XI. Ich lerne den Preis der Freundschaft kennen, und Geld regiert immer noch die Welt

Das Flugzeug war nicht viel größer als eine Badewanne; der Flug war holprig. Obwohl ich seit über vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte, kam mein Kopf nicht zur Ruhe. Ich konnte einfach nicht aufhören, an Leo und all die Gelegenheiten zu denken, wenn er von mir hatte begleitet werden wollen und ich abgelehnt hatte. Ich war diejenige gewesen, die ihn nach Japan geschickt hatte. War das ein Fehler gewesen? Warum hatte ich Yuji Ono je vertraut? Wie konnte Leo tot sein, wenn wir seit fast zehn Monaten nicht mehr miteinander gesprochen hatten? Das alles kam mir völlig unwirklich vor.

Flatternd fielen mir die Augenlider zu, so als würde der Schlaf mein schuldbewusstes Gewissen vorübergehend entlasten wollen, doch in dem Moment musste ich an Imogen denken. Nach Nanas Tod hatte ich Imogen unaussprechliche Taten vorgeworfen. Ausgerechnet ihr, die nichts anderes getan hatte, als sich um Nana, Natty und mich zu kümmern. Und jetzt war Imogen tot. Wegen uns.  

Dann musste ich an Theo denken. Die Ärzte sagten, sein Zustand sei stabil, dennoch konnte er durchaus noch sterben. Was würden sie auf der Plantage ohne ihn machen? Theo managte den Laden, und wegen mir würde er das sehr lange nicht tun können. Dann kehrten meine Gedanken wieder zu Leo zurück. Ich begann mich zu fühlen, als ob ich nie wieder … schlafen … würde …

Gegen vier Uhr morgens landete das Flugzeug in Long Island. Ich schaute aus dem Fenster. Die Landebahn war beruhigend verlassen. Als ich die Treppe hinunterstieg, erhaschte ich den ersten Hauch New Yorker Luft – schmutzig und süß. Obwohl es mir in Mexiko gut gefallen hatte und ich mir gewünscht hätte, unter besseren Umständen zurückzukehren, war ich froh, dass meine Stadt mich wiederhatte. Es war übrigens eiskalt. Ich trug noch immer die Kleidung, die ich beim Besuch der Fabriken in Oaxaca angehabt hatte, wo es über zwanzig Grad warm gewesen war.

Ein einsames Fahrzeug, ein schwarzer Wagen mit getönten Scheiben, stand auf dem Parkplatz. Auf der Fahrerseite war die Fensterscheibe ungefähr zehn Zentimeter geöffnet, dahinter sah ich Simon Green schlafen. Ich klopfte an das Glas, und er erschrak. »Annie, steig ein, steig ein!«, sagte er und entsperrte die Schlösser.

»Keine Polizei«, bemerkte ich, kaum dass ich saß.

»Wir hatten Glück.« Simon Green schob den Schlüssel in die Zündung. »Ich dachte, ich bringe dich in mein Apartment in Brooklyn. Der Mord an Imogen hat ganz schön viel Wirbel verursacht, wie du dir sicher vorstellen kannst. Die Wohnungen von Mr. Kipling und dir werden geradezu belagert.«

»Ich muss Natty noch heute Nacht sehen«, beharrte ich. »Wenn sie bei Mr. Kipling ist, dann will ich da auch hin.«

»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, Annie. Wie schon gesagt …«

Ich unterbrach ihn: »Leo ist tot, Simon, und ich möchte, dass meine Schwester das von niemand anderem als von mir erfährt.«

Im ersten Moment war Simon sprachlos. »Das tut mir leid. Das tut mir wirklich furchtbar leid.« Er räusperte sich. »Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.« Simon schüttelte den Kopf. »Glaubst du, dass Yuji Ono etwas damit zu tun hat?«

»Keine Ahnung. Er leugnet es, aber … Das ist jetzt auch unwichtig. Ich will einfach nur Natty sehen.«

»Hör zu, Annie, du hast gerade einen sehr großen Verlust erlitten. Du bist müde und überwältigt, aus völlig verständlichen Gründen, deshalb nimm meinen Ratschlag bitte ernst. Es wäre sehr viel besser für Natty und dich, wenn du heute Nacht nicht von der Polizei gefasst würdest. Wir sollten deine Kapitulation aushandeln, falls man sie für notwendig halten sollte. Komm, ich fahre dich jetzt erst mal in meine Wohnung – da wird niemand nach dir suchen – und verspreche dir, als Erstes morgen früh Natty zu dir zu bringen.«

Ich nickte zustimmend.

Den Rest der Fahrt unterhielten wir uns nicht, obwohl ich merkte, dass Simon Green gerne mit mir gesprochen hätte. »Du hast Blut am Ärmelbündchen«, bemerkte er, als wir nach Brooklyn hineinfuhren. Ich schaute auf meinen Pulli: Es stammte entweder von Theo oder von dem maskierten Attentäter.

Simons Wohnung befand sich im fünften Stock eines alten Hauses ohne Fahrstuhl. Die Treppen waren steil und quietschten. Nach drei Etagen wäre ich am liebsten stehen geblieben. Wenn man völlig erschöpft ist, sind es manchmal die kleinen Tätigkeiten, die am unerträglichsten erscheinen. »Ich schlafe hier auf dem Treppenabsatz«, sagte ich.

»Komm, Anya!« Simon trieb mich weiter.

Schließlich erreichten wir sein Apartment. Es war groß für die Innenstadtlage, das einzige in dem Stockwerk, aber es bestand nur aus einem Zimmer. Die Decke war gewölbt, da wir uns direkt unterm Dach befanden. Simon Green wohnte in einer Dachkammer. Er sagte, ich könne sein Bett haben, er würde auf der Couch schlafen.

»Annie, ich fahre jetzt wieder zu Mr. Kipling. Kann ich dir noch irgendwas holen?«, fragte Simon. Er unterdrückte ein Gähnen, dann nahm er seine Brille ab und putzte sie.

»Nein, Simon, alles in Ordnung. Ich bin …« (Und wenn ich kurz vorher noch davon überzeugt war, dass ich nie wieder würde weinen können, erwies sich nun, dass ich in dieser Hinsicht zu optimistisch gewesen war.)

Ich sank auf die Knie und spürte, wie sie schmerzten, als sie auf dem Holzboden auftrafen. »Leo«, schluchzte ich. »Leo, Leo, Leo. Es tut mir so leid, so leid, so leid …«

Unbeholfen legte mir Simon Green eine Hand auf die Schulter. Es war keine besonders tröstende Geste, doch war ich dankbar für das Gewicht, das ich spürte.

Ich begann zu hyperventilieren und bekam das Gefühl zu ersticken. Simon half mir aus meinen blutigen Sachen, als wäre ich ein Kleinkind, dann lieh er mir ein T-Shirt und brachte mich ins Bett.

Ich sagte ihm, ich wolle sterben.

»Nein, das willst du nicht.«

»Wohin ich auch gehe, überall ist Gewalt. Ich kann ihr nicht entkommen, weil ich sie mitbringe. Und ich will nicht in einer Welt leben, in der ich keinen Bruder mehr habe.«

»Es gibt noch andere, die dich lieben und dich brauchen, Anya. Denk mal an Natty!«

»Ich denke ja an sie. Ständig. Ich denke, dass sie ohne mich vielleicht besser dran wäre.«

Simon legte die Arme um mich. So nah war ich ihm noch nie gewesen, er roch nach Pfefferminze. Simon Green schüttelte den Kopf. »Wäre sie nicht. Glaub mir, das wäre sie nicht. Natty kann nur Natty sein, solange du Anya bist.« Vorsichtig löste er sich von mir. »Schlaf ein bisschen. Wenn ich zurückkomme, bringe ich Natty mit, okay?«

Ich hörte, wie sich die Tür schloss und doppelt gesichert wurde, dann schlief ich ein.

Als ich erwachte, schaute mich eine weiße Katze mit einem schwarzen Fleck auf dem Rücken an. Sie lag in den Armen meiner Schwester. »Wusstest du, dass Simon eine Katze hat?«, fragte Natty.

Ich war zu verstört gewesen, um es zu bemerken, doch nun, da meine Schwester es erwähnte, merkte ich, dass seine Wohnung leicht nach Katzenstreu roch.

»Sie ist eine Kämpfernatur«, erklärte Simon Green. »Geht nachts gerne streunen.«

Ich sah Natty an. Ihre Augen waren rot vom Weinen, sie wirkte noch älter und größer als bei unserer letzten Begegnung. Sie setzte die Katze ab, und ich zog meine Schwester liebevoll an mich. Mit den Köpfen stießen wir zusammen. Ich war nicht daran gewöhnt, dass sich ihr Kopf so weit oben befand.

»Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte Natty. »Ich wusste es.«

Um uns ein wenig Zeit zu zweit zu geben, sagte Simon Green, er würde einen Spaziergang machen.

»Es war furchtbar, Annie. Wir waren draußen auf der Straße vor unserem Haus, da stand wie aus dem Nichts ein Mann vor uns, und Imogen wollte ihm ihre Handtasche geben. ›Nehmen Sie sie‹, sagte Imogen. ›Nehmen Sie sie einfach. Ich habe nur zweiundzwanzig Dollar dabei.‹ Er griff sich ihre Tasche, und zuerst dachten wir, er würde verschwinden, doch dann warf er sie weg. Imogens sämtliche Habseligkeiten fielen heraus – ihre Bücher, ihr Tagebuch und alles! Ich weiß noch, dass ich dachte, wir würden bestimmt nicht wieder alles zusammensuchen können. Dann zielte der Mann mit seiner Waffe auf meinen Kopf, doch Imogen sprang dazwischen. In dem Moment knallte es, aber ich konnte nicht sehen, wo sie getroffen worden war. Es war sonderbar, weil der Schuss so nah war, dass ich das Gefühl hatte, selbst getroffen worden zu sein. Ich sackte ebenfalls zu Boden. Ich glaube, das lag am Knall.«

»Das war klug von dir«, sagte ich. »Der Attentäter dachte, er hätte dich erwischt, und haute ab.«

»Was meinst du mit ›erwischt‹?«

Natty wusste noch nicht, dass alle drei Geschwister mit den Attentaten hatten umgebracht werden sollen. Sie wusste noch nichts von Leo. Ich erzählte ihr, was mir in Mexiko passiert war, dann berichtete ich von Leo.

Sie weinte nicht. Sie blieb völlig reglos.

»Natty?« Ich berührte sie am Arm, doch sie entzog sich mir.

Ich sah ihr in die Augen. Sie wirkte nachdenklich, nicht erschüttert. »Wenn du Yuji Ono nicht traust, woher willst du dann sicher wissen, dass Leo tot ist?«, fragte sie.

»Ich weiß es einfach, Natty. Yuji Ono hätte keinen Grund, uns zu erzählen, Leo sei tot, wenn das nicht stimmen würde.«

»Das glaube ich nicht! Wenn man die Leiche nicht gesehen hat, kann man nicht mit Sicherheit wissen, dass einer wirklich tot ist!« Ihre Stimme war schrill geworden. Sie klang hysterisch, kreischte. »Ich will nach Japan fliegen. Ich will das mit eigenen Augen sehen!«

Simon Green kehrte von seinem Spaziergang zurück. Es hatte zu regnen begonnen, sein Haar war feucht. »Denk doch mal drüber nach, Natty«, sagte er sanft. »Anya und du, ihr wurdet beide in derselben Nacht angegriffen. Ihr hattet beide Glück und konntet entkommen. Euer Bruder nicht.«

Natty sah mich an. »DAS IST DEINE SCHULD! Du hast ihn nach Japan geschickt. Wenn er hiergeblieben wäre, säße er jetzt vielleicht im Gefängnis, aber wenigstens wäre er noch am Leben. Er wäre noch am Leben!«

Sie lief in Simons Badezimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

»Die kann man nicht verschließen«, flüsterte er.  

Ich ging ihr nach. Natty stand in der Wanne und hatte mir den Rücken zugekehrt. »Ich komme mir blöd vor«, sagte sie verzweifelt. »Aber ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte.«

»Ja, Natty, es stimmt, ich habe Leo nach Japan geschickt. Auch wenn das ein Fehler war, gab es zu dem Zeitpunkt nichts Besseres, das ich hätte tun können. Wir werden nach Japan fahren, um Leo zu bestatten, aber jetzt auf der Stelle geht das nicht. Es ist zu gefährlich, und ich muss hier einiges erledigen.«

Langsam drehte sie sich zu mir um. Ihre Augen waren rot und wütend, aber trocken. Sie öffnete den Mund und wollte gerade etwas sagen, da kamen die Tränen. »Er ist tot, Annie. Leo ist tot. Leo ist wirklich tot.« Sie holte den kleinen Holzlöwen aus ihrer Tasche. »Was sollen wir jetzt tun? Ohne Imogen. Ohne Leo. Ohne Nana. Ohne Mom und Daddy. Wir haben niemanden, Anya. Wir sind jetzt wirklich Waisen.«

Ich wollte sagen, dass wir uns gegenseitig hatten, doch das kam mir zu kitschig vor. Deshalb zog ich sie nur an mich und ließ sie weinen.

Simon Green klopfte an die Tür. »Anya, ich muss Natty jetzt zu Mr. Kipling zurückbringen. Er möchte meine Wohnung als sicheren Ort für dich nicht aufs Spiel setzen.«

Ich nahm Nattys Gesicht in die Hände und küsste sie auf die Stirn, dann war sie fort.

Anschließend setzte ich mich auf Simon Greens Bett, und die Katze sprang mir auf den Schoß. Ich betrachtete das Tier, und es schaute mit grauen Augen zurück, die mich an meine Mutter erinnerten. Die Katze wollte am Rücken gekratzt werden, ich tat ihr den Gefallen. Es gab so viele Dinge, die ich nicht ändern konnte, doch gegen das Jucken der Katze konnte ich etwas tun.

Ich versuchte mir vorzustellen, welchen Rat Daddy mir für die Lage gegeben hätte, in der ich mich befand.

Was würde Daddy sagen?

Daddy, was würdest du tun, wenn dein Bruder aufgrund deiner Entscheidung tot wäre?

Mir wollte nichts einfallen. Auch Daddy wusste nicht immer einen Rat.

Es wurde immer dunkler im Zimmer, doch ich machte mir nicht die Mühe, das Licht anzuschalten.

 

Imogens Beerdigung würde zwei Samstage später stattfinden, und ich wollte mit Natty hingehen, um Imogen die letzte Ehre zu erweisen. Das Problem war, dass ich immer noch als flüchtig galt, deshalb beschloss ich, die Zeit sei gekommen, um diese Situation zu klären. Ich konnte kaum den Rest meines Lebens in Simon Greens Dachkammer verbringen. Die sechs Tage, die ich dort schon wohnte, waren lang genug.

Der einzige Mensch, den ich von der Wohnung aus anrufen durfte, war Mr. Kipling.

»Drei Sachen«, sagte ich zu Mr. Kipling und Simon Green, der ebenfalls im Büro war. »Ich möchte zu Imogens Beerdigung gehen. Ich möchte mich dem Staat ausliefern. Und ich möchte organisieren, dass Natty auf ein Internat geht, vorzugsweise in einem anderen Bundesstaat oder im Ausland.«

»Gut«, sagte Mr. Kipling. »Gehen wir eins nach dem anderen durch. Das Internat ist kein Problem. Ich werde als Erstes mit dieser Lehrerin von Natty reden, die sie so gerne mag.«

»Sie meinen Miss Bellevoir.«

»Genau die«, sagte Mr. Kipling. »Und ich finde, das ist ein guter Plan, auch wenn wir wahrscheinlich erst im nächsten Schuljahr in der Lage sein werden, ihn in die Tat umzusetzen. Weiter. Ich befürchte, wenn du den Gottesdienst für Imogen Goodfellow besuchst, wirst du verhaftet, was bedeutet, dass wir die Bedingungen deiner Auslieferung vorher absprechen müssten.«

»Ich hatte schon vor den Ereignissen vom letzten Freitag begonnen, Kontakt zur neuen Staatsanwaltschaft aufzunehmen«, ließ sich Simon Green vernehmen.

»Du hast aber nicht vergessen, dass es die Wahlkämpfer von Bertha Sinclair waren, die diese Spende an Trinity geleistet haben, oder?«, fragte ich.

»Das war reine Politik«, sagte Mr. Kipling. »Es hatte nichts mit dir zu tun, und es ist sogar von Vorteil für uns, dass Charles Delacroix verloren hat, da die Verwaltung unter Sinclair sich nun im Grunde genommen von allen Maßnahmen des Vorgängers distanzieren kann. Sinclairs Leute wirkten durchaus kooperationsbereit, mit dir eine Vereinbarung zu treffen. Ein kurzer Aufenthalt in Liberty, dann vielleicht Entlassung auf Bewährung. Die Leute haben mehr Verständnis für dich, als du dir vorstellen kannst.« Mr. Kipling berichtete, er plane, sich am Mittwoch mit Bertha Sinclair zu treffen, würde aber versuchen, den Termin vorzuverlegen.

Ich fragte, ob sie irgendwelche Anhaltspunkte hätten, wer die Attentate koordiniert haben könne.

»Wir haben darüber gesprochen. Die Sache ist unglaublich komplex«, begann Simon Green. »Drei Städte. Drei Auftragskiller. Es kann nur jemand gewesen sein, der die Möglichkeit hat, eine mehrgliedrige Operation durchzuführen.«

»Dennoch ging der Auftrag zu sechsundsechzig Prozent daneben«, bemerkte Mr. Kipling.

»Und wenn das beabsichtigt war?«, überlegte Simon Green. »Du sagt, du glaubst nicht, dass es Yuji Ono war; doch wenn ich die anderen auf der Hand liegenden Optionen durchgehe, habe ich den Eindruck, dass es auch niemand anders gewesen sein kann. Jacks ist im Knast. Mickey hat nicht die Fähigkeiten. Wenn es nicht Yuji Ono ist, fällt mir niemand anders mehr ein als Fats. Er kommt von der anderen Seite der Familie, aber manche haben das Gefühl, er würde sich darauf vorbereiten, Mickey zu stürzen. Es wäre zu seinem Vorteil, wenn alle direkten Nachkommen von Leonyd Balanchine aus dem Weg geräumt wären.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Fats mich umbringen wollte. »Aber was ist, wenn es doch Mickey war? Er wusste, wo ich mich aufhielt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch Leos Aufenthaltsort kannte. Was ist, wenn Mickey die Schüsse auf seinen Vater rächen wollte, nachdem ich bei Yuji Ono in Ungnade gefallen war? Yuri Balanchine ist schon sehr lange krank, und es ist kein schönes Sterben.«

»Du bist bei Yuji Ono in Ungnade gefallen?«, fragte Mr. Kipling.

»Weil er ihr einen Heiratsantrag gemacht hat und Anya ablehnte«, erklärte Simon Green.

»Heiratsantrag?«, wiederholte Mr. Kipling. »Was soll das? Anya ist zu jung, um zu heiraten.«

»Ich habe dir das doch gar nicht erzählt«, sagte ich zu Simon.

Er dachte kurz nach. »Als ich Yuji Ono die Briefe gab, informierte er mich von seinen Plänen. Ich wusste natürlich nicht genau, ob du ablehnen würdest. Ich habe es einfach angenommen.«

»Simon«, sagte Mr. Kipling mit strenger Stimme. »Wenn du wusstest, dass er ihr einen Antrag machen wollte, hättest du mir Bescheid sagen müssen. Vielleicht hätten wir dafür sorgen können, dass Leo Kyoto verlässt!«

»Ich entschuldige mich, falls ich einen Fehler gemacht habe.«

»Mr. Green, das war deutlich mehr als ein Fehler.«

Mr. Kipling hatte natürlich recht, dennoch verteidigte ich Simon Green. Seit meiner Rückkehr war er so nett zu mir gewesen, und ich wusste, dass ich nicht der pflegeleichteste Gast war. (Auch wenn ich nicht vorhabe, meinen Zustand hier ermüdend auszuführen, war ich doch niedergeschlagen gewesen und hatte seit meiner Rückkehr nicht mehr geschlafen.) »Mr. Kipling, seit dem 26. Dezember wusste auch ich von diesem Antrag. Ich hätte Sie anrufen können, aber ich kam nicht auf die Idee, dass es nötig sein könnte, Leo zu verlegen. Ich dachte ganz ehrlich nicht, dass die Sache mit Yuji Ono ernst genug dafür wäre. Es ist viel eher mein Fehler als der von Mr. Green.«

»Ich weiß zu schätzen, dass du das sagst«, erwiderte Mr. Kipling. »Aber Mr. Green und ich haben die Aufgabe, dich zu beraten. Es ist unsere Aufgabe, die schlimmstmögliche Reaktion vorherzusehen. Wir haben diese unsere Pflicht wieder einmal verletzt. Simon und ich werden später noch darüber reden.« Abschließend versprach Mr. Kipling, mich anzurufen, sobald sie mit dem Büro von Bertha Sinclair gesprochen hätten.

Ich legte auf und sah auf die Uhr. Es war neun Uhr morgens. Ein langer Tag lag vor mir, furchtbar und endlos. Es fehlte mir, mich um die Kakaoplantagen kümmern zu können, zur Schule oder zu Freunden gehen zu können. Ich war Simon Greens Apartment leid, in dem es allmählich immer stärker nach Katzenstreu roch. Ich war es leid, nicht zu einem Spaziergang nach draußen zu dürfen.

Ich schaute aus dem Fenster. Unten war ein Park, aber niemand hielt sich dort auf. Ich wusste nicht einmal, wo genau ich mich überhaupt befand. (Brooklyn, klar, aber Brooklyn ist groß.) Wo wohnte Simon Green überhaupt? Seit fast einer Woche hielt ich mich nun in dieser Dachwohnung auf, aber war noch nicht auf die Idee gekommen zu fragen.

Ich musste nach draußen. Ich lieh mir einen Steppmantel aus dem Kleiderschrank meines Gastgebers und achtete darauf, die Kapuze überzuziehen. Da ich keinen Schlüssel hatte, konnte ich die Tür nicht versperren, aber was änderte das schon? Niemand würde die Wohnung von Simon Green im fünften Stock ausrauben. Selbst wenn, war da nichts von Wert zu holen. Auffällig an Simon Greens Apartment war, wenn überhaupt, nur das eigentümliche Fehlen von persönlichen Gegenständen.

Ich ging die Treppen hinunter.

Draußen war es noch kälter als bei meiner Ankunft. Der Himmel war grau, es sah aus, als würde es bald regnen.

Ich lief ungefähr eine halbe Meile, einen Hügel hinauf und vorbei an Schänken, Schulkindern, Secondhand-Läden und Kirchen. Niemand beachtete mich. Schließlich gelangte ich vor die Tore eines Friedhofs. Man muss nur lange genug in eine Richtung gehen, dann trifft man immer auf einen Friedhof.

Auf dem Tor stand »Green Wood Cemetery«, und obwohl ich seit der Beerdigung meines Vaters nicht mehr hier gewesen war, wusste ich genau, dass sich hier die Grabstätte unserer Familie befand. Auch meine Mutter war hier begraben sowie Nana, deren Grab ich noch nicht besucht hatte. (Damit war auch das Geheimnis gelöst, in welchem Teil von Brooklyn Simon Green lebte – er lebte in Sunset Park, wo viele Balanchines gewohnt hatten, bevor sie auf die Upper East Side zogen.)

Ich wanderte über den Friedhof. Ich meinte, mich grob an die Richtung erinnern zu können, wo das Familiengrab war, dennoch verlief ich mich mehrmals. Schließlich wurde mir klar, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, und ich ging zum Informationsbüro. Ich tippte BALANCHINE in den uralten Computer, und auf der Karte wurde ein bestimmter Ort angezeigt. Erneut machte ich mich auf den Weg. Es wurde minütlich kälter und grauer, ich hatte keine Handschuhe dabei und fragte mich, wieso ich überhaupt hergekommen war.

Das Familiengrab befand sich am Rande des Friedhofs: fünf Grabsteine und noch Platz für einige mehr. Bald würde auch mein Bruder hier liegen.  

Nanas Grab war das neueste. Der Stein war klein und schlicht, die Inschrift besagte: GELIEBTE MUTTER, EHEFRAU UND GROSSMUTTER. Ich fragte mich, wer das entworfen hatte. Dann kniete ich mich hin, bekreuzigte mich und küsste den Stein. Auch wenn der Brauch außer Mode gekommen war, Blumen an Gräbern zu hinterlassen, hatte ich es auf Fotos gesehen und bedauerte, keine mitgebracht zu haben. Nicht einmal ein paar der von Nana so verhassten Nelken. Wie sonst sollte man sagen: Ich war hier? Wie sollte man sonst sagen: Ich denke immer noch an dich?

Das Grab meiner Mutter befand sich neben dem von Nana. Ihr Grabstein war herzförmig und trug die Inschrift: DER GELIEBTE IST MEIN, UND ICH BIN SEIN. Keine Erwähnung der Kinder, die sie zurückgelassen hatte. Wie wenig ich sie gekannt hatte, wie wenig sie mich gekannt hatte. Ein wenig Unkraut um den Rand ihres Grabes. Ich holte meine Machete aus der Scheide und schnitt es ab.

Daddy lag hinter meiner Mutter: SCHAU IMMER ZUR SONNENSEITE. Seinen Grabstein zierten drei Zweiglein grüner Kräuter. Sie wurden von einem Steinchen festgehalten und waren noch frisch, offenbar erst vor kurzem dort abgelegt. Ich beugte mich vor, um an ihnen zu schnuppern. Es war Minze. Ich fragte mich, was Minze für eine Bedeutung besaß und wer das getan hatte. Wahrscheinlich einer der Männer, die für meinen Vater gearbeitet hatten.

Auch wenn ich herzlos erscheine, aber ich spürte nicht viel beim Anblick dieser Gräber. Es flossen keine Tränen. Leos Tod, Imogens Tod, der Schuss auf Theo – ich war ausgetrocknet. Die Toten waren tot, man konnte so viel weinen, wie man wollte, sie kamen nicht wieder zurück. Ich schloss die Augen und murmelte das halbherzige Gebet einer jungen Zynikerin.

Als ich wieder bei Simon Green eintraf, wartete er bereits auf mich. »Ich dachte, du wärst ermordet worden«, sagte er.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich musste mal raus.«

»Hast du dich mit Win getroffen?«

»Natürlich nicht. Ich bin spazieren gegangen.«

»Egal, wir müssen jetzt los«, sagte er. »Wir haben ein Gespräch mit Bertha Sinclair und müssen in zwanzig Minuten im Zentrum sein. Sie war einverstanden, sich noch vor dem Wochenende mit uns zu treffen.«

Ich trug Simon Greens Mantel, dazu eine Hose und ein Hemd von ihm, aber es blieb keine Zeit mehr zum Umziehen.

Wir rasten die Treppen hinunter, dann saßen wir im Wagen. Simon Green hatte sich nach den Anschlägen zu einem beachtlichen Preis ein Auto geliehen, damit Natty und ich nicht die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen mussten.

Er erklärte mir, dass Berta Sinclair, obwohl Mr. Kipling das Meeting mit ihr letztendlich arrangiert hatte, mich in jedem Fall persönlich sprechen wolle.

»Meinst du, da warten viele Leute?«, fragte ich.  

Er erwiderte, hoffentlich nicht, doch sei er sich nicht sicher.

»Glaubst du, ich werde direkt zurück nach Liberty geschickt?«

»Nein. Mr. Kipling hat mit den Leuten von Bertha Sinclair verabredet, dass du mindestens bis zu Imogens Beerdigung unter Hausarrest stehst.«

»Gut.« Ich lehnte mich auf dem Sitz zurück.

Simon Green klopfte mir aufs Knie. »Hab keine Angst, Anya.«

Das hatte ich nicht. Eher spürte ich eine gewisse Erleichterung, weil ich wusste, dass ich mich nun nicht mehr verstecken musste.

Die Staatsanwaltschaft war in einem Teil des Zentrums untergebracht, den ich und der Rest meiner Familie mieden – die gesamte Gegend war dem Gesetzesvollzug gewidmet. Auf der Treppe des Gebäudes standen keine Journalisten, doch auf der Straße fand gerade eine Demonstration der Legalisierungsbewegung statt. Es nahmen nur etwa ein Dutzend Personen daran teil, aber sie verursachten erheblichen Lärm.

»Davon gab es in letzter Zeit viele«, bemerkte Simon Green, als wir vor dem Hogan Place am Straßenrand hielten. »Ich lasse dich hier heraus. Mr. Kipling wartet im Foyer auf dich.«

Ich zog die Kapuze seines Mantels über den Kopf. »Warum gibt es denn so viele Pro-Kakao-Demonstrationen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Die Zeiten ändern sich. Die Menschen haben es satt, dass Schokolade so schwer zu bekommen ist. Dein Cousin Mickey kümmert sich nicht richtig um seine Aufgaben. Sein Vater ist krank, Mickey ist überfordert. Viel Glück da drin, Anya.« Simon griff über mich hinweg, um die Beifahrertür zu öffnen, und ich stieg aus.

Ich schob mich durch die Demonstranten. »Willst du eins?«, sagte ein Mädchen mit Zöpfen und reichte mir ein Flugblatt. »Wusstest du, dass Kakao gut für die Gesundheit ist? Er wurde nur verboten, weil die Produktionskosten zu hoch sind.«

Ich erwiderte, dass ich schon davon gehört hätte.

»Wenn wir nicht mehr davon abhängig wären, dass uns skrupellose Mafiosi mit Schokolade versorgen, gäbe es überhaupt keine Risiken!«

»KAKAO JETZT! KAKAO JETZT! KAKAO JETZT!«, skandierte die Gruppe und stieß die Fäuste in die Luft.

Ich, die Brut eines skrupellosen Mafioso, drängelte mich weiter durch die aufgebrachte Menge bis ins Foyer, wo tatsächlich Mr. Kipling auf mich wartete.

»Ganz schönes Schauspiel da draußen«, sagte er. Er zog meine Kapuze zurück und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Seit Liberty hatten wir uns nicht mehr gesehen. »Annie, meine Liebe, wie geht es dir?«

Ich wollte auf diese Frage nicht näher eingehen, da es zu nichts Gutem führen würde. »Ich kann es nicht erwarten, dieses Treffen hinter mich zu bringen. Ich will unbedingt weitermachen.«

»Gut«, sagte Mr. Kipling. »Gehen wir rein!«

Wir nannten unsere Namen am Empfang, dann fuhren wir mit dem Aufzug in den neunten Stock. Dort mussten wir abermals unsere Namen nennen und in einem nichtssagenden Bereich warten. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Schließlich führte uns eine Assistentin in ein Büro.

Bertha Sinclair war allein. Sie war Ende vierzig und kleiner als ich. An ihren Beinen trug sie Metallschienen, die quietschten, als sie sich durch den Raum manövrierte, um mir die Hand zu geben. »Die flüchtige Anya Balanchine – willkommen!«, begrüßte sie mich. »Und Sie müssen der beharrliche Mr. Kipling sein. Bitte, meine Freunde, nehmen Sie doch Platz!«

Sie kehrte zu ihrem Stuhl zurück. Da sie die Knie nicht richtig beugen konnte, musste sie sich rückwärts auf den Sitz fallen lassen. Ich fragte mich, was Bertha Sinclair zugestoßen sein mochte.

»So, die verlorene Tochter ist zurück! Das Kindermädchen Ihrer Schwester ist tot, Ihr Bruder ist tot, und Sie sind zurückgekehrt auf die Insel Mannahatta, um sich auszuliefern. Was soll ich bloß mit Ihnen machen? Ihr Anwalt meint, Sie sollten auf Bewährung draußen bleiben, dann wäre die Strafe abgegolten. Was halten Sie davon, Anya? Wäre das nicht ein wenig mild für ein Mädchen, das auf jemanden geschossen hat und aus dem Gefängnis ausgebrochen ist?«

»Meiner Meinung nach«, sagte Mr. Kipling, »hatte Charles Delacroix kein Recht, Anya damals wieder nach Liberty zu bringen. Er hatte nur seinen Wahlkampf im Blick, nicht das Wohl der Öffentlichkeit. Auch wenn es ein Fehler von Anya war zu fliehen, so entfloh sie doch nur einer Situation, die im Grunde genommen ungerecht war.«

Bertha Sinclair massierte ihr Knie. »Ja«, sagte sie. »Ich kann Ihnen nicht widersprechen, wenn Sie im Grunde genommen meinen, dass Charles Delacroix ein ehrgeiziges, arrogantes Schwein ist.

Eigentlich«, fuhr sie fort, »müsste ich Ihnen danken, Anya. Dieses Glück, dass Sie damals in jenem Bus saßen! Mein Wahlkampfteam und ich waren auf der Geschichte von Anya und dem Sohn des Staatsanwalts schon so lange herumgeritten, dass sie mausetot war. Die Ironie dahinter ist, dass die Öffentlichkeit sich niemals so viel um die Sache scherte, wie sich Charles Delacroix einbildete. Und meiner Meinung nach waren es nicht Sie, sondern seine Fehleinschätzung der Lage, die ihm den Sieg kostete. Oder anders ausgedrückt: die mir den Sieg brachte.« Bertha Sinclair lachte. »So, ich sehe das folgendermaßen, meine Freunde: Schokolade ist mir egal. Anya ist mir egal. Und ganz besonders egal ist mir der Sohn von Charles Delacroix.«

»Was ist Ihnen denn nicht egal?«, wollte ich wissen.

»Gute Frage. Das Kind spricht nicht viel, aber wenn, dann hat es Hand und Fuß. Nicht egal sind mir die Leute hier und was für sie richtig ist.«

Das fand ich furchtbar nichtssagend.

»Mir ist wichtig, wiedergewählt zu werden. Wiedergewählt zu werden, verbraucht viele Mittel, Mr. Kipling.«

Mein Anwalt nickte.

»Die Familie Balanchine war einst gut mit der Staatsanwaltschaft befreundet. Ich könnte mir vorstellen, dass das wieder so kommt.« Sie holte einen kleinen Notizblock aus ihrem Schreibtisch und kritzelte etwas darauf. Dann reichte sie Mr. Kipling den Zettel. Er betrachtete ihn. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass es eine Zahl mit mindestens vier Nullen war, vielleicht sogar mehr.

»Und was bekommen wir für diese Zahl?«, fragte er.

»Freundschaft, Mr. Kipling.«

»Genauer gesagt?«

»Freunde müssen sich vertrauen, oder?« Sie begann, auf das nächste Blatt zu schreiben. »Ich habe nie verstanden, warum Papier unmodern wurde. Es ist so einfach zu zerstören. Speichert man etwas digital, kann es von allen gesehen werden und besteht für alle Zeit. Zumindest hat man diese Illusion, doch tatsächlich ist es unendlich veränderbar. Als es noch Papier gab, hatten die Menschen deutlich mehr Freiheit. Aber das tut hier nichts zur Sache.« Sie legte ihren Stift auf den Schreibtisch und reichte mir den zweiten Zettel:

 

8 T. Liberty

30 T. Hausarrest

1 J. Bewährung

1 J. Abgabe Reisepass

 

Ich knickte den Zettel zusammen und nickte dann zustimmend. Selbst wenn wir dafür bezahlten, kam es mir doch mehr als vernünftig vor. Irgendwann würde ich zwar nach Japan reisen müssen, doch ich nahm an, das könnte man später noch klären.

»Wenn Sie aus Liberty entlassen werden, werde ich eine Pressekonferenz geben, auf der ich verkünde, dass ich bereit bin, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Ich werde lächerlich machen, wie Charles Delacroix mit der Situation umgegangen ist – ich verspreche Ihnen, der Teil wird mir sehr viel Spaß bereiten. Was mich betrifft, ist die Sache damit aus der Welt geschafft. Sie bekommen Ihr Leben zurück. Und wir sind alle Freunde für immer, solange Sie nichts tun, was mich verstimmt.«

Ich schaute in Bertha Sinclairs Augen. Sie waren dunkelbraun, fast schwarz. Es wäre verlockend gewesen zu sagen, ihre Augen waren so schwarz wie ihr Herz oder eine ähnliche Binsenweisheit, doch ich bin überzeugt, dass die Augenfarbe lediglich auf Vererbung beruht. Dennoch war nicht zu bestreiten, dass diese Frau korrupt war. Daddy sagte immer, dass korrupte Menschen pflegeleicht wären, da sie zuverlässig seien – man konnte sich zumindest auf ihre Korrumpierbarkeit verlassen.  

»Ich lasse einen meiner Mitarbeiter mit Mr. Kipling aushandeln, wann Sie nach Liberty zurückkehren«, sagte Bertha Sinclair, als wir uns verabschiedeten.

»Ich würde gerne sofort hingehen«, hörte ich mich sagen.

Mr. Kipling hielt inne. »Anya, bist du dir da sicher?«

»Ja, Mr. Kipling.« Ich hatte keine Angst vor der Erziehungsanstalt. Ich hatte Angst davor gehabt, dort auf unbestimmte Zeit zu sitzen. Doch je früher ich hinging, desto früher konnte ich mich darum kümmern, mein Leben in die Hand zu nehmen, und in der Hinsicht hatte ich so einiges zu tun. »Wenn ich jetzt sofort hingehe, bin ich rechtzeitig zu Imogens Beerdigung wieder draußen.«  

»Das finde ich bewundernswert«, sagte Bertha Sinclair. »Ich werde Sie persönlich begleiten, wenn Sie möchten.«

»Wenn du von Staatsanwältin Sinclair begleitet wirst, wird sich die Presse auf dich stürzen«, warnte mich mein Anwalt.

»Ja, darum geht es ja«, sagte Bertha Sinclair und verdrehte ihre rabenschwarzen Augen. »Anya Balanchine hat sich mir ausgeliefert, und eine Woche später lasse ich ihr gegenüber Gnade walten. Das ist ganz großes Drama, Mr. Kipling, und kein schlechter Geniestreich für die Staatsanwaltschaft, nicht wahr?« Sie drehte sich zu mir um. »Dann schauen wir mal.«

Mr. Kipling und ich gingen zurück zum Empfang. Als Bertha Sinclair außer Sicht war, reichte ich ihm meine Machete, die immer noch an meinem beziehungsweise Simon Greens Gürtel hing.

»Die hast du mit ins Büro der Staatsanwältin genommen?«, staunte mein Anwalt ungläubig. »Zum Glück ist diese Stadt so pleite, dass sie die alten Metalldetektoren nicht reparieren kann.«

»Ich hatte sie schlichtweg vergessen«, versicherte ich ihm. »Verwahren Sie sie gut! Das ist mein liebstes Andenken an Mexiko.«

»Darf ich dich fragen, ob du Gelegenheit hattest, diese … ist das eine Machete? Dieses Ding auch einzusetzen?« Mr. Kipling hielt sie zwischen zwei Fingern wie eine volle Windel, dann ließ er sie in seinen Aktenkoffer gleiten.

»Ja, Mr. Kipling. In Mexiko trennt man damit die Kakaofrüchte von den Bäumen.«

»Und du hast sie nur dafür gebraucht?«

»Hauptsächlich«, erwiderte ich. »Ja.«

 

»ANYA BALANCHINE! ANYA! SCHAUEN SIE MAL HER! ANYA, ANYA, WO SIND SIE GEWESEN?« Die Paparazzi warteten an der Fähre zu Liberty Island und wollten sich auf uns stürzen.

Bertha Sinclair hatte mich angewiesen, kein Wort zu sagen, doch ich konnte nicht umhin, mich nach den Reportern umzusehen. Ich war erleichtert, wieder meinen richtigen Namen zu hören. Man verfrachtete mich auf das Schiff, und Bertha Sinclair blieb stehen, um mit den Medien zu sprechen.

Obwohl sie eine Frau war, war ihre Stimme ebenso kräftig wie die von Charles Delacroix, ich konnte sie noch von Bord aus hören. »Heute Nachmittag hat Anya Balanchine sich mir ausgeliefert. Ich möchte betonen, dass Ms. Balanchines Auslieferung absolut freiwillig erfolgte. Sie wird in Liberty untergebracht, bis wir wissen, was die beste Vorgehensweise ist«, dröhnte Bertha Sinclair. »Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«

Ich war nun in weniger als anderthalb Jahren zum vierten Mal in Liberty. Mrs. Cobrawick war fort, ersetzt von einer Miss Harkness, die den ganzen Tag und offenbar bei jedem Wetter eine kurze Sporthose trug. Sie interessierte sich nicht für Prominente, also nicht für mich und meinen schlechten Ruf. Daher war sie eine Verbesserung gegenüber Mrs. Cobrawick. Auch Mouse war nicht mehr da – ich fragte mich, ob sie jemals an Simon Green herangetreten war –, so dass ich ein Etagenbett ganz für mich allein und im Speisesaal niemanden hatte, mit dem ich essen konnte. Mein Aufenthalt hier war zu kurz, um mir die Mühe zu machen, neue Freundschaften zu schließen.

Am Donnerstag vor meiner geplanten Entlassung saß ich an einem halbleeren Tisch im hinteren Teil des Speisesaals, als Rinko mir gegenüber Platz nahm. Sie war allein und wirkte ohne ihre Schergen irgendwie kleiner.

»Anya Balanchine«, begrüßte sie mich. »Darf ich mich zu dir setzen?«

Ich zuckte mit den Schultern, und sie stellte ihr Tablett ab.

»Clover und Pelham wurden entlassen, kurz bevor du kamst. Ich bin nächsten Monat raus.«

»Was hast du überhaupt verbrochen?«

Sie zuckte erneut mit den Achseln. »Nichts Schlimmeres als du. Bin an der Schule mit so einer dummen Kuh aneinandergeraten. Sie hat angefangen, aber ich hab sie geschlagen, bis sie ins Koma fiel. Also, so ähnlich. Ich hab mich verteidigt. Konnte ja nicht ahnen, dass sie ins Koma fällt.« Sie überlegte. »Weißt du, wir sind nicht sehr verschieden.« Sie warf ihr glänzend schwarzes Haar über die Schultern nach hinten.

Doch, wir waren verschieden. Ich hatte noch niemals jemanden bewusstlos geschlagen. »Wieso?« 

Sie senkte ihre Stimme. »Ich komme vom Kaffee.«

»Aha.«

»Das macht hart«, fuhr sie fort. »Wenn mir jemand dumm kommt, verteidige ich mich. Du bist genauso.«

»Das sehe ich anders.«

»Du hast auf deinen Cousin geschossen, oder?«, sagte Rinko.

»Musste ich.«

»Und ich musste das tun, was ich tun musste.« Sie beugte sich über den Tisch vor und senkte die Stimme. »Du siehst so lieb und unschuldig aus, aber ich weiß, dass das nur Fassade ist. Es wird erzählt, du hättest einem Mann mit einer Machete die Hand abgeschlagen.«

Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. Niemand in Amerika wusste, was in Mexiko passiert war. »Wer hat das erzählt?«

Rinko aß einen Löffel Kartoffelpüree. »Ich kenne Leute.«

»Was du da gehört hast … das stimmt nicht«, log ich. Ein Teil von mir wollte fragen, wen genau sie kannte, aber ich wollte mich nicht bei jemandem verraten, den ich nie besonders gemocht hatte und nicht vertrauenswürdig fand.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich werde es keinem erzählen, falls du dir deswegen Sorgen machst. Geht mich nichts an.«

»Warum hast du dich heute zu mir gesetzt?«

»Ich fand schon immer, dass wir beide Freundinnen sein sollten. Irgendwann brauchst du vielleicht mal jemanden, der sich mit Kaffee auskennt. Und irgendwann brauche ich vielleicht mal jemanden, der das eine oder andere über Schokolade weiß.« Sie machte eine ausholende Handbewegung. »Die anderen Mädchen hier … die gehen nach Hause, haben sich vielleicht auch gebessert und so ’n Scheiß. Aber du und ich, wir sitzen fest. Wir wurden da reingeboren und bleiben unser Leben lang drin.«

Eine Klingel ertönte, was bedeutete, dass wir zu unseren nachmittäglichen Übungen gehen mussten.

Ich wollte mein Tablett mitnehmen und es auf dem Förderband abstellen, doch Rinko kam mir zuvor. »Ich gehe da eh hin«, sagte sie. »Wir sehen uns, Anya.«

 

Am Samstagvormittag wurde ich entlassen. Ich hatte mich gesorgt, es könnte noch etwas dazwischenkommen und unsere Abmachung gegenstandslos machen, doch Mr. Kipling zahlte eine Spende für den Wahlkampf, und die korrupte Bertha Sinclair hielt Wort. Ich nahm die Fähre, die mich wieder zum Festland brachte, und Mr. Kipling erwartete mich am Anleger. »Nur damit du Bescheid weißt, da warten ziemlich viele Leute auf Bertha Sinclair«, teilte er mir mit.

»Muss ich auch etwas sagen?«

»Lächle einfach in den passenden Momenten.«

Ich holte tief Luft und ging auf Bertha Sinclair zu, die mir die Hand gab. »Guten Morgen, Anya.« Sie wandte sich an die vor ihr versammelte Presse. »Wie Sie wissen, hat Anya Balanchine sich mir vor einer Woche ausgeliefert. In den vergangenen sieben Tagen hatte ich Zeit, mir über die Angelegenheit Gedanken zu machen, und« – Bertha Sinclair hielt inne, so als hätte sie nicht schon die ganze Zeit gewusst, was sie tun würde. »Ich möchte nicht abfällig über meinen Amtsvorgänger sprechen, doch ich bin der Meinung, dass die Art und Weise, wie er mit der Situation von Ms. Balanchine umging, schlicht gesagt, grausam war. Ob ihre ursprüngliche Strafe angemessen war oder nicht, mein Vorgänger hatte keine Veranlassung, Anya Balanchine im letzten Herbst nach Liberty zurückzuschicken. Das war schlicht und einfach Politik, und meiner Meinung nach sollte alles, was danach geschah, vergessen werden. Anders als mein Vorgänger bin ich der Ansicht, dass es Gesetze gibt, aber es gibt auch Gerechtigkeit. Ich möchte Ihnen versichern, dass Ihre Staatsanwältin sich mehr für Gerechtigkeit interessiert. Ein neuer Amtsinhaber ist ein guter Anlass für einen Neuanfang. Deshalb habe ich beschlossen, Anya Balanchine, diese Tochter von Mannahatta, zu entlassen. Sie hat ihre Strafe abgesessen.«

Bertha Sinclair drehte sich zu mir um und umarmte mich. »Ich wünsche Ihnen viel Glück, Anya Balanchine. Viel Glück, meine Freundin.« Dann drückte sie meine Schulter mit einer Hand, die sich wie eine Klaue anfühlte.