13
Ich starrte das Mädchen mit offenem Mund an.
W'Watchuns Gesicht verwandelte sich in das Antlitz eines wunderschönen schwarzen Mädchens, und das Haar fiel wieder an Ort und Stelle.
»Schnell! Die Frauen können mich nicht wahrnehmen! Falls uns ein Zauberer beobachtet, wird diese Tarnung sicher standhalten. Und jetzt geh!«
Ich drehte mich auf dem Absatz um und lief zurück zu dem staubigen Gang mit der quietschenden Tür.
Es lag auf der Hand, was geschehen war. Die verachtete Stellung der Frau in Winlan erstreckte sich auch auf den religiösen Bereich, deshalb hatten diese Narren sogar ihre Tempel in unterschiedliche Bezirke abgeteilt. Auf der Suche nach einer Geheimtür war ich im Frauenflügel gelandet. Wieder wallte Staub auf, als ich auf die Eingangstür zulief.
Eines mußte ich dem Zauberer lassen. Ich hatte den Verdacht gehegt, daß er jeden meiner Schritte beobachtete und dabei inbrünstig hoffte, mein verrückter Plan werde gelingen. Nun, bei Djan! Er hatte schnell gehandelt!
Ich schlüpfte durch die Tür. Der Korridor war menschenleer, aber aus der Richtung, aus der ich ursprünglich gekommen war, näherten sich Stimmen. Sollte ich ihnen entgegengehen und es darauf ankommen lassen? Oder sollte ich einem Zusammenstoß aus dem Weg gehen und einen anderen Ausgang aus dem Tempel suchen?
Ich drehte mich um und ging dem Stimmengewirr entgegen. Diesen Weg kannte ich, und ich verspürte keine Lust, mich in dem verdammten Labyrinth, das dieser Tempel garantiert darstellte, zu verirren. Ich schritt energisch aus und dachte dabei über die interessante Tatsache nach, daß W'Watchun allem Anschein nach der Grundriß des Dokerty-Tempels unbekannt war. Darum war aus dieser Richtung keine Hilfe zu erwarten, wenn es darum ging, den Ausgang aus diesem Höllenloch zu finden.
Die Stimmen gehörten einer Gruppe von Dienern, die auf Traggestellen Wasserfässer herbeitrugen. Sie traten beiseite und senkten respektvoll die Köpfe, als ich an ihnen vorbeiging.
Der Zauberer benutzte zwar die Dokerty-Religion, kannte sich aber nicht im Tempel aus; das ließ nur die Schlußfolgerung zu, daß er selbst nicht zu den Dokerty-Anhängern gehörte. Das war ein angenehmer Gedanke.
Hinter der nächsten Biegung lehnten zwei Paktuns an der Wand. Ich blinzelte. Der eine war ein Hytak, der andere ein Fristle. Sie sahen irgendwie vertraut aus. Ich starrte sie an und erkannte dann mit leichter Überraschung, daß sie das gleiche rostbraune Gewand wie ich trugen und mit dem gleichen Waffenarsenal behängt waren. Ohne ein Wort zu verlieren, schlossen sie sich mir an, und zu dritt betraten wir die Vorhalle, die zu dem äußeren Säulengang führte.
Hier wimmelte es jetzt vor rotgewandeten Priestern. Ein paar Krieger kamen lautstark herein; sie verstummten, als sie den Tempel betraten. Es war soweit. Ich ging stur weiter, flankiert von zwei Phantomen, die San W'Watchun nach meinem Ebenbild erschaffen hatte.
Ich wußte durchaus die Geschicklichkeit zu schätzen, mit der der Illusionszauberer meine Spuren verwischen wollte, aber ich war nicht so recht davon überzeugt, ob er nicht zu geschickt war. Unweigerlich zogen wir Aufmerksamkeit auf uns. Die Krieger grüßten die Priester respektvoll. Unsere kleine Gruppe ging ihnen aus dem Weg, doch wir senkten ebenfalls demütig die Köpfe.
Falls die verfluchten Tchekedos Ärger machten, würde ich ganz schnell die Flucht ergreifen. Die Zauberer aus Loh waren dazu imstande, Trugbilder von Schwertkämpfern zu erschaffen, die einen verletzen konnten – falls man an sie glaubte. Ihre Illusionen vermochten zu töten. Waren die von den Zauberern aus Balintol erschaffenen Phantome ebenfalls dazu fähig?
Soweit ich sehen konnte, gab es für diese Flegel mit ihren lächerlichen Halstüchern keinen Anlaß – einmal von ihrem bösartigen Wesen abgesehen –, sich uns in den Weg zu stellen. Davon abgesehen hoffte ich, daß sie sich wie jeder normale Mensch im Tempel seiner Religion benahmen und der Heiligkeit ihrer Umgebung den nötigen Respekt erwiesen.
Nicht daß dieser opazverfluchte Hort des Frevels für mich etwas Heiliges ausgestrahlt hätte, bei Krun!
Unter den Kriegern, die nun dastanden und sich leise unterhielten, befand sich ausgerechnet – wie hätte es auch anders sein können, bei Vox! – der lästige Lord Ramley aus der Gefleckten Hündin. Dann entspannte ich mich wieder. Meine Nerven mußten wahrlich bis zum Zerreißen gespannt sein, wenn ich befürchtete, er würde in dem Zhan-Paktun den gelbgekleideten angeblichen Kaufmann wiedererkennen.
Davon abgesehen sah mein Gesicht ganz anders aus.
Wir befanden uns jetzt mit den Kriegern auf gleicher Höhe. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, daß es wirklich passend gewesen wäre, wenn sie einen Knochen durch die Nase getragen hätten. In der entsprechenden Kultur ist ein durch die Nase gezogener Knochen das treffende Symbol für einen hohen Rang; in anderen Kulturen provoziert es eben andere Reaktionen. Die Tchekedos waren erst vor relativ kurzer Zeit aus den Bergen im Norden geströmt, um Winlan zu dem zu machen, was es im Augenblick war. Die ursprünglichen Einwohner hatten entweder die Flucht ergriffen, waren getötet worden oder hatten sich den Unterdrückern angeschlossen. Jetzt waren wir an den Kriegern vorbei. Die Tür nach draußen stand weit offen. Grünes und rotes Licht flutete herein.
»He da! Tikshims! Kommt her – wir wollen mit euch sprechen.«
Die heisere Stimme enthielt gerade das richtige Maß an hochmütiger Autorität, um einen in Wut zu versetzen. Der Sprecher war daran gewöhnt, daß man seinen Befehlen unverzüglich nachkam. Nun, mir waren auf Kregen schon eine Menge arroganter Cramphs begegnet. Ich ging mit festem Schritt weiter. Falls er jetzt herumbrüllte und mich als die angesprochene Person identifizierte, konnte ich noch immer behaupten, nicht gewußt zu haben, daß er mich und keinen meiner Begleiter gemeint hatte.
Es muß ihn überrascht haben, daß ich mich nicht auf der Stelle in respektvoller Weise zu ihm umdrehte, um herauszufinden, was er eigentlich wollte. Die beiden Phantome legten noch einen Schritt zu, und ich schloß mich ihnen an.
»Du da! Du Blintz von einem Söldner! Ja, mit dir rede ich!«
So langsam war ich diesen anmaßenden Befehlston und die dazugehörigen arroganten Krieger-Lords, die jedem anderen ihren Willen aufzwingen mußten, wirklich leid. Ich spürte förmlich, wie die Blicke meiner Klingengefährten auf mir ruhten, die Blicke von Seg und Inch, Turko, Balass und Tyfar. Viele gute Kameraden schienen auf mich herabzublicken, auf den einfachen Dray Prescot. Was sollte ich nur tun?
Die Krieger wußten mit Sicherheit, wie sie einen Paktun zu ihrem Vergnügen herumschubsen konnten. Sollte er dabei den Tod finden, brächte sie das nicht im geringsten aus der Fassung. Vermutlich würde es das Vergnügen dieser Rasts nur noch steigern.
Was also sollte ich tun?
San W'Watchun und seine Phantome nahmen mir die Entscheidung ab. Ich muß zugeben, daß diese Unentschlossenheit in meinen späteren Tagen auf Kregen nichts Seltenes war. In diesem Fall fand mein Zögern ein jähes Ende, als sich die beiden Phantome einfach in Bewegung setzten und Hals über Kopf aus dem Tempel rannten.
Notgedrungen folgte ich ihnen. Doch nicht einmal in diesem Moment sah ich meine Handlung als Flucht an. Ich floh ja nicht vor den Kriegern, sondern beeilte mich, um den Anschluß an zwei Phantom-Paktuns nicht zu verlieren. Bei Zair! In welche Situationen man geraten kann!
Wir stürmten die Stufen hinunter, und die Leute drehten den Kopf und sahen sich überrascht dieses ungehörige Benehmen an. Waren wir nicht gekommen, um den großen Dokerty zu preisen? Da gehörte der nötige Respekt für seinen Tempel doch wohl dazu, oder nicht? Zweifellos dachten sie so.
Die Idee des Illusionszauberers, mir zwei Ebenbilder an die Seite zu stellen, erwies sich nun als ausgesprochen klug, denn so konnten wir in drei verschiedene Richtungen loslaufen. Das taten wir auch, und das letzte, was ich von meinen Phantom-Kameraden sah, waren rostbraune Gewänder, die in der Menge verschwanden.
Bevor ich um die erstbeste Häuserecke bog, warf ich noch einen Blick zurück zum Tempel. Die meisten Leute starrten den drei offensichtlich verrückten Paktuns nicht länger nach, sondern kümmerten sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten. Am oberen Ende der Treppe stand eine kleine Gruppe von Kriegern, die wütend mit den Fäusten drohten. Sie machten keine Anstalten, die Verfolgung aufzunehmen. Schlechtes Cess für sie alle!
Sobald ich außer Sicht war, blieb ich stehen. Im Mittelpunkt des Kyros vor dem Tempel stand eine hohe Säule mit vier Spionaugen. Es hatte kein Anzeichen eines freischwebenden Auges gegeben – zumindest hatte ich nichts bemerkt –, und da die Phantome in verschiedene Richtungen gelaufen waren, würde W'Watchun sie vermutlich auflösen.
Eine Zweierreihe Leute marschierte auf den Tempel zu. Es waren alle möglichen Diff-Rassen vertreten, alles junge Männer und Frauen, und sie schritten mit gesenkten Köpfen daher, die Hände in die weiten Ärmel ihrer Gewänder gesteckt. Ein in Rot gekleideter Priester führte die Gruppe an. Ich starrte die jungen Leute an, und in meinem Innern krampfte sich alles zusammen.
Alle trugen weiße Gewänder.
Also hatte Khon der Mak die Priester bereits auf Trab gebracht. Diese Verdammten, die man schon in die weißen Gewänder gesteckt hatte, konnten sich nur auf dem Weg in den Tempel befinden, wo man sie zu Besessenen machen würde. Sie hatten keine Ahnung, welche Qualen sie dort erwarteten. W'Watchun bezeichnete die Besessenen, also die Menschen, die die Initiationszeremonie hinter sich gebracht hatten, mit der man sie auf die gewaltsame Übernahme ihrer Körper durch Dämonen vorbereitete, kurzerhand als die Beglückten. Die Beglückten! Eine wahrhaft zynische Bezeichnung.
Sie gingen weiter, mit gesenkten Köpfen und schweigend, und ich konnte den Blick nicht von diesen armen Teufeln wenden, bis sie alle um die Ecke gebogen und aus meinem Blickfeld verschwunden waren.
Falls sich diese fehlgeleiteten Menschen tatsächlich in den Tempel begaben, um dort zu Beglückten gefoltert zu werden, hieß das noch lange nicht, daß sich das in dem Flutubium verborgene Prisma der Macht ebenfalls dort befand. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden es Khon der Mak und sein ihm höriger Hoherpriester in ihrer Nähe aufbewahren. Trotzdem lohnte es sich vielleicht doch, noch einmal zurückzugehen. In einer ruhigen Hintergasse würde es bestimmt noch andere Zugänge zum Tempel geben. Ich begab mich unverzüglich zur Rückseite des weitläufigen Gebäudes.
Hinter dem Tempel verlief genau die ruhige Gasse, die ich erwartet hatte, und da war auch eine bronzebeschlagene Tür aus Lenken-Holz. Über ihr ragten zwei Lampen aus der Wand, die zu dieser Stunde natürlich nicht brannten. Auf der gegenüberliegenden Seite wurde die Gasse von einer blanken Mauer begrenzt, die auf dicken, kurzen Säulen ruhte. In den Zwischenräumen machte ich lediglich ein wenig Unkraut aus. Ein weiterer Beweis für die Macht, die Dokerty hier ausübte.
Ich sparte mir die Mühe, nachzusehen, ob die Tür tatsächlich verschlossen war, sondern suchte mir zwei tiefe rot und grün gefärbte Schatten und drückte mich eng an eine Säule. Ich mußte nicht lange warten.
Ein Unterpriester stolzierte herbei und hielt auf die Tür zu. In der Hand hielt er einen mit einem Silberknauf ausgestatteten Stock. Den stieß er immer wieder in den grauen Lendenschurz des Sklaven, der unter der Last einer Truhe von geradezu gigantischen Ausmaßen taumelte. Die Truhe war mit Leder und Bronzereifen versehen. Sie sah schwer aus. Der Sklave, ein Trinkim mit kahlgeschorenem Kopf und leerem Blick, wäre beinahe gestürzt. Der Stock stieß gnadenlos zu, und ich trat in das Licht der Sonnen.
Mein Plan war ganz einfach. Ich würde den Unterpriester höflich bitten, mir die Tür zu öffnen, mich in den dahinterliegenden Korridor begeben und den Priester mitsamt seinem Sklaven fesseln. Den Priester würde ich mit Freude fesseln, den Sklaven mit Bedauern.
Augen weiteten sich! Eine Hand fuhr fahrig zum bebenden Mund!
»Mach schon, du Rast«, knurrte ich unfreundlich.
Der Trinkim-Sklave ließ die Truhe fallen. Allerdings tat er es so, als würde er sich alle Mühe geben, sie behutsam abzusetzen. Ich kannte die Tricks der Sklaven. Die Truhe landete mit einem ordentlichen Geschepper auf dem Boden. Glas klirrte.
Ein Schlüssel öffnete die Tür. Es war sinnlos, ihn einzustecken; die Rotgewandeten würden alle Schlösser austauschen.
Der Korridor war mit weißen und schwarzen Fliesen ausgelegt, Decke und Wände waren cremefarben gestrichen. In gewissen Abständen hingen Mineralöl-Lampen und verbreiteten Licht. Ich befahl dem Trinkim, die Truhe in den Tempel zu schleppen, dabei sah ich mir die Kleider meiner Gefangenen an, auf der Suche nach geeignetem Material für ihre Fesseln. Der Trinkim schleppte die Truhe herein und knallte die Tür hinter sich zu. Anscheinend ging er gern grob mit den Sachen seiner Herren um, wenn sich die Gelegenheit bot.
Die Situation war unter Kontrolle. Der Priester hatte viel zuviel Angst, um zu schreien, und der Sklave amüsierte sich.
Dann ging alles schief – wie hätte es auch anders sein sollen?
Bei dem Hängebauch und den fetten Oberschenkeln der Dame Dulshini! Am anderen Ende des Korridors stampfte ein halbes Dutzend Krieger heran.
In letzter Zeit war ich ziemlich oft weggelaufen, also hätte es theoretisch keine Schwierigkeiten gemacht, auf dem Absatz kehrtzumachen und die Flucht zu ergreifen. Ich konnte nichts dabei gewinnen, wenn ich die Tchekedos angriff. Allein der Rückzug war vernünftig.
Das Problem lag in der Beschäftigung dieser Flegel.
Sie hatten zwei junge Mädchen bei sich, die sie quälten. Stoffetzen hingen von den Taillen der Mädchen herab und wirbelten wie Fähnchen durch die Luft, als die beiden versuchten, ihren Peinigern zu entkommen. Die Krieger lachten in jener gemeinen Weise, wie sie für solche Bastarde typisch ist, wenn sie sich auf ein paar – um ihre Worte zu benutzen – lustige Spielchen freuen.
Ihre Betätigung hinderte sie anfangs daran, die Lage zu begreifen, in der sich der Priester und sein Sklave befanden. Außerdem handelte es sich sowieso nur um einen Unterpriester, der ihre Handlungen niemals hätte beeinflussen können. Sie kamen mit höhnischem Gebrüll näher, in der Absicht, den Ausgang zu benutzen und ihr Werk in einer Schenke zu Ende zu führen.
Der Korridor war etwas beengt für ein Langschwert. Der Drexer glitt aus seiner Scheide. Ich sprang meinen Feinden entgegen.
Der erste Krieger starb, ohne überhaupt zu begreifen, wie ihm geschah. Der nächste ließ den Arm eines Mädchens los. Er brüllte wütend und überrascht auf und riß das Schwert heraus. Er ging zu Boden. Die anderen stießen wüste Schreie aus, es kam zu einem unübersichtlichen Gedränge, eines der Mädchen stolperte mir entgegen, ich mußte beiseite springen, und sie stürzte. Ich verschwendete keine Zeit, mich bei ihr zu entschuldigen. Eine Klinge raste auf mich zu. Der Drexer parierte, stieß nach vorn und stach zu.
Wie so oft in einem Getümmel dieser Art war es unumgänglich, mich im nächsten Augenblick vor dem wilden Gegenangriff in Sicherheit zu bringen. Die Krieger stießen ihre üblichen Drohungen aus, drängten mit wütend verzerrten Gesichtern nach vorn und ließen die Schwerter durch die Luft sausen, während ich ihrer Reichweite entfloh.
Da erschien eine Gestalt im schwarzen Gewand und Zylinder genau zwischen mir und den Tchekedos.
»Majister! Was tust du da? Ich brauche Hilfe! Bitte! Komm sofort ...«
Die Gestalt flackerte, ihre Umrisse verschwammen. Sie verschwand wieder.
Einen Augenblick lang stand ich völlig überrascht und fassungslos da – und die ihre Dokerty-Kriegsrufe ausstoßenden Krieger rückten vor.