III. Ich nehme meine Ausbildung wieder auf, meine Gebete werden erhört, und Geld regiert die Welt

Am nächsten Montag hatte Charles Delacroix bei den jüngsten Meinungsumfragen zwei Prozentpunkte verloren, so dass er nun offiziell mit Bertha Sinclair gleichauf lag, und ich war meinem Ziel, eine Schule zu finden, noch keinen Schritt näher gekommen. Mr. Kipling und ich besprachen beide Themen in unserem täglichen Telefonat. Wir fassten uns in den Gesprächen möglichst kurz, um die Kosten niedrig zu halten, aber die verschwenderische Regelmäßigkeit war ein Zeichen dafür, wie sehr sich Mr. Kipling um mich sorgte.

»Meinen Sie, es lag an der Sache mit dem Bus?«, fragte ich ihn.

»Zum einen schon, und auch wenn du das nicht gerne hörst, Anya, aber die Tatsache, dass du mit im Bus warst, hat den Leuten von Sinclair Gelegenheit gegeben, noch einmal die alte Geschichte von dir, Charles Delacroix und seinem Sohn aufzuwärmen. Es gibt Menschen, die der Ansicht sind, dass deine Strafe in Liberty nicht lang genug war, sondern dass du begünstigt wurdest, und der Wahlkampf von Sinclair schlägt genau in diese Kerbe.«

»Nicht lang genug? Diese Menschen sind wohl noch nie in Liberty gewesen«, witzelte ich.

»Schon wahr.«

»Wissen Sie, dass Simon ihn mag? Charles Delacroix, meine ich?«

Mr. Kipling lachte. »Ja, ich glaube, mein junger Kollege hat da eine kleine Schwäche. Und zwar seit er letztes Jahr im September mit dem Staatsanwalt gesprochen hat, um deine Entlassung aus Liberty vorzubereiten.

Anya, das empfindest du jetzt hoffentlich nicht als Einmischung in deine Privatangelegenheiten, aber ich möchte dir noch eine Frage stellen.« Mr. Kipling holte Luft. »Warum war Win im Krankenhaus?«

Ich erwiderte, ich wisse es nicht.

»Wenn du noch mit ihm zusammen bist, sollte ich als dein Anwalt darüber Bescheid wissen.«

»Mr. Kipling«, sagte ich, »Win hat eine neue Freundin, und ich glaube, dass er unter der tragischerweise irrigen Annahme steht, wir sollten dennoch Freunde bleiben.« Ich erzählte von Alison Wheeler, von der neu entflammten Liebe zwischen den beiden, als sie zusammen im Wahlkampfteam von Wins Vater arbeiteten.

»Es tut mir leid, Anya, aber ich möchte nicht vorgeben, etwas anderes als erleichtert zu sein.«

Ich hatte das Telefonkabel um mein Handgelenk gewickelt. Allmählich wurden meine Finger weiß, da sie nicht mehr durchblutet wurden.

»Weiter geht’s! Das Thema Schule!«, rief Mr. Kipling heiter.

»Haben Sie was gefunden?«

»Nein, aber ich habe eine Idee, die ich gern mit dir besprechen würde. Was hältst du von Privatunterricht?«

»Privatunterricht?«, wiederholte ich.

»Ja, dann würdest du dein letztes Jahr zu Hause absolvieren. Wir würden einen oder auch mehrere Privatlehrer engagieren. Du könntest trotz allem die Zulassungsprüfungen fürs College machen …« Mr. Kipling schwärmte weiter vom Privatunterricht, doch ich hörte nicht mehr zu. War das nicht etwas für unangepasste Außenseiter? Für Verhaltensgestörte? Andererseits vermutete ich, dass ich auf dem besten Weg war, beides zu werden. »Und?«, sagte Mr. Kipling.

»Fühlt sich irgendwie an, als würde ich aufgeben«, entgegnete ich nach einigem Nachdenken.

»Nicht aufgeben. Nur dich ein wenig zurückziehen, bis uns etwas Besseres einfällt.«

»Na, ein Vorteil wäre, dass ich wohl Klassenbeste werden würde.«

»Das ist die richtige Einstellung, Annie.«

Mr. Kipling und ich verabschiedeten uns, ich legte auf. Es war erst zehn Uhr morgens, und ich hatte keine Pläne für den Rest des Tages, außer darauf zu warten, dass Natty nach Hause kam. Ich musste an Leo denken und fragte mich, wie es ihm gegangen war, als die Tierklinik letztes Jahr geschlossen hatte. Hatte er sich auch so gefühlt? Vergessen, entsorgt, ausgegrenzt?

Mein Bruder fehlte mir.

Natty und ich hatten es am Sonntag nicht zur Kirche geschafft, daher beschloss ich in Ermangelung anderer Pläne, nun dorthin zu gehen.

Falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte: Die Kirche, die Natty und ich besuchten, war die St. Patrick’s Cathedral. Ich mochte das Gotteshaus, auch wenn es schon arg baufällig war. Ich hatte hundert Jahre alte Bilder von ihm gesehen, als es noch beide Türme besaß und kein Loch in der Decke hatte. Doch ich mochte das Loch irgendwie. Es gefiel mir, beim Beten den Himmel sehen zu können. Ich warf einen Dollar in den Korb, mit dem für die Renovierung gesammelt wurde, und betrat das Kirchenschiff. Die Menschen, die an einem Montagvormittag in einer verkommenen Stadt in einer Kirche sitzen, waren eine ziemlich traurige Gesellschaft: Alte, Obdachlose. Ich war die einzige Jugendliche.

Ich setzte mich in eine Bank und bekreuzigte mich.

Zuerst sprach ich die üblichen Gebete für meine Mutter und meinen Vater im Himmel. Ich bat Gott, auf Leo in Japan aufzupassen. Und ich dankte ihm, dass er uns bis jetzt alle beschützt hatte.

Dann bat ich um etwas für mich. Bitte, flüsterte ich, lass mich eine Möglichkeit finden, wie ich rechtzeitig meinen Abschluss machen kann. Ich wusste, dass es angesichts der vielschichtigeren Probleme in meinem Leben und der Welt im Allgemeinen irgendwie albern war, um so etwas zu bitten. Und ich möchte festhalten, dass ich es billig fand, ein Gebet für so ein Anliegen zu missbrauchen – der liebe Gott war nicht der Weihnachtsmann. Doch ich hatte viel geopfert, und das Herz wünscht sich halt, wonach es sich sehnt, und manchmal will es einfach nur beim Schulabschluss der Highschool mit den anderen zusammen den Gang entlangschreiten.

Als ich von der Kirche zurückkam, klingelte das Telefon.

»Hier ist Mr. Rose, Sekretariat von Holy Trinity. Ich würde gerne mit Anya Balanchine sprechen.«

»Am Apparat.«

»Die Rektorin würde gerne morgen früh um neun mit Ihnen sprechen. Haben Sie Zeit?«

»Um was geht es denn?«, fragte ich. Es konnte ja beispielsweise etwas mit meiner kleinen Schwester sein.

»Genaueres würde die Rektorin lieber mit Ihnen persönlich besprechen.«

 

Ich erzählte Natty und Scarlet nichts von meinem Termin und zog auch nicht meine alte Schuluniform an. Ich wollte nicht auf das hoffen, was ich mir so sehnlichst wünschte – dass der Verwaltungsrat von Holy Trinity irgendwie seinen Entschluss revidiert hatte, dass man Mitleid mit mir bekommen hatte und mir nun erlaubte, zurückzukehren und mein letztes Schuljahr zu absolvieren.

Mr. Kipling erbot sich, mich zu dem Termin zu begleiten, doch ich hielt es für besser, allein hinzugehen. Ich wollte die Rektorin nicht daran erinnern, dass ich eine Schülerin war, die statt eines Elternteils einen Anwalt an ihrer Seite hatte.

Seit ich im Mai zum letzten Mal in der Schule gewesen war, waren am Haupteingang Metalldetektoren installiert worden. Ich konnte nur vermuten, dass das etwas mit mir zu tun hatte. Schön, sich auf diese Weise irgendwo zu verewigen, Anya.

Ich ging direkt zum Büro der Rektorin. »Sie kommt gleich zu Ihnen«, sagte Mr. Rose. »Setzen Sie sich doch.«

Es war fast unerträglich, wie vertraut mir dieses Büro war. Hier hatte ich erfahren, dass mein Bruder auf Yuri Balanchine geschossen hatte. Hier war ich beschuldigt worden, Gable Arsley vergiftet zu haben. Hier hatte ich Win kennengelernt.

Die Rektorin steckte den Kopf aus der Tür. »Kommen Sie herein, Anya!«

Ich folgte ihr ins Zimmer, sie schloss die Tür hinter mir.

»Ich war erleichtert, als ich hörte, dass Sie bei dem Busunfall nicht verletzt wurden«, begann die Rektorin. »Und ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Sie haben das sehr gut hinbekommen mit dem kurzen Interview in den Nachrichten, das ich gesehen habe.«

»Danke«, sagte ich.

»Wir kennen uns schon sehr lange, Anya, deshalb will ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ein anonymer Spender hat Holy Trinity eine beträchtliche Summe zukommen lassen. Die einzige Bedingung ist, dass Anya Balanchine hier wieder zur Schule gehen darf.«

»Ich … Das ist mir neu.«

Die Rektorin sah mir in die Augen. »Wirklich?«

Ich wich ihrem Blick nicht aus. »Ja.«

»Der Spender, wenn ich denn glauben soll, dass es sich dabei weder um Sie noch um jemanden aus Ihrer Familie handelt, behauptet, er oder sie hätte Ihr Interview in den Nachrichten gesehen und sei beeindruckt gewesen von Ihrer – ich glaube, er benutzte das Wort ›Anmut‹. Die Spende ist so beträchtlich, dass der Aufsichtsrat und ich der Ansicht sind, sie nicht einfach zurückweisen oder ignorieren zu können, ohne zuvor mit Ihnen gesprochen zu haben. Wie Sie wissen, möchte niemand Sie mit Ihren Waffen oder Drogen hier auf dem Gelände sehen.«

Ich nickte.

»Haben Sie schon eine andere Schule gefunden?«, fragte die Rektorin argwöhnisch.

»Nein. Überall, wo ich es versucht habe, hat man die gleiche Meinung über mich wie Sie hier. Außerdem habe ich nur noch ein Jahr vor mir, von daher …«

»Ja, ich kann mir vorstellen, dass es das noch komplizierter macht. Wir nehmen auch im Abschlussjahr keine fremden Schüler mehr an.« Die Rektorin lehnte sich auf dem Stuhl zurück und seufzte. »Wenn ich Sie zurückkehren ließe, würde Ihre Freiheit enorm beschnitten werden müssen. Ich muss mich vor den Eltern verantworten, Anya. Jeden Morgen müssten Sie im Sekretariat vorbeikommen, damit Mr. Rose Ihre Schultasche durchsuchen und Sie auf Waffen abtasten kann. Außerdem dürften Sie nicht an außerschulischen Aktivitäten teilnehmen, weder an gemeinsamen Unternehmungen noch an Arbeitsgemeinschaften. Glauben Sie, dass Sie damit leben könnten?«

»Ja.« In diesem Stadium hätte ich so gut wie allem zugestimmt.

»Jeder Verstoß gegen die Regeln würde zu Ihrem sofortigen Schulausschluss führen.«

Ich sagte, das hätte ich verstanden.

Die Rektorin runzelte die Stirn. »Für unsere Außenwirkung ist das eine Katastrophe. Wenn Sie ich wären, wie würden Sie das den Eltern erklären?«

»Ich würde sagen, dass Holy Trinity in allererster Linie eine katholische Schule ist. Und dass katholische Schulen sich in Vergebung üben müssen. Dass Sie Barmherzigkeit haben walten lassen, als mich niemand anders nehmen wollte.«

Die Rektorin nickte. »Klingt vernünftig. Ist besser, wenn die Spende gar nicht erwähnt wird.«

»Genau.«

»Möchten Sie denn überhaupt zurückkommen?«, fragte sie freundlicher als bisher. »Sie hatten hier nicht gerade die glücklichsten Jahre, oder?«

Ich sagte ihr die Wahrheit. »Es tut mir leid, wenn es jemals anders rüberkam, aber ich liebe Holy Trinity. Trotz allem war die Schule das einzig Gute und Konstante in meinem Leben.«

»Dann sehen wir uns morgen, Anya«, sagte die Rektorin nach einer langen Pause. »Und sorgen Sie dafür, dass ich es nicht bereue.«

 

Als ich nach Hause kam, rief ich Mr. Kipling an, um ihn zu fragen, ob die Spende an Holy Trinity von ihm stamme.

»Davon weiß ich nichts«, sagte er. »Ich stelle dich auf Lautsprecher, damit Simon mithören kann.«

»Wie geht es dir?«, fragte ich Simon Green.

»Schon viel besser«, erwiderte er. »Hat die Rektorin gesagt, wie groß die Summe ist?«

»Sie sagte nur, sie sei beträchtlich.«

»Anya, ich wäre sehr vorsichtig bei der Entscheidung, nach Trinity zurückzukehren. Da könnte jemand Hintergedanken haben«, mahnte Mr. Kipling.

Ich fragte ihn, ob er mir raten würde, nicht wieder an meine alte Schule zu gehen.

»Die Sache ist, wir haben immer noch keine anderen praktikablen Optionen.« Mr. Kipling stieß einen tiefen Seufzer aus. »Nein, ich möchte nur, dass du die Augen offen hältst, falls dir irgendetwas sonderbar vorkommt. Irgendjemand möchte, dass du wieder in Trinity bist, und es macht mich durchaus nervös, dass wir nicht wirklich wissen, warum.«

»Ich werde auf der Hut sein«, versprach ich.

»Und es versteht sich von selbst, dass du dich von Win Delacroix fernhältst«, fügte Mr. Kipling hinzu.

Ich schwor, darauf zu achten.

»Bist du jetzt glücklich, Anya?«, fragte Simon Green. »Du kannst deinen Abschluss zusammen mit den anderen machen.«

»Ich glaube, schon«, sagte ich. Und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit erlaubte ich mir, glücklich zu sein, und wenn auch nur ein bisschen.

An jenem Abend rief ich Scarlet an, um ihr zu sagen, dass ich zurückkommen würde. Ich musste den Hörer vom Ohr weghalten. Ich schwöre, dass man Scarlet bis nach Brooklyn schreien hören konnte.

 

Und dann war ich wieder in Trinity. Abgesehen vom täglichen Filzen – Mr. Rose und ich entwickelten ein relativ intimes Verhältnis zueinander –, war es so, als sei ich nie fort gewesen.

Sicher, einiges hatte sich schon geändert, manches zum Besseren, anderes weniger. Scarlet hatte sich im Fechten deutlich verbessert, seit sie nicht mehr mit mir schummeln konnte. Natty hatte jetzt Unterricht im Gebäude der Oberstufe, so dass ich sie mehrmals am Tag zu sehen bekam. Win war in meinem Kurs Rechtsmedizin III, aber seine Partnerin dort war, wie auch überall sonst, Alison Wheeler. Er war freundlich zu mir, aber hielt Abstand. Mittags aß ich mit Scarlet und Gable und versuchte, mich nicht wie das dritte Rad am Wagen zu fühlen. Dabei gab es bestimmt Schlimmeres im Leben, als das dritte Rad am Wagen zu sein. Mr. Beery verkündete, in diesem Jahr würde Romeo und Julia aufgeführt. Als Scarlet meinte, ich solle vorsprechen, teilte ich ihr nur zu gerne mit, dass die Schule mir verboten hatte, an außerschulischen Aktivitäten teilzunehmen. Es war kein großes Opfer. Trotz meines Triumphs im Vorjahr als Oberhexe war ich keine Schauspielerin, und abgesehen davon hatte ich schon mehr als genug Dramatik für ein Leben gehabt.

Ich hielt mein Versprechen gegenüber Mr. Kipling, auf Zeichen von Verschwörungen zu achten – doch ich sah nichts. Vielleicht wollte ich nichts sehen. In der Vergangenheit hatte ich mir dieses Versäumnis schon einmal zuschulden kommen lassen. Ich hatte Warnungen von Mickey Balanchine ignoriert, die ich wohl hätte ernst nehmen sollen. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, ich hatte viel Stoff verpasst und dachte, mir bliebe noch genug Zeit, mich als Erbin meines Vaters um mein Geburtsrecht innerhalb der Familie zu kümmern.

Ich ging seit fast zwei Wochen wieder zur Schule, als Alison Wheeler mich in der Bibliothek abfing, wo ich die Mittagspause verbracht hatte, um zur Probe an einem Test teilzunehmen. Die Bibliothek war einer der wenigen Orte, wo es noch Papierbücher gab, auch wenn sie von niemandem benutzt wurden. Eigentlich standen sie nur zu dekorativen Zwecken herum.

Im Sommer hatte Alison sich ihre märchenhaften roten Haare abschneiden lassen und trug jetzt einen Pixie-Schnitt, der ihre grünen Augen unnatürlich groß erscheinen ließ. Sie setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl. In den ganzen Jahren, seit wir uns kannten, hatten wir uns meiner Erinnerung nach niemals privat unterhalten.

»Das ist falsch«, sagte sie und wies auf eine Antwort, die ich im Test eingetragen hatte. (Man erinnere sich, dass sie in meiner Klasse die Beste war.)

Instinktiv zog ich meinen Tablet näher an mich heran. Ich wollte nicht wegen Mogelns der Schule verwiesen werden.

»Du bist nur schwer allein zu erwischen«, bemerkte Alison. »Immer ist jemand bei dir – Scarlet oder Gable oder deine Schwester, oder du wirst im Sekretariat durchsucht –, machen Sie das da jeden Morgen mit dir?«

Ich antwortete nicht.

»Ich bin der Meinung«, begann sie, »dass manches manchmal deshalb keinen Sinn ergibt, weil es sinnlos ist.« Ihre grünen Augen sahen mich eindringlich an.

Ich stellte meinen Tablet aus und schob ihn in meine Tasche.

»Ich finde, Win und ich sollten mit dir und Scarlet und Gable Arsley an eurem Tisch essen. Ich finde, das sollten wir tun.«

»Warum? Damit ich den Jungen, den ich mal geliebt habe, mit seiner neuen Freundin aus nächster Nähe bewundern kann?«

Alison neigte den Kopf zur Seite und musterte mich. »Glaubst du, dass du das sehen wirst?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ja, schon.«

Sie nickte. »Klar. Ich muss ja sehr grausam sein.«

Ich schwieg.

»Vielleicht finde ich es einfach nur gut, dass Win Freunde hat. Der Wahlkampf seines Vaters ist sehr hart für ihn, Annie.«

Es wäre mir lieber, wenn sie mich nicht Annie nennen würde. Langsam entwickelte ich eine richtige Abneigung gegen Alison Wheeler.

Am nächsten Tag bekam ich ein B in meinem Test, und Win und Alison setzten sich zu uns an den Tisch.

Auch wenn ich versucht hatte, Alison Wheeler von dieser Idee abzubringen, war das Essen lebhafter als bisher mit Gable und Scarlet. Scarlet war nicht so langweilig, Gable nicht so mürrisch. Alison Wheeler war sonderbar, aber klug und hatte einen trockenen Humor. Und Win, nun ja, was ich für ihn empfand, ist ja hinlänglich bekannt – ich habe meine Gefühle erschöpfend und wahrscheinlich auch jämmerlich genau beschrieben. Es genüge die Feststellung, dass Win und ich uns seit dem Tag in der Klinik nicht mehr nahegekommen waren, und man könnte meinen, das Essen sei quälend für mich gewesen, doch so war es nicht. Win mit seiner neuen Freundin zu sehen war einfacher, als ich es mir vorgestellt hatte.

Erst am Freitag erwischte ich ihn einmal alleine. Alle anderen hatten aus diesem oder jenen Grund den Mittagstisch früher verlassen müssen, so dass er und ich allein zurückblieben, nur durch den knorrigen Holztisch und Tabletts mit zerstocherter Lasagne voneinander getrennt.

»Ich muss los«, sagte er, ohne sich zu bewegen.

»Ich auch«, erwiderte ich, machte aber auch keine Anstalten aufzustehen.

»Du musst …«, begann er.

»Wie ist …«, sagte ich gleichzeitig.

»Du zuerst«, meinte er.

»Ich wollte dich nach dem Wahlkampf deines Vaters fragen«, erklärte ich.

Win schmunzelte. »Das ist was ganz anderes, als ich sagen wollte, aber da du gefragt hast: Ich glaube, Dad wird gewinnen.« Er schaute mir in die Augen. »Du verachtest ihn bestimmt.«

Meine Gefühle für Charles Delacroix waren ungefähr so vielschichtig wie die für seinen Sohn. In gewisser Hinsicht bewunderte ich Wins Vater. Er war ein würdiger Gegner gewesen. Andererseits hasste ich ihn auch. Doch es kam mir gemein vor, seinem Sohn das zu sagen. Ich hielt lieber den Mund.

»Ich würde ihn auch gerne hassen können, aber er ist mein Vater«, sagte Win. »Und ich glaube, dass er trotz allem einen sehr guten leitenden Staatsanwalt abgeben wird. Der Wahlkampf …« Er verstummte.

»Ja?«

»Es kommt einem vor, als würde er ewig dauern, aber das stimmt nicht, Annie.« Plötzlich griff Win über den Tisch nach meiner Hand. Instinktiv entzog ich sie ihm.

»Dürfen sich Freunde nicht die Hand geben?«, fragte er.

»Ich denke, du weißt, warum ich dir nicht die Hand geben kann.«

Ich stand auf, nahm mein Tablett und knallte es auf das Förderband, das in die Küche führte. Soße spritzte mir auf den Pulli.

Es klingelte zur nächsten Stunde. Als ich den Speisesaal verlassen wollte, legte mir jemand eine Hand auf die Schulter. Ich drehte mich um. Es war Dr. Lau, meine Lehrerin in Rechtsmedizin. Sie war das einzige Mitglied des Lehrkörpers, das mich im Frühjahr verteidigt hatte, und daher nicht überraschend die Einzige, die sich freute, mich wiederzusehen. »Anya«, sagte sie, »das würde ich nicht tun.«

»Was?«, fragte ich unschuldig.

Ich begab mich zum Kurs »Geschichte des 21. Jahrhunderts«, wo wir gerade begonnen hatten, die Geschehnisse zu untersuchen, die zur zweiten Prohibition führten. Viele der fettgedruckten Namen kannte ich persönlich.