auskünfte über Wege und Tunnel. Er schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Du hast den Meister hergebracht, damit er gegen sie kämpfen kann. Aber nach draußen zu gehen ...«
»Ich gehe.«
Ich sagte es ganz ruhig. Ich wußte, was sich in dem hübschen Zelt von Khon dem Mak verbarg.
»Dann bezweifle ich, daß ich dich jemals wiedersehen werde, Majister.« Er seufzte. »Remberee, Majister.«
Was das anging, hatten Opaz, Zair und nicht zu vergessen Djan auch noch ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. »Remberee, Nalgre.«
Ich drehte mich um und ging auf den Tunnel zu, der mich aus dem Berg führen würde.