24.
Thronrede und Sitas Gefangennahme
Corcoran erreichte Bhagavapur am Vorabend des Tages, an dem die Gesetzgebende Versammlung seines Parlaments eröffnet werden sollte. Durch die besondere Gunst des Schicksals konnte er seinem Volk nur über Siege berichten, und obwohl die Gefahr noch sehr groß war, so bildeten die vergangenen und gegenwärtigen Siege in den Augen der Marathen ein nicht zu unterschätzendes Faustpfand für die Zukunft.
Am nächsten Tag um sieben Uhr morgens (denn wegen des Klimas mußten alle Sitzungen bis zehn Uhr vormittags beendet sein) begab er sich mit Sita und Rama in den Sitzungssaal und eröffnete die Versammlung. Hier einige Passagen aus seiner wahrhaft historischen Rede: „Freie Bürger des freien Volkes der Marathen!
Es bereitet mir stets ein besonderes Vergnügen, unter euch weilen zu dürfen. Seit unserer letzten Zusammenkunft hat es Brahma gefallen, seinen Segen über uns auszuschütten, so daß unsere Kraft und unser Gedeihen nicht anders kann, als ständig anzuwachsen. Der Handel, die Landwirtschaft, die Industrie haben erstaunliche Fortschritte gemacht, die wir – das müssen wir feststellen – der persönlichen Initiative jedes einzelnen und der Freiheit zum Handeln, der ihr euch erfreut, verdanken.
Aber ein Volk ist seiner Freiheit nicht würdig, wenn es sie nicht mit der Waffe in der Hand zu verteidigen weiß. Ich war gezwungen, soeben die Invasion eines mächtigen und heuchlerischen Nachbarn abzuwehren, der vorgibt, nur zum Wohle der Marathen zu handeln. Mit Billigung und unter dem Schutz Brahmas ist es mir gelungen, die Verräter zu bestrafen und den Feind zurückzuwerfen. Es hängt von ihm ab, unter ehrenvollen Bedingungen Frieden mit uns zu schließen; wenn er sich dem allerdings widersetzt, so soll er die Mühen seiner Unerbittlichkeit zu spüren bekommen.
Mein Innenminister Sugriva Sahib wird euch einen Finanzplan vorlegen. Ihr werdet gleich bemerken, daß darin weder die Rede davon sein wird, die Steuern zu erhöhen noch neue einzuführen oder gar eine Anleihe aufzunehmen. Dank Wischnu und trotz der Lasten, die uns der Krieg aufbürdet, ist Holkars Schatz noch nahezu unangetastet, und Sugriva Sahib ist mit der Aufgabe betraut worden, euch die Abschaffung aller indirekten Steuern, deren Erhebung so kostspielig ist, vorzuschlagen.
Freie Bürger des freien Volkes der Marathen, möge die Weisheit des göttlichen Wischnu euren Entschluß leiten.“
Die ganze Versammlung schrie:
„Lang lebe der Maharadscha! Er sei gesegnet, er und seine Großzügigkeit!“
Danach kehrte Corcoran in seinen Palast zurück.
Der Beifall war echt gewesen, dennoch schwebten über seinem Haupt dunkle Gewitterwolken. Die verräterischen Zemindars hatten mehr als einen Komplizen in der Versammlung. Der strenge Gerechtigkeitssinn Corcorans, der alle gleich behandelte, hatte ihm unter den Großgrundbesitzern ernste Feinde gemacht. Beim geringsten Rückschlag wäre man bereit gewesen, seinen Rücktritt zu fordern. Glücklicherweise hatte der eben errungene Sieg über die Engländer seine Feinde eingeschüchtert.
Währenddessen gab sich der Maharadscha jedoch nicht mit verflossenen Erfolgen zufrieden. Er wußte sehr genau, daß das indische Volk zu einem gemeinsamen Aufstand zu uneins und noch nicht bereit war; und obwohl es ihm fern lag, für sich selbst zu fürchten, so zitterte er doch manchmal bei dem Gedanken, welcher Zukunft seine Frau und sein Sohn entgegensahen.
Eines Morgens, es mochten etwa vierzehn Tage seit der Zusammenkunft der Deputierten vergangen sein, machte Baber dem Maharadscha seine Aufwartung.
Der durch die Rupien des Maharadschas reich gewordene Baber war jetzt ein Herr. Er präsentierte sich stolz erhobenen Hauptes, mit zufriedenem Blick, ernsthaft, würdig und gesetzt, wie es einem Ehrenmann gebührt, der sein Glück auf der Landstraße und in den verborgenen Winkeln des Waldes gemacht hat.
„Wo schläfst du nachts?“ fragte ihn der Maharadscha.
„Herr“, sagte Baber bescheiden, „ich habe gestern die zehntausend Rupien erhalten, die mir Eure Hoheit aus Ihrem Schatz zu überlassen geruht haben.“
„Und wohin willst du nun gehen?“
„Wohin es Eurer Hoheit gefällt, mich zu schicken.“
„Aha, sieh an, du hast an diplomatischen Missionen Gefallen gefunden? Hm, hm…, hast du genug Mut, um noch einmal für mich etwas auszukundschaften?“
„Warum nicht, Herr? Denkt Ihr, weil ich reich bin, bin ich ein Feigling geworden?“
„Und du würdest mir Informationen über meinen Freund Barclay besorgen?“
„Soviel Ihr wollt, großer Maharadscha. Ist das alles?“
„Ja. Am besten wäre, du machst dich sofort auf den Weg. Ich traue den Engländern nicht. Hier ist eine Anweisung für meinen Schatzkämmerer über zwanzigtausend Rupien.“
„Großer und erhabener Maharadscha!“ rief Baber mit einer Begeisterung aus, die nicht gespielt war. „Ihr seid wirklich der großzügigste aller großzügigen Männer unter der Sonne, und es ist einem ja geradezu ein Vergnügen, sich in Euren Diensten töten zu lassen.“
Der Hindu verbeugte sich mehrmals, hob die Hände zum Himmel und verschwand.
Am darauffolgenden Montag war er wieder zurück. „Großer und erhabener Maharadscha“, sagte er, „seid auf der Hut. Barclay hat Verstärkung erhalten; Pferde, Proviant, Munition und Artillerie. Seine Armee wurde um ein Drittel aufgefrischt; man will einen entscheidenden Schlag gegen Euch führen, bevor in Europa Sir John Spaldings Niederlage bekannt wird. Barclay will morgen oder übermorgen die Grenze überschreiten. Eure Generäle haben wieder einmal den Kopf verloren. Der alte Akbar antwortet nicht, wenn man ihn über die Lage befragt, und ist unfähig, irgendeinen Befehl zu geben…“
Und so mußte notgedrungen Corcoran wieder seine Pferde satteln lassen, um sich zu seiner Armee zu begeben.
Sita wollte ihm folgen.
„Ich will entweder mit dir leben oder sterben“, sagte sie. „Mißgönn mir nicht das Glück, dich zu begleiten.“
„Wer soll sich um Rama kümmern?“ entgegnete Corcoran.
Aber Rama wollte seinerseits die Mutter begleiten.
Der folgende Kampf wird die Entscheidung bringen, dachte Corcoran. Wenn ich Sita und Rama in Bhagavapur lasse, müßte ich stets fürchten, daß man sie verraten könnte. Vielleicht ist es wirklich besser, sie mitzunehmen.
Natürlich gehörte Scindiah ebenso zur Reisegesellschaft wie Louison und Garamagrif, denn Rama konnte sich nicht von ihnen trennen, nicht einmal von seinem Freund Moustache. Nach einigen vergeblichen Versuchen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, ließ sich der Maharadscha schließlich überreden und nahm sie mit. Er begleitete sie bis zum Hauptlager seiner Armee und ritt dann allein weiter, um die vorgeschobenen Grenzposten zu inspizieren. Sugriva wurde wie gewohnt damit betraut, während der Abwesenheit des Maharadschas die Regierungsgeschäfte wahrzunehmen.
Es wurde höchste Zeit, daß Corcoran bei der Armee eintraf, denn die Nachrichten Babers erwiesen sich als nur zu wahr. Barclay war bereits in das Land der Marathen eingedrungen, und die Armee des Maharadschas war zurückgewichen, ohne sich bisher dem Gegner zur Schlacht zu stellen. Die Soldaten zeigten sich entmutigt, murrten und begannen bereits zu desertieren.
So war die Situation, als der Maharadscha allein zu Pferd, wie es stets seine Gewohnheit war, das Lager erreichte. Sofort schlug die Stimmung um. Es war am Morgen, und die Armee war, durch seine Gegenwart aus ihrer Lethargie gerissen, zum Kampf entschlossen.
Doch wollte Corcoran nichts aufs Spiel setzen. Seine Soldaten waren noch nicht kriegserfahren genug, um einem massiven Angriff des Feindes mit all dessen Kräften standzuhalten. Man mußte also zunächst den Gegner durch ständige kleine Scharmützel beunruhigen und dabei gleichzeitig den Marathen Zutrauen zu ihrer eigenen Stärke geben. Später wäre es zweifellos immer noch Zeit, sich zur Entscheidungsschlacht zu stellen.
Corcoran verfolgte diesen Plan mit außergewöhnlicher Strenge. Er ließ Schützengräben ausheben, baute Schanzen, umgab sein Lager mit einem tiefen Graben, errichtete Palisaden, hinter denen er seine zweihundert Kanonen in Stellung brachte. Danach überfiel er an der Spitze seiner auf Berber- und Turkmenenpferden einhergaloppierenden leichten Kavallerie kleinere Erkundungseinheiten der Engländer, rieb Konvois auf, die Nachschub an Proviant und Waffen ins englische Lager bringen sollten, so daß Barclays Soldaten schon Hunger zu leiden begannen.
Barclay war beunruhigt. Seine Operationsbasis war weit von Bombay entfernt. Die Nahrungsmittel gingen zur Neige. Fast tagtäglich erhielt er von Lord Braddock Depeschen, die ihn zur Eile mahnten, damit sein lautes Siegesgeschrei die dunklen Gerüchte über den Untergang von Sir John Spalding, die in Europa kursierten, überdecken mochten. Allerdings wagte Barclay nicht, den Befehl zum Angriff auf das befestigte Lager des Maharadschas zu geben. Andererseits bekam seine Kavallerie Corcorans Reitertrupps, die sich tagsüber an mehr als zwanzig verschiedenen Stellen zeigten, einfach nicht zu fassen.
Ein unglückseliger Zwischenfall, der zur Lösung dieser langen Geschichte führte, half schließlich Barclay aus seiner Verlegenheit.
Eines Abends, als Corcoran an der Spitze seiner Reiter von einem schnellen Geplänkel wieder ins Lager zurückkehrte, erschien Baber vor ihm und teilte mit, daß Sita, Rama, Scindiah, Louison und Garamagrif in der Gewalt der englischen Armee seien.
Diese schreckliche Nachricht schockierte den Maharadscha derartig, daß er für einen Moment kreidebleich wurde. Was? dachte er. So viel vergebene Mühe! So viel unnütz vergossenes Blut! So viel großartige Projekte, die an einem einzigen Tag vernichtet wurden.
Aber die Willenskraft des Maharadschas war so groß, daß er seine Schwäche überwand und keine Zeit daran verschwendete, sein Mißgeschick zu beweinen. Schließlich war er Bretone und aus Saint-Malo. So leicht konnte ihn nichts umwerfen.
„Woher hast du diese Neuigkeit?“ fragte er Baber.
„Nun, großer und erhabener Maharadscha, ich wurde Zeuge dieses Vorfalls. Ihr wart etwa seit einer Stunde mit der Kavallerie weggeritten. Außerhalb des Lagers war es ruhig, keine Engländer zu sehen. Die Fürstin wollte mit Scindiah zum Fluß hinabreiten, um ihm ein Bad zu gönnen. Rama und die Tiger begleiteten sie. Leider trafen wir auf eine Abteilung der englischen Kavallerie. Unsere Eskorte floh. Wendig, wie ich bin, schlängelte ich mich durch die Beine der Pferde hindurch, entging dem Geschoßhagel und lief hierher, um Euch zu benachrichtigen.“
Corcoran überlegte einen Moment.
„Was ist aus Louison geworden?“ fragte er.
„Herr, Louison, Garamagrif und Scindiah haben Ihre Hoheit nicht eine Sekunde im Stich gelassen.“
„Wenn Louison lebt, ist nichts verloren.“
Bevor jedoch Corcoran versuchte, mit Waffengewalt Frau und Sohn zu befreien, schrieb er an General Barclay einen Brief, den er durch einen Parlamentär überbringen ließ. Dieser Brief hatte folgenden Wortlaut:
„Im Lager von Kharpur
Sir,
ein englischer Gentleman führt, so nehme ich an, keinen Krieg gegen Frauen und Kinder. Man hat mir mitgeteilt, daß heute durch einen unglücklichen Zwischenfall meine Frau und mein Kind in Ihre Hände gefallen sind. Ich hoffe, daß Sie sich nicht weigern werden, ihnen ihre Freiheit wiederzugeben, oder wenigstens bereit sind, mit mir ein annehmbares Übereinkommen zu treffen.
Ich bitte Sie, die Versicherung meiner ehrerbietigsten Grüße entgegenzunehmen.
Maharadscha Corcoran I.“
Eine Stunde später erhielt Corcoran folgende Antwort:
„General Barclay an Sir Corcoran, sogenannter Maharadscha des Reiches der Marathen
Sir,
wie Sie ganz richtig bemerkt haben, führt ein englischer Gentleman keinen Krieg gegen Frauen und Kinder; aber ich fürchte, meine Pflichten gegenüber meinem Land, meiner Regierung und Ihrer Allergnädigsten Majestät zu vernachlässigen, wenn ich Holkars Tochter, Ihrer Gattin, die Freiheit schenkte, es sei denn, Sie akzeptierten die folgenden Bedingungen:
Erstens: Die marathische Armee wird ab heute aufgelöst, und jeder ihrer Soldaten kehrt nach Hause zurück.
Zweitens: Der sogenannte Maharadscha stellt sich unverzüglich dem englischen Generalgouverneur zur Verfügung.
Drittens: Der sogenannte Maharadscha übergibt General Barclay eine unter Eid als wahrheitsgemäß bestätigte Liste, in der alle Habe, Gegenstände und Immobilien, die Holkars Besitz sind beziehungsweise waren, aufgeführt werden, damit oben angeführte Hinterlassenschaft zur Verfügung oben angeführten Generals stehen kann.
Viertens: Die Festung von Bhagavapur sowie alle Befestigungsanlagen im Land werden mitsamt ihren Arsenalen, ihren Waffen, Proviant und Munition jeder Art, die sich gegenwärtig in ihnen befinden, der englischen Armee zur Verfügung gestellt.
Fünftens: Im Austausch für alle oben angeführten Bedingungen erhält schließlich der sogenannte Maharadscha von der englischen Regierung eine Pension von eintausend Pfund Sterling (das entspricht fünfundzwanzigtausend französischen Franc), worauf sich sogenannter Maharadscha verpflichtet, daß weder er noch seine Frau noch sein Kind in einer Frist, die fünfzig Jahre nicht unterschreitet, nach Indien zurückkehren wird.
Wenn diese Bedingungen, wie ich hoffe, Sir Corcoran als annehmbar erscheinen, bitte ich ihn, ein Doppel des Vertrages in beiden Sprachen ausfertigen zu lassen. Ich erkläre mich dann bereit, den Vertrag vor Einbruch der Dunkelheit zu unterzeichnen.
Sollte der Vertrag auf dieser Grundlage abgeschlossen werden, würde ich mich glücklich schätzen, die Bekanntschaft mit dem Maharadscha Corcoran zu vertiefen und die Hand eines Gentleman zu schütteln, für den ich immer die größte Wertschätzung empfunden habe.
John Barclay, Generalmajor der
Armee Ihrer Britischen Majestät.
Gegeben im Lager, den 14. März
1860“
Corcoran drehte das Schreiben mißbilligend zwischen seinen Fingern.
Abdanken, die Marathen verraten, dachte er. Mich ausplündern lassen. Eine Pension des Räubers annehmen. Und dazu besitzt er noch die Frechheit, mir seine Wertschätzung anzubieten, wenn ich annehme. Na schön, ich werde ihm etwas anbieten, was er nicht erwartet hat.
Den englischen Parlamentär schickte er ohne Antwort zurück.
Am Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, versammelte er fünfhundert seiner treuesten und kühnsten Reiter um sich, ließ sie die Hufe der Pferde mit Filz und Leinen umwickeln, damit ihr Hufgetrappel gedämpft würde, und ritt im Schritt mit seiner Begleitung davon.
Baber diente als Führer.
Da die Nacht außergewöhnlich dunkel war, rechnete die englische Armee mit einem eventuellen Überfall der Marathen und war auf dem Posten. Die Gefangenen lagerten in der Mitte. Ein Bataillon hatte einen Ring um sie gebildet und bewachte sie. Die, Anwesenheit der beiden großen Tiger schreckte die Engländer ab, sich ihnen zu dicht zu nähern. Man hatte wohl daran gedacht, sie zu erschießen, doch die Tiere hatten sich so um Sita und Rama gruppiert, daß die Kugeln wohl oder übel auch die beiden letzteren hätten treffen können, was den Krieg unsühnbar hätte werden lassen, denn Corcoran würde diesen Mord nie verzeihen, und Barclay war sich seines Sieges durchaus nicht so sicher, daß er sich einer derart gefährlichen Chance ausgesetzt hätte.
Auf das „Wer da?“ der englischen Schildwachen erscholl plötzlich der Kriegsruf Corcorans: „Vorwärts!“
Eine Schar Reiter galoppierte in das englische Lager. Schon von weitem erkannte Corcoran die mächtige Masse Scindiahs, die sich vor den Biwakfeuern abhob. Er rechnete damit, daß Sita und Rama in der Nähe des Elefanten seien, und versuchte, sich mit seinen Reitern bis dorthin durchzuschlagen.
Anfangs folgten ihm auch seine Reiter entschlossen und willens, zusammen mit ihrem Heerführer dessen Frau und dessen Kind zu befreien; aber die Engländer, die ja nicht unvorbereitet waren, schlugen den ersten Angriff zurück und schossen etwa fünfzig Männer der Marathen nieder. Die fürchteten daraufhin, in einen Hinterhalt zu geraten, und zogen sich zurück, wobei sie ihren Befehlshaber allein auf dem Schauplatz des Geschehens ließen.
Corcoran schwebte in der allergrößten Gefahr. Sein Angriff war zwar forsch und mutig gewesen, jedoch hatte er nicht damit gerechnet, daß die Engländer die kostbare Beute besonders wachsam hüteten. Sein Pferd war bei der Attacke unter ihm weggeschossen worden, er selbst von einer Kugel an der Schläfe verwundet.
Als das Pferd unter ihm zusammengebrochen war, stürzte der Maharadscha zu Boden, sein Kopf schlug auf einer der hölzernen Zeltstangen auf. Der Aufprall war so heftig und schmerzvoll, daß er das Bewußtsein verlor.
25.
Louison und Garamagrif sprengen den Ring
Zehn Minuten später kam Corcoran wieder zu sich. Er fühlte einen heißen Atem auf seinem Gesicht; vorsichtig stützte er sich auf einen Arm, um sich nicht den englischen Soldaten zu verraten, hob den Kopf und erkannte Louison.
Die Tigerin hatte vorausgesehen, was eingetreten war. Sie hatte Corcorans Kriegsgeschrei gehört und dann beobachtet, wie die Marathen versuchten, in das englische Lager einzudringen, dabei allerdings von den Engländern zurückgeschlagen wurden. Sie kannte Corcoran nur zu gut, als daß sie geglaubt hätte, auch er würde sich zurückziehen. Es mußte etwas mit ihm passiert sein. Sie hatte sich also auf die Suche nach ihrem Freund gemacht und ihn ohnmächtig neben seinem toten Pferd entdeckt.
Sie hätte Hilfe herbeifauchen können, aber sie hatte es sein lassen, weil sie merkte, daß sie rings von Feinden umgeben war. Also hatte sie sich damit begnügt, Corcoran das Gesicht zu lecken, bis er wieder zu sich gekommen war; jetzt packte sie ihn am Gürtel und zog ihn vorsichtig zu den Gefangenen. Nach wenigen Augenblicken war sie bei Sita angelangt.
Trotz aller Freude Sitas, ihren Gemahl bei sich zu haben, war die Gefahr nicht kleiner geworden, im Gegenteil. An der Spitze seiner Armee konnte Corcoran möglicherweise das Gesetz des Handelns diktieren, als Gefangener im feindlichen Lager blieb ihm nichts übrig, als es zu erdulden.
Als er Sita erzählt hatte, was er für Anstrengungen unternommen hatte, um sie zu befreien, machte sie ihm wegen seines Leichtsinns zwar milde, doch entschiedene Vorwürfe.
„Es wäre nicht leichtsinnig gewesen, wenn mir diese Feiglinge gefolgt wären…, den Rest hätten wir schon irgendwie geschafft“, sagte er, merkte jedoch selbst, daß seine Worte alles andere als überzeugend klangen. „Ich bin sehr müde. Die Verletzungen, die ich im Kampf mit Sir John Spalding erhalten habe, sind noch nicht verheilt“, flüsterte er Sita zu. „Ich werde mich ein wenig ausruhen. Louison, beste Freundin, halte zusammen mit Garamagrif die Augen offen…“
Wenige Stunden später konnte man bei Tagesanbruch die blutigen Spuren des nächtlichen Kampfes erkennen. Barclay, der mit Recht daran zweifelte, daß der Maharadscha wider seine Gewohnheit nicht an dem Überfall beteiligt gewesen sein sollte, wunderte sich noch mehr darüber, als ihm seine Kundschafter Meldung erstatteten, daß in der gewöhnlich ruhigen Armee der Marathen schier alle aus dem Häuschen zu sein schienen.
Bald darauf erhielt er eine Erklärung. Ein desertierter Marathensoldat hatte berichtet, daß Corcoran während des nächtlichen Angriffs getötet worden war.
Diesmal, dachte Barclay, bin ich sicher, Lord zu werden. Und Mistreß Barclay wird man bald mit Lady Andover anreden müssen.
Und er gab Befehl, das Lager der Marathen anzugreifen.
In dem Augenblick, als die erste Kolonne zum Abmarsch bereit war, eilte ein Offizier auf ihn zu und unterrichtete ihn davon, daß man das tote Pferd Corcorans gefunden habe, den Maharadscha selbst allerdings nicht. „Wen kümmert das, wenn er tot ist?“ entgegnete Barclay.
Dennoch gab er vorsichtshalber Befehl, die Wache um Sita und ihre Tiere zu verdoppeln, um so jede Flucht zu verhindern. Dann ließ er die zweite Kolonne seiner Angreifer abrücken, um die erste bei deren Angriff zu unterstützen.
Er selbst wollte gerade mit dieser zweiten Kolonne ausrücken, als er aus der Richtung der Gefangenen Schreie und Gewehrschüsse hörte.
Das war Corcoran, der versuchte, den Ring, den die Engländer um Sitas Tragsänfte gebildet hatten, zu durchbrechen. In Sekundenschnelle war der Maharadscha auf ein herrenloses Pferd gesprungen, hatte mit Louison, Garamagrif, dem kleinen Moustache und Scindiah eine Art Karree um die Sänfte gebildet und war so durch die Reihen der Bewacher gebrochen.
Seine Absicht war, sofort in das befestigte Hauptlager der Marathen zu eilen, doch hätte er dabei eine baum- und buschlose Ebene von etwa einer Viertelmeile durcheilen müssen, wäre also dem Feuer der Engländer schutzlos preisgegeben, aber er konnte nicht leichtsinnigerweise die kostbare Fracht, die er mit sich führte, den Kugeln des Feindes aussetzen.
In einiger Entfernung hatte er einen einzelnen Felsbrocken entdeckt, der steil in die Ebene ragte und den man auf einem schmalen Grat erklimmen konnte. Dorthin ritt er mit seiner Karawane.
Die Engländer machten sich nach der ersten Verblüffung sofort an die Verfolgung, aber Louison und Garamagrif bildeten die Nachhut und fletschten dabei ihre Zähne so furchteinflößend, daß die braven englischen Soldaten nichts übereilten und lieber erst die Anweisungen ihres Oberbefehlshabers abwarteten. Barclay hatte erst dann bemerkt, daß Corcoran geflohen war, als er mit der zweiten Kolonne aus dem Lager ritt. Ohne sich weiter um die Angriffsvorbereitungen seiner Armee zu kümmern, sprengte er ins Lager zurück. Er schätzte, daß es im Moment wichtiger war, den Befehlshaber der Marathen gefangenzunehmen. Im Lager scharte er zwei Infanteriebataillone und eine Kavallerieeskadron um sich und ritt damit den Flüchtenden hinterher. Bei dem Felsen angekommen, umstellte er ihn mit seiner Streitmacht und forderte den Kapitän lauthals auf, sich zu ergeben.
„Gefangener der Engländer? Nie und nimmer!“ schrie Corcoran zurück.
„Wie Sie wollen! Feuer!“ befahl Barclay.
Der Maharadscha, Sita und Rama waren hinter einem natürlichen Schutzwall aus riesigen Steinen in Deckung gegangen. Der einzige Zwischenraum, den es zwischen den Felsblöcken gab, war durch den gewaltigen und anscheinend unverletzbaren Panzer des guten Scindiah versperrt. Die Kugeln prallten von diesem natürlichen Schild ab und klatschten gegen die Steine. Scindiah traf keine weiteren Schutzmaßnahmen, als seine Ohren vor den umherschwirrenden Kugeln glatt an den Körper zu legen. Eine zweite Salve hatte ebensowenig Erfolg.
„Vorwärts marsch!“ kommandierte der wutschnaubende Barclay. „Bringt sie mir tot oder lebendig!“
„Weder tot und schon gar nicht lebendig, General“, ließ sich Corcorans spöttische Stimme vernehmen.
Die Angreifer konnten allein auf einem sehr engen Pfad, der es jeweils nur einem einzigen Mann gestattete, sich auf ihm zu bewegen, den Felsbrocken ersteigen, was für die Verteidiger von großem Vorteil war.
Der erste, dem es gelang, die Plattform, auf die sich außer Scindiah alle zurückgezogen hatten, zu erklimmen, war ein walisischer Sergeant namens James Bosworth. Überstürzt versuchte er, ganz aus der Nähe auf den Maharadscha zu schießen, der jedoch riß den Lauf des feindlichen Gewehrs nach oben, so daß die Kugel in die Luft ging. Gleichzeitig feuerte Corcoran aus seinem Revolver auf den Waliser und traf ihn zwischen die Augen. Einen zweiten Angreifer ereilte das gleiche Geschick. Ein dritter gelangte zunächst unbemerkt auf die Plattform, ein Tatzenhieb Louisons jedoch warf ihn ebenso postwendend hinunter, wie er emporgeklettert war. Garamagrif hielt sich ebenfalls großartig. Allein sein Anblick flößte den Engländern Respekt ein. Drei Soldaten hatten inzwischen versucht, Corcoran von der anderen Seite zu überraschen. Es war ihnen gelungen, sich zwischen die Felswand und Scindiah, der unterhalb der Plattform in Deckung gegangen war, zu schleichen. Glücklicherweise bemerkte es der Elefant noch rechtzeitig. Sanft lehnte er sich an den Felsen. Pech für die Soldaten, daß sie sich genau zwischen seinem Bauch und dem Felsen befanden.
„Schluß damit!“ befahl Barclay. „Es ist nicht der Mühe wert, so viele gute Männer zu opfern, um diesen Starrkopf festzunehmen. Bewacht ihn und laßt ihn nicht entwischen: Irgendwann wird ihn der Hunger zwingen, seinen Felsenhorst zu verlassen.“
Und das entsprach den Tatsachen, denn wenn sich Louison und Garamagrif notfalls der Soldaten bedienen konnten, so war Scindiah gewohnt, jeden Tag bis zu hundertzwanzig oder hundertdreißig Pfund Gräser und Blätter zu fressen. Schon seit einiger Zeit riß er seinen Rachen in der fürchterlichsten Art und Weise vor Hunger auf. Auch Corcoran, Sita und der kleine Rama hatten seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen.
Die Qual dauerte auch in der hereinbrechenden Nacht an. Corcoran war am Ende seiner Kräfte und wußte nicht, an welchen Heiligen er sich noch wenden sollte. Konnte er die Waffen strecken? Gegen diesen Gedanken rebellierte sein ganzer Stolz. Würde er untergehen? Was sollte aus Sita und Rama werden? Sollte er sich den Engländern ergeben, wenn sie dafür garantierten, Sita und Rama kein Leid anzutun?
Er hatte sich völlig diesem Gedanken hingegeben und hob die Augen zum Himmel, um den Allmächtigen um Rat zu bitten. Dabei erblickte er etwas ganz Wunderbares.
26.
Unerwartete Hilfe. Der Tod zweier Helden
Es war ein Gegenstand, der ihm außerordentlich riesig vorkam und mit großer Geschwindigkeit am Himmel entlangflog. Dann, als sich der Gegenstand immer schneller herabsenkte, glaubte er, einen gewaltigen Vogel wahrzunehmen, der direkt auf seinen Kopf zustürzte. Schließlich erkannte er die Fregatte und hörte die frohgemute Stimme seines Freundes Quaterquem. Noch nie, seit die Schiffbrüchigen der Medusa endlich am Horizont ein Segel auf der einsamen Wasserwüste des Ozeans erblickt hatten, wurde eine derartige Freude empfunden.
„Sag mal, lieber Freund“, rief Quaterquem, „was machst du denn da mit all deinen Tigern, deinem Elefanten, deiner Frau, deinem Sohn und fünfhundert englischen Gaffern, die dich bewachen wie die Kronjuwelen?“
„Mein guter Quaterquem“, sagte Corcoran und umarmte ihn, „nimm als erstes Sita und Rama in deine Fregatte und gib ihnen etwas zu essen, denn sie haben seit sechsunddreißig Stunden nichts zu sich genommen.“
„Oh, Mister Quaterquem“, rief Acajou, „kleiner Matscharaha hat noch nicht gegessen! Kaltes Fleisch und guter Wein wird dem Kleinen schmecken.“
Diese beiden göttlichen Worte „kaltes Fleisch“ weckten mit einemmal Ramas Lebensgeister. Mit wahrhaft kindlichem Appetit machte er sich über die Speisen her. Auch Sita ließ sich nicht lange bitten, während Corcoran mit vollem Mund seinem Freund die neuesten Abenteuer erzählte.
„Ich habe zwar nicht daran gezweifelt“, sagte Quaterquem, „daß alles schlimm ausgeht. Dennoch glaubte ich nicht, daß sich meine Befürchtungen so bald bewahrheiten würden. An diesem Morgen bin ich zusammen mit Acajou von meiner Insel aufgebrochen, um dich und Sita zu holen. Alice erwartet euch. Ich bin in Bhagavapur gelandet. Sugriva hat mir gesagt, daß du bei der Armee bist und schon einen General besiegt hast, der Spolding oder Spalding heißt. Meinen Glückwunsch. Ja also, ich fliege hierher, aber von dir keine Spur. Ich sehe deine Armee in heilloser Verwirrung. Man sagt mir, daß du gestern nacht bei einem Angriff gefallen wärst. Ich fliege ins englische Lager, um dich wenigstens begraben zu können. Ich informiere mich, man sagt mir, daß du noch lebst. Ich steige also wieder in die Lüfte und entdecke dich auch gleich auf deinem Felsenhorst. Nun komm schon mit mir, ich werde dich dorthin bringen, wohin du willst, auf meine Insel oder meinetwegen nach Bhagavapur, wenn dir das besser gefällt.“
„Nein, ich werde mich nicht mit Schimpf und Schande davonstehlen!“ rief Corcoran. „Du nimmst Sita und Rama mit dir, ich selbst werde mich durch eigene Kraft hier davonmachen und diesen hochnäsigen Engländer zum Kampf herausfordern.“
Er ist verrückt, dachte Quaterquem, aber noch mehr ist er Bretone, also starrköpfig… „Und wie willst du die englischen Reihen durchbrechen?“ fragte er. „Machst du dir gar keine Sorgen?“
„Ich mache mir solche Sorgen, daß du dich in einer Viertelstunde davon überzeugen kannst, wie sehr ich mir Sorgen mache. Glaubst du übrigens ernsthaft, ich könnte Louison und Scindiah dem Feind überlassen? Das wäre ja schwärzester Undank.“
Die Bitten und Umarmungen Sitas konnten den Maharadscha ebenfalls nicht von seinem Entschluß abbringen. Er wartete geduldig, bis sich Quaterquem mit der Fregatte, in der Sita und Rama in Sicherheit waren, in die Lüfte erhob. Dann, allein auf dem Felsen zurückgeblieben, weckte er Scindiah, der wohl gerade davon träumen mochte, Reisstroh und süßen Zuckersirup vorgesetzt zu bekommen.
Louison stieg als erste von dem Felsen herab, um den Weg zu erkunden. Corcoran folgte ihr, Scindiah zur Rechten und Moustache zur Linken. Garamagrif beschloß das Gefolge.
Eine so zahlreiche Karawane konnte natürlich nicht unbemerkt mitten durch die englische Armee entkommen. Eine der Wachen gab Alarm und feuerte auf die Ausbrecher. Die Kugel streifte Garamagrif an der linken Seite. Er tat einen gewaltigen Satz, packte den Soldaten an der Gurgel und biß ihm die Kehle durch.
Bei dem Lärm und dem Schuß war im Nu das ganze Bataillon auf den Beinen und sah, daß sich Corcoran, seinen Säbel in der einen, den Revolver in der anderen Hand, abwechselnd säbelnd und schießend bis zum äußeren Ring der Engländer durchschlug, von seinen drei Tieren gefolgt. Dort glaubte er sich erst einmal in Sicherheit.
Leider erhellten die Feuer, die man ringsum entzündet hatte, seinen Weg, und die Engländer schossen mit allem, was ein Rohr war, auf ihn.
Er schaute nach hinten.
Garamagrif und Scindiah waren von den Schüssen tödlich getroffen worden. Der eine hatte eine Kugel ins Herz abbekommen, dem anderen waren mehrere Kugeln in den Kopf gedrungen. Der Tod hatte die beiden, die sich so oft gegenseitig geärgert hatten, vereint. Der furchtlose Garamagrif warf einen letzten, verlöschenden Blick auf den Gegner, der ihn von hinten erschossen hatte, und verschied.
Louison, unbeweglich und erschüttert, die Augen voller Tränen, betrachtete einige Augenblicke schweigend diesen stolzen Garamagrif, den Gefährten ihres Lebens. Sie erinnerte sich an die Freuden vergangener Zeiten und schien ihn nicht allein auf dem Schlachtfeld zurücklassen zu wollen. Doch auf eine zärtliche Geste Corcorans hin, der sie umarmte und auf den kleinen Moustache zeigte, der nun Halbwaise geworden war, verließ sie mit den beiden das Schlachtfeld.
Auch Scindiah, der stets die Gerechtigkeit gesucht und die Ungerechtigkeit verabscheut hatte, erwartete jetzt unbewegt das Ende seiner Leiden. Ebenso bescheiden wie gut, liebenswürdig, sanft und ernsthaft, hinterließ er im Herzen seiner Freunde eine Erinnerung, die nie verblassen würde.
27.
Verräter! Überall Verräter!
Die Nacht rettete Corcoran und Louison. Die englische Kavallerie, die einen Hinterhalt fürchtete, wagte nicht, sie weiter zu verfolgen; der Maharadscha hatte sich ein Pferd gegriffen, das an einem Pflock angebunden war. Er schwang sich in den Sattel und galoppierte davon.
Louison wußte nicht, was sie tun sollte. Sie wollte sowohl ihren lieben Garamagrif rächen als auch Corcoran folgen.
„Beruhige dich, meine Liebe“, sagte der Maharadscha, „du wirst ihn in einer besseren Welt wiedertreffen. Vor allem müssen wir die Armee wieder einholen. Diese Nacht die Rettung, morgen die Rache.“
Sein Pferd machte plötzlich in vollem Galopp eine scharfe Wendung, die ihn aus dem Sattel zu werfen drohte. Eine Gestalt erhob sich schemenhaft vor ihm im Dunkel und schien um Gnade zu bitten.
Corcoran spannte seinen Revolverhahn.
„Wer bist du?“ fragte er. „Rede schnell, oder ich schieße dich über den Haufen.“
Schon war Louison, die seit Garamagrifs Tod gegen jeden Menschen eine tiefe Abneigung verspürte, im Begriff, sich auf den Teufel zu stürzen und ihn in Stücke zu reißen.
„Brahma und Wischnu, großer Maharadscha!“ schrie der andere, denn an der knappen und befehlsgewohnten Stimme hatte er seinen Herrn erkannt, „haltet Louison zurück, oder ich bin ein toter Mann. Ich bin Baber.“
„Baber. Was machst du hier? Wo ist meine Armee?“
„Ach, Herr, seit die gesehen haben, daß die Engländer vorgehen, ist ihnen wieder einmal der Schreck in die Glieder gefahren.“
„Und Akbar?“
„Akbar hat fünf Minuten versucht, sie zu sammeln, aber man hat nicht auf ihn gehört. Einer der Reiter, der Euch gestern ins Lager der Engländer gefolgt ist, hat gerufen, daß Ihr tot seid. Bei dieser Nachricht ist die gesamte Kavallerie in Richtung Bhagavapur geflüchtet. Die Infanterie ist ihr gefolgt, und Akbar hat nicht als einziger zurückbleiben wollen. Jetzt müssen sie etwa drei oder vier Meilen von uns sein.“
„Und du?“
„Ich, Herr…, ich habe aus allen Kräften geschrien, daß das eine Lüge sei, daß Ihr am Leben seid, lebendiger als je zuvor, und daß man sich in zwei Tagen davon überzeugen könne.“
„Und wie kommt es, daß ich dich auf der Straße nach Bhagavapur treffe?“
„Ach, großer und erhabener Maharadscha, diese Elenden haben sich so mit der Flucht beeilt, daß sie alle über den Haufen geritten haben, die sich ihnen entgegenstellten.“ Baber seufzte tief.
„Tatsache ist“, meinte Corcoran, wobei er ihn eingehend musterte, „daß du schrecklich zugerichtet bist. Hast du genug Kraft, um zu gehen?“
„Um Euch zu folgen, Herr“, sagte der Hindu, „würde ich sogar auf den Händen laufen.“
Und tatsächlich, dank der Geschmeidigkeit seiner Gliedmaßen gelang es Baber, sich zu erheben und eine Viertelmeile neben Corcorans Pferd herzulaufen, dann verließen ihn seine ohnehin schwachen Kräfte.
Corcoran war besorgt. Nach Louison war Baber jetzt für ihn der wichtigste Verbündete.
„Herr“, sagte Baber, „wir sind gerettet. Ich höre zwei Pferde, die vor einen Wagen gespannt sind, herantraben. Das muß ein Troßwagen unserer Armee sein. Laßt mich machen. Versteckt Euch hinter der Hecke und kommt erst dann hervor, wenn ich Euch rufe.“
Das Hufgetrappel näherte sich.
Als das Gefährt nur noch fünfzig Schritt von dem Hindu entfernt war, schrie jener mit kreischender Stimme:
„Wer will sich zweitausend Rupien verdienen?“
Sogleich hielt der Wagen, und zwei bis an die Zähne bewaffnete Männer stiegen aus.
„Wer redet hier davon, zweitausend Rupien zu verdienen?“ fragte einer von ihnen, der eine Pistole mit langem Lauf in der Hand hielt.
„Herr“, sagte Baber, „ich bin auf den Tod verwundet. Laßt mich hier nicht liegen, bringt mich an einen sicheren Ort, und ich gebe Euch die zweitausend Rupien, wenn wir im Lager sind.“
„Wo sind sie?“ fragte der Mann. „In meinem Zelt, im Lager des Maharadschas.“
„Dieser Wicht macht sich über uns lustig, wir verlieren nur unsere Zeit mit ihm.“
Bei diesen Worten drehte der Mann Baber den Rücken zu und wollte mit seinem Kameraden wieder den Wagen besteigen.
„Zu mir, Maharadscha!“ rief Baber.
Gleichzeitig griff er den Pferden in die Kandare, um sie daran zu hindern, durchzugehen.
Der Mann, der gesprochen hatte, zog eine Pistole. Baber duckte sich und entging so der Kugel, die der Mann auf ihn abgefeuert hatte.
Im selben Augenblick erschien Corcoran. „Halt, Kanaille!“ schrie er donnernd.
Bei dieser ihnen wohlbekannten Stimme und angesichts des leibhaftig vor ihnen erscheinenden Maharadschas warfen sich die beiden auf die Knie.
„Großer und erhabener Herrscher, unser Leben ist in deiner Hand. Was befiehlst du?“
„Legt eure Waffen ab!“ befahl Corcoran.
Sie gehorchten eilig.
Corcoran nahm die Laterne, die an dem Troßwagen hing, in die Hand und leuchtete den beiden ins Gesicht. Voller Verwunderung erkannte er seinen General Akbar.
„Wohin willst du?“ fragte er.
Akbar schwieg.
„Ich will es Euch sagen, Herr“, ergriff da Baber das Wort. „Akbar desertiert. Er hat nichts Besseres zu tun, als ins Lager der Engländer überzulaufen.“
„Das ist nicht wahr!“ schrie Akbar erregt.
„Verräter!“ schrie ihn Corcoran wutschnaubend an. „Und du?“ wandte er sich an Akbars Gefährten.
Akbars Begleiter schien nicht weniger eingeschüchtert als sein Vorgesetzter zu sein. Vergeblich versuchte er zu retten, was zu retten war.
„Herr, ich bin nur ein einfacher Offizier. Ich gehorche nur meinem General.“
Der Maharadscha lächelte verächtlich.
„Baber“, sagte er zu dem ehemaligen Würger von Gwalior, „binde sie an Händen und Füßen, wirf sie auf den Wagen und lenke das Gefährt in unser Lager. Das Kriegsgericht soll über ihr Schicksal entscheiden.“
Baber gehorchte, ohne daß einer der beiden Widerstand geleistet hätte. Corcorans und Louisons Anblick ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren.
„Und nun vorwärts, und zwar im Galopp!“ rief der Maharadscha. „Wir müssen in einer Stunde im Lager sein; mittags stellen wir uns den Engländern zur Schlacht, und gegen sechs Uhr abends werden wir Garamagrif und Scindiah gerächt haben, nicht wahr, meine Louison?“
28.
Letzte und fürchterliche Schlacht
Ich glaube, es ist nicht notwendig, daß ich beschreibe, mit welcher Freude der Maharadscha im Lager der Marathen begrüßt wurde. Wenn die Offiziere zitterten bei dem Gedanken an die Strafe, die er für sie bereithalten konnte, so sahen in ihm die Soldaten vertrauensvoll die elfte Inkarnation Wischnus und glaubten, unbesiegbar zu sein, vorausgesetzt, er marschierte an ihrer Spitze.
Corcoran ließ sie antreten und hielt folgende Rede: „Soldaten! Verräter und Feiglinge haben viel Lärm um meinen Tod gemacht. Durch den göttlichen Schutz Wischnus bin ich jedoch am Leben, um zu siegen und zu strafen.
Wir werden uns zum entscheidenden Gefecht stellen, und ich schwöre bei dem leuchtenden Indra, daß der erste, der die Flucht ergreifen sollte, erschossen wird!
Ich schwöre gleichermaßen, daß jeder Offizier oder Soldat, der eigenhändig eine Fahne oder eine Kanone erobert, ab diesem Tag Zemindar sein wird und zehntausend Rupien erhält.
Im Schutz des allmächtigen Schiwa werde ich unter diese roten Barbaren fahren wie die Sichel ins Reisfeld und Tod und Schrecken unter ihnen verbreiten!“
Von allen Seiten schrie man begeistert: „Es lebe der Maharadscha!“
Und man glaubte an den Sieg.
Gegen acht Uhr morgens rückte die Vorhut der Engländer an. Corcoran ritt die Reihen seiner Marathen ab.
„Wenn mir jeder seine Aufgabe gewissenhaft erfüllt“, schärfte er ihnen ein, „garantiere ich, daß wir den Feind schlagen.“
Die Engländer rückten in Schlachtlinie an, doch das Gelände war für sie nicht von Vorteil. Zur Rechten und Linken ihres Aufmarschgebietes erstreckten sich weitläufige Sumpfgebiete. Corcoran, der schon, bevor er das Lager hatte anlegen lassen, das Gelände genau studiert hatte, profitierte nun von seiner Weitsicht; andererseits aber auch davon, daß Barclay einen Tag verloren hatte, als er ihn bei dem Felsen belagerte und nicht die Chance genutzt hatte, als der Maharadscha abwesend war, dessen Lager zu besetzen.
Corcorans Artillerie bestrich die englischen Linien. Er selbst umging an der Spitze seiner sechs Kavallerie- und acht Infanterieregimenter (denn er hatte hinter den Kanonen nur eine schwache Infanteriedeckung zurückgelassen, um entsprechend seinem Plan den Feind vollständig in die Zange nehmen zu können) in aller Stille das Sumpfgelände und fiel dann plötzlich wie ein Wirbelsturm in den Rücken der Engländer.
Zweifellos wird es nicht nötig sein, eine detaillierte Beschreibung der Schlacht zu geben, sie ähnelte in vielem den schon mehrmals auf diesen Seiten beschriebenen Kampfhandlungen. Corcoran, der gut und gerne Alexander, Hannibal oder Cäsar hätte sein können, es aber vorzog, Corcoran zu bleiben, trug einen vollständigen Sieg davon. Während seine Artillerie mit großer Treffsicherheit die englischen Reihen bestrich und dadurch nach jeder Salve die englischen Linien stärker gelichtet wurden, fuhr er mit seiner Kavallerie unter sie wie das Messer in die Butter. Die Marathen, von seinem Beispiel angespornt, leisteten wahrhaft Großes.
Aber das alles war nichts im Vergleich zu Louison.
Während der Schlacht blieb sie wie ein guter Colonel stets an der Seite des Kapitäns; nur wenn die roten Uniformen zu nahe an sie herankamen, schnellte sie wütend davon und stürzte sich auf sie, ohne daß man sie hätte zurückhalten können. In wenigen Augenblicken hatte sie vier oder fünf englische Offiziere außer Gefecht gesetzt. Umsonst versuchte sie Corcoran zurückzurufen. Sie hörte nichts mehr.
Während der Schlacht gab es für Corcoran nur eine kritische Situation zu überstehen.
Die Engländer gewannen, nachdem sie ihre erste Überraschung über den unerwarteten Angriff der Marathen überwunden hatten, nach und nach ihre Kaltblütigkeit wieder. Ohne bei dem ungestümen Angriff Corcorans mit der Reiterei den Kopf zu verlieren, hielt Barclay stand und gab, als er den Maharadscha inmitten des Gewimmels erkannt hatte, Befehl an fünfzig seiner Elitereiter, sich ihm an die Sporen zu heften und alle ihre Kräfte dafür einzusetzen, ihn zu töten. Er selbst setzte sich an ihre Spitze, weil er zu Recht einschätzte, daß der Tod des Maharadschas den Krieg sofort beenden würde.
Es hätte nicht viel gefehlt, und Barclays Rechnung wäre aufgegangen, doch er hatte seine Rechnung ohne Louison gemacht.
Die Tigerin hatte sehr bald gemerkt, daß man versuchte, Corcoran einzukreisen. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie mitten in eine Traube von Reitern hinein, durch die der bereits eingekreiste Corcoran mit dem Säbel eine Gasse hieb.
„Eine Million Rupien für den, der den Maharadscha tötet!“ schrie Barclay.
Es waren seine letzten Worte. Kaum hatte er sie ausgesprochen, als ihm Louison an die Kehle sprang.
Der tödlich verletzte Barclay sank auf seinen Sattelknauf. Die Marathen rückten vor und hieben sich durch den Ring der englischen Reiter bis zu ihrem Maharadscha vor. Die englische Armee begann zu wanken.
Eine Stunde später war die Schlacht entschieden, und die mit Säbelhieben auf den Weg nach Bombay getriebenen Engländer dachten an nichts anderes mehr, als ihr nacktes Leben zu retten und Bombay heil zu erreichen.
Lord Henry Braddock, der nach der ersten Siegesmeldung Barclays von Bombay herübergekommen war, um selbst über das Schicksal von Holkars Reich zu entscheiden (und sich ebenfalls ein gehöriges Stück von dem riesigen Kuchen abzuschneiden), schätzte, daß es zweifellos jetzt die klügste Politik sei, klein beizugeben, auf die Forderung des Siegers einzugehen und Frieden zu schließen, als den Herrscher der Marathen noch weiter in den britischen Teil Indiens hineinmarschieren zu lassen. Deshalb bat er um eine Unterredung mit dem Maharadscha.
„Soll er in mein Lager kommen“, ließ der Bretone dem englischen Parlamentär ausrichten.
Bei den Friedensbedingungen zeigte er sich nicht unbescheiden, da er sehr wohl die Laxheit der armen Hindus kannte und deshalb kein Vertrauen in die Zukunft hatte. Er gab sich damit zufrieden, den Titel eines Verbündeten Ihrer Majestät, der Königin Victoria von England, Herrscherin über Hindustan, anzunehmen und eine Summe von fünfundzwanzig Millionen Rupien als Entschädigung für die Kriegslasten von den Engländern einzustecken.
Nachdem die beiden Armeen, die eine niedergeschlagen, die andere siegreich, in ihre Quartiere zurückgekehrt waren, hielt er seinen Einzug in Bhagavapur.
29.
Schluß
Ich übergehe die Festlichkeiten und die Dankesbezeigungen für den Maharadscha, die nun folgten, mit Schweigen. Corcoran, der sich keinen Illusionen hingab, war der Machtausübung müde geworden. Um sich herum hatte er nur Verrat und Feigheit gespürt. Er beschloß abzudanken.
„Großer und erhabener Maharadscha“, sagte der treue Sugriva zu ihm, „überlaß uns nicht den Engländern. Man regeneriert in drei oder vier Jahren kein Volk.“
„Mein treuer Freund“, sagte Corcoran, „ich bin nach Indien gekommen, um das Gurukaramta zu suchen, und ich habe es gefunden. Ich suchte keine Frau und kein Vermögen, aber ich habe ebenfalls beides gefunden. Ich habe euch gezeigt, was man tun muß, um frei zu sein. Profitiert von dieser Erfahrung und laßt euch lieber töten, als Stockschläge einzustecken. Ich habe meine Aufgabe erfüllt und will wieder über mich selbst verfügen. Ich werde abdanken und meinen Freund Quaterquem besuchen. Vorher jedoch werde ich den Marathen noch ein Gesetz hinterlassen. Benachrichtige meine Gesetzgebende Versammlung, daß ich ihr morgen eine wichtige Mitteilung zu machen habe.“
Am nächsten Tag betrat er den Sitzungssaal und hielt folgende Rede: „Repräsentanten des Volkes der Marathen!
Ich danke euch für die Treue, die ihr mir stets bewiesen habt. Gemeinsam haben wir den Feind des Vaterlandes bekämpft und besiegt. Es liegt nun an euch, das begonnene Werk zu, vollenden, das Werk eurer Befreiung. Ihr habt die Freiheit erkämpft, lernt sie zu verteidigen.
Ich proklamiere heute die Republik der Konföderation der Marathen und lege die Regierung in eure Hand.
Für drei Monate übertrage ich den Vorsitz der neuen Republik meinem treuen und unverzagten Sugriva. Ist diese Frist verstrichen, werdet ihr euch selbst einen Kanzler wählen. Mögt ihr den würdigsten finden!
Ich reise ab, aber wenn jemals die Unabhängigkeit der marathischen Republik bedroht sein sollte, so laßt es mich wissen. Ich werde wieder zu den Waffen greifen und in euren Reihen kämpfen.
Lebt wohl!“
Bei diesen Worten strömte ihm von allen Seiten Begeisterung zu. Man wollte den Maharadscha zurückhalten, doch sein Entschluß stand fest. Er reiste am selben Tag noch mit seinem Freund Quaterquem ab, der ja gekommen war, um Corcoran und dessen Familie mit seiner Fregatte zu holen.
Louison und Moustache begleiteten ihn. Quaterquem hatte nur drei Seemeilen von seiner eigenen Insel entfernt ein Stück Eiland entdeckt, das er Corcoran schenkte.
Dort lebt Corcoran seit vier Jahren glücklich und zufrieden. Ein Telegraf verbindet die Inseln miteinander, und so können die beiden Freunde, vor ihrem Kaminfeuer sitzend, miteinander schwatzen, ohne sich zu stören. Alice und Sita sehen sich oft. Beide Familien sind inzwischen sehr zahlreich, denn Corcoran hat außer dem kleinen Rama nicht weniger als drei Jungen; unter Alices Obhut gedeihen drei Mädchen. Sie wollen übrigens alle zusammen zwischen dem 15. und 20. Juli 1867 zur Weltausstellung nach Paris kommen.
PS Man behauptet (aber ich wage nicht, dieses Gerücht zu bestätigen oder ihm zu widersprechen), daß Corcoran sein altes Projekt, Hindustan von der englischen Vorherrschaft zu befreien, nicht aus den Augen verloren habe. Vor kurzem erst hat man mich über Beziehungen informiert, die er mit den Brahmanen auf der Halbinsel unterhält, vom Himalaja bis zum Kap Komorin; ich werde mich allerdings hüten, eine Indiskretion zu begehen. Wir werden ja sehen, wie lange es dauern wird.