Kapitel
8
Langsam senkte sich der Sarg in das dunkle
Erdloch. Katharina hatte den kleinen Hannes auf dem Arm. Der
Zweijährige verhielt sich so ruhig, als begreife er, dass dies ein
trauriger Moment war. Stumm wischte er mit seinen kleinen dicken
Kinderfingern der Tante über das Gesicht, als Tränen über ihre
Wangen liefen.
Matthias, der erst seit wenigen Tagen drei Jahre
alt war, stand wie ein Soldat neben seinem Vater und verzog keine
Miene. Die beiden Kinder wussten nicht, wer sich in dem Sarg befand
oder was diese Kiste in der Erde zu bedeuten hatte. Katharina hatte
ihnen erzählt, dass ihre Mutter nun bei den Engeln sei und sie alle
von dort beschützen würde. Es waren die Worte, die man von jeher zu
Kindern sprach, wenn Mutter oder Vater gestorben waren.
Barbara Jacobi hatte versucht, ihre Gefühle zu
beherrschen, doch damit war es in dem Augenblick vorbei, als der
Sarg mit ihrer Tochter Silvia in das Grab hinuntergelassen wurde.
Sie klammerte sich an den Arm ihres Mannes und schluchzte laut
auf.
Ihr Mann, Albert Jacobi, tätschelte ihre Hand.
Er schien in den letzten Tagen gealtert zu sein. Seine Haltung war
gebeugt, seine Haare grau und seine Haut fahl. Lautlos bewegte er
seine Lippen im Gebet.
Die Trauergemeinde zog an der Familie vorbei, um
zu kondolieren. Ein kleiner Kreis würde sich später bei den Jacobis
einfinden, um bei Wein und kleinen Speisen die Tote zu ehren und
ihrer zu gedenken.
Katharina hatte ihren Schwager Otto keines
Blickes gewürdigt. Zwar hatte er sie seit dem Tod ihrer Schwester
in Ruhe gelassen, doch sie ahnte, dass es damit nun vorbei sein
würde. Zu ihrer eigenen großen Trauer über den Verlust der
Schwester gesellte sich die Angst vor der ihr bevorstehenden
Zwangsheirat – auch wenn sie erst in einigen Monaten stattfinden
sollte.
Seitdem Silvia ihren letzten Wunsch auf dem
Totenbett ausgesprochen hatte, hatte Katharina kaum ein Auge
zugetan. In endlosen Gebeten zur heiligen Elisabeth suchte sie
einen Ausweg aus ihrem Schicksal, aber die Heilige schien sie nicht
zu erhören. Zwar konnte Katharina verstehen, dass die Schwester
ihre Kinder nach ihrem Tod gut versorgt wissen wollte. Dass sie
sich aber von ihrem Mann dazu hatte überreden lassen, ihrer
jüngeren Schwester dieses Versprechen abzunehmen, ohne ihr eine
Wahl zu lassen, konnte sie der Toten nicht nachsehen.
Natürlich fühlte sich Katharina für ihre kleinen
Neffen verantwortlich. Aber sie liebte die Buben wie eine Tante und
nicht wie eine Mutter. Den neugeborenen Fritz, der heute bei seiner
Amme geblieben war, hatte Katharina besonders ins Herz geschlossen.
Er tat ihr leid, denn ihm war es nicht vergönnt gewesen, von seiner
Mutter geliebt und umsorgt zu werden. Zwar würden auch die beiden
älteren Jungen später kaum eine Erinnerung an ihre Mutter haben,
doch ihnen hatte Silvia wenigstens für kurze Zeit ihre Liebe
schenken dürfen.
Bei diesem Gedanken schluchzte Katharina laut
auf. Seit der Stunde, in der Silvia ihre Augen für immer
geschlossen hatte, war nicht zu leugnen, dass sie tot war, doch
erst in diesem Moment wurde Katharina bewusst, dass sie für immer
von ihnen gegangen war.
»Wir wollen das Glas auf meine verstorbene Frau
erheben«, rief Otto zu vorgerückter Stunde aus und hielt seinen
Weinkelch in die Höhe.
Der Genuss von unzähligen Gläsern Alkohol hatte
seine Augen glasig werden lassen, und seine Zunge formte nur noch
schwer die Worte.
»Ja, lasst uns auf Silvia anstoßen. Möge ihre
Seele in Frieden ruhen«, stimmte Theo Hofmeister zu, der Nachbar
der Jacobis. Seine Frau nickte mit Tränen in den Augen. Auch ihre
Wangen waren vom ungewohnten Weingenuss gerötet.
»Die armen Kinder. Nein, nein, wer wird sich nun
um die armen Kleinen kümmern? Barbara, nun ist deine
Großmutterliebe gefordert. Du wirst Silvias Stelle einnehmen müssen
…«, tat Walburga Schmitt ihre Meinung kund.
»So weit wird es nicht kommen. Es wäre das
Letzte, was ich mir wünschen würde«, lallte der Witwer.
»Aber, Otto, du kannst dich glücklich schätzen,
dass du im Hause deiner Schwiegereltern ein Heim für dich und die
Buben gefunden hast. Hier sind deine Kinder in den besten
Händen.«
»Dummes Zeug, mach du dir darüber nur keine
Gedanken, meine liebe Walburga, ich weiß, was ich zu tun
habe.«
Dabei sahen seine geröteten Augen zu Katharina,
die von Gast zu Gast ging und Pasteten reichte. Walburga Schmitt
folgte Ottos Blick. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, fing sie
den zornigen Blick von Barbara Jacobi auf, mit dem diese ihren
Schwiegersohn zu strafen schien. Es war unschwer zu erkennen, dass
Barbara versuchte, sich zusammenzunehmen. Sie hatte kaum gesprochen
und weder etwas gegessen noch etwas getrunken.
Wieder sah Walburga zu Katharina, dann zu Otto
und zu Barbara. Gab es hier etwas, das sie noch nicht wusste? Sie
war plötzlich hellwach und beobachtete aufmerksam das Geschehen um
sich herum. So viel Wein hatte sie nicht getrunken, um nicht zu
spüren, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Sollte Otto etwa …?
Aufmerksam sah sie zu Katharina und bemerkte erst jetzt, dass das
Mädchen ihrem Schwager aus dem Weg ging. Als er ihr eine Pastete
aus der Hand nahm und sich ihre Finger berührten, zuckte Katharina
zusammen, als ob sie ein heißes Stück Eisen angefasst hätte. Von
den übrigen Gästen blieb dies unbemerkt, aber Walburgas wachen
Augen war es nicht entgangen. Was konnte das bedeuten? Sie musterte
Otto. Die kleine rundliche Frau fand, dass er ein ansehnlicher Mann
war. Groß, schlank, mit hellen Haaren und Augen, die so blau wie
Eis in einem zugefrorenen Teich waren. Zuweilen konnten sie auch
genauso kalt und unpersönlich wirken. Umrahmt wurden diese
hellblauen Augen von fast weißen Wimpern und ebenso hellen
Brauen.
Otto kam aus einer angesehenen Familie. Jeder im
Ort, der eine Tochter im heiratsfähigen Alter hatte, würde sich
über solch einen ansehnlichen Schwiegersohn freuen. Hätte er ihre
Tochter ausgewählt, wäre Walburga nicht abgeneigt gewesen, wenn
Gudrun Silvias Platz eingenommen hätte.
Walburga Schmitt wusste auch, dass ihre
Nachbarin den Schwiegersohn nicht sonderlich mochte. Barbara
vermied es, über ihn zu reden. Kam das Gespräch dennoch auf Otto,
dann veränderte sich ihr Blick von einem Moment zum anderen.
Ablehnend wirkte er und manchmal sogar mit Hass erfüllt.
Als Walburga ihr Glas zum Mund führte, lachte
sie in sich hinein. Sie ahnte, was sich bei den Nachbarn
zusammenbraute. Bevor sie zum Trinken ansetzte, achtete sie
sorgfältig darauf, dass sie sich nicht am Wein verschluckte.
Bereits am Tag nach Silvias Tod war es mit
Katharinas ehemals ruhigem Leben vorbei. Ihre Mutter hatte sie mit
der Obhut der Kinder betraut, und so war sie rund um die Uhr mit
ihnen beschäftigt.
Fritzchen wurde noch gestillt und blieb die
meiste Zeit bei der Amme. Auch Hannes bereitete wenig
Schwierigkeiten. Er schien seine Mutter nicht zu vermissen und war
zufrieden, wenn man mit ihm spielte. Doch der dreijährige Mattias
schreckte des Öfteren nachts aus dem Schlaf und weinte. Da
Katharinas Zimmer am Ende des Ganges lag und sie so nachts nicht
schnell genug zu ihm gelangen konnte, schlief sie nun im
Kinderzimmer.
Zeitweise ging die Verantwortung für die Kinder
über die Kräfte der Siebzehnjährigen. Auch ihre Mutter hatte die
dunklen Schatten unter den Augen ihrer Tochter bemerkt und ihr
versprochen, sich sonntags um die drei Buben zu kümmern. Katharina
durfte länger schlafen und den Tag für ihre Zwecke nutzen. Für das
Mädchen war es selbstverständlich, dann ins Armenhaus zu gehen, wo
man sie schon vermisste.
Katharina hatte in der Küche einen Korb mit
Essen für die Armen zusammengepackt, als Otto ihr auflauerte. Grob
packte er sie am Arm.
»Wo willst du hin?«, zischte er und kam ihrem
Gesicht gefährlich nahe. Katharina wand sich in seinem Griff, doch
sie kam nicht los. Als er den Korb bemerkte, hob er mit der freien
Hand das Tuch hoch.
»Bringst den unnützen Menschen auch noch etwas
zu essen? Sie sollen gefälligst arbeiten, dann brauchen sie keine
Almosen. Essen, für das wir in der Töpferei schuften müssen«,
brauste er auf. Seine eisblauen Augen blickten das Mädchen scharf
an.
»Lass mich, Otto! Das geht dich nichts an! Das
ist allein meine Angelegenheit und hat dich nicht zu
kümmern.«
Sein Griff wurde fester, sodass das Mädchen
leise wimmerte. Ottos Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen und
versuchten, Katharina Angst einzuflößen. Plötzlich lachte er laut
auf und ließ sie los.
»Eine kleine Wildkatze bist du. Das gefällt mir,
sehr sogar. Dann wird es wenigstens nicht langweilig. Doch merke
dir, bist du erst einmal meine Frau, gehst du nicht mehr zu diesem
Gesindel, ist das klar?«
Katharina gab ihm keine Antwort, sondern ging
schnell hinaus. Sie hörte ihn noch bis zur nächsten Ecke laut
hinter ihr her lachen.
»Heilige Elisabeth, wenn du gerecht sein willst,
dann hilf mir. Es kann doch nicht in deinem Sinne sein, dass ich
die Armen nicht mehr besuchen darf«, sprach das junge Mädchen zu
sich und war nahe daran, in Tränen auszubrechen.