10
Lon die Knie sagte: »Wenn du darauf bestehst, Lyss ...«
»Und ob ich darauf bestehe, und zwar geht es mir darum, daß die Sache ein Ende hat.«
»Die Lederne Flasche ist kein rechter Ort für ...«
»Hör mal, Lon. Ein armes, schwaches wehrloses Mädchen bringt es fertig, einem großgewachsenen, übermächtigen Kerl, der sie beleidigt hat, ein Messer in den Bauch zu stechen. Na, gibt es solche Geschichten nicht wirklich?«
»Aye, aye, aber ...«
»Genug. Lon! Queyd-arn-tung!«*
Die beiden standen im dunklen Toreingang einer vornehmen Straße, der Gasse der kleinen Leckereien, und der Abend dehnte seine langen smaragdgrünen und rubinroten Schatten. Schon schwebte die Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln über den Dächern von Rashumsmot und ließ ihr verschwommenes rosa Licht auf seltsame Weise mit den letzten Strahlen Zims und Genodras' verschmelzen. Würzige Gerüche lagen in der Luft. Menschen bewegten sich zielstrebig durch die Straßen – sie wollten nach den Mühen des Tages nach Hause gehen oder den ersten Trunk des Abends genießen oder sehen, was für Beute sich auf dem Diebesmarkt machen ließ, den es in jeder Garnisonsstadt gibt.
Lon starrte das prächtige Mädchen an und schüttelte den Kopf.
Sie trug ein ins Beige gehendes gelbes Kleid, das irgendwie staubig aussah, und auf seltsame Weise war Lon von den grünen Blattmustern beunruhigt, die in den Stoff eingewirkt waren – ihm mißfiel dieser Schmuck auf unerklärliche Weise. Das Kleid war etwa halblang, die Beine darunter waren nackt. Die junge Frau hatte ihre Sandalen links mit einem Lederriemen und rechts mit einer Packschnur zugebunden. Auf der linken Hüfte trug sie ihren braunen Sack aus Leder und Leinen.
An der rechten Hüfte sorgten Rüschen des Kleides dafür, daß der am Gürtel hängende lange vallianische Dolch wirkungsvoll verborgen blieb. Ihr leuchtendes, sauberes Haar war fest hochgebunden. Als Kampfmädchen hatte sie nicht die Angewohnheit, das Haar lang auswachsen zu lassen, doch war sie viel zu sehr Frau, um es sich gnadenlos kurzschneiden zu lassen, wie es viele große Jikai-Vuvushis taten. Im Gegensatz zu dem Haar war das Gesicht alles andere als sauber, sondern entschieden verschmutzt.
Schwarze Punkte zeigten sich hier und dort, die Augen wirkten verschmiert, und vom rechten Mundwinkel zog sich eine unschön aussehende Schwäre zum Kinn. In der ruhigen Toreinfahrt hatte sie sich das Gebilde selbst aufgemalt, den Rücken zur Straße, Lon reglos neben sich.
In einem ihrer Gürtelbeutel befand sich eine Phiole mit Sekreten eines stinktierartigen Wesens, das auf Kregen Powcy hieß – dieses Mittel verströmte einen ungemein abstoßenden Geruch. Bis jetzt hatte sie den Mut noch nicht aufgebracht, die widerliche Tinktur an sich selbst anzubringen.
Sollte die Sache aus dem Ruder laufen, wollte sie es aber tun – bei Vox! Sie würde den Laden mit dem Gestank ausräuchern!
Lon versuchte es ein letztesmal.
»Also wirklich, Lyss ... Nun schön, wir gehen in die Lederne Flasche. Aber wenn du dein schwarzes Ledergewand und Schwerter trügst ...«
»Meinst du, irgendeiner von den Gästen würde mir trauen und mit mir reden? Wahrscheinlich wäre die Gefahr, daß ich aufgespießt werde, noch größer als jetzt in diesem Aufzug.«
»Frauen!« sagte Lon vor sich hin. »Beim Schwarzen Chunguj! An denen führt kein Weg vorbei!«
Mit diesem weisen Spruch, dessen Logik wohl nur ihm begreiflich war, machte er sich mit Lyss der Einsamen auf den Weg zu ihrer Verabredung in der Ledernen Flasche.
Was Lon die Knie betraf, so hatte er seinen vornehmen Anzug zurückgeben müssen – die Zeit der Verkleidung war vorbei. So trug er nun sein eigenes Grobleinenes – eine Tunika, die sich sehr rauh auf der Haut anfühlte und ihn vielleicht sogar überleben würde. Sie hatte eine unbestimmbare, zum Braunen neigende Farbe. Die Main-Gauche steckte in ihrer Scheide. Außerdem trug er einen Knüppel. Er war kein Koter, sondern ein vallianischer Bürger, der sich amüsieren wollte und entsprechend herausstaffiert hatte.
Was das betraf – mit den verflixten Hosen war er nie zurechtgekommen. Na schön, seine Beine neigten ein bißchen zur Krümmung. Aber trotzdem war nichts schöner als ein vernünftiger Lendenschurz und freie Beine. Er fühlte sich munter und geschmeidig, wie er da neben Lyss einherschritt – schon dieser Teil des Abends gefiel ihm sehr.
Selbst wenn es nicht ausreichend Mineralöl gegeben hätte, wären die Menschen in dieser Zeit mit ihrem Tages- und Nachtrhythmus nicht mehr so stark an den Zyklus der Zwillingssonnen gebunden. Die Sieben kregischen Monde standen zu unterschiedlichen Zeiten am Himmel und verbreiteten ein klares Licht. Die Lederne Flasche machte daher um diese frühe Stunde noch kein gutes Geschäft.
Der Gastraum wirkte gemütlich unter seiner niedrigen Decke; Holzbänke füllten die Nischen, und runde Fässer waren hinter der Bar auf Gestellen gestapelt. Der Wirt polierte einen Kelch mit den Vorderhänden, während das mittlere Paar den an der Bar lehnenden beiden Fristles etwas zu trinken einschenkte. Unauffällig blickten die beiden zu den sechs Rapas hinüber, die im Nischenfenster saßen. Ihr Lärmen ließ bereits erkennen, daß sie heute abend noch einiges vorhatten.
Selbst Lyss hatte den Eindruck, daß die Rapas hier fehl am Platze waren – denn sie waren als einzige uniformiert und wiesen sich damit als Churgurs aus, als Soldaten aus einem der neuen Infanterieregimenter des Königs. Ihre grellroten und staubschwarzen Federn sträubten sich, und die intensiven Schnabelgesichter wirkten belebt, als sie sich lebhaft zuprosteten. Sie trugen zwar keine Ausgehuniform, doch zeigten sie die braungrauen Farben des Königs und das Abzeichen des Meeres-Barynths.
»Ach, Lon«, sagte Lyss, als man ihnen das erste Getränk an den Tisch in der gegenüberliegenden Ecke brachte, »du wolltest tatsächlich, daß ich mich in meinen schwarzen Lederanzug werfe, um hier einzukehren?«
»Upvil, der Wirt, mag zwar ein Ochse sein, doch weiß er, wie man eine Dame respektvoll behandelt.« Lon warf seiner Begleiterin einen schiefen Blick zu. »Im Augenblick siehst du allerdings nicht wie eine Dame aus.«
»Da hast du wohl recht.« Für das Abenteuer dieses Abends hatte Silda Segutoria sich bewußt gezwungen, wie Lyss die Einsame zu denken und zu handeln. So warf sie nun nicht den Kopf in den Nacken und lachte brüllend über Lons Bemerkung, die den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Sie stürzte lediglich ihr Bier hinunter, schaute sich um und ließ die rechte Hand locker an der Hüfte ruhen, nicht weit von ihrem Dolch.
Die Rapas wurden immer lauter, und Lon schüttelte den Kopf und sagte: »Es dauert nicht mehr lange, dann muß Upvil die schwere Wache rufen und sie rauswerfen lassen.«
»Und wenn es keine Soldaten wären?«
»Nun, naja, dann wäre das etwas anderes.«
»Also, hoffentlich läßt sich dein Freund, dieser Geschickte Kando, blicken, ehe die Prügelei losgeht.«
Lon wollte etwas sagen, hielt sich dann aber zurück und bemerkte nur: »Das hoffe ich auch.«
Bei der typischen Schänkenrauferei konnte ihm der Knüppel, der an seinem Stuhl lehnte, gute Dienste leisten; gegen die geraden Hieb- und Stich-Pallixter der Rapas war er allerdings eine unzulängliche Waffe.
Die Taverne begann sich zu füllen, Bier strömte, Obst und Kekse wurden gereicht, und es dauerte nicht lange, da begannen die ersten Gäste nach Wein zu fragen. Lon schaute immer wieder zur Tür. Der Geschickte Kando war in diesem Fall vielleicht ein wenig zu vorsichtig; Lon wußte zwar nicht recht, was Lyss von dem Dieb wollte, doch spürte er instinktiv, daß die Sache profitabel sein konnte.
Mädchen wanderten durch den Gastraum; sie waren dünn gekleidet, trugen schweren, klimpernden Ohrschmuck, waren auffällig geschminkt und verbreiteten einen atemberaubenden Duft inmitten der Aromen von Bier und Wein und Speisen. Zustimmende Rufe begleiteten sie, gelegentlich von einer Münze gefolgt. Unter lauten Begeisterungsrufen kämpften die Mädchen gelegentlich mit Klauen und Zähnen um ein Geldstück. Noch immer ließ sich der Geschickte Kando nicht blicken.
Mädchen in solchem Zustand zu sehen bekümmerte Silda weitaus mehr, als sie auf dem Schlachtfeld beobachten zu müssen.
Die Gäste, die Upvils Lederne Flasche besuchten, kamen meist aus den rauheren Vierteln des Lebens, Menschen wie Lon, die die unangenehmen Arbeiten erledigen mußten. Die lautstark feiernden Rapas trugen Unruhe in die Stammgäste.
Es kam nicht im geringsten darauf an, wer den Kampf begann. Daß es zu einer Auseinandersetzung kommen würde, stand fest. Lon richtete sich plötzlich halb auf und ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. Mit leiser Stimme sagte er: »Dank sei dem Gnädigen Opaz! Da ist er ja!«
Lyss blickte hastig zur Tür, vorbei an den massigen Schultern eines Brokelsh, der sich, Flasche in der Hand, soeben erhob. Auf der Schwelle stand ein Mann. Er war in ein unauffälliges schmutziges Braun gekleidet, und der tief herabgezogene Hut verdeckte bis auf das spitze Kinn weitgehend seine Gesichtszüge. Er hatte sich einen ziemlich großen Leinenbeutel auf die Hüfte gestemmt.
Im nächsten Augenblick warf der Brokelsh die Flasche, den Rapas sträubten sich die Federn, und die Stimmung in der Taverne explodierte.
Lon sprang auf, um zur Tür zu eilen, wo er den Geschickten Kando gesehen hatte, war aber sofort eingehüllt in ein tobendes Gewirr von Männern, die mit fröhlichem Schwung um sich hieben. Ein Rapa lag bereits mit verbogenem Schnabel am Boden.
Der haarige Brokelsh, der die Flasche geworfen hatte, duckte sich ein wenig zu spät und wurde von einem Schemel am Schädel getroffen. Männer, die sich ineinander verhakt hatten, torkelten herum, andere hieben zu, was das Zeug hielt, wieder andere griffen mit Flaschen und Stühlen an. Bis jetzt hatte noch niemand eine scharfe, spitze Stahlwaffe gezogen. Es handelte sich um eine Wirtshausschlägerei, die nach ungeschriebenen Gesetzen ablief.
Wie lange es noch dauern würde, ehe die Rapa-Churgurs, die immerhin in der Unterzahl waren, ihre Schwerter ziehen würden, lag in den jovialen Händen Beng Brorgals, des Schutzheiligen aller Wirtshausprügler.
Vor Lon wuchs ein massiger Bursche mit purpurner Nase empor und versetzte ihm mit einer Flasche einen Schlag über den Kopf. Lon schrie auf; er konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, um dem Schlag einen großen Teil seiner Kraft zu nehmen, dann stieß er dem Burschen das Ende seines Knüppels in die Rippen und erntete dafür einen Aufschrei auf der anderen Seite.
Ein Mann, der von dem Aroma des Fischmarkts umgeben war, versuchte mit der Stiefelspitze an Lons ungeschützten Rücken heranzukommen.
Der Stiefel erreichte sein Ziel nicht ganz, denn schon zuckte eine mit Schnur gesicherte Sandale seitlich vor und traf das Schienbein des Mannes. Es war keine angenehme Begegnung.
Lyss ließ es damit nicht genug sein. Ihr Fuß peitschte hernieder, fand sicheren Halt auf dem Tavernenboden und wurde zum Angelpunkt ihres herumwirbelnden Körpers; aus dieser Bewegung heraus hob sie die andere Sandale, die mit einem Ledersenkel verschnürt war. Auf das energischste erkundete ihr Zeh gewisse Teile der gegnerischen Anatomie, die solche Aufmerksamkeiten nicht gewöhnt waren.
Der Mann stieß einen gurgelnden Schrei aus und ging zu Boden.
Lyss steckte einem Burschen die Faust in den Mund und ließ ihn nicht zum Angriff kommen.
Eilig wich sie zur Seite aus und ließ einen Rapa an sich vorbeirasen. Sie ließ ihn vorbei und versetzte dem nachfolgenden Mann einen Hieb aufs Ohr. Die Rapas mochten Rapas sein, ungezügelte, raubvogelhafte Diffs, doch waren sie Soldaten und befanden sich in der Unterzahl.
Die Taverne erinnerte an einen Hühnerstall, in den der Fuchs eingedrungen ist. Überall waren Männer – und auch einige Frauen – im Nahkampf damit beschäftigt, energische Hiebe zu landen, zu treten, zu beißen und zu kratzen. Flaschen wirbelten durch die Luft. Upvil der Wirt, ein Och, duckte den Kopf hinter seine Bar und fragte sich, ob sich sein Beruf überhaupt noch lohnte. Vielleicht kam bald die Wache; bis es soweit war, würde er ziemlich hohe Verluste beklagen müssen.
Der ursprüngliche Auslöser des Kampfes, die Rapas, waren vergessen. Man hieb nieder, was einem in den Weg geriet. Es wäre in dem Durcheinander nicht verwunderlich gewesen, wenn ein Rapa auf den anderen losgegangen wäre.
Lon rappelte sich mühselig auf, atmete keuchend ein und entdeckte Lyss, die einem Gon gerade einen Hieb hinter das Ohr versetzte.
»Er ist abgehauen!« rief er.
»Na, dann lauf ihm nach!«
Lons Gesicht rötete sich, bis es fast so dunkel gefärbt war wie eine Nase. Mühsam tat er einen weiteren Atemzug und roch den Staub des Bodens und Wein und Blut und behielt die Gedanken, die ihn durchströmten, für sich; er konnte sie unmöglich Lyss mitteilen.
»Laufen – in diesem Durcheinander! Wie ein Fliegenschwarm in der Süßspeise!«
Er raffte sich auf und wurde sofort von einem massigen Burschen angerempelt, der sich mit zwei pelzigen Fristles rangelte. In hohem Bogen ging er nieder und rutschte auf zerdrückten saftigen Gregarians über den Boden – das Obst ließ ihn ohne Widerstand unter einen Tisch gleiten. Der brach über ihm zusammen, und die Bierkelche tauften ihn mit großzügigen Gaben an Beng Dikkane, den Schutzheiligen aller Biertrinker in Paz.
Lon bebte vor unterdrückter Wut.
Er hatte den Knüppel nicht losgelassen, als er sich jetzt aufraffte.
Das Haar fiel ihm in die Augen. Finster starrte er in die Runde. Lon die Knie sah rot.
Er entdeckte einen Rapa und einen Brokelsh – Vertreter der beiden Diffrassen, die das Getümmel angefangen hatten. Die beiden umklammerten sich und versuchten den anderen zu erwürgen.
Lon marschierte hinzu und kickte dabei einen Burschen aus dem Weg.
Er benutzte zweimal seinen Knüppel.
Nach dem ersten Hieb ging der Brokelsh bewußtlos zu Boden.
Der andere Hieb ereilte den Rapa, der mit raschelndem Gefieder zusammenbrach.
Jemand packte Lon am Arm.
Erzürnt fuhr er herum und schwenkte den Knüppel zu einem Schlag empor, der jedem störenden Rast den Rest gegeben hätte.
Bissig sagte Lyss: »Wir sind nicht hier, um unseren Spaß zu haben! Dein Freund ist abgehauen und wird unauffindbar sein, wenn wir nicht ...«
»Ach!« fauchte Lon und schwang den Knüppel von Lyss' Kopf fort. »Der steckt längst in irgendeinem Abflußrohr. Für heute können wir ihn vergessen.«
Lyss atmete schniefend durch die Nase.
»Wahrscheinlich hast du recht. Bei der übelriechenden Achselhöhle und dem verlausten Haar von Schwester Melga der Harpyie! Wieder ein Tag verschwendet!«
Lon war erstaunt, wie unbeherrscht Lyss gesprochen hatte.
Der Kampf ging schwungvoll und unter ungeheurem Lärm weiter. Die Mädchen waren geflohen, die Luft war angefüllt mit fliegenden Schemeln und Flaschen.
»Nun ja, Lyss – wir sollten es mal in der Tanzenden Fliege versuchen.«
Sie musterte den Tierpfleger mit eisenhartem Blick. »Tun wir das.«
Die beiden traten zur Seite und schauten zu, wie ein Mann einen Salto zwischen ihnen schlug und kopfunter auf dem Boden landete.
»Gibt's denn keinen Hinterausgang?« Lyss deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür. »Da ist es ja voller als in der ersten Kurve bei einem Zorcarennen!«
»Ja. Durch die Küchenräume.«
»Geh voraus.«
Ein oder zweimal hatte Silda den Herrscher bei diesem Ausdruck ein Wort gebrauchen hören, das sich wie ›Makduff‹ anhörte.
Duff war eines der vielen kregischen Worte für Löffel – der in jeder Größe und für jede Verwendung eigene Namen hatte, und was ein schwarzer Löffel mit ›Vorausgehen‹ zu tun haben sollte, konnte sich Silda nicht vorstellen. Es würde der strahlende Tag kommen, da sie den Herrscher fragen konnte. Aber nur, wenn Opaz auf sie herablächelte und sie nicht losgeschickt wurde, um sich den grauen Wesenheiten auf den Eisgletschern Sicces zu stellen ...
Ohne anzuhalten sausten sie durch die Küche. Upvils Frau, eine charmante Och, wrang die Hände in der Schürze und beobachtete die beiden aus aufgerissenen Augen. Die Bedienungen drängten sich zusammen, auch wenn einige durch die halb geöffnete Tür schauten und sich lebhaft für die Ereignisse interessierten. Lyss trat in die frische Nachtluft hinaus und ließ die Küchengerüche hinter sich.
»Hier entlang«, sagte Lon und setzte sich mit energischen Schritten in Bewegung.
Im verschwommenen rosa Mondlicht eilten sie durch die Nacht und hielten dabei aufmerksam nach Gefahren Ausschau, wie es jede vernünftige Person in einer kregischen Stadt tut, in der Soldaten einquartiert und irgendwelche Teufeleien im Gange sind. Nicht jeder akzeptierte Vodun Alloran als neuen Kov anstelle Katrin Rashumins, geschweige denn als neuen überheblichen König.
Lyss die Einsame dachte sich an Silda Segutorias Vernunft zu halten und sich zu diesen Aspekten des neuen Regimes in Rahartdrin weitere Informationen zu beschaffen.
Es war kein weiter Weg, bis Lon sie in eine Seitenstraße, die Gasse der Waschfrauen, führte und schließlich vor einem heruntergekommen wirkenden Haus stehenblieb. Das Nebenhaus war in der Schlacht schwer beschädigt worden und existierte nicht mehr, auf der anderen Seite ragte ein noch abstoßender wirkender Bau empor, eine finstere Ruine, die keinen offenkundigen Zweck mehr hatte.
»Hier wär's?«
»Aye. Dies ist die Tanzende Fliege.«
Lyss rümpfte die Nase.
»Ja, Lyss, ich weiß, ich weiß. Willst du dabei bleiben?«
»Wir wollen das nicht noch einmal alles durchmachen, mein wilder Churmod-Trainer!«
Diese Worte ließen ihn lächeln, und er schob die Tür auf.
Im Vergleich zu dieser Kaschemme war die Lederne Flasche ein erstklassiges Etablissement. Die Gäste machten den Eindruck, als würden sie lieber zum Messer greifen, als je eine Runde auszugeben. Unruhige, verschlagene Gesichter, flackernde Blicke, unrasierte Wangen, Hände in der Nähe von Waffengriffen – o ja, eine Schwester der Rose kannte sich mit solchen Höllenlöchern aus.
Silda war der Ansicht, daß ein Mann, der vor sich selbst Respekt hatte, entweder einen richtigen Bart stehenließ oder sich sauber rasierte. Ein Zwei- oder Dreitagesbart erzeugte einen Eindruck von Schmutz. Ein solcher Mann gab sich einfach nicht mehr die Mühe, er war irgendwie auf dem absteigenden Ast, sein Weg war zweifellos von leeren Flaschen gesäumt. Es gab Männer, so hatten ihr Mädchen mit spöttischem Lachen eröffnet, die tatsächlich glaubten, sie sähen unrasiert romantisch aus. Wenn sie einem Mädchen bei der Umarmung mit ihrer Borste über die Haut fuhren – glaubten sie wirklich, daß ihr so etwas Spaß machte?
Schnurrbärte waren natürlich eine ganz andere Sache und konnten durchaus aufregend sein ...
Mit schnellem, vogelgleichem Blick nahm Lon die vertraute Szene auf, entdeckte allerlei Freunde, Leute, auf die er sich im Notfall verlassen konnte, Verbündete, aber auch andere, denen er nicht den Rücken zuwenden würde, die seinem Schicksal gleichgültig gegenüberstanden oder sogar seine Todfeinde waren. Aus dieser letzten Gruppe schien nur einer anwesend zu sein, Ortyg der Kaku mit den schwarzen Augenbrauen. Finster saß er mit Freunden zusammen und spielte an einem Seitentisch das Spiel der Monde.
Vom Schlauen Kando keine Spur.
Lon sagte: »Am besten wartest du draußen, Lyss. Ich frage Ob-Auge Mantig, ob er Kando gesehen hat.«
Ehe Lyss antworten konnte, kam ein Mädchen auf sie zu; sie trug leichte Stoffe mit Straßschmuck, das Gesicht mit Haar beschmiert, das Haar ein blondes Büschel, über dem die tiarahafte Vimshu künstlich funkelte. Das Mädchen hob den Arm und schleuderte Lyss den Inhalt eines Krugs ins Gesicht.
Lyss leckte sich die Reste von den Lippen und fuhr sich mit einem Finger über die Augen. Das Bier war sehr dünn.
»Climi!« brüllte Lon. »Du verrückte Shishi!«
»Wir wollen sie hier nicht haben!« Climi holte mit dem Topf aus. »Verschwinde!« Sie warf das Gefäß.
Lyss hob die rechte Hand, fing den Krug ab und schleuderte ihn zurück. Die Zinnkante traf Climi an der Stirn. Einen Augenblick lang blieb sie stehen. Dann begann sie zu schielen und sackte zusammen, wobei ihr gazehaftes Gewand wie die Segel eines wendenden Argenters wallten.
Ortyg der Kaku stieß einen Stentorschrei aus und sprang auf. Das Spiel der Monde flog zur Seite. Er zog ein Messer und stürzte sich auf Lon.
»Lauf, Lyss!« rief Lon schrill.
Silda Segutoria kämpfte mit Lyss der Einsamen. Eine Stimme forderte: »Flieh, du Fambly!« Die andere fragte: »Vor diesem Abscheu kneifen?«
Aber schon war es zu spät.
Ortyg fiel über Lon her. Der Tierpfleger, der den Umgang mit nervösen Wesen gewöhnt war, drehte sich zur Seite und schwang seinen Knüppel. Ortyg reagierte schnell, und der Hieb ging ins Leere. Fauchend und brüllend erneuerte er seinen Angriff.
Lon duckte sich, und Lyss hieb Ortyg eine Faust in den Unterleib, trat ihn ins Gesicht, als er sich zusammenkrümmte, und setzte ihm energisch eine Handkante in den ungeschützten Nacken. Erst jetzt riß Silda die Zügel an sich, packte Lon und zerrte ihn mit sich durch die Tür.
Die beiden eilten durch die Gasse der Waschfrauen.
An der Ecke blieben sie stehen und schauten zurück.
Verfolger waren nicht zu sehen.
»Er war sowieso nicht da, Lyss.«
»Nein, wie ich schon sagte, wieder ein Tag verschwendet. Wenn du den Geschickten Kando das nächstemal erwischst, treffen wir uns an einem Ort, an dem wir nicht sofort in einen Kampf verwickelt werden!«