Die Zivilfahrzeuge rollten tatsächlich davon, vorher hörte man allerdings einen heftigen Wortwechsel. In den Fernsehnachrichten würde Halttunen heute Abend im Mittelpunkt stehen.

Vielleicht war es das, was er wollte: einmal im Scheinwerfer-licht stehen, wenigstens einen halben Tag lang. Nebenbei wurde auch Palo berühmt. Ich konnte nur hoffen, dass mein Name in den Berichten nicht genannt wurde.

Taskinen kam wieder zu uns, sein Gesicht war noch ange-spannter als vorhin.

»In der Nähe von Hämeenlinna wurde die Leiche eines Mannes gefunden, von hinten erschossen. Die blutbefleckten Banknoten, die bei dem Toten gefunden wurden, lassen vermuten, dass es sich um den zweiten Mann handelt, der an dem Banküberfall in Teisko beteiligt war. Auch die Videoaufnahmen aus der Bank sprechen dafür. Der Tote ist ein gewisser Jouni Tossavainen, der vor einem Monat aus dem Provinzialgefängnis in Helsinki entlassen wurde. Er hat übrigens im selben Trakt gesessen wie Halttunen.«

Keiner von uns sagte einen Ton, die ganze Sache wurde immer verrückter. Sekundenlang lenkte das Knattern eines von Süden her anfliegenden Hubschraubers unsere Aufmerksamkeit ab.

Bald darauf kreisten mehrere Helikopter über dem Teich.

»Jäämaa hat mit der Polizeiabteilung des Innenministeriums gesprochen. Die Leitung der Operation liegt jetzt dort. In den Hubschraubern sitzen Scharfschützen. Es heißt, man müsse Halttunen ein wenig Angst einjagen, bevor die Verhandlungen beginnen. Wir müssen aber auch darauf gefasst sein, dass er mit Palo als Schutzschild aus dem Haus kommt. Im Moment wird überprüft, ob es möglich ist, durch den Schornstein Tränengas ins Haus zu schießen.«

Eine Serie von Schüssen unterbrach ihn. Wir warfen uns instinktiv zu Boden, Pertsa fiel halb auf mich. Vom Gestank seines Rasierwassers wurde mir übel. Ich hob den Kopf und sah, dass die Schüsse aus dem Fenster an der rechten Hauswand kamen. Es hörte sich nach ungezieltem Feuer an, bereits nach zehn Sekunden herrschte wieder Stille. Hatte Halttunen nur nach draußen geschossen, oder waren die ersten Schüsse im Haus gefallen? Mit anderen Worten: Lebte Palo noch?

Nach einer Weile wagten wir es, uns hochzurappeln. Aus der Hütte drang ein flatternder Lichtschein, offenbar war eine Kerze angezündet worden. Bald würde es dunkel sein. Ich musste mal, auch das noch. Ich achtete sorgsam darauf, nicht in die Feuerlinie zu geraten, und schlug mich in die Büsche. Zum Glück hatte ich Tempotücher bei mir.

Vom Wald aus erinnerte das von den Scheinwerfern abge-grenzte Gelände an ein Militärlager. Hier und da leuchtete eine Taschenlampe oder eine Zigarette auf, bewaffnete Männer liefen auf und ab und sprachen in ihre Handys. Die Hubschrauber hatten abgedreht, als die Schüsse fielen, doch aus der Entfernung war ihr nervenaufreibendes Geknatter immer noch zu hören. Ich überlegte, ob ich die einzige Frau an diesem Ort war.

Vielleicht war bei der Verkehrskontrolle noch eine eingesetzt, aber im Wesentlichen waren es ein von Männern besetzter Kommandostab und Männer mit Spezialtraining, die hier Räuber und Gendarm spielten, mit mindestens einem Menschen-leben als Einsatz.

Alle wurden jetzt auf ihre Posten beordert, denn die Ankunft der Hubschrauber hatte Halttunen in Wut gebracht, und er hatte gedroht, weiterzuschießen, wenn sie nicht abgezogen wurden.

Offenbar sprach Halttunen noch mit Jäämaa, jedenfalls liefen in der Kommandozentrale die Tonbänder. In dem Moment sah ich zwei geschmeidige schwarz gekleidete Gestalten, die sich aus dem Schatten lösten und wagemutig hinter die Hütte schlichen.

Sicher versuchten sie, ein Mikrophon an der Hauswand anzubringen, damit man die Bewegungen von Halttunen und Palo, möglicherweise auch ihre Gespräche, ständig verfolgen konnte.

Offensichtlich hatten die beiden Männer es geschafft, denn nach wenigen Minuten schlichen sie sich unbehelligt hinter die Schutzlinie zurück. Die Gruppen wurden genauer eingeteilt. An sich hätten Pihko, Ström und ich gar nicht anwesend sein dürfen, aber niemand brachte es übers Herz, uns wegzuschicken.

Palo war unser Partner, außerdem konnte ich mich auf Jäämaas Vermutung berufen, man würde mich vielleicht noch brauchen.

Pihko und ich hielten uns abseits, aber Pertsa, der behauptete, unbewaffnet zu sein, marschierte zum Versorgungsfahrzeug und holte sich ein Gewehr. Er kam kurz vorbei, um uns zu berichten, dass Jäämaa mit Palo gesprochen hatte. Er war körperlich unversehrt, aber psychisch fast am Ende. Dann schlich sich Pertsa weiter vor, als wollte er dafür sorgen, dass er als Erster losballern konnte, falls man Halttunen in die Feuerlinie bekam.

»Was haben die vor?«, überlegte Pihko, der von einem Bein auf das andere hüpfte. Atemdampf umhüllte ihn wie eine Wolke und verbarg sekundenlang sein Gesicht.

»Sieht aus wie eine Doppeltaktik. Einerseits schinden sie Zeit, andererseits zeigen sie Halttunen, wie stark wir sind. Wenn die Mikrophone so gut sind, wie ich vermute, kann man es hören, wenn Halttunen einschläft. Und dann wird zugeschlagen. Das kann allerdings lange dauern, unter Umständen zwei Tage.«

»Willst du die ganze Zeit hier bleiben?«

»Ich bin jetzt schon der reinste Eiszapfen, wahrscheinlich ist es besser, nach Hause zu fahren und zu schlafen, falls Jäämaa mich gehen lässt. Ist von dem Brot noch was übrig? Ich hab schon wieder Hunger.«

Ich mampfte Roggenbrot mit Schmelzkäse, trank Orangensaft dazu und hörte mir Pihkos Vermutungen über den weiteren Verlauf an. Seine Pläne waren weniger blutrünstig als Pertsas, aber auf Rache war auch er aus. Als ich fertig gespachtelt hatte, sah er mich aus den Augenwinkeln an und fragte:

»Bist du froh, dass Palo da drin sitzt und nicht du?«

Die Frage war so idiotisch, dass ich lächeln musste.

»Natürlich! Genauso wie Palo froh wäre, wenn ich an seiner Stelle da unten hocken würde. Hey, was tut sich denn jetzt?«

Ein auffälliger roter Chevrolet, Baujahr zirka neunzehnhun-dertsechzig, kurvte auf das hell erleuchtete Gelände. Ihm entstieg ein Mann, dessen Gesichtszüge ich nicht erkennen konnte, der aber mit seinem flatternden Mantel und der schulterlangen, dicken blonden Mähne an einen Löwen erinnerte.

Irgendwo hatte ich ihn schon einmal gesehen. »Wer ist das?«, fragte Pihko.

»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es ist Kari Hanninen. Ein Astrologe und Therapeut, der auch Halttunen behandelt hat.«

Irgendwann im Frühjahr hatte ich mit halbem Auge eine Fernsehdebatte verfolgt, in der Vertreter der Grenzwissenschaften mit Skeptikern stritten. Die Diskussion hatte sich hoffnungslos festgefahren, und außerdem hatte Antti seine Verführungskünste spielen lassen, sodass wir bald abschalteten, um uns ungestört lieben zu können. Ich erinnerte mich jedoch noch an Hanninens selbstsichere Behauptung, es sei ihm gelungen, Grenzwissenschaft und Seelenwissenschaft, Astrologie und Psychologie, miteinander zu verbinden.

Hanninen verschwand in der Kommandozentrale, und wir standen weiter untätig und frierend herum. Mir war klar, dass ich bald gehen musste. Ich konnte hier ohnehin nichts ausrichten, so gern ich geholfen hätte. Außerdem musste ich schon wieder.

Ich machte gerade Anstalten, im Wald zu verschwinden, als Taskinen kam und mich in die Kommandozentrale holte. Ich sollte bei der Erstellung einer Charakteranalyse helfen.

Einige hundert Meter von der Hütte war tatsächlich ein Zelt aufgeschlagen worden. Drinnen bullerte ein herrlich warmes Öfchen, ich drängte mich möglichst nahe heran, um ein wenig aufzutauen, bevor ich an den Tisch trat, an dem neben Taskinen und Jäämaa der Mann aus dem Chevrolet sowie zwei weitere, der Kleidung und dem Auftreten nach wichtige Herren saßen.

An der hinteren Zeltwand drehten sich die Tonbänder, davor saßen zwei Männer mit Kopfhörern. Offenbar konnte man die Hütte also tatsächlich abhören.

»Hier haben wir jetzt Kriminalhauptmeister Kallio, die andere Beamtin, die an Halttunens Vernehmung in Espoo beteiligt war.

Leitender Referent Koskivuori vom Innenministerium, Vizedi-rektor Matala vom Zentralgefängnis in Helsinki, Halttunens Therapeut Kari Hanninen. Bitte nehmen Sie Platz, Hauptmeister Kallio«, sagte Jäämaa höflich. Hanninen rückte mir den Stuhl an seiner Seite zurecht und strich mir dabei mit der Hand über den Rücken, offenbar in voller Absicht. Von nahem sah er aus wie ein gealterter Rockstar. Er begann sofort, sein Charisma strahlen zu lassen, offenbar eine völlig automatische Geste, die jede Frau bei ihm auslöste, denn mit meinen vom Schutzhelm platt gedrückten Haaren und meiner roten Triefnase war ich bestimmt kein verlockendes Objekt für einen Flirt.

»Wir wollen gemeinsam überlegen, worauf Halttunen hinaus-will und wie er sich voraussichtlich verhalten wird. Vielleicht können wir auch besprechen, mit welcher Taktik wir ihn möglicherweise dazu bringen, sich zu ergeben oder wenigstens seine Geisel freizulassen.«

Man brachte mir Kaffee und ein Schinkenbrot. Wir hatten gerade Halttunens Verbrecherlaufbahn rekapituliert, als erneut Schüsse zu hören waren.

»Halttunen schießt aus dem Haus!«, meldete jemand.

»Wir haben seinen Kopf im Fadenkreuz, versuchen wir’s?«

»Keinen Kopfschuss, Schutz suchen.« Koskivuoris Antwort kam ohne Zögern. Bald darauf hörte die Schießerei auf. Bevor wir unser Gespräch wieder aufnehmen konnten, rief Halttunen an.

»Ihr habt noch eine Stunde, um mir das Auto zu besorgen.

Sonst fliegt die Hütte in die Luft. Euer Palo legt keinen Wert darauf zu sterben. Hat sich sogar in die Hose geschissen. Die Knallfrösche, die ich hier hab, sind ganz schön kräftig, die werden euch da draußen auch einheizen.«

Es war schrecklich, Halttunens ausdruckslose, leicht heisere Stimme aus den Lautsprechern zu hören. Er warf uns eine ganze Weile seine Bedingungen und Drohungen an den Kopf, und in seiner Stimme schwang eine Verzweiflung mit, die mich vermuten ließ, dass in einer Stunde tatsächlich etwas Entsetzliches passieren würde. Zum Schluss ließ er den hilflos stam-melnden Palo an den Apparat.

»Ich flehe euch an, gebt ihm das Fluchtauto. Lasst ihn laufen, wenn ihr nicht wollt, dass Menschen sterben. Jyrki, wenn du noch da bist, sag ihnen, dass ich eine Frau hab und sechs Kinder

…«

Taskinens Blick kreuzte meinen, heftete sich dann auf diejeni-gen, die die Entscheidungsgewalt hatten. Neben mir fuchtelte Hanninen aufgeregt mit den Armen, er wollte mit Halttunen sprechen. Ein Auto zu verlangen war an sich absurd. Halttunen musste wissen, dass ein Ortungssystem eingebaut sein würde, er konnte nicht entkommen. Natürlich würde er Palo mitnehmen.

Aber schon der Weg vom Haus zum Wagen wäre riskant für Halttunen, auch wenn er Palo als Schutzschild hatte.

Jetzt war Halttunen wieder am Apparat, und auf unserer Seite hatte Hanninen übernommen.

»Hallo, Markku, hier ist Kari Hanninen.« Hanninens Stimme war tief und hypnotisierend, er schnurrte geradezu, es war merkwürdig, ihn in diesem Ton mit einem Mann sprechen zu hören. »Da hast du dich ja ganz schön in die Scheiße geritten.

Du willst doch nicht dein Leben verlieren? Die Sterne sagen, dass deine Zeit noch nicht gekommen ist.«

Fasziniert hörte ich zu, wie Hanninen mit beschwörender Stimme auf Halttunen einsprach. Ganz offensichtlich wusste er, was er tat. Halttunen beruhigte sich und war schließlich sogar bereit, mit Koskivuori zu verhandeln, lehnte es jedoch rundweg ab, über Palos Freilassung auch nur zu sprechen. Palo sollte mit ihm in den Fluchtwagen steigen.

»Wie wäre es mit einem Austausch? Ich könnte ja mit dir fahren«, schlug Hanninen, der auf Halttunens Wunsch den Hörer wieder übernommen hatte, mutig vor.

Die anderen, die um den Tisch saßen, runzelten besorgt die Stirn: Von Tauschgeschäften war bisher keine Rede gewesen.

»Der Bulle ist mir nützlicher als du. Die Einzige, gegen die ich Palo austauschen würde, ist diese Polizistentussi, Kallio oder wie sie heißt.«

Die Kältestarre, die ich schon überwunden glaubte, packte mich wieder. Ich erstarrte fast zu Eis, als Hanninen, der Idiot, antwortete:

»Sie ist hier, möchtest du mit ihr sprechen?«

Die anderen fuchtelten mit den Armen und schüttelten heftig den Kopf, und Jäämaa riss das Gespräch an sich:

»Herr Hanninen hat keine Befugnis, irgendwelche Tauschgeschäfte zu vereinbaren. Lassen Sie uns noch einmal über das Auto reden …«

»Ich will mit dieser Kallio sprechen.«

»Sie kann jetzt nicht …«

»Ich will die Kallio sprechen, und zwar sofort. Oder muss ich Palo die Zehen abschießen? Ich hab sie grad im Visier …«

Ich hatte das Gefühl, alle starrten mich an. Ich nahm einen der Hörer, obwohl ich sicher war, dass ich kein Wort herausbringen würde.

»Hauptmeister Maria Kallio hier. Und hallo, Palo! Bald sehen wir uns wieder.«

»Wie schade, Maria, dass dein Wagen heute so ungünstig geparkt war. Es war mir zu riskant, ihn zu knacken. Ich war heute früh beim Kulturzentrum, da hab ich dich gesehen. Dich hätt ich viel lieber mitgenommen. Du kannst bestimmt besser kochen als Palo.«

»Schon möglich.« Die Stimme wollte mir nicht mehr gehorchen, ich hätte auch gar nicht gewusst, was ich Halttunen sagen sollte. Das ganze Gespräch war ein Vabanquespiel, ich war irrsinnig wütend auf Hanninen. Dass Halttunen von meiner Anwesenheit wusste, machte die Dinge nur noch komplizierter.

»Was würdest du sagen, wenn ich Palo freilasse, unter der Bedingung, dass du seinen Platz einnimmst? Ich hab nun mal für Frauen mehr übrig als für Männer. Wir zwei beiden könnten es uns doch richtig schön gemütlich machen. Was meinst du, Maria? Machen wir eine kleine Spritztour?«

Zehn

Koskivuori ließ mich nicht antworten. Er übernahm das Gespräch, während Hanninen von Jäämaa in eine Ecke gezogen und darüber aufgeklärt wurde, was man in einer Verhandlungs-situation sagen durfte und was man besser verschwieg.

Halttunen weigerte sich, mit Koskivuori zu sprechen, und legte auf, nachdem er noch einmal erklärt hatte, es bliebe uns genau eine Stunde, das Auto zu beschaffen. Taskinen suchte meinen Blick, ich zwang mich, zu lächeln und mit den Achseln zu zucken.

»Wir würden dich nicht zu ihm lassen, selbst wenn du es wolltest«, sagte er.

»Ich will gar nicht«, antwortete ich und dachte an das Kind, das in mir wohnte und schon wieder etwas zu essen verlangte.

»Mich würde er noch eher umbringen als Palo.«

»Du solltest nach Hause fahren.«

»Denk ich auch. Hoffentlich springt mein Fiat bei der Kälte an. Aber vorher möchte ich noch kurz mit Hanninen sprechen.

Wegen des Falls Rosberg.« Jäämaa und Hanninen schienen sich zu streiten, ich schnappte jedoch nur einzelne Worte auf.

Koskivuori beriet sich wieder mit dem Gasexperten. An sich war es keine große Sache, eine Ladung Tränengas durch den Schornstein zu jagen, die Sache mit den Mikrophonen hatte ja auch geklappt. Es bestand jedoch die Gefahr, dass Halttunen Palo sofort erschießen würde.

Ich trat aus dem Zelt. Irgendetwas war jedenfalls im Gange.

Das Rattern der Hubschrauber wurde lauter, einer versuchte von hinten an das Haus heranzufliegen, musste aber abdrehen, da aus dem Fenster plötzlich eine Garbe abgefeuert wurde und Schrot-kugeln gegen seine Flanke prasselten.

»Jetzt hat er eine abgesägte Schrotflinte!«, ächzte jemand.

Die Zeltöffnung flog auf und Kari Hanninen stand neben mir, bot mir eine Zigarette an, die ich ablehnte, und steckte sich dann selbst eine an.

»Es tut mir Leid wegen eben. Ich weiß, dass weibliche Polizeikräfte bei Markku heftige Gefühlsregungen auslösen, und genau das wollte ich erreichen. Ich bin sicher, es wäre mir gelungen, wenn Ihr Kollege sich nicht eingemischt hätte.«

»Würden Sie es für klug halten, mich gegen Palo auszutau-schen?«

»Natürlich nicht! Wie gut kennen Sie Markku Halttunen eigentlich? Er kommt mit Frauen nicht zurecht.« Als ich nickte und sagte, das hätte ich gemerkt, fuhr er fort:

»Wissen Sie, worauf das zurückgeht? Auf seine Mutter. Sie hat jahrelang zugeschaut, wie sein Vater ihn sexuell missbraucht hat, und sogar mitgemacht. Ein regelrechtes Monster war diese Frau. Markku hat nie normale sexuelle Beziehungen zu Frauen gehabt, er ist dazu nicht fähig.«

»Die böse Mutter hat ihn also zum Räuber und Mörder gemacht?« Ich konnte mir die ironische Frage nicht verkneifen, obwohl ich nun besser verstand, weshalb Halttunen seinem Vater auch den Penis abgesägt hatte.

»Es geht hier um komplizierte Prozesse. Markku gehört zu den Menschen, in deren Leben alles systematisch schief läuft.

Trotzdem kann man ihn nicht einfach aufgeben. Er hat das Recht, am Leben zu bleiben, wie seine Geisel natürlich auch.«

»Da stimme ich Ihnen zu, nur würde ich zuerst an die Geisel denken. Wenn das hier glücklich überstanden ist, möchte ich gern mit Ihnen über einen anderen Fall sprechen. Oder vielmehr über eine Ihrer Patientinnen, die in diesen Fall verwickelt ist.«

»Patientendaten sind vertraulich.«

»Das weiß ich. Aber es geht um einen Mord. Und meines Wissens haben Sie auch das Opfer gekannt, Ihre Kollegin Elina Rosberg.«

»Dann wollen Sie mit mir also über Niina sprechen. Hat sie sich etwas zuschulden kommen lassen?« Hanninens Stimme wurde um einige Grade wärmer, seine dunkelbraunen Augen blickten besorgt. Es fiel nicht schwer zu glauben, dass er an seinen Patienten Anteil nahm, dass er sie mit seinen manipulati-ven Mantras wirklich glücklich machen wollte. Und dennoch …

»Sie ist eine der Verdächtigen, das ist vorläufig alles. Finde ich Sie im Telefonbuch?«

»Moment, ich gebe Ihnen meine Karte.« Er kramte in der Tasche seines langen Mantels aus Antikleder. Der Mann hatte Stil, das ließ sich nicht leugnen. Zumindest auf weibliche Patientinnen machte seine lockere männliche Selbstsicherheit, gepaart mit Empathie, garantiert Eindruck.

»Das ist nun wirklich unvernünftig«, schimpfte Hanninen, als die Hubschrauber erneut auf die Hütte zuflogen. »Markku braucht das Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben. Mit den Helikoptern erreicht man nur, dass er die Beherrschung verliert.«

»Was sollte man denn Ihrer Meinung nach tun?«

»Möglichst viel mit ihm reden und warten, bis er von selbst einsieht, dass er nicht entkommen kann. Man muss ihn überreden, sich zu ergeben oder wenigstens die Geisel freizulassen. Ich bin nach wie vor bereit zu einem Austausch. Ich weiß, dass er mir nichts tut.«

Wieder prasselte Schrot gegen die Rotoren. Einer der Funker, die die Hütte abhörten, rief Koskinen etwas zu, und ich stürzte ins Zelt. Ich war sicher, Halttunen hatte Palo erschossen.

Doch so war es nicht. Der Funker meldete nur, Halttunen und Palo hätten offenbar beide völlig die Nerven verloren. Halttunen ballerte auf die abdrehenden Hubschrauber, dann wieder feuerte er blindlings hinter die Hütte, sodass die Männer auf dieser Seite in Deckung gehen mussten. Der Lärm war ohrenbetäubend.

Offenbar hatten die Hubschrauberpiloten den Befehl, über dem Gebäude zu kreisen und Halttunen zu provozieren, damit er am nördlichen Fenster blieb und schoss. Gleichzeitig kletterte nämlich eine Gruppe Antiterrorkämpfer über die südliche Wand auf das Dach. Das Knattern der Hubschrauber übertönte die Klettergeräusche. Mir erschien das Ganze gewagt, geradezu tollkühn, aber ich war ja auch nur eine gewöhnliche Polizistin.

Als ich mich umblickte, erblickte ich Koskivuori, der Befehle in sämtliche Telefone brüllte, ich sah, wie Dutzende Gewehre mit Zielfernrohr in Stellung gebracht und Gaspatronen in den Schornstein geworfen wurden, während einige Männer der Spezialeinheit vom Dach auf die Veranda sprangen. Der Hubschrauber sank aberwitzig tief, nun wurde auch von dort geschossen. Jemand rief: »Palo sagt, im Haus ist kein Sprengstoff!«

Das Knallen der Schüsse wurde vom Hubschraubergetöse fast überdeckt. Instinktiv rannte ich auf die Hütte zu, doch irgendwer hielt mich am Ärmel fest. Plötzlich war alles still. Die Schüsse waren verhallt, der letzte Hubschrauber verschwand hinter dem Wald. Der Mann, der mich zurückgehalten hatte, lockerte seinen Griff. Noch bevor ich ihn ansah, erkannte ich Pertti Ströms Rasierwasser.

Einer der Antiterrormänner rief nach einem Krankenwagen, doch da waren die Bahrenträger bereits unterwegs. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass so viele Fotografen und Kameraleute im Wald gehockt hatten. Sie näherten sich der Hütte wie eine Meute raublustiger Tiger. Endlich schepperte Koskivuoris Stimme aus einem Megaphon und setzte der Ungewissheit über den Ausgang des Unternehmens ein Ende.

»Die Operation ist beendet. Markku Halttunen wurde bei dem Schusswechsel getötet. Leider hat er zuvor Hauptmeister Palo schwer verletzt.«

Pertsa entfuhr ein Fluch, ich sagte kein Wort.

»Warte hier, ich geh nachsehen, was ›schwer verletzt‹ bedeutet«, sagte Ström. Ich betrachtete die Kameras, die ihre Beute einkreisten, hörte das Einrasten der Sicherungen an den Waffen und das Stimmengewirr, als ginge mich das alles nichts an.

Dann kam Pertsa im Laufschritt zurück, und seine Augen sagten mir, was »schwer verletzt« bedeutete, noch bevor seine knarren-de Stimme meine Ohren erreichte:

»Palo ist tot.«

Es spielte keine Rolle, dass ich Ström verabscheute, er war ein Kollege, der ganz genau dasselbe empfand wie ich. Wir verkrochen uns ineinander, Sekunden später legten auch Pihko und Taskinen ihre Arme um uns. Jeder weinte auf seine Art, still in sich hinein oder, wie ich, laut heulend. Ich schaute nicht hin, als die Bahren aus der Hütte getragen wurden.

Für den Rest der Woche blieb ich zu Hause, nur an der Krisentherapie, die für uns organisiert wurde, nahm ich teil. Vielleicht wäre es leichter gewesen zu arbeiten, denn die Tage waren höllisch und die Nächte noch schlimmer. Ein Beruhigungsmittel nahm ich nur in der ersten Nacht, ich wollte die Gesundheit meines Kindes nicht gefährden.

Als bestes Mittel gegen Depressionen erwies sich Sex. Antti hatte sich gewundert, als ich nach der Katastrophe in Nuuksio noch am selben Abend mit ihm schlafen wollte. Wenn wir uns liebten, spürte ich, dass ich lebte und neues Leben in mir trug, und solange mein Körper im Mittelpunkt stand, konnte die Seele ausruhen. Antti meinte, den Mythos von der sexuellen Unlust schwangerer Frauen hätte ich gründlich widerlegt.

Antti übernahm es auch, ans Telefon zu gehen, Interviews abzulehnen, Eltern und Freunde zu beschwichtigen. Es fiel mir nicht leicht, über meine Gefühle zu sprechen. Eines Nachts träumte ich, ich stünde vor meinem Fiat auf dem Parkplatz vor dem Kulturzentrum. Als ich die Tür aufmachte, fielen mir die blutigen Leichen von Palo und Halttunen entgegen.

Taskinen war am nächsten Tag bereits wieder zur Arbeit erschienen. Pertsa dagegen hatte seine Depression so behandelt, wie es gestandene finnische Männer zu tun pflegen, mit einer mehrtägigen Sauftour. Bei der Therapiesitzung am Freitagnachmittag hätte ich nicht sagen können, ob sein Zittern vom Kater oder vom Schock herrührte. Wir erfuhren, dass Halttunen schneller geschossen hatte als erwartet. Er hatte das Tränengas gerochen und reflexartig abgedrückt. Die Ladung aus der abgesägten Schrotflinte hatte Palo in den Bauch getroffen, er war sofort tot gewesen. Wessen Kugel Halttunen getötet hatte, war dagegen schwer zu ermitteln. Schon als er Palo erschoss, hatte er sich mit der anderen Hand eine Pistole an den Kopf gehalten und offenbar gleich danach abgedrückt, andererseits war sein Unterleib durchsiebt von den Kugeln der Antiterrormänner. Die Ermittlungen würden viel Zeit in Anspruch nehmen, zudem bestand natürlich die Möglichkeit, dass Palos oder Halttunens Angehörige einen Prozess anstrengen würden.

Die Medien traten die Geschichte tagelang breit, bis am Dreikö-

nigstag ein bekannter Politiker betrunken am Steuer erwischt wurde und der Presse neues Futter lieferte.

Am Abend des Dreikönigstags rief Eva Jensen an und erkundigte sich, wie es mir ging. Sie klagte, die letzten Tage der Schwangerschaft seien so langweilig, und so schlug ich ihr für den nächsten Tag, den Sonntag, einen gemeinsamen Spaziergang vor. Die Wettervorhersage versprach einen lauen, sonnigen Tag, und ich hatte das Gefühl, es wäre vielleicht gut, langsam wieder an die Arbeit zu denken. Auch einem Reiter, der vom Pferd fällt, rät man ja, möglichst bald wieder in den Sattel zu steigen. Nach Evas Anruf ließ ich mich in den Fernsehsessel fallen und sah mir den Eiskunstlauf der Herren an. Ein für seine Sportart auffallend massiger Kanadier sprang zu Filmmusik dreifache Axel und half mir, die Geister von Nuuksio für eine Weile zu vertreiben.

Am Sonntagmorgen kam Eva zu uns. Sie behauptete, wenn wir nicht zu schnell gingen, könne sie kilometerweit marschieren. Wir spazierten über das gefrorene Feld auf die kleinen Wege zu, die in den Zentralpark führen. Die Sonne leuchtete wintergelb, die Federwolken versprachen schönes Wetter.

Dompfaffen machten sich über die letzten Vogelbeeren her, ein Hase sprang aus dem Gebüsch. Evas Bauch passte kaum noch unter ihren Zeltmantel, ihre dünnen Arme und Beine wirkten im Verhältnis dazu fast grotesk. Sie behauptete, es mache ihr nichts aus, über das eisglatte Feld zu gehen, das sei immer noch besser als die Abgasschwaden an der Straße.

»Und wie geht es dir?«, fragte sie, als wir bei den ersten Häusern jenseits des Ackers angekommen waren.

»Ich frage mich ungefähr einmal stündlich, warum ich weiterleben darf, während Palo tot ist. Davon abgesehen geht’s mir einigermaßen.«

»Fühlst du dich schuldig, weil du lebst?«

»So ungefähr. Aber das ist angeblich ganz normal. Schon allein, weil ich aus reinem Zufall überlebt hab, Halttunen hatte es ja in erster Linie auf mich abgesehen. Und natürlich bedrückt mich, dass die ganze Sache total falsch angepackt worden ist.«

In der Presse wurde das Vorgehen der Polizei heftig kritisiert.

Das wusste ich, weshalb ich die Zeitungen nach Möglichkeit gar nicht mehr aufschlug. Irgendwann würde ich mich auch dieser Realität stellen müssen, deshalb hatte ich Antti gebeten, alle Presseberichte auszuschneiden und die Nachrichtensendungen auf Video aufzunehmen. »Kennst du übrigens Halttunens Therapeuten, Kari Hanninen? Ich habe kurz mit ihm gesprochen, bevor das Höllenspektakel anfing.«

»Ja, ich bin ihm ein paar Mal begegnet. Falls du dich fragst, ob Elina Feinde hatte – Hanninen war einer. Elina hat seine Astrotherapie nicht akzeptiert, oder besser gesagt, es passte ihr nicht, dass er seine Therapie als wissenschaftlich ausgibt. Was sie übrigens auch meiner Meinung nach nicht ist, weil sie teilweise auf Astrologie beruht.«

»Das klingt wirklich seltsam.«

»In gewisser Weise konkurrierten Hanninen und Elina um dieselben Patientinnen, um bewusste, feministisch orientierte Frauen. Einige von ihnen nehmen zum Beispiel Astrologie und Tarot vollkommen ernst. Sie halten es für uraltes weibliches Wissen, das von der männlich dominierten Religion und den so genannten harten Wissenschaften unterdrückt wird.«

»So hat Elina es aber nicht gesehen?«

»Sie hielt es für gefährlich, die Verantwortung für seine Entscheidungen nicht selbst zu übernehmen, sondern den Karten oder den Sternen zuzuschieben.«

»Gab es Auseinandersetzungen zwischen Hanninen und Elina?«

»Und ob. Sie haben übrigens zusammen studiert, angeblich hatten sie damals sogar eine kurze Romanze, die daran scheiter-te, dass Elina in allen Prüfungen besser abschnitt als Kari.«

Ich lachte, denn ich musste an meinen Kommilitonen Kristian denken, mit dem es mir genauso ergangen war: Er hatte es nicht ertragen können, dass ich im Jurastudium erfolgreicher war als er. Inzwischen saß er an seiner Dissertation, während ich als einfache Polizistin mein Leben riskierte.

»Vor ein paar Jahren gab es eine mehr als heftige Auseinandersetzung zwischen den beiden. Elina hat nämlich verlangt, dass Kari wegen Vermischung von Wissenschaft und Grenzwissenschaft mindestens eine Verwarnung erhält oder sogar aus dem Therapeutenverband ausgeschlossen wird. Man hat sich schließlich mit einer Verwarnung begnügt, aber seitdem ist Karis Verhältnis zum Therapeutenverband, gelinde gesagt, recht kühl.«

»Und doch hat Elina eine Patientin von Kari übernommen. Ich muss Niina Kuusinen fragen, ob sie von diesem Konflikt wusste.

Aber genug von Kari Hanninen, sprechen wir lieber über Elina.

Du sagtest neulich, sie sei deine Therapeutin gewesen.«

»Ja, bei der Ausbildung zum Therapeuten unterzieht man sich ja selbst einer Therapie. Ich habe meine Ausbildung Anfang der achtziger Jahre gemacht, als man sich gerade erst dazu durchgerungen hatte, Homosexualität nicht mehr als krankhaft einzustufen. Einen Therapeuten zu finden, der die Vorstellung, eine Lesbe könnte diesen Beruf ausüben, nicht widerwärtig fand, war gar nicht so leicht. Elina war ein doppelter Glücksfall, weil ich auch beruflich viel von ihr lernen konnte.«

Der Wind wehte grobkörnigen Schnee von den Fichtenzweigen und fegte ihn uns ins Gesicht, er strich mir über die Haut wie eine Bürste. Aus einem Fichtenwipfel flatterte eine Elster auf, flog jedoch nicht weit, sondern landete in zwanzig Meter Entfernung auf einer Birke, schaukelte in den Ästen und krächzte uns etwas zu, was wie eine Schmähung klang. Einmal hatte ich Einstein beobachtet, als er sich mit einer Elster zankte.

Er hatte miaut, sie gekrächzt, und ich war ganz sicher gewesen, dass sie sich verstanden. Ein Spaziergänger, der aussah wie ein pensionierter Schiffskapitän, versuchte vergeblich, seinen wolligen, schneefarbenen Samojedenspitz weiterzuzerren, der interessiert an einer Baumwurzel schnüffelte und sich nicht vom Fleck rührte. Ich bin zwar ein so genannter Katzenmensch, aber große, zottelige Hunde finde ich einfach unwiderstehlich, deshalb konnte ich es nicht lassen, den Samojeden im Vorbeige-hen zu streicheln. Er nahm Einsteins Geruch an meinen Schuhen auf und beschnupperte erst mich, dann Eva, deren Mantel nach ihren Golden Retrievern roch.

»Elina war wirklich eine gute Therapeutin«, fuhr Eva fort, als wir auf den Weg in den Zentralpark von Espoo einbogen. »Sie war absolut präsent und hörte einem zu. Als die Therapie beendet war und wir Kolleginnen wurden, haben wir uns besser kennen gelernt. Richtige Freundinnen sind wir nicht geworden, dafür war Elina zu verschlossen und zurückhaltend. Über sich selbst, ihre Gefühle oder ihr Leben, hat sie kaum gesprochen.

Ein paar Mal hat sie Joona Kirstilä erwähnt und mir zu verstehen gegeben, dass er ihr etwas bedeutete. Mehr aber auch nicht.«

»Kannst du dir vorstellen, dass Elina Selbstmord begangen hat?«

Eva schüttelte langsam den Kopf und verzog nachdenklich den Mund. »Was war denn die Todesursache?«

»Interaktion von Medikamenten und Alkohol, dadurch ausgelöste Bewusstlosigkeit, die ihrerseits zu Hypothermie und schließlich zum Tod führte. Schwer zu sagen, ob es eine vorsätzliche Handlung war.« Ich überlegte, ob ich den Brief erwähnen sollte, den Aira mir gezeigt hatte, schwieg jedoch, weil ich von seiner Echtheit nicht restlos überzeugt war.

»Eine ziemlich unsichere Art, sich das Leben zu nehmen. Das wirkt eher wie ein Hilferuf, als würde man damit rechnen, gefunden zu werden. Klingt gar nicht nach Elina. Außerdem war sie kein Selbstmördertyp, obwohl sie etwas an sich hatte … als steckten hinter ihrer glatten Fassade Geheimräume, in denen sie ihre Trauer unter Verschluss hielt. Manchmal öffnete sie die Türen einen Spaltbreit, aber nur für einen Augenblick.«

»Was sah man denn hinter diesen Türen?«

»Zumindest eine Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Einsamkeit und dem Wunsch, sich zu binden. Außer Aira hatte Elina ja keine näheren Angehörigen. Es kam mir manchmal so vor, als ob sie gern ein Kind gehabt hätte, zugleich aber vor dem Gedanken zurückschreckte. Das Verhältnis zu Joona Kirstilä ist bezeichnend für ihre Beziehung zu anderen Menschen: Die beiden standen sich nahe, aber zu viel Nähe wollten sie auch wieder nicht.«

Das kam mir bekannt vor. So war ich früher auch gewesen, eigentlich war ich es immer noch. Ich hatte Antti nicht zuletzt deshalb geheiratet, weil er mein Bedürfnis nach Einsamkeit verstand und teilte. Ein Kind würde dieses Muster verändern, es würde meine Nähe brauchen. Zum ersten Mal sah ich den Mutterschaftsurlaub auch als Pause von der Arbeit, als eine Zeit ohne Mörder und ohne verzweifelte Versuche, anderen Menschen wenigstens Halbwahrheiten zu entreißen.

»Wir erwarten übrigens ein Baby«, hörte ich mich plötzlich sagen, obwohl ich Antti noch vor ein paar Tagen beschworen hatte, vorläufig keinem davon zu erzählen.

»Herzlichen Glückwunsch! Ehrlich gesagt, wir hatten uns schon gewundert, als ihr mit dem Auto zur Silvesterfeier gekommen seid. In welcher Woche bist du denn?«

»Die wie vielte ist es denn jetzt … die achte, glaub ich, Ende August soll es jedenfalls kommen. Es war eigentlich noch gar nicht geplant, aber meine Spirale hat versagt. So ganz geheuer ist mir die Situation immer noch nicht.«

»Der Tod deines Kollegen und die unerwartete Schwangerschaft, da steckst du ja voll im Stress«, meinte Eva trocken und sah mich verstohlen von der Seite an, als fürchte sie, mich mit ihrer flapsigen Bemerkung vor den Kopf zu stoßen.

»Du sagst es. Und trotzdem begreift man irgendwann, dass genau das die brutale Wahrheit ist: Geburt und Tod gehen Hand in Hand. Ach was, ich will jetzt nicht pathetisch werden. Komm, kehren wir um.«

Ich begleitete Eva nach Mankkaa. Kirsti war entsetzt, als sie hörte, dass ihre hochschwangere Frau fast zehn Kilometer weit gelaufen war. Ich hatte noch zwei Kilometer vor mir und hoffte, dass Antti das Essen fertig hatte, wenn ich nach Hause kam.

Statt an der Hauptstraße entlangzugehen, nahm ich lieber die kleinen, gewundenen Nebenstraßen. Plötzlich blieb ich stehen.

Ich kannte den Mann, der da vor einem Reihenhaus auf dem Mäuerchen hockte und wie unter Zwang ausgefallene Haare vom Mantelkragen zupfte. Es war Pertsa Ström. Und doch sah er gar nicht wie Pertsa aus. Er saß mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf da, dabei strahlte er eine Unterwürfigkeit aus, die ich an meinem selbstsicheren, prahlerischen Kollegen nicht kannte. Ich blieb stehen und beobachtete ihn. Sollte ich ihn ansprechen? Was machte er eigentlich hier, weshalb saß er hier in Mankkaa wartend vor einem Reihenhaus? Er wohnte doch in Olari.

Pertsa sah auf die Uhr, er wirkte nervös. Dann ging die Haustür auf. Ein etwa siebenjähriger Junge steckte den Kopf heraus.

»Wir kommen gleich, Papa. Jenna kann ihren Badeanzug nicht finden.«

Pertsas Schultern strafften sich, und seine Stimme klang so barsch wie gewohnt, als er an dem Jungen vorbei ins Haus rief:

»Lass die blöden Tricks, Marja, gib Jenna den Badeanzug!«

Jenna, Marja – und ein etwa siebenjähriger Junge. Der Groschen fiel: Pertsa wartete auf seine Kinder. Wie hieß der Junge noch gleich – Jani? Ich hatte die Kinderfotos in Pertsas Briefta-sche gesehen, als er mir nach einer wichtigen Verhaftung einen Kaffee spendierte. Wahrscheinlich hing Pertsa an seinen Kindern, obwohl ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, dass er zu derartigen Gefühlen fähig war. Allerdings hatte ich gespürt, wie er zitterte, als wir gemeinsam über Palos Tod weinten. Mit seiner Exfrau stand er jedenfalls auf noch schlech-terem Fuß als mit mir. Durch die halb offene Tür brüllten sich die beiden an, als es darum ging, wann Pertsa die Kinder zurückbringen sollte.

»Spätestens um acht, sie haben morgen Schule!«

»Verdammt nochmal, wenn wir zu dem Spiel gehen, wird’s eben neun! So klein sind sie nicht mehr, die können auch mal bis Mitternacht aufbleiben! Kommt das Mädchen jetzt endlich!«

»Du brauchst sie ja morgen früh nicht zu wecken! Wenn wir den Badeanzug nicht finden, kann Jenna eben nicht mit zum Schwimmen!«

Schließlich kam Jenna aus dem Haus und schwenkte triumphierend einen rosa Badeanzug. Es war ein seltsames Gefühl, im Gesicht des zehnjährigen Mädchens Pertsa Ströms Züge zu erkennen. Ich verdrückte mich hinter der nächsten Hausecke, es wäre mir peinlich gewesen, wenn Pertsa gemerkt hätte, dass ich sein Privatleben ausspionierte.

Am Montagmorgen war alles fast so wie früher. Nur das aus der Zeitung ausgeschnittene, schwarz umrandete Foto von Palo, das an der Tür zu Palos und Pihkos gemeinsamem Büro klebte, erinnerte daran, dass doch nicht mehr alles so war wie Anfang der letzten Woche. Pihko war bereits unterwegs, Pertsa ebenfalls, nur Taskinen saß an seinem Schreibtisch, grau und verkniffen. Das Lächeln, das er bei meinem Anblick aufsetzte, war sicher das erste an diesem Tag.

»Schon wieder einsatzbereit?«

»Ich denke schon. Was gibt’s Neues?«

»Nichts Besonderes. Wir müssen Palos Fälle unter uns auftei-len, eine Vertretung bekommen wir sicher nicht. Stell dich schon mal darauf ein, dass du Ende der Woche zu der Geiselnahme in Nuuksio vernommen wirst. Da kommt noch einiges nach.«

»Kann ich mir denken. Ich mach jetzt mit dem anderen Nuuksio-Fall weiter. Morgen Abend könnte ich vielleicht nach Oulu fahren.«

»Kari Hanninen, der Psychologe, lässt dir Grüße bestellen und ausrichten, einer so entzückenden Frau stünde er jederzeit zur Verfügung.« Taskinen brachte es nicht fertig, mir diese Nachricht in normalem Ton zu übermitteln, gegen seinen Willen musste er lachen. Sosehr ich mich über Hanninens Bemerkung auch ärgerte, ich verzieh ihm, weil er Taskinen zum Lachen gebracht hatte.

Ich wollte gerade den Hörer abnehmen und mich nach der Nummer von Leevi Säntti erkundigen, als das Telefon klingelte.

»Tarja Kivimäki vom Sender Yle, guten Tag. Sie sind also nach dem zweiten erschütternden Fall in Nuuksio wieder an den Arbeitsplatz zurückgekehrt.«

»Ja. Haben Sie mir etwas Neues zum Fall Rosberg zu sagen?«

»Leider nein. Sie hatten in letzter Zeit sicher auch andere Dinge im Kopf, und gerade darüber würde ich gern mit Ihnen sprechen. Wollen wir uns übrigens duzen? Hör zu, Maria, das A-Studio bereitet einen Hintergrundbericht über die jüngsten Gefechte zwischen Polizisten und Gangstern vor. Wir möchten dich zu einem Interview einladen, das wahrscheinlich von mir geführt wird.«

»Du arbeitest doch gar nicht für das A-Studio.«

»Ich werde möglicherweise dorthin wechseln. Ich habe allmählich genug vom Nachrichtenstudio und möchte aus verschiedenen Gründen die Politikredaktion verlassen.«

»Ich glaube, das kann ich nicht machen. Erstens habe ich keine Lust, öffentlich über den Tod meines Kollegen zu sprechen, und zweitens bist du offiziell immer noch eine Verdächtige in einem ungeklärten Fall, in dem ich die Ermittlungen leite.«

»Bin ich das? Können wir uns trotzdem treffen? Vielleicht heute Abend zum Essen, ich lade dich ein.«

»Einladen wirst du mich nicht. Wie gesagt, du gehörst nach wie vor zu den Verdächtigen. Aber okay, treffen wir uns. Wann und wo?«

Als ich auflegte, kam ich mir wie eine Blutsaugerin vor. Ich würde Tarja Kivimäki auf keinen Fall ein Interview geben. Aber ich wollte ihr Informationen abluchsen, was beim Abendessen bestimmt leichter war als im Vernehmungsraum.

Glücklicherweise war Leevi Säntti zu Hause und nicht auf Predigerfahrt. Ich stellte mich vor und bemühte mich, möglichst Respekt gebietend aufzutreten.

»Wovon sprechen Sie? Hat meine … ähm … meine Frau noch jemanden ermordet?«

»Wieso noch jemanden?«, fragte ich, obwohl ich genau wusste, was er meinte.

»Sie hat unser Kind ermordet, sie hat es abtreiben lassen. Und wer einmal den Weg der Sünde beschreitet …«

»Herr Säntti, Ihre Frau ist lediglich in diesen Fall verwickelt.

Wir können genauer darüber sprechen, wenn ich bei Ihnen bin.«

Leevi Säntti hatte sich eine angenehme Stimme antrainiert, sie klang ähnlich manipulativ wie die von Kari Hanninen. Ich hätte Hanninen anrufen müssen, brachte es aber nicht über mich. In den letzten Tagen hatte ich immer wieder darüber nachgedacht, ob Palo und Halttunen noch am Leben wären, wenn die Einsatzleitung auf Hanninen gehört hätte. Bei diesem Gedanken spürte ich unter dem Schmerz Hass aufsteigen. Ich wollte jemanden finden, den ich für Palos Tod verantwortlich machen konnte, jemanden, den ich anschreien, schlagen und treten konnte. Dass Halttunen den tödlichen Schuss abgegeben hatte, spielte dabei keine Rolle.

In der Kantine wurde ich angestarrt wie ein Fabelwesen.

Davon hatte ich bei Vernehmungen schon oft gehört: Menschen, die in einen dramatischen Todesfall verwickelt waren oder eines Mordes verdächtigt wurden, trugen ein unsichtbares Zeichen auf der Stirn, das bei Außenstehenden sowohl Scheu als auch Neugier weckte. Aber dann setzte sich eine der Frauen von der Schutzpolizei an meinen Tisch und holte noch ein paar andere dazu, sodass ich mich nicht isoliert zu fühlen brauchte. Dennoch erinnerte mein Anblick viele Kollegen an einen Aspekt unserer Arbeit, den sie nur zu gern verdrängten.

Zum Glück konnte ich mich auf Routineaufgaben stürzen.

Was Ende der vorigen Woche liegen geblieben war, musste aufgearbeitet werden, Termine waren zu vereinbaren und Berichte zu schreiben. Doch bei jedem Fall, in dem ich gemeinsam mit Palo ermittelt hatte, war mein erster Impuls, ihn beiseite zu legen. Beim ersten, dem Einbruch in das Restaurant in Soukka, hatte ich mich unwillkürlich auf den Weg zu seinem Büro gemacht, um ihn nach seiner Meinung zu fragen. Wie mochte sich Pihko fühlen? Waren Palos Sachen schon entfernt worden, die Fotos seiner Kinder an der Trennwand und all das andere, hatte man die Reservekleidung aus dem Schrank und den berühmten Arzneimittelvorrat aus den Schubladen geräumt?

Ich brachte es nicht über mich nachzusehen.

Ich schaffte es noch, mich zu Hause umzuziehen, bevor ich ins

»Raffaello« fuhr, wo ich mit Tarja Kivimäki verabredet war. Im Bus fiel mein Blick auf einen Kinderwagen, der ordnungsgemäß festgegurtet war. Obwohl das Baby, das ein paar Monate alt sein mochte, friedlich schlief, ging sein Vater, ein magerer, langhaa-riger und bis zu den Fingerspitzen tätowierter Bursche, immer wieder hin, zog die Decke zurecht und brachte den Schnuller in die richtige Position. Er kam mir irgendwie bekannt vor.

An der nächsten Haltestelle stieg ein angetrunkener, rundlicher Mann ein. In der einen Hand hielt er eine Tüte, in der die Flaschen klirrten. Freudig überrascht begrüßte er den dürren Vater:

»Na, da leck mich doch einer, der Nyberg! Wir ham uns ja seit dem Bau nich mehr gesehn. Was machst du denn in Espoo?«

»Meine Alte wohnt hier und meine Tochter. Mach nich so’n Krach, das Baby wacht auf«, versuchte Nyberg ihn zu dämpfen.

Der Mann mit der Tüte legte einen Finger an die Lippen und flüsterte, er würde sich nach hinten setzen, um Nybergs Baby nicht zu stören. Die Tüte schlug klirrend gegen die Haltestange, als er sich auf die Rückbank zwängte.

Er blieb jedoch nicht lange still sitzen. Quer durch den Bus rief er seinem Kumpel zu:

»Haste gehört, dass die Bullenschweine den Halttunen abge-knallt haben? War ein verrückter Kerl, aber echt, ich hab mal gesehn, wie er im Bau beim Gewichtheben dem Soininen ’nen Finger gebrochen hat.«

Nyberg gab keine Antwort, er holte Papier und Tabak aus der Tasche und drehte sich eine. Als das Kind plötzlich aufquäkte, unterbrach er seine Tätigkeit, um es zu beruhigen. Offenbar schlief das Baby gleich wieder ein, denn der Mann kehrte auf seinen Platz zurück und widmete sich wieder seinem Glimmstengel, den er sich schließlich in den Mund steckte, allerdings ohne ihn anzuzünden.

»Hey, Kutscher, sin wir schon in Tapiola? Da muss ich raus«, verkündete der Mann mit der Tüte. Beim Aussteigen sah er das Stäbchen in Nybergs Mundwinkel, machte kehrt und schnorrte ihn an. Der Busfahrer wartete gleichmütig, obwohl es ein paar Minuten dauerte, bis der Glimmstengel den Besitzer gewechselt hatte, zumal die beiden Männer sich auch noch ausgiebig über den guten Kaffee im Knast unterhielten. Wahrscheinlich wagte der Fahrer bei Burschen dieses Kalibers nichts zu sagen.

Tarja Kivimäki saß bereits in einer ruhigen Ecke und hatte ihren Recorder aufgebaut. Ich bestellte ein Glas Mineralwasser und stellte fest, dass ich überhaupt keinen Hunger hatte.

»Grüß dich, Maria, na, bist du über die Sache hinweg?«, fragte sie betont forsch.

»Nein. Bist du über Elinas Tod schon hinweg?«, gab ich zurück.

»Touché. Hast du etwas dagegen, dass ich unser Gespräch aufnehme?«

»Wofür willst du die Aufnahme verwenden? Einem Interview habe ich nicht zugestimmt.«

Sie holte tief Luft, kam jedoch nicht dazu zu antworten, weil der Kellner an unseren Tisch trat und fragte, ob wir schon gewählt hätten. Da mir nichts Besseres einfiel, bestellte ich Rasta mit Meeresfrüchten. Was ich aß, war mir eigentlich egal, nur durfte es weder Fleisch noch Tomaten enthalten, auf die hatte ich im Moment absolut keinen Appetit.

»Hör dir wenigstens an, was wir für die Sendung geplant haben«, sagte Tarja, nachdem sie Jambalaya und mexikanisches Bier bestellt hatte. »Wir wollen nicht nur das Geiseldrama in Nuuksio behandeln, sondern generell die Tendenz der Polizei, mit Waffengewalt einzuschreiten, von der Geschichte in Mikkeli angefangen. Natürlich kommen auch die Ereignisse in Hirsala und Vesala zur Sprache und der Zwischenfall an der Polizeischule in Tampere.«

»Warum willst du gerade mich interviewen?«

»Den Presseberichten zufolge hat Halttunen zuerst versucht, das Auto des anderen Beamten aufzubrechen, der ihn vernommen hatte, und nur weil ihm das nicht gelang, musste er sich mit Hauptmeister Palo begnügen. Es war nicht schwer, die Identität dieses zweiten Beamten festzustellen. Ich möchte eine Art Gedankenspiel mit dir machen: Welches Vorgehen hättest du dir von der Polizei erhofft, wenn du in der Hütte gewesen wärst?«

»Das klingt eher nach Sensationsmache als nach einer sachlichen Reportage. Derartige Spekulationen interessieren mich nicht.«

»Wirklich nicht? Ist die Polizei deiner Meinung nach richtig mit der Situation umgegangen? Hast du gar nichts zu kritisieren?«

Natürlich gab es mehr als genug zu kritisieren. Aber ich hatte nicht die Energie, mich an dem endlosen Hickhack zu beteili-gen. Irgendwie wäre es eine Erleichterung gewesen, meine Trauer, meinen Hass und meine Angst über den Bildschirm in jedes zweite finnische Wohnzimmer schwappen zu lassen. Aber Palo hätte das sicher nicht gewollt. Offenbar hatte ich eine goldene Polizeiregel bereits verinnerlicht: Es widerstrebte mir, das eigene Nest zu beschmutzen.

»Ist es nicht unmoralisch zu schweigen, wenn man sieht, dass etwas falsch gemacht wird?«, fuhr Kivimäki fort.

»Ich fände es unmoralisch, mich von jemandem interviewen zu lassen, der in einen Todesfall verwickelt ist, bei dem ich ermittle.«

»Das Interview kann auch jemand anders machen.«

»Vergiss das Interview. Warum willst du überhaupt ins A-Studio wechseln? Da wirst du doch vor die Kamera treten müssen.«

»Dafür gibt es viele Gründe. Unter anderem kann ich dort längere und gründlichere Reportagen machen als im Nachrichtenstudio. Dazu kommen persönliche Beweggründe, die in gewisser Weise auch etwas mit moralischen Überlegungen zu tun haben.«

Der Kellner brachte die Salatteller, und ich schaufelte mir den Mund voll, um nichts sagen zu müssen. Natürlich gäbe es eine Bombengeschichte, wenn gerade ich die Einsatzleitung kritisieren würde. Das einsame Cowgirl in der Männerwelt der Polizei hat einen schärferen Blick für die Fehler als alle anderen. Bei Ermittlungen machte es mir nichts aus, mich persönlich zu exponieren, aber an die Öffentlichkeit wollte ich nicht gehen.

Das sagte ich Tarja Kivimäki dann auch, als ich den Mund wieder leer hatte.

»Schade. Ich hatte gehofft, wir könnten uns gegenseitig helfen.«

»Inwiefern?«

»Bisher habe ich gezögert, Elinas Vertrauen zu missbrauchen, denn es geht um etwas, was sie nur mir anvertraut hat. Aber ich habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es eventuell ein Motiv für den Mord an Elina sein kann.«

Wie gewöhnlich sprudelte ich los, ohne vorher nachzudenken.

»Du willst mir also ein Motiv für den Mord an Elina verraten, wenn ich dir ein Interview gebe! Und du hast die Stirn, mir was von Moral vorzuquasseln!« Ich stand auf und schob den Salatteller so heftig zur Seite, dass er Tarjas Bierflasche ins Kippen brachte.

»Über das Motiv für den Mord an Elina Rosberg werden wir uns im Polizeigebäude in Espoo weiter unterhalten. Passt es dir am Donnerstag um zehn? Sieh zu, dass du den Termin einhältst, sonst lasse ich dich wegen Beweisunterdrückung verhaften.

Einen schönen Abend noch!«

Elf

Als ich aus dem Restaurant stürmte, klatschte mir Schneeregen ins Gesicht. Normalerweise hätte ich mich in die nächste Kneipe gehockt und ein paar Gläser Whisky gekippt, aber in meinem gesegneten Zustand musste ich den Ärger anders abreagieren.

Ein scharfer Tritt gegen eine leere Coladose, die auf dem Bürgersteig lag, half ein bisschen. Ich war wild entschlossen, an dem Vernehmungstermin festzuhalten, obwohl Tarja Kivimäki womöglich nur versucht hatte, mich auszutricksen. Egal. Ich hatte sie von Anfang an nicht gemocht, es würde mir Spaß machen, sie in die Zange zu nehmen.

Der nächste Bus fuhr erst in einer guten halben Stunde, also ging ich in eine Kneipe, um nicht völlig durchnässt zu werden.

Ich bestellte mir ein alkoholfreies Bier. Als ich mich nach einem Sitzplatz umschaute, stellte ich fest, dass mein Arbeitstag wohl doch noch nicht zu Ende war. Am Fenstertisch in der hintersten Ecke saß Joona Kirstilä, ein Glas dunkles tschechisches Bier und einen Laptop vor sich. Ich überlegte, ob ich es wagen durfte, ihn zu stören. Immerhin war der Laptop zugeklappt und Kirstilä starrte in sein Glas.

Ich hatte sogar einen guten Grund, mit ihm zu sprechen: Am Morgen hatte ich auf meinem Schreibtisch einen Bericht vorgefunden, demzufolge Kirstilä nachweislich in Hämeenlinna auf Sauftour gewesen war, allerdings nicht am zweiten Weihnachtstag, sondern erst am Mittwoch, dem siebenundzwanzigsten Dezember.

Wenn es sich um normale Wochentage gehandelt hätte, wäre ich vielleicht bereit gewesen, an eine Verwechslung zu glauben, aber selbst Kirstilä musste einen Feiertag von einem gewöhnli-chen Mittwoch unterscheiden können. Zudem hatte er ja behauptet, Elina vor Weihnachten zum letzten Mal gesehen zu haben, während ich nun wieder davon ausgehen musste, dass er am Abend des zweiten Weihnachtstages in Nuuksio gewesen war.

Also nahm ich mein Glas und ging an seinen Tisch. Kirstilä sah auf und nickte mir zu, ganz nüchtern war er offensichtlich nicht mehr. Seine braunen Augen wirkten jung und glänzend, doch um den Mund hatten sich Falten gebildet, die selbst die entspannende Trunkenheit nicht vertreiben konnte.

»Wie geht’s voran?«, fragte ich, weil mir auf die Schnelle nichts anderes einfiel.

»Gar nicht. Anscheinend sind mit Elina auch die Worte gestorben. Zum Glück gibt’s den Alkohol. Habt ihr schon etwas herausgefunden?«

»Allerdings. Du warst an dem bewussten Abend nicht in Hämeenlinna, sondern erst einen Tag später. Das können mindestens zehn Leute bestätigen.«

»Ich bin zum Saufen hier, Mensch! Willst du mich ins Kreuzverhör nehmen, oder was?« Sein Gebrüll übertönte sogar den Song von »Green Days«, der im Radio dudelte. Die Leute an den Nebentischen sahen neugierig zu uns herüber.

»Beruhige dich, ich geh ja schon. Ich ruf dich morgen an, dann besprechen wir, wann du aufs Revier kommst.« Ich stand auf.

»Muss ich da wirklich hin? Das Gebäude widert mich an.

Reden wir lieber hier.« Ich setzte mich wieder hin, obwohl ich genau wusste, dass unsere Unterhaltung keinen offiziellen Wert hatte: Kirstilä war betrunken, ich war allein. Aber mein Bus fuhr erst in einer halben Stunde, und der Schneeregen wurde immer heftiger. Es gibt kaum eine trostlosere und hässlichere Gegend als den Helsinkier Busbahnhof bei Schneeregen. Wenn man ihn jedoch durch die blau-grün-violette Glasmalerei betrachtete, die das Fenster der Kneipe schmückte, wirkte er ganz ansprechend.

Das farbige Glas verzerrte die Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes zu dekorativen Vielecken und färbte die schlammbe-spritzten Busse in den schönsten Pastelltönen.

Kirstilä trank sein Glas aus und winkte zum Tresen. Offenbar war er Stammkunde, denn die Bedienung brachte ihm ein frisch gezapftes Bier an den Tisch und war sogar bereit, es anzuschrei-ben. Der Dichter nahm einen tiefen Zug, bevor er zögernd sagte:

»Ich habe mich wohl im Datum geirrt. Vielleicht hab ich mich doch erst am Mittwoch mit den Kumpels in Hämeenlinna besoffen.«

»Wie hast du denn nun die Feiertage verbracht? Bist du zwischendurch aus Hämeenlinna zurückgekommen, um Elina zu sehen, oder wie?«

»Ja. Ich hatte Sehnsucht nach ihr.«

Kirstilä strich sich die Haare aus dem Gesicht und fischte eine zerdrückte Zigarettenschachtel aus der Tasche, deren letztes Stäbchen fast durchgebrochen war. Es wollte ihm nicht gelingen, ein Streichholz anzureißen, sodass ich ihm schließlich die Schachtel aus der Hand nahm und ihm die Zigarette anzündete, obwohl der Qualm mich noch mehr störte als gewöhnlich.

Gelegentliches Passivrauchen würde meinem Baby wohl nicht schaden, in Frischhaltefolie konnte ich mich seinetwegen ja nun auch nicht wickeln.

»Weihnachten macht mich immer sentimental. Dieses ganze Familientrara und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Ich fand es einfach verrückt, Weihnachten mit meinen Eltern und meiner Schwester zu feiern, die ich gar nicht besonders mag, während der einzige Mensch, aus dem ich mir wirklich was mache, hundert Kilometer weit weg ist. Am zweiten Weihnachtstag habe ich abends bei Elina angerufen und sie zu mir eingeladen. Sie hat gesagt, sie könne nicht weg, weil sie was erledigen müsse, aber ich solle doch nach Rosberga kommen. Um die Zeit kam man da nur noch mit dem Taxi hin, aber sie meinte, sie würde die Fahrt bezahlen.«

Kirstilä hatte Elina am Tor des Gutshauses getroffen. Elina war schwer erkältet gewesen, wollte aber unbedingt für eine Weile aus dem Haus, um »den Kopf auszulüften«, wie sie sagte.

Kirstilä hatte den Eindruck gewonnen, dass die Feiertage für Elina unerwartet anstrengend gewesen waren.

»Bestimmt lag es an Weihnachten und der allgemeinen Senti-mentalität, dass ich Elina ganz merkwürdige Vorschläge gemacht habe. Ich hab sie gefragt, ob wir nicht zusammenziehen sollen. Aber sie hat sich geweigert und gesagt, so wie ihr Leben jetzt gerade aussehe, könne sie auf keinen Fall an eine so gewaltige Veränderung denken.«

Das stimmte mit Millas Aussage überein. Aber was hatte Aira auf die Idee gebracht, dass Joona Kirstilä sich von Elina trennen wollte? Was er mir erzählte, klang eher so, als wäre es umge-kehrt gewesen.

»Elina wollte eure Beziehung also unverändert weiterführen?«

Ich trank mein alkoholfreies Bier aus und hatte gleich Lust auf ein zweites. Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich Lust auf ein richtiges Bier, aber mein Über-Ich war dagegen.

»Ja. Wir haben uns deswegen sogar gestritten. Ich hatte mir eingebildet, Elina würde sich darüber freuen, dass ich es nicht mal über Weihnachten ohne sie aushalte. Kindisch. Es ist, nee, es war nur so verflucht umständlich, weil sie so weit weg wohnte und das Haus immer voller Frauen hatte. Wenn ich zum Beispiel einfach so ex tempore mit ihr schlafen wollte, war nix zu machen.« Kirstilä verzog den Mund und sah plötzlich aus wie mein zweijähriger Neffe Saku, wenn ihm etwas verboten wurde.

»Ich hätte mich nicht beklagen sollen, jetzt hab ich Elina überhaupt nicht mehr …« Ihm kamen die Tränen.

»Wie bist du denn nach Helsinki zurückgekommen? Wieder mit dem Taxi?«

»Ich hab im kleinen Haus übernachtet. Erst am nächsten Morgen bin ich zurückgefahren«, sagte Kirstilä müde.

»Was? Du warst in der Nacht des zweiten Weihnachtstags in Rosberga?«

»Ja, ja. Das ist ja das Schlimmste an der ganzen Sache.«

Wieder stiegen ihm Tränen in die Augen. »Elina wollte nicht, dass ich blieb, sie meinte, ich sollte wieder in die Stadt fahren.

Schließlich hat sie doch nachgegeben, aber sie wollte in ihrem Bett schlafen, weil sie so erkältet war. Ich hab bis um eins gewartet, dass sie doch noch zu mir kommt, aber dann bin ich eingeschlafen, nachdem ich eine Flasche Rotwein geleert hatte, die im Schrank stand. Und am nächsten Morgen«, er schluckte,

»war ich stinksauer, weil Elina nicht aufgekreuzt war, und bin mit dem ersten Bus in die Stadt. Und jetzt denk ich die ganze Zeit, wenn ich drauf bestanden hätte, bei Elina zu schlafen, wär sie noch am Leben.« Er schluchzte auf.

Mein Bus fuhr gleich und der nächste ging erst wieder in einer Stunde. Es blieb mir nichts anderes übrig, als Kirstilä mit seinem Kummer allein zu lassen, so Leid er mir auch tat.

Allerdings hatten die hübschen jungen Frauen am Nebentisch ihn offenbar erkannt, vielleicht würde es gar nicht lange dauern, bis sie sich zu ihm setzten und ihn trösteten.

»Wir hatten uns ziemlich frostig voneinander verabschiedet«, seufzte Kirstilä und wischte sich mit seinem roten Schal über das Gesicht. Ich hatte mir bereits den Mantel angezogen, blieb aber stehen und hörte ihm zu. »Ich hatte mein Handy dabei und hab Elina nochmal angerufen, so gegen eins, aber sie sagte, sie hätte jetzt keine Zeit, sie wäre mitten in einem Gespräch.«

»Mit wem?«, stieß ich aufgeregt hervor, denn alle Frauen in Rosberga hatten bestritten, Elina nach ihrem Abendspaziergang noch einmal gesehen zu haben.

»Sie hat nur gesagt, sie würde es mir später erzählen, die Sache beträfe auch mich. Sie klang irgendwie … als wäre sie betrunken. Aber das war ich auch.«

Ich musste mich sputen, um den Bus nicht zu verpassen, nahm mir aber vor, Kirstilä gegen Ende der Woche noch einmal zu befragen. In der Nacht des zweiten Weihnachtstages war also jemand bei Elina gewesen! Daraus folgte zumindest, dass eine der Frauen gelogen hatte.

Am nächsten Tag schaffte ich es beim besten Willen nicht, nach Rosberga zu fahren. Einige von Palos Fällen waren bei mir gelandet, und obwohl ich mich bemühte, so hart zu arbeiten wie früher, war ich zeitweise wie gelähmt. Ich saß reglos da und bildete mir ein, wieder in Nuuksio zu sein, bei der Hütte im Wald, den Lärm der Hubschrauber und das Rattern der Waffen zu hören, bis plötzlich Totenstille herrschte. In der Mittagspause saß ich mit Pihko am selben Tisch, und als wir wieder an die Arbeit gingen, bat ich ihn, einen Blick in Palos Zimmer werfen zu dürfen.

Der Schreibtisch sah aus wie immer, nur Palos wirre Notizen fehlten, sie waren mittlerweile auf unseren Tischen gelandet.

Seine dunkelblaue Strickjacke hing über der Stuhllehne, und als ich sie anfasste, stieg der vertraute Geruch nach Rexona und Lutschtabletten auf.

»Jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit komme, wundere ich mich, dass Palo noch nicht da ist«, sagte Pihko. »Seine Frau will morgen die Sachen abholen. Mal sehen, wen sie mir ins Zimmer setzen. Hoffentlich nicht den Ström.«

»Wir brauchen unbedingt einen Ersatzmann. Was meinst du, wann die Stelle ausgeschrieben wird? Ein guter Freund von mir macht gerade einen Kurs für den mittleren Dienst. Pekka Koivu, kennst du ihn? Das wäre der Richtige für uns. Ich hab früher in Helsinki mit ihm zusammengearbeitet.«

Mein Freund Koivu hatte der von fremdenfeindlichen Aus-schreitungen geplagten Stadt Joensuu den Rücken gekehrt und nahm in Otaniemi an einem Lehrgang für den mittleren Polizei-vollzugsdienst teil. Wir hatten eigentlich vorgehabt, gleich nach Weihnachten zusammen ein Bier trinken zu gehen, doch aus verschiedenen Gründen war bisher nichts daraus geworden.

Pihkos Telefon klingelte. Zu unser beider Überraschung war Taskinen am Apparat und bat mich dringend in sein Büro.

Sicher geht es um die Termine für die Vorermittlung zum Geiseldrama von Nuuksio, dachte ich, als ich sah, dass auch der Polizeipräsident zugegen war, mit dem ich noch nie persönlich die Ehre gehabt hatte. Taskinen bat mich, Platz zu nehmen, mied aber meinen Blick und starrte an mir vorbei, als wäre an der Wand über meinem linken Ohr ein neues, faszinierendes Gemälde aufgetaucht.

»Nun denn, Hauptmeister Kallio, ich habe soeben einen sehr unangenehmen Anruf von einem hohen Herrn im Innenministerium erhalten«, begann der Polizeipräsident. Er war beinahe schon im Pensionsalter, einer derjenigen, die unter Präsident Kekkonen rasch Karriere gemacht und dem Vernehmen nach des Öfteren ein Auge zugedrückt hatten, sofern man sich über den Preis einig geworden war. Die vielen Einladungen in teure Restaurants und zu feuchtfröhlichen Saunaabenden hatten ihre Spuren hinterlassen, wie der massige Körper und die aufgeplatz-ten Äderchen im Gesicht zeigten, und der elegante, allem Anschein nach teure dunkelblaue Anzug hob nur um so deutlicher hervor, wie verbraucht der Mann war. Den Anzug hatte er vermutlich auch nicht vom regulären Gehalt bezahlt. Mehrmals war er nur mit Ach und Krach einem Disziplinarverfahren entgangen, und auch das, so munkelte man, nur deshalb, weil der derzeitige Innenminister auch einer der jungen Schützlinge Kekkonens gewesen war und unseren Polizeipräsidenten seit Jahren kannte. Womöglich handelte es sich bei dem »hohen Herrn« um Innenminister Martti Sahala persönlich.

»Wegen des Geiseldramas in Nuuksio, nehme ich an«, sagte ich irritiert. Wollte das Innenministerium uns etwa vorschreiben, was wir bei der Befragung zu sagen hatten?

»Nein, um diesen Fall geht es nicht, obwohl darüber zu gegebener Zeit sicher ausführlich gesprochen werden muss. Der Anruf bezog sich auf den ungeklärten Todesfall, der sich vor rund zwei Wochen ebenfalls in Nuuksio ereignet hat. Das Opfer war eine gewisse Elina Rosberg.«

»Was hat das Innenministerium denn damit zu tun?«

»Das Innenministerium weist nachdrücklich darauf hin, dass es nicht opportun ist, Zeugen ungerechtfertigterweise eine Festnahme anzudrohen.«

»Wie bitte?!« Es konnte sich nur um meinen gestrigen Wortwechsel mit Tarja Kivimäki handeln. Was in aller Welt hatte der Innenminister damit zu tun?

»Sie erinnern sich an Ihr gestriges Gespräch mit Frau Kivimä-

ki im Restaurant ›Raffaello‹? Dabei haben Sie gedroht, die Zeugin festnehmen zu lassen, falls sie nicht zur Vernehmung erscheint, deren Termin Sie völlig willkürlich, ohne Rückfrage bei der Zeugin, festgesetzt haben.«

»Hauptmeister Kallio hat in letzter Zeit viel durchgemacht, es ist deshalb verständlich, wenn sie einmal etwas zu hart reagiert«, mischte sich Taskinen ein. Er blickte immer noch haarscharf an mir vorbei, und man sah ihm an, wie peinlich ihm das Ganze war. Im vergangenen Jahr war es bei Ermittlungen in Fällen von Wirtschaftskriminalität mehrfach zu heftigen Zusammenstößen zwischen Taskinen und dem Polizeipräsidenten gekommen, nach allem, was ich gehört hatte, war ihr Verhältnis nicht mehr nur kühl, sondern geradezu eisig.

»Wenn das Fräulein Hauptmeister, pardon, die Frau Hauptmeister nicht einsatzfähig ist, sollte sie sich krankschreiben lassen.«

»Die Zeugin Kivimäki hat mir einen Handel vorgeschlagen.

Sie wollte mich über ein plausibles Motiv für den Mord an Elina Rosberg informieren, unter der Bedingung, dass ich ihr ein Interview gebe. Sie hat mit anderen Worten zugegeben, wichtige, vielleicht entscheidende Informationen zurückgehalten zu haben. Was hätte ich da Ihrer Ansicht nach tun sollen?«

Ich starrte das Doppelkinn des Polizeipräsidenten an und erinnerte mich an Tarja Kivimäkis Worte über den Wechsel ihres Arbeitsplatzes. Sie hatte gesagt, es gebe moralische Gründe, die ihre Tätigkeit in der politischen Nachrichtenredaktion erschwerten. Bei dem moralischen Grund handelte es sich offenbar um Minister Martti Sahala. Was in aller Welt sah sie in ihm? Der Mann war doch nichts weiter als ein kleiner Phrasen-drescher, der auf einem Kartoffelacker groß geworden war.

Faszinierte sie die Macht? Sahala wurde ja immer wieder als der heimliche Ministerpräsident bezeichnet. Er war nicht viel älter als vierzig, gehörte aber schon seit rund zwanzig Jahren zur politischen Elite und hatte bereits drei Ministerien geleitet.

»Sie sind kein kleines Mädchen mehr, Hauptmeister Kallio.

Als Polizist braucht man psychologisches Einfühlungsvermö-

gen. Manchmal erweisen sich kleine Zugeständnisse als nützlich.«

Ich versuchte mich zu beherrschen und seine Kinnfalten zu zählen, aber als ich bei fünf angelangt war, hielt es mich nicht länger:

»Gelten für die Mätressen des Innenministers andere Gesetze als für Normalsterbliche?«

Das war selbst für den Polizeipräsidenten zu viel. Sein Schrei-anfall war ausgesprochen dramatisch. Im Wesentlichen riet er mir, mich umgehend krankschreiben zu lassen, sonst würde ich vom Dienst suspendiert. Taskinen und ich waren mucksmäuschenstill wie zwei Kinder, die mit Streichhölzern gespielt und dabei die Sauna angezündet haben.

»Jyrki, ich verlasse mich darauf, dass du deinen Untergebenen klar machst, was Taktgefühl bedeutet!«, donnerte der Polizeipräsident abschließend, walzte grußlos zur Tür hinaus und knallte sie hinter sich zu. Nun sah Taskinen mich zum ersten Mal an.

»Erklär mir doch bitte noch einmal, was passiert ist.«

Ich erzählte es ihm, und obwohl ich mich um einen ruhigen Ton bemühte, steckte meine Wut auch Taskinen an.

»Kivimäki war offenbar schwer beleidigt, sonst hätte sie nicht so viel Wind um die Sache gemacht«, sagte er schließlich.

»Am Donnerstag um zehn sitzt die Frau mir hier in diesem Haus gegenüber. Spielchen spielen kann ich auch. Würden sich die Boulevardblätter nicht alle zehn Finger lecken nach einer Story über den Innenminister, der seine Geliebte vor Mordver-dacht schützt?«

»Ruhig Blut, Maria! Mach dir das Leben nicht schwerer, als es ist.«

»Wenn die Kivimäki wirklich das Motiv für Elinas Ermordung kennt, quetsch ich es aus ihr heraus, so wahr ich … weiß, dass Martti Sahala aufgedoppelte Schuhe trägt«, prustete ich. Meine Wut entlud sich in hysterischem Kichern, das nur noch wilder wurde, als ich mir Martti Sahala in einer Liebesnacht vorstellte, wie er sich gerade seiner langen, garantiert hellblauen Unterho-sen entledigte. Taskinen sah mich eine Weile an, dann holte er eine Flasche Mineralwasser aus dem Schrank.

»Trink das, und dann beruhige dich mal. Bist du sicher, dass du nicht noch eine Weile Urlaub brauchst?«

»Natürlich bräuchte ich Urlaub, so wie du und Pihko auch. In diesem Laden kriegt man ja Brechreiz, wenn man bloß an den Chef denkt. Schon gut, du kannst unbesorgt sein, ich fang nicht wieder an. Ich fahre mit dem Nachtzug nach Oulu und benehme mich einwandfrei. Und wenn ich am Donnerstagmorgen zurückkomme, wird Tarja Kivimäki mich hier erwarten.«

»Ohne dein Dazutun?«

»Genau. Sie wird von ganz allein einsehen, dass sie es sich trotz ihres hohen Liebhabers nicht leisten kann, nicht zu erscheinen.«

Taskinen schien mir beinahe zu glauben, was ich von mir leider nicht behaupten konnte. Ich ging in mein Büro und versuchte, vor der Männer-Collage meine Gedanken zu sammeln, indem ich mir einen ausgiebigen Blick auf Geir Moes Beinmuskeln gönnte, doch selbst das half nichts. Ich musste mich regelrecht zwingen, bei der Anwaltskanzlei anzurufen, deren Klientin Elina Rosberg gewesen war.

Elinas Testament enthielt nichts Sensationelles. Einige Legate, unter anderem an die Frauenunion und an den Katastrophen-fonds des Roten Kreuzes. Alles andere fiel, genau wie nach der gesetzlichen Erbfolge, an Aira Rosberg. Joona Kirstilä wurde in Elinas Testament nicht erwähnt.

Obwohl ich mir nicht ernsthaft eingebildet hatte, auf einen geheimnisvollen Erben zu stoßen, war ich insgeheim enttäuscht.

Immerhin durfte ich aber nach den gestrigen Gesprächen mit Kivimäki und Kirstilä hoffen, den Fall doch noch aufklären zu können, auch wenn mir eine skeptische Stimme zuflüsterte, dass Kirstilä Elinas nächtlichen Besucher womöglich erfunden hatte, um den Verdacht von sich abzulenken, und dass Kivimäki mich mit ihren Andeutungen von einem Motiv nur dazu bewegen wollte, ihr ein Interview zu geben.

Ich rief in Rosberga an. Zum Glück war es Johanna, die antwortete.

»Maria Kallio, Polizeibehörde Espoo, guten Tag. Wie ist dein Besuch in Karhumaa verlaufen?«

»Danke, gut. Ich bin erst gestern zurückgekommen, ich konnte mich einfach nicht von den Kindern trennen. Nur Johannes, mein Ältester, hat sich nicht blicken lassen.«

»Hast du deinen Mann getroffen?«

»Nein. Er hat mit Johannes bei seinen Eltern gewohnt, solange ich im Haus war. Am liebsten hätte ich die Kinder gleich mitgenommen, wenigstens die beiden jüngsten.«

»Wie lange wirst du in Rosberga bleiben?«

»Aira sagt, ich darf hier wohnen, bis ich meine Angelegenheiten geregelt habe. Ich müsste irgendwo Arbeit finden und eine Wohnung, aber das wird wohl nicht so leicht sein.«

Wovon lebte Johanna überhaupt? Hatte Elina ihr Geld geliehen?

»Elinas Leiche ist immer noch nicht freigegeben. Dabei muss Aira doch allmählich die Beerdigung organisieren«, fuhr Johanna fort.

Auch das hatten wir über Palos Tod ganz vergessen.

»Maria, ich habe herausgefunden, dass Leevi am Abend des zweiten Weihnachtstages nicht zu Hause war. Angeblich hat er außerhalb gepredigt.« Johannas Stimme klang aufgeregt. Ich fragte mich, ob Elina sowohl mit Kirstilä als auch mit Leevi Säntti einen Spaziergang gemacht haben konnte, auch wenn das unwahrscheinlich war.

»Darüber wollte ich gerade sprechen. Ich fahre morgen nach Karhumaa, um Leevi zu besuchen.«

»Wirklich? Wirst du ihn verhaften?«

»Dazu habe ich im Moment noch keinen Grund. Aber ich werde mit ihm sprechen. Übrigens, vielen Dank für deine Biographie. Sie ist sehr interessant, aber in der Mitte fehlen ein paar Seiten.«

»Ach, die Geschichten aus der Schulzeit haben mit meiner heutigen Situation nichts zu tun.«

Ich kam mir vor wie eine Betrügerin, weil ich so freundschaft-lich mit Johanna plauderte. Ich fuhr ja nicht nur nach Karhumaa, um Leevi Sänttis Alibi zu überprüfen, sondern auch, um etwas über sie zu erfahren. Elina Rosbergs Tod hatte etwas Seltsames, etwas Verrücktes an sich. Als wäre mindestens ein Mensch daran beteiligt, dessen seelisches Gleichgewicht erschüttert war.

Irgendwie passte Johanna in diese Rolle.

Sobald ich aufgelegt hatte, klingelte das Telefon. Es war der Pförtner, der mir mitteilte, jemand wolle mich sprechen.

»Er sagt, er hat keinen Termin. Sein Name ist Kari Hanninen, Therapeut. Soll ich ihn hochschicken?«

Eigentlich hatte ich weder Zeit noch Energie für ein Gespräch mit Hanninen, doch sein Besuch war ein willkommener Anlass, einen Kaffee zu trinken. Ich sagte, ich würde ihn in der Eingangshalle abholen. Im Aufzug überprüfte ich automatisch mein Aussehen: Meine Augen waren dunkelgrün vor Müdigkeit, die Haut war blasser als je zuvor, und der Winter hatte mir die Sommersprossen von der Nase gewischt. Die Haare hätten eine neue Tönung vertragen können. Mein Busen unter dem grünen Pullover schien größer geworden zu sein, aber die Jeans waren mir noch nicht zu eng geworden, eher im Gegenteil.

Hanninen sah immer noch wie ein alternder Rockstar aus, die Cowboystiefel und das schwarze Tuch, das er um den Hals gebunden hatte, verstärkten den Eindruck noch. Er schien seinen Charme anzuknipsen, als er mich sah: Die kaffeebraunen Augen glänzten, der Mund mit der schmalen Oberlippe verzog sich zu einem Lächeln, in den Augenwinkeln erschienen Lachfalten.

»Hauptmeister Kallio, wie schön, dass Sie Zeit für mich haben. Ich fuhr zufällig vorbei und dachte mir, ich erkundige mich, wie es Ihnen nach den Ereignissen der letzten Woche geht. Und da Sie damals in Nuuksio sagten, sie würden gern mit mir sprechen …«

»Ich brauche einen Kaffee, wir können erst mal in der Kantine reden.« Hanninen folgte mir, hielt mir die Tür auf, rückte mir den Stuhl zurecht. Dergleichen war ich nicht gewöhnt, schon gar nicht am Arbeitsplatz, wo ich wie einer von den Jungs war, meine Tasche selber trug und mir selbst in den Mantel half.

Natürlich sprachen wir zuerst über Halttunen. Hanninen war wütend. Von Kollegen hatte ich gehört, dass er in Interviews die Polizeiaktion scharf kritisiert hatte. Das wunderte mich nicht, er hatte immerhin versucht, Halttunen zu helfen, auch wenn er die Situation vielleicht, ohne es zu wollen, verschlimmert hatte.

»Markku war schwer gestört, das gebe ich zu. Aber darf man solche Menschen einfach erschießen? Diese vielen Waffen und die Hubschrauber … Derartige Drohgebärden bringen jeden aus dem Gleichgewicht. Natürlich kam bei ihm auch der Wunsch ins Spiel, getötet zu werden. Hätte es etwas geholfen, wenn Markkus Geisel kein Polizist gewesen wäre?«

»Vielleicht hätte man dann weniger überstürzt gehandelt. Aber eigentlich wollte ich mit Ihnen über Niina Kuusinen sprechen.

Gehen wir in mein Büro?«

Ich hatte Sodbrennen vom Kaffee. Außerdem bedrückte mich Hanninens Anwesenheit. Wenn ich ihn ansah, musste ich an Palo und Halttunen denken.

»Es entspricht nicht meinen ethischen Grundsätzen, über Klienten zu sprechen«, sagte Hanninen, als wir in meinem Dienstzimmer saßen. »Aber vielleicht kann ich in Ihrem Fall eine Ausnahme machen, denn ich weiß, dass Sie klüger sind als die meisten Polizisten.«

»Sie haben Elina Rosberg persönlich gekannt?«

»Früher habe ich sie sogar sehr gut gekannt, wir waren ja etwa ein Jahr lang liiert, zu Beginn unseres Studiums, also vor mittlerweile zwanzig Jahren. Das war mir eigentlich schon entfallen, es ist mir erst wieder in den Sinn gekommen, als ich hörte, dass Elina tot ist.«

»Ich habe Gerüchte gehört, wonach es Konflikte im Therapeutenverband gab.«

Hanninen hob die Augenbrauen, setzte sich dann bequem zurecht, streckte die langen Beine aus und verschränkte die Hände im Nacken.

»Darum geht es also?«, fragte er amüsiert. »Sie wollen keineswegs über Niina Kuusinen sprechen, sondern mich über mein Verhältnis zu Elina ausfragen. Brauchen Sie noch einen Verdächtigen, Hauptmeister Kallio?«

Ich gab ihm keine Antwort, blickte ihm nur in das hübsch zerfurchte Gesicht. Um seine Augen lagen dunkle Ringe, als hätte er nächtelang wach gelegen.

»Ich kann Ihnen gern etwas über Elina Rosberg erzählen, wenn Sie wollen. Gehört es nicht zu den Aufgaben der Polizei, Charakteranalysen von den Verdächtigen und von den Opfern zu erstellen? Elina glaubte, immer im Recht zu sein. Ihre Weltsicht war ausgesprochen begrenzt. Im Allgemeinen seid ihr Frauen ja offener für Neues als die Männer, zum Beispiel für die Grenzwissenschaften. Aber auf Elina traf das nicht zu. Sicher war sie eine gute Therapeutin, das will ich gar nicht bestreiten.«

Nach Hanninens Darstellung war die einige Jahre zurücklie-gende Auseinandersetzung im Therapeutenverband eher auf die Engstirnigkeit Elinas und einiger anderer Psychologen zurückzuführen, als auf seine umstrittenen Methoden. Der Konflikt hatte jedenfalls zur Folge gehabt, dass die Versicherungsanstalt ihren früheren Beschluss, die Kosten für eine Therapie bei Hanninen zu erstatten, überprüft und schließlich rückgängig gemacht hatte. Natürlich erzählte er mir das alles nur, weil er wusste, ich würde es ohnehin herausfinden, wenn ich an der richtigen Stelle nachfragte. Halttunen war einer der letzten Patienten gewesen, deren Therapie die Versicherungsanstalt bezahlt hatte. Hanninen erzählte mit offenkundiger Genugtuung, Halttunen habe ihn als Therapeuten gewählt, weil er kein Weichei sei.

Kari Hanninen sprach gern über sich selbst. Ich fragte mich, ob er auch zuhören konnte. Er erzählte, seit dem negativen Beschluss der Versicherungsanstalt verdiene er seinen Lebens-unterhalt in erster Linie als Astrologe. Dass er außerdem ausgebildeter Psychologe war, machte ihn in den Augen seiner Klienten umso glaubwürdiger.

»Die Astrologie öffnet Knoten, sie hilft den Menschen, Dinge in ihrem Leben zu erkennen, die sie sich sonst nicht bewusst machen würden. Ich sage niemandem, die Sterne schreiben dir das und das vor, du hast keine Alternative.«

»Warum haben Sie denn dann zu Halttunen gesagt, die Sterne hätten ihn noch nicht dazu bestimmt zu sterben?«, fragte ich, weil mich dieser idiotisch klingende Satz seit dem Abend in Nuuksio nicht mehr losgelassen hatte.

»Damit wollte ich ihn beruhigen. Obwohl der Versuch ja zum Scheitern verurteilt war. Hätte …«

Ich wollte nicht schon wieder über das Geiseldrama reden, also unterbrach ich ihn rücksichtslos und brachte das Gespräch auf Niina Kuusinen.

»Frau Kuusinen hat mir gesagt, sie hätte nach dem Tod ihrer Mutter therapeutische Hilfe gesucht. Darüber können Sie sicher sprechen, ohne einen Vertrauensbruch zu begehen.«

»Niina hatte eine sehr enge Bindung an ihre Mutter. Ein typischer Krebs. Sie hatte ein sehr behütetes Leben geführt, wohlhabende Familie, Einzelkind und so weiter. Die Mutter wollte, dass sie Pianistin wird, doch Niina mangelte es dafür an Selbstvertrauen. Die Familie hat lange in Frankreich gelebt, wegen beruflicher Verpflichtungen des Vaters, daher fühlt Niina sich in Finnland wurzellos.«

»Sie hat an der Sibelius-Akademie studiert?«

»Ganz richtig. Im Frühjahr hat sie ihr Examen als Musikpäda-gogin abgelegt. Hoffentlich braucht sie nie eine Stelle an einer Grundschule anzunehmen, Privatunterricht fällt ihr wesentlich leichter.«

Ich dachte an Niina Kuusinens verhuschtes, introvertiertes Wesen und fragte mich, ob sie sich vielleicht in ihren Therapeuten verliebt hatte. Weshalb hatte sie zu Elina gewechselt? Von einer Kurztherapie hatte Hanninen nichts erwähnt. War Niina nicht mit ihm zufrieden gewesen?

»Frau Kuusinen hat mir gesagt, sie habe Elinas Tod so empfunden, als wäre ihre Mutter ein zweites Mal gestorben. Ist es möglich, dass sie die Gefühle für ihre Mutter auf Elina projiziert hat?«

Hanninen lächelte mich an, wie Erwachsene über ein Kind lächeln, das eine dumme, aber niedliche Frage stellt.

»Polizistenpsychologie! Elina war nicht einmal alt genug, um von Niina als Mutterfigur wahrgenommen zu werden. Und sie war nicht der richtige Typ. Niinas Mutter war ihrer Beschreibung nach das Idealbild einer Mutter vom alten Schlag, sanft und fürsorglich. Es stimmt natürlich, dass die Patienten häufig alle möglichen Gefühle auf ihren Therapeuten projizieren. Das ist eigentlich ein Teil des Heilungsprozesses.«

»Braucht Niina Kuusinen Beruhigungsmittel? Oder Schlaftab-letten?«

»Darüber kann ich nun wirklich nicht sprechen.«

Ich wusste, ich würde nicht viel mehr aus ihm herausbekom-men, wir bewegten uns jetzt schon am Rande dessen, was der Datenschutz erlaubte.

»Warum hat Frau Kuusinen die Therapie bei Ihnen abgebro-chen, um Elinas Patientin zu werden?«

Wieder dieses amüsierte Lächeln, mit dem Hanninen mir zu verstehen gab, ich wäre bei weitem nicht so schlau wie ich dachte.

»Wer hat Ihnen denn weisgemacht, die Behandlung wäre beendet? Sie hat nur eine andere Form angenommen. Ich deute weiterhin Niinas astrologische Karten, übrigens gemeinsam mit ihr, denn sie ist in diesem Bereich sehr begabt. Sie erstellt ja auch selbst Karten und verdient sich damit etwas hinzu. Dagegen hat die Versicherungsanstalt die Kosten für eine Psychothe-rapie bei Elina übernommen. Allerdings habe ich kurz vor Weihnachten Gerüchte gehört, im Therapeutenverband seien Elinas radikalfeministische Methoden kritisiert worden. Wie war das noch gleich mit dem Glashaus und den Steinen …«

»Sie scheinen Elina ja wirklich gehasst zu haben. Haben Sie Niina Kuusinen zu ihr geschickt, um ihr nachzuspionieren?«

Diesmal lachte Kari Hanninen laut auf. »Keineswegs! Im Gegenteil, ich dachte, die Richtung, die Elina vertrat, wäre für Niina mit ihrer problematischen Mutterbeziehung genau das Richtige. Aber ich merke langsam, worauf Sie hinauswollen. Sie werden sich sicher freuen, wenn ich Ihnen sage, dass ich für die Nacht nach dem zweiten Weihnachtstag kein Alibi habe. Ich war ganz allein in meiner Wohnung.«

Ich wurde rot und ärgerte mich, dass Hanninen es sah. Wie üblich hatte ich mich von einem Einfall mitreißen lassen, von dem ich selbst wusste, wie absurd er war.

Es klopfte. Die Abteilungssekretärin brachte mir die längst angeforderte Liste der Telefonate, die an den Feiertagen und in der Nacht nach dem zweiten Weihnachtstag von und nach Rosberga getätigt worden waren.

Ich wollte die Aufstellung in Ruhe durchgehen und Kari Hanninen endlich loswerden. Doch er saß mir seelenruhig gegenüber, als wollte er für immer und ewig bleiben.

»Was ist übrigens Ihr Sternzeichen, Hauptmeister Kallio?«, fragte er überraschend, und der Blick, mit dem er mich musterte, gefiel mir gar nicht. »Ich tippe auf eins der dualistischen Zeichen. Zwillinge … nein. Waage oder Fische, würde ich sagen.«

»Hat das irgendeine Bedeutung?« Ich wollte um keinen Preis zugeben, dass er ins Schwarze getroffen hatte, mein Sternzeichen waren tatsächlich die stets auseinander strebenden Fische.

»Ich würde sehr gern Ihre Karte erstellen, völlig umsonst natürlich. Sagen Sie mir nur Ihre genaue Geburtszeit und den Geburtsort.«

Ich verzog gequält das Gesicht. Was konnte das schon schaden, ich glaubte ja nicht an den Unfug. Oder doch? Warum wollte ich nicht, dass Hanninen anhand der Sterne meinen Charakter und mein Schicksal erforschte? Vielleicht ärgerte ich mich nur darüber, dass er sich einbildete, mich zu kennen, wenn er mein Geburtshoroskop in den Händen hatte. Doch sein freches Lächeln brachte mich dazu nachzugeben. Ich gab ihm die Daten, um ihn endlich loszuwerden.

Die Taktik ging auf, er schraubte sich tatsächlich hoch und sagte, er werde gleich an die Arbeit gehen, schon Ende der Woche würde ich das Horoskop bekommen. Ich fragte ihn aber nicht, ob er es wohl persönlich vorbeibringen würde.

Nachdem Hanninen gegangen war, machte ich mich über die Liste der Telefonate her. Von den meisten Gesprächen wusste ich bereits. Tarja Kivimäki hatte am Heiligen Abend ihre Eltern in Tuusniemi angerufen, Niina Kuusinen ihre Ankunft am ersten Weihnachtstag telefonisch angekündigt. Kirstilä hatte mehrmals angerufen, sowohl aus Hämeenlinna als auch aus Helsinki, und auch sein Bericht über den nächtlichen Anruf bestätigte sich.

Doch vor diesem Gespräch verzeichnete die Liste eine Nummer, bei der mir der Atem stockte: Warum war Elina am Abend des zweiten Weihnachtstages um elf Uhr von Leevi Sänttis Handy aus angerufen worden?

Zwölf

Das Ruckeln des Zuges lullte mich ein, eine Viertelstunde nach der Abfahrt lag ich in tiefem Schlaf und erwachte erst am Morgen, kurz vor Oulu. Ich hatte gerade noch Zeit, auf die Toilette zu gehen, mir das Gesicht zu waschen und mich rasch zu schminken. Gerade als ich mir die Wimpern tuschte, fuhr der Zug über eine Weiche. Prompt hatte ich einen dicken, dunkelbraunen Mascarastrich auf der Nase, der sich kaum entfernen ließ. Im Allgemeinen schminkte ich mich nach dem Frühstück, aber Kaffee gab es erst in Oulu am Bahnhof.

Vor mehr als zehn Jahren war ich zum letzten Mal nach Oulu gefahren, mit Freunden zu einem Rock-Festival. Von der Stadt war mir kaum etwas in Erinnerung geblieben, doch man hatte mir gesagt, in der Nähe des Bahnhofs sei eine Polizeiwache.

Von dort würde mich jemand nach Karhumaa bringen. Als ich erfuhr, dass Leevi Säntti mit dem Handy Elinas Privatanschluss angerufen hatte, war ich sofort aktiv geworden, um ihn offiziell vernehmen zu können.

Am Bahnhof bekam ich durchaus genießbaren Kaffee und ein frisches Käsebrötchen. Gestärkt und halbwegs wach machte ich mich auf den Weg zur Wache. Der Pförtner sagte, er werde Polizeimeister Rautamaa meine Ankunft melden. Bald darauf kam eine fast eins achtzig große hellblonde Frau in Winteruni-form auf mich zu. Sie war in meinem Alter.

»Minna Rautamaa, guten Morgen. Sag mal … haben wir nicht zusammen auf der Polizeischule angefangen?«

»Ja natürlich! Du bist dann schwanger geworden und musstest die Ausbildung unterbrechen. Aber Rautamaa hast du damals nicht geheißen. Und ich dachte schon, ich kenne hier niemanden.«

»Mein Mädchenname war Alatalo. Das Kind ist inzwischen schon zwölf. Fahren wir?«

Ich erinnerte mich, wie enttäuscht ich war, als die damalige Minna Alatalo den Polizeianwärterlehrgang wegen ihrer Schwangerschaft abbrechen musste. Wir waren die einzigen Frauen im Kurs, und nach Minnas Abgang hatte ich mich eine Weile ganz verlassen gefühlt.

Ein eiskalter Wind fegte durch die Stadt, es war noch nicht hell, und hinter den meisten Fenstern brannten Weihnachtslich-ter, obwohl die Feiertage längst vorbei waren. Minna fuhr gleichmäßig neunzig und sprach über ihr Leben als Polizistin und Mutter von drei Kindern. Sie hatte sich gerade zu einem Lehrgang für den mittleren Dienst angemeldet, denn mittlerweile ging auch das jüngste Kind zur Schule, und sie meinte, jetzt hätte sie Zeit für ihre Karriere. Auch ich berichtete kurz, wie es mir in den letzten Jahren ergangen war, und erklärte dann, weshalb ich mit Leevi Säntti sprechen wollte.

»Ach, in Nuuksio«, sagte Minna. »War da nicht letzte Woche auch dieses Geiseldrama? Der Polizist, der dabei umgekommen ist, hat doch bei euch gearbeitet, oder?«

»Ja, ein Kollege aus meiner Abteilung«, sagte ich kurz angebunden und kam dann wieder auf Elina Rosberg zurück. Minna warf mir einen kurzen Blick zu, war aber klug genug, nicht nachzuhaken.

»Wie alt ist diese Johanna Säntti eigentlich?«, fragte sie, als ich mit meinem Bericht fertig war.

»Jahrgang zweiundsechzig.«

»Dann muss das die Johanna Yli-Koivisto sein, die in der Oberstufe in meine Klasse ging. Sie wohnte in Karhumaa und hat später einen Prediger geheiratet. Ich hab nicht viel mit Religion am Hut, aber von Leevi Säntti habe ich schon gehört, wenn ich es mir genauer überlege. Er ist hier in der Gegend einer der führenden Altlaestadianer.«

»Dann hast du Johanna Säntti also als junges Mädchen gekannt? Erzähl mir von ihr!«

»Sie war eine von den Stillen, eine unglaublich gewissenhafte Schülerin, hat immer die besten Noten gekriegt und ein Super-abitur gemacht. Wir hatten allerdings kaum Kontakt miteinander. Die Laestadianer haben sich ziemlich abseits gehalten, sie durften sich mit uns anderen nicht abgeben, glaube ich. Aber an eine Geschichte erinnere ich mich noch gut, das muss gleich in der ersten Klasse der Oberstufe gewesen sein.

Johanna war ziemlich hübsch, auch wenn sie alles tat, um das zu verbergen. Sie trug merkwürdige Klamotten und steckte ihre blonden Locken immer in einem straffen Knoten auf.«

In einer engen, schneeverwehten Kurve kam uns ein mit Baumstämmen beladener Lastzug entgegen. Minna wich ihm aus, kam ins Rutschen, brachte den Wagen aber nach einigen Sekunden wieder unter Kontrolle.

»Donnerwetter nochmal, der hatte mindestens zwanzig Kilometer zu viel drauf!«, schimpfte sie. »Eigentlich müsste ich dem jetzt hinterher, aber ich hab keine Lust auf eine Schneerallye.«

»Ich hab inzwischen auch nicht mehr die Energie, mich in alles einzumischen. Man wird eben älter. Aber was war das für eine Geschichte mit Johanna?«

Minna erzählte mir von Jari Kinnunen, dem wildesten Punker und Rüpel in ihrer Klasse, der bis über beide Ohren in die schöne, stille Johanna Yli-Koivisto verknallt war. In den Pausen hatte er versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen, in der Mensa neben ihr gesessen, er hatte ihr Schokolade gekauft und Liebes-lieder geschrieben.

»Hörst du manchmal moderne Rockmusik? Kennst du eine Band namens ›Levoton pää‹? Bei denen ist Jari Gitarrist.«

Natürlich kannte ich die Gruppe, sie spielte ganz guten Neo-punk. Allerdings hatte ich bisher geglaubt, die Musiker wären um die zwanzig.

Nach Minnas Worten war Jari ungefähr der Letzte gewesen, mit dem ein Mädchen wie Johanna gegangen wäre. Anfangs war ihr seine Aufmerksamkeit einfach nur peinlich gewesen. Doch im Herbst war sie langsam aufgetaut, und an einem Freitag in der Adventszeit war sie zur allgemeinen Überraschung zu einer Klassenparty gekommen, die Minna gegeben hatte. Dort sollte sie ihr Bruder allerdings schon um zehn Uhr abholen.

Jari Kinnunen hatte schon tagsüber in der Klasse verkündet, an diesem Abend würde er das Dornröschen wachküssen. Und das tat er auch. Als Johannas Bruder sie abholen wollte, war sie nicht im Wohnzimmer, wo fast alle anderen saßen, quasselten und tranken.

»Schließlich haben wir die beiden im Zimmer meiner kleinen Brüder gefunden, wo sie zwischen Autorennbahn und Eisho-ckeyschlägern standen und sich küssten. Wohlgemerkt, sie haben sich nur geküsst, es war ganz harmlos. Aber Johannas Bruder ist total ausgeflippt. Erst hat er Jari geschlagen, dann Johanna, und was er gesagt hat … Ich hätte nie gedacht, dass fromme Leute derartig fluchen können. Er hat Johanna angebrüllt, sie sei eine Hure, dann hat er sie ins Auto gezerrt. Jari wollte sich natürlich auf ihn stürzen, aber wir konnten ihn zum Glück davon überzeugen, dass er Johannas Situation dadurch nur verschlimmern würde.«

Am nächsten Montag war Johanna still wie immer zur Schule gekommen und hatte über den Vorfall am Wochenende kein Wort verloren. Mit Jari sprach sie nicht. Die letzte Stunde an diesem Tag war Sport, und obwohl Johanna sich zum Umziehen in den hintersten Winkel verdrückte, sahen die Mädchen, dass sie am ganzen Körper blaue Flecke hatte.

»Wir hätten natürlich etwas unternehmen sollen«, seufzte Minna. »Aber es war so selbstverständlich für uns, dass die Gläubigen ihr eigenes Leben führen und dass man sie am besten in Ruhe lässt. Jari ist dann im Frühjahr von der Schule abgegan-gen, weil er einen Job bei einem Tango-Orchester bekam.

Johanna hat nicht an der Abifete teilgenommen, und als sie zur Englischklausur kam, trug sie einen Verlobungsring. Soweit ich weiß, wollte sie Medizin studieren, aber stattdessen hat sie dann geheiratet.«

Wir waren in der Ortschaft Ii angelangt, von hier aus führte die Straße am Fluss Iijoki entlang nach Osten, nach Karhumaa und Yli-Ii. Im Sommer machte es sicher Spaß, mit dem Rad am Fluss entlangzufahren, stellte ich mir vor. Jetzt ging allmählich die Sonne auf. Ihre schrägen Strahlen zeichneten bunt glitzernde Muster in den Schnee. Ich betrachtete eine Zeit lang die Landschaft, doch dann wurde mir auf einmal so übel, dass ich Minna bitten musste anzuhalten. Ich stolperte aus dem Wagen und übergab mich.

Minna erriet natürlich sofort, was los war, und gab mir mit der Erfahrung der dreifachen Mutter Tipps gegen die Übelkeit. Ich hielt nach einer Tankstelle Ausschau, wo ich mir den Mund ausspülen konnte, sah aber keine. So ließ ich Minna kurz vor Karhumaa noch einmal anhalten und schaufelte mir Schnee vom Wegrand in den Mund. Er schmeckte wie in der Kindheit: zuerst frisch, dann ölig und streng.

Das Dorf war klein, es befand sich im Grunde nur an der Hauptstraße. Mit Hilfe der Anweisungen, die ich erhalten hatte, fanden wir das Haus der Sänttis zwei Kilometer von der Dorfmitte, unmittelbar am Flussufer. Das Grundstück war offenbar von den Ländereien des Bauernhofs abgetrennt worden, der weiter oben an der Uferböschung stand. Alle Häuser in Karhumaa wirkten geräumig, als wären sie für zwölfköpfige Familien bemessen, das Haus der Sänttis war jedoch prächtiger als die anderen, ein einstöckiger Bungalow aus hellem Backstein mit sicher an die dreihundert Quadratmeter Wohnfläche. Auf dem Hof standen ein eleganter schwarzgrauer Volvo und ein Kleinbus derselben Marke, wahrscheinlich das einzige Gefährt, in dem die Kinderschar der Sänttis überhaupt Platz fand. Skier und Tretschlitten standen ordentlich aufgereiht vor dem Haus, die Rüschengardinen an den Fenstern sahen aus, als wären sie gerade erst gewaschen worden. Entgegen meiner Erwartung wirkte das Haus der Sänttis von außen keineswegs bedrückend. Auch der Mann, der wartend in der offenen Tür stand, sah anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte.

Trotz seiner angenehmen, kultivierten Stimme hatte ich Leevi Säntti als kleinen, dicklichen Mann vor mir gesehen, mit streng in der Mitte gescheitelten dünnen, fettigen Haaren, einem Brillengestell aus den sechziger Jahren und einem dunklen Anzug mit zu kurzer Hose.

In Wahrheit war er ein breitschultriger, eins achtzig großer Mann mit kurzem, kartoffelschalenbraunem Haar, das ganz offensichtlich mit Schaumfestiger und Lockenbürste in Form geföhnt worden war. Seine Gesichtszüge waren unauffällig, aber angenehm, und statt des schlecht sitzenden Anzugs, den ich erwartet hatte, trug er eine dunkelblaue Cordhose und einen braunblau gemusterten, legeren Pullover, unter dem ein hellblau gestreifter Hemdkragen hervorschaute. Säntti sah keinen Tag älter aus als einundvierzig. Wir betraten die geräumige Diele, in der eine imposante Anzahl von Garderobenschränken untergebracht war. Man hörte Kinderstimmen, und plötzlich tauchte am Ende des Flurs ein Dreikäsehoch auf, zeigte auf mich und sagte, sichtlich stolz auf sich selbst:

»Tante. Tante.«

Das Kind konnte noch keine zwei Jahre alt sein, es musste sich also um meine Namensschwester Maria handeln, Johannas Jüngste. Am liebsten hätte ich sie auf den Arm genommen, doch bevor ich dazu kam, wurde sie von einem etwa sechsjährigen Mädchen weggeholt.

»Wir gehen am besten in mein Arbeitszimmer, dort können wir ungestört reden. Die Kinder sollen nicht hören, dass die Polizei Erkundigungen über ihre Mutter anstellt. Zum Glück sind Sie nicht im Streifenwagen gekommen.«

»Es handelt sich nur um Routinefragen«, beschwichtigte ich.

Auf dem Weg in Leevi Sänttis Arbeitszimmer gelang es mir, einen Blick in eine traditionell eingerichtete Wohnstube und in ein Kinderzimmer mit Schutzengelbild und Etagenbett zu erhaschen.

»Ich bin nur nebenberuflich Prediger, in erster Linie arbeite ich im Sägewerk meines Vaters«, erklärte Säntti, als ich neugierig das Bücherregal betrachtete, in dem religiöse Textsammlungen und Fachbücher über die Holzverarbeitung Seite an Seite standen. »Am Nachmittag muss ich wieder ins Werk, kommen wir also gleich zur Sache. Maija-Leena wird uns sicher bald Kaffee bringen.«

Irgendetwas an Leevi Säntti erinnerte mich an Kari Hanninen.

Das Aussehen war es nicht, auch nicht die Sprechweise, obwohl beide eine weiche Stimme hatten, die einen gewissermaßen zwang, ihnen zuzuhören. Ich überlegte, was der verbindende Faktor sein mochte. Es war kaum anzunehmen, dass Leevi Säntti an Astrologie glaubte.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich dieses Gespräch aufnehme?« Da er den Kopf schüttelte, fuhr ich fort: »Elina Rosberg, bei der Ihre Frau Johanna gewohnt hat, seit sie ihr Zuhause verlassen hat, also seit ein paar Monaten, ist vor zwei Wochen unter bisher ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Ich würde gern mit Ihnen über die psychische Verfassung Ihrer Frau sprechen. Sie hat ja eine schwere Zeit durchgemacht. Der Entschluss, ihre Schwangerschaft zu beenden und ihre Familie, sei es auch nur vorübergehend, zu verlassen, ist ihr sicher nicht leicht gefallen. Würden Sie sagen, dass ihr seelisches Gleichgewicht gestört ist?«

»Glauben Sie an Gott, Hauptmeister Kallio?«

Obwohl Sänttis Frage nicht zur Sache gehörte, entschied ich mich dafür, sie zu beantworten.

»Ich weiß selbst nicht, woran ich glaube. Wieso?«

»Ich würde in Johannas Fall nicht von seelischer Erschütterung sprechen, sondern von Auflehnung gegen den Willen Gottes. Die Bibel verbietet den Mord, also auch die Abtreibung, in der Bibel heißt es unmissverständlich, dass das Weib dem Manne Untertan ist und dass eine Mutter zu ihren Kindern gehört. Ich kenne meine Frau nicht mehr. Ihre Brüder erinnern sich zwar, dass sie in der Schulzeit einige Male gegen Gottes Willen aufbegehrt hat, aber sie war jahrelang eine gute Mutter und eine fügsame Ehefrau. Ich weiß nicht, ob der Teufel in sie gefahren ist und sie sich deshalb so verhält. Sie hat bereits einen Menschen getötet. Wie ich Ihnen am Telefon schon sagte, halte ich es durchaus für möglich, dass sie ein zweites Mal gemordet hat.«

»War es Ihrer Ansicht nach Elina Rosbergs Schuld, dass Ihre Frau abtreiben ließ?«

»Wie meinen Sie das?« Seine Stimme klang verblüfft, obwohl er sicher verstand, worauf ich hinauswollte.

»Elina Rosberg hat Ihre Frau doch dazu ermutigt, die Abtreibung vornehmen zu lassen, und ihr eine Unterkunft angeboten.«

»Das wusste ich nicht.« Sänttis Bariton war eine Spur dumpfer geworden. »Ich dachte, Fräulein Rosberg hätte eine Art Asyl geleitet.«

»Ein Asyl? Für Opfer häuslicher Gewalt?«, fragte ich vorsichtig.

»Was wollen Sie damit andeuten?«

»Ich will gar nichts andeuten. Ich möchte nur erfahren, welche Auffassung Sie von Elina Rosberg und von der Tätigkeit des Gutshauses Rosberga haben.«

Im selben Moment ging die Tür auf und eine schlanke junge Frau mit einem Tablett trat ein. Sie sah Johanna auffallend ähnlich, allerdings wirkte Maija-Leena Yli-Koivisto nicht annähernd so traurig und erschöpft wie ihre ausgemergelte Schwester, sondern war trotz ihrer altmodischen Kleidung eine ausgesprochen hübsche Frau.

Auf dem Tablett standen eine Kaffeekanne und drei Tassen, dazu allem Anschein nach selbst gebackenes Roggenbrot und duftendes Hefegebäck. Minna warf mir einen Blick zu, als wollte sie mich auffordern zu essen, damit mir nicht wieder übel wurde. Maija-Leena stellte das Tablett ab und ging. Ich überlegte, ob ich Gelegenheit finden würde, auch mit ihr zu sprechen, nachdem Leevi Säntti in sein Sägewerk gegangen war.

Das Brot schmeckte nach Sommer, nach den Ferien auf dem Hof meines Onkels Pena in Kuusikangas. Ich hatte meine Scheibe fast aufgegessen, bevor Leevi Säntti weiterredete.

»Vielleicht waren die Ereignisse der letzten Monate belastend für Johanna, aber das waren sie für mich auch. Man mag noch so sehr darauf vertrauen, dass Gott weiß, was er tut, und doch begeht man manchmal die Sünde des Zweifels. Das Kind, das Johanna getötet hat, war auch mein Kind. Warum wollte Gott mich strafen, indem er zulässt, dass mein Kind getötet wird?«

»Das Kind wäre wohl in jedem Fall gestorben und Ihre Frau auch, wenn die Schwangerschaft weiter fortgeschritten wäre.«

»Der Herr hat schon größere Wunder vollbracht. Vielleicht hätte er Johanna und das Kind verschont, wenn wir uns klaglos seinem Willen gefügt und auf die Kraft des Gebetes vertraut hätten.«

Ich sah Leevi Säntti ungläubig an und erkannte im selben Moment, was er mit Kari Hanninen gemeinsam hatte. Beide drehten ihren persönlichen Charme voll auf, wenn sie von Dingen sprachen, die ihren Gesprächspartnern besonders unglaubhaft erschienen. Säntti war sicher ein charismatischer Prediger.

»Hätten Sie Ihre Frau nach der Abtreibung wieder in Ihrem Haus aufgenommen?«

»Abtreibung ist eine sehr schwere Sünde, auch wenn die weltliche Gesellschaft sie gestattet. Natürlich brauchen die Kinder ihre Mutter, aber vielleicht ist es besser, sie wachsen mutterlos auf als unter der Lenkung einer gottlosen Mutter.«

Minna machte eine abrupte Bewegung und stieß mit dem Ellbogen gegen das Tonbandgerät, dabei flog ein Stapel Papiere auf den Boden. Ich war froh über die Unterbrechung, die mir Zeit gab, mich zu beruhigen. Es war nicht meine Aufgabe, Leevi Sänttis Weltsicht zu verändern, dazu wäre ich auch gar nicht fähig gewesen. Trotzdem fiel es mir schwer, ihm widerspruchs-los zuzuhören.

»Unsere Religion verbietet die Ehescheidung. Trotzdem will Johanna sie durchsetzen. Um der Kinder willen habe ich mich bemüht, großzügig zu sein, ich habe Johanna in der letzten Woche sogar gestattet, unter meinem Dach zu übernachten, obwohl ich befürchtete, dass sie die Seele meiner Kinder vergiftet. Sie will die Kinder für sich, obwohl sie ihnen nicht einmal ein Zuhause bieten kann. Sie …«, Leevi Säntti breitete die Arme aus, beinahe als ahme er den gekreuzigten Christus nach, »sie will mich und meine Familie zerstören.«

»Sie werden ihr also die Kinder nicht überlassen?«

»Nein, zumindest nicht kampflos. Und Gott steht auf meiner Seite.«

Ich wusste nicht, ob ich an Gott glaubte, aber ich glaubte auf keinen Fall an einen Wunschautomaten, der Wünsche erfüllt, wenn man nicht vergisst, regelmäßig die Hände zu falten. Und ein Gott, der eine Mutter von neun kleinen Kindern lieber sterben lässt als ihr eine lebensrettende Abtreibung zu erlauben, konnte mir ebenfalls gestohlen bleiben. Ich spürte schon wieder die Wut in mir aufsteigen und konnte mir kaum noch die Frage verkneifen, ob Leevi Säntti jemals von Kondomen gehört hatte.

»Sie haben mehrmals angedeutet, Ihre Frau könnte Elina Rosberg getötet haben. Haben Sie eine Vorstellung, weshalb?«

Leevi Säntti sah mich tieftraurig an.

»Fräulein Rosberg hat meine Frau zu der Abtreibung ermutigt, das haben Sie doch selbst gesagt. Vielleicht hat Johanna schließlich erkannt, dass sie gesündigt hat, und wollte ihre Versucherin töten.«

Ich seufzte. Obwohl Johanna nach dieser Logik auch das Krankenhauspersonal töten müsste, das den Abbruch durchgeführt hatte, machten mich Sänttis Worte nachdenklich. Um Elinas Tod lag tatsächlich eine Aura von Wahnsinn. Vielleicht war das die Erklärung. Psychisch stabil war Johanna gewiss nicht.

»Wo waren Sie in der Nacht nach dem zweiten Weihnachtstag?«

»Ich? Zu Hause. Oder nein – ich glaube, ich war doch nicht hier … Einen Moment.« Säntti, ganz Geschäftsmann, nahm einen Time Manager aus seiner Aktentasche.

»An diesem Tag bin ich bis nach Südfinnland gefahren … In Vihti fand eine geistliche Zusammenkunft statt, zu der ich als Prediger eingeladen war.«

»In Vihti, so.« Nicht weit von Nuuksio also. »Wo haben Sie übernachtet?«

»Bei einem Glaubensbruder in Vihti.«

»Sie haben nicht zufällig einen Abstecher nach Nuuksio gemacht?«

»Wozu?«

»Um Ihre Frau zu besuchen … Oder Elina Rosberg. Mit ihr haben Sie doch an dem fraglichen Abend um elf Uhr telefoniert.

Worum ging es in dem Gespräch?«

Säntti blickte nach oben. Bat er seinen Gott um Hilfe?

»Ich habe sie nicht angerufen«, sagte er schließlich und sah mir geradewegs in die Augen.

»Betrachtet Ihre Religion die Lüge nicht als Sünde? Sie haben angerufen. Und zwar bei Elina Rosbergs Privatanschluss, nicht bei dem allgemeinen Anschluss im Gutshaus, den auch Ihre Frau benutzt.«

»Und wenn ich diese Frau zur Vernunft bringen wollte? Wenn ich sie gebeten habe, meine Frau zu mir zurückzuschicken?«

»Am zweiten Weihnachtstag um elf Uhr nachts?«, fragte ich skeptisch.

Leevi Säntti hielt meinem Blick stand, kam jedoch um die Antwort herum, weil plötzlich die Tür aufging und ein etwa dreijähriger Junge hereinkam. Er reckte sich nach der Klinke, schloss sorgsam die Tür und lief zu seinem Vater.

»Vater, ist die Mama mit dem fremden Auto gekommen?«

»Simo, ich habe dir schon oft gesagt, du darfst nicht in Vaters Zimmer kommen, wenn Vater arbeitet. Mutter ist nicht mit dem Auto gekommen, sondern diese beiden Tanten. Jetzt geh brav zu Tanta Maija-Leena.«

Simo starrte uns an und tat, als hätte er die Aufforderung seines Vaters nicht gehört. Besonders Minnas Uniform schien ihn zu faszinieren. Leevi Säntti rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, und ich hatte das Gefühl, in Anwesenheit anderer Besucher hätte er seinen Sohn energischer aus dem Zimmer geschickt. Schließlich kletterte der Junge auf meinen Schoß, was mich wunderte, denn ich bin nicht der Typ, der auf kleine Kinder besonders anziehend wirkt.

»Unsere Mutter wohnt nicht mehr hier«, erklärte Simo. »Sie kommt nur manchmal zu Besuch. Mama hat eine Sünde getan, deshalb darf sie nicht mehr bei uns wohnen.«

Es war absurd, aus dem Mund eines Dreijährigen das Wort

»Sünde« zu hören. Ich hätte Simo gern gesagt, dass seine Mutter sich nach ihm sehnte, doch ich wollte sein Gefühlsleben nicht noch mehr in Verwirrung bringen. Der Atem des Kleinen duftete nach Roggenbrot, seine Wangen waren warm und glatt wie eine sonnengereifte Nektarine. Leevi Säntti stand auf, öffnete die Tür und rief nach Maija-Leena. Die junge Frau kam angelaufen, dicht gefolgt von drei kleinen Mädchen. Alle wirkten erschrocken.

»Komm nur, Simo, du darfst uns helfen, das Zimmer von Johannes und Markus aufzuräumen«, sagte Maija-Leena beschwörend. Ich fragte mich, wieso das für einen Dreijährigen ein verlockendes Angebot sein sollte, aber der Junge kletterte folgsam von meinem Schoß und trippelte hinaus.

»Ich gebe zu, dass es eine ungewöhnliche Zeit für einen Anruf war, aber ich hatte zufällig gerade das Telefon in der Hand und dachte, solche Menschen gehen ohnehin nicht so früh schlafen.«

»Und was wollten Sie von Elina Rosberg?«

»Ich hoffte, sie würde Johanna zur Vernunft bringen und dazu veranlassen, entweder nach Hause zu kommen oder auf die Kinder zu verzichten. Sie will die Kinder, hat aber kein Zuhause, kein Einkommen, gar nichts … Und sie wird die Kinder nicht bekommen. Sie hat sie verlassen, sie ist seelisch gestört.

Ihre Forderung ist sinnlos, denn mit Gottes Hilfe werde ich den Prozess gewinnen.«

Vielleicht braucht es dazu auch einen Anwalt, dachte ich, hielt aber den Mund.

»Elina Rosberg war zu keiner Zusammenarbeit bereit. Als ich vorschlug, dass Johanna zurückkommen darf, wenn sie bereut und mich, unsere Gemeinde und Gott um Vergebung bittet, hat sie einfach aufgelegt.«

Das hätte ich auch getan. Aber hatte Elina wirklich aufgelegt?

Vielleicht war Leevi Säntti entgegen seiner Aussage doch nach Rosberga gefahren. Wenn Elina sich nun vor dem Tor mit ihm getroffen und in seinen Wagen gesetzt hatte, wo sie unter dem Einfluss der Medikamente das Bewusstsein verlor? Säntti sah die Gelegenheit gekommen, sich an Elina zu rächen, und schleppte sie in den Wald … Die Analyse der wenigen fremden Fasern, die an Elinas Leiche gefunden worden waren, war sicher bereits abgeschlossen. Wenn die Fasern nun mit den Sitzbezü-

gen in Sänttis Wagen übereinstimmten oder mit seinen Kleidern?

Ich ließ mir den Namen seines Bekannten in Vihti nennen.

Säntti behauptete, gegen halb eins dort eingetroffen zu sein, was ihn aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen würde. Aber seine Aussage musste natürlich überprüft werden.

Schließlich fragte ich nach der Adresse von Johannas Eltern und erfuhr, dass ihre Mutter vor einigen Jahren gestorben war.

»Für ihren Vater und ihre Brüder ist Johanna an dem Tag gestorben, als sie ihr Kind getötet hat. Sie werden kaum bereit sein, mit Ihnen zu sprechen.«

»Nun, das werden wir sehen. Zuerst will ich mich ohnehin mit Johannas Schwester unterhalten.«

Sänttis Miene wurde immer abweisender.

»Maija-Leena kann Ihnen nichts erzählen, was ich nicht auch wüsste. Fragen Sie mich! Anschließend können wir zusammen wegfahren.«

Ich musste mich gehörig ins Zeug legen, bevor Säntti uns gestattete, in seinem Haus zu bleiben, während er sich in sein Sägewerk begab. Er bat uns jedoch, mit der Befragung zu warten, bis Maija-Leena die kleine Maria zum Mittagsschlaf hingelegt hatte und Elisa aus der Schule gekommen war und ihr die größeren Kinder abnehmen konnte. Also verließen wir dann doch gemeinsam mit Leevi Säntti das Haus und machten uns auf den Weg zu Johannas Verwandten.

»Du scheinst Johanna ernsthaft zu verdächtigen, sonst hättest du doch nicht die weite Reise auf dich genommen, um Erkundigungen über sie einzuziehen«, meinte Minna, als wir in gemächlichem Tempo zu dem Hof Yli-Koivisto fuhren, wo Johannas Vater, ihr ältester Bruder mit seiner Familie und der noch unverheiratete jüngste Bruder lebten.

»Es geht nicht nur darum«, antwortete ich kurz angebunden.

Worum es mir ging, wusste ich selbst nicht genau, ich wollte einfach mehr über Johannas Leben in Karhumaa wissen.

Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte auch ihr großer Bruder viele Kinder, daher erwartete ich ein Haus voller Leben. Das dunkelrot gestrichene Gebäude stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert, und der daran anschließende Kuhstall sah stattlich und gepflegt aus. Auf dem Hof standen keine Autos, doch vor der geräumigen Garage entdeckte ich frische Reifenspuren.

Niemand machte auf, obwohl wir zuerst ein paar Mal klopften und dann sogar klingelten – auf dem Land ein sicheres Zeichen dafür, dass es sich bei den Besuchern um Fremde handelt.

Nachdem wir festgestellt hatten, dass auch der Kuhstall abgeschlossen war und im Haus kein Licht brannte, fuhren wir wieder ab. Entweder waren die Yli-Koivistos tatsächlich nicht zu Hause, oder sie wollten um keinen Preis mit der Polizei sprechen.

Johannas Elternhaus lag ein wenig abseits vom Dorf, und der dunkle Anstrich ließ es düster und verschlossen wirken. Es wunderte mich nicht, dass Maija-Leena Yli-Koivisto es vorzog, im moderneren Haus ihrer Schwester zu wohnen. Bei unserer Rückkehr wuselte sie geschäftig im Haus umher, wie die rechtmäßige Hausherrin. Ich erinnerte mich an Johannas Bemerkung, wenn sie bei der Geburt ihres Kindes gestorben wäre, hätte Leevi in Maija-Leena eine Nachfolgerin gefunden.

Was mochte geschehen, wenn Johanna sich scheiden ließ? Ich wusste nicht, ob die Altlaestadianer es so hielten wie die Katholiken und Geschiedenen eine neue Eheschließung verwei-gerten. Würde Maija-Leena ihrem Schwager trotzdem dienen?

Denn dass Maija-Leena Yli-Koivisto in Leevi verliebt war, sah man auf den ersten Blick. Sie sprach von ihm wie von einem Halbgott und duldete keine Kritik. Johanna habe gewusst, dass Abtreibung Sünde sei. Gott hätte sich gewiss um sie und ihr Kind gekümmert. Was mochte Johanna empfunden haben, als ihr klar wurde, dass alle ihre Angehörigen bereit waren, sie zum Tod zu verurteilen? Eigentlich hatten wir etwas gemeinsam: Wir hatten beide in Lebensgefahr geschwebt. Johanna hatte sich allerdings selbst gerettet, während ich aus purem Zufall überlebt hatte.

»Auch für die Kinder ist es besser, dass Johanna nicht hier ist.

Ihre Besuche bringen sie nur durcheinander, Maria hat jetzt wieder mehrere Nächte unruhig geschlafen. Den größeren kann man wenigstens erklären, worum es geht, aber die kleineren verstehen es noch nicht.« Maija-Leena nähte Knöpfe an ein dunkelblaues Kleid, das ungefähr einer Sechsjährigen passen mochte. Im Ofen brutzelte Hackbraten, Brotteig lag zum Gehen in einer Schüssel. Im Nebenzimmer las die elfjährige Elisa ihren kleinen Geschwistern aus einem Buch vor, in dem jemand seine Schäfchen verloren hatte.

»Mögen Sie Ihre Schwester?«

Maija-Leena blickte von ihrer Näharbeit auf, senkte den Blick jedoch rasch wieder, als fürchte sie, ihre Augen würden sie verraten.

»Sie ist so viel älter als ich … Als ich klein war, habe ich sie sehr bewundert, sie war so nett und hat immer mit mir gespielt.

Und als sie und Leevi dann geheiratet haben, war das ein wunderschönes Fest! Alle im Dorf haben gesagt, auf Johanna liegt der Segen des Herrn, weil sie einen so guten Mann bekommen hat. Ein bisschen habe ich mich gewundert, als ich in der Oberstufe war und sie mich drängte zu studieren, sie hat sich beklagt, weil sie selber kein Studium machen konnte. Dabei hatte sie doch ein schönes Haus und viele gesunde Kinder, was wollte sie denn mehr? Es kommt mir so vor, als hätte sie schon seit Jahren weltliche Gedanken gehabt. Die hat sie auch in Annas Herz gesät, so dass ihr Vater sie ihr mit der Rute austrei-ben musste.«

»Schlägt Leevi Säntti seine Kinder?«, fragte Minna ruhig. Wir sahen uns nicht an, aber es war uns beiden klar, dass Johanna in diesem Fall einen gewaltigen Vorteil im Kampf um das Sorgerecht hatte. Es mochte ja sein, dass man in Karhumaa Schläge als angemessene Erziehungsmaßnahme betrachtete, doch zum Glück galten die Regeln von Karhumaa nicht überall.

Irgendwo weinte ein Kind.

»Maria ist wieder aus dem Schlaf geschreckt. Ich muss zu ihr.

Und Sie sollten jetzt gehen, die größeren Kinder kommen bald aus der Schule. Es wäre unangenehm, wenn sie miterleben müssten, dass die Polizei nach ihrer Mutter fragt.«

Das mussten wir akzeptieren, außerdem wollte ich ja auch meinen Zug nicht verpassen. Als wir vom Hof der Sänttis fuhren, hielt an der gegenüberliegenden Straßenseite gerade ein Schultaxi. Ein Mädchen stieg aus. Die blonden, zum Pferde-schwanz gebundenen Locken verrieten unzweifelhaft, wer sie war: Anna Säntti hatte die gleichen Haare wie ihre Mutter.

»Stopp, Minna, halt an!« Ich sprang in den Schnee am Wegrand, noch ehe der Wagen ganz zum Stillstand gekommen war, und rief dem Mädchen nach:

»Anna! Warte mal!«

Sie drehte sich um, sah uns erwartungsvoll an, bis sie enttäuscht merkte, dass ihre Mutter nicht dabei war. Dennoch kam sie angelaufen, eine hoch aufgerichtete kleine Frau im dunkelgrünen Wollmantel, der aussah, als hätte sie ihn von ihrer Mutter geerbt.

Ich sagte ihr, wer wir waren, und fragte, ob es im Dorf ein Café gab, wo wir uns unterhalten konnten.

»So etwas gibt es hier nicht, die Leute trinken ihren Kaffee zu Hause.« Ihre Augen wirkten älter als die einer Dreizehnjährigen, ihr Körper war bereits voll entwickelt. »Wir können ja ein Stück fahren. In Richtung Viittakorpi, das ist eine schöne Strecke.«

Ich setzte mich neben Anna auf die Rückbank. Sie ähnelte beiden Elternteilen; ihr Gesicht war so fein geschnitten wie Johannas, verriet aber zugleich die Festigkeit und das Charisma ihres Vaters.

»Lange kann ich nicht bleiben, sonst wundert sich Maija-Leena, wo ich stecke. Am besten sage ich ihr, ich wäre früher ausgestiegen. Wollen Sie über meine Mutter mit mir sprechen?

Oje, der Opa!« Anna duckte sich blitzschnell, als wir einen Mann mit krummem Rücken passierten, der uns auf seinem Tretschlitten entgegenkam.

»Der Vater deiner Mutter?«

»Ja. Der würde schimpfen, wenn er mich mit Fremden in einem Auto gesehen hätte. Zum Glück seid ihr wenigstens Frauen.«

»Vermisst du deine Mutter?«

Anna lächelte herablassend, als wäre meine Frage völlig absurd.

»Natürlich! Ich wäre am liebsten mit ihr gegangen, alle anderen eigentlich auch, außer Johannes. Aber sie hat ja noch keine Wohnung. Ich will raus aus Karhumaa. Irgendwohin, wo ich Jeans tragen und fernsehen kann wie andere Menschen. Wissen Sie, wann Mutter wieder gesund ist und uns holen kann?«

»Deiner Mutter geht es schon viel besser. Hat sie euch das nicht gesagt, als sie hier war?«

»Doch. Sie sah auch ganz anders aus. Viel jünger, und sie hat wieder gelacht wie früher, bevor Simo und Maria geboren wurden. Johannes hat gesagt, Mutter ist eine Hure geworden, weil sie die Haare offen trägt und lange Hosen anhat. Aber Johannes ist dumm.«

Ich fragte mich, weshalb wir eigentlich mit Anna Säntti durch die Schneelandschaft fuhren. Was hoffte ich aus dem dreizehn-jährigen Mädchen herauszuholen, etwa den Beweis, dass ihr Vater oder ihre Mutter einen Menschen ermordet hatte?

»Maija-Leena versucht die Kleinen, vor allem Maria und Simo, dazu zu bringen, sie Mutter zu nennen, aber ich erkläre ihnen immer wieder, das ist unsere Tante, nicht unsere Mutter, die Mama kommt bald und holt uns hier raus. Aber es ist so schwer, den Kindern zu erklären, worum es geht … die Abtreibung und all das. Mir hätte Mutter es auch nicht erzählt, wenn ich sie nicht mit meinen Fragen gelöchert hätte. Aber wie soll ich mit einer Sechsjährigen darüber sprechen?«

Bei der nächsten Frage fühlte ich mich beschissen:

»Hast du jemals gehört, dass dein Vater Drohungen gegen deine Mutter ausgestoßen hat, oder gegen Elina Rosberg, die Frau, bei der deine Mutter gewohnt hat?«

»Die, die gestorben ist? Ich hab nur gehört, wie Vater zu Maija-Leena gesagt hat, Gott würde sie beide schwer prüfen, indem er Mutter die Abtreibung überleben lässt. Vater will diese blöde Maija-Leena heiraten! Und er sagt immer, die Glaubensbrüder müssten sich gegen Ärzte erheben, die Abtreibungen erlauben, so wie in Amerika. Reden kann er gut!« Annas Stimme war schneidend. »Seit Mutter weg ist, hat er mich aufs Korn genommen. Sogar nachts kommt er nachsehen, ob ich auch schön keusch im Bett liege.«

Ich hielt die Luft an. Das klang noch schlimmer, als ich erwartet hatte. Ein populärer Prediger, der seine Kinder sexuell missbraucht?

»Was tut er mit dir?«

»Gar nichts, er guckt nur. Aber das ist eklig genug. Elisa betatscht er dauernd und sagt dabei, zum Glück wäre sie noch ein kleines Mädchen und keine Frau. Jetzt muss ich aber nach Hause, sonst nehmen sie mich wieder ins Kreuzverhör!«

Wir machten kehrt. Anna versicherte noch einmal, dass alle Kinder mit Ausnahme von Johannes bei ihrer Mutter leben wollten. Ich wagte nicht allzu viel zu fragen, die Anhörung von Minderjährigen ist eine heikle Sache, wenn weder Eltern noch Sozialarbeiter zugegen sind. Immerhin konnte ich meiner Freundin Leena, der Juristin, einiges Material liefern. Das Gericht würde auch die Kinder anhören müssen.

»Soso, da kam uns also der gute Herr Yli-Koivisto auf dem Tretschlitten entgegen. Haben wir Zeit, nochmal bei ihm vorbeizuschauen?«

»Nur wenn dein Zug Verspätung hat. Du kannst ja mal beim Bahnhof anrufen, ich hab die Nummer hier.«

Ich schaltete mein Handy ein, doch bevor ich den Anruf tätigen konnte, piepte es. Taskinens Stimme war nur gedämpft und mit mehreren Unterbrechungen zu hören, doch das Wichtigste bekam ich mit.

Aira Rosberg lag auf der Intensivstation, und es war keineswegs sicher, ob sie überleben würde. Sie war offenbar am Vorabend gegen zehn Uhr überfallen worden, als sie von einem Besuch bei Bekannten zurückkam. Als sie ausstieg, um das Tor zu öffnen, wurde sie mit der fünfzehn Kilo schweren Bärenstatue, die den Torpfosten zierte, niedergeschlagen.

Dreizehn

Am liebsten hätte ich mich sofort in den Flieger gesetzt, doch die Nachmittagsmaschine war ausgebucht, es standen bereits drei Namen auf der Warteliste, und mit der Abendmaschine war ich kaum früher in Helsinki als mit dem Zug. Was hätte ich in Espoo auch schon tun können? Aira war bewusstlos, und es war nicht einmal abzusehen, ob sie je wieder erwachen würde.

Es war Johanna gewesen, die Aira in der Nacht gefunden hatte. Sie hatte ferngesehen und erst am Ende der Sendung gemerkt, dass sie Aira nicht kommen gehört hatte. Deshalb wollte sie in Airas Zimmer nachschauen, hatte auf dem Weg dorthin jedoch auf dem Monitor gesehen, dass vor dem Tor ein Auto stand. Als ihr klar wurde, was passiert war, hatte sie einen Krankenwagen gerufen. Die Polizei war erst von den Sanitätern alarmiert worden, Johanna behauptete, sie habe geglaubt, die Statue wäre von allein heruntergefallen.

»Und das ist ausgeschlossen?«, schrie ich aufgeregt ins Bord-telefon. Mein Handy weigerte sich zu funktionieren, solange der Zug durch die endlosen Wälder schoss.

»Ja«, sagte Taskinen am anderen Ende. »Die Statue stand zu weit seitlich. Wir haben es mehrmals ausprobiert.«

»Wie geht es Johanna Säntti?«

»Offenbar recht gut, jedenfalls hat sie den guten Ström bei der ersten Vernehmung ganz schön zur Schnecke gemacht. Jetzt ist sie bei Aira Rosberg im Krankenhaus.«

»Zur Schnecke gemacht?«

»Ström ist sicher nicht der Einzige, der Johanna Säntti als Hauptverdächtige betrachten würde. Und du kannst dir ja denken, dass unser guter Pertti mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten hat. Seltsame Geschichte. Ich hatte mich schon beinahe entschlossen, die Ermittlungen im Fall Elina Rosberg einzustellen, weil wir keine eindeutigen Hinweise auf ein Verbrechen gefunden haben. Und nun das … Offenbar wusste Aira Rosberg etwas …«

»Das Gefühl hatte ich die ganze Zeit. Ich fahre morgen früh sofort nach Rosberga. Habt ihr Johanna Säntti erlaubt, dort zu übernachten?«

»Soweit ich weiß …«

»Und natürlich ist niemand da, der ein Auge auf sie hat?

Schickt unbedingt jemanden hin und sagt Frau Säntti, dass sie in Gefahr schwebt. Sonst fahr ich heute Nacht noch hin.«

»Das wirst du nicht tun! Ich kümmere mich darum. Reg dich ab, Maria, du rotierst ja geradezu.«

Ich brachte es nicht fertig, mich zu entspannen, es war einfach zu frustrierend, tatenlos im Zug sitzen zu müssen. Also ging ich wieder zum Telefon, versuchte Antti zu erreichen und wählte dann eine zweite Nummer in Helsinki. Natürlich war Tarja Kivimäki nicht zu Hause, wieder einmal sprach ich mit ihrem Anrufbeantworter.

»Hauptmeister Kallio von der Kriminalpolizei Espoo. Leider muss ich den Termin, den wir für Donnerstag zehn Uhr vereinbart hatten, absagen.« Ich machte eine kurze Pause, mochte Tarja Kivimäki ruhig ein paar Sekunden lang triumphierend glauben, ihr Abschreckungsmanöver wäre erfolgreich gewesen.

»Ich muss nach Rosberga, weil auf Aira Rosberg ein Mordan-schlag verübt wurde. Wir verschieben unser Treffen auf Freitag, zehn Uhr.«

Im Abteil versuchte ich ein Nickerchen zu machen. Tatsächlich verbrachte ich den Rest der Fahrt in einer Art Halbschlaf, während die Ereignisse an mir vorbeiflimmerten wie ein wirrer Film. Wie Taskinen war auch ich kurz davor gewesen, den Fall Rosberga zu den Akten zu legen, mir einzugestehen, dass nur eine fixe Idee mich getrieben hatte, einen nicht existierenden Mörder zu jagen. Was hatte Aira gewusst? Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, sie wäre sich uneins, ob sie der Polizei sagen sollte, was sie wusste. Als ob sie Elinas Mörder schützen wollte. Vielleicht hatte sie mir deshalb den vorgeblichen Selbstmordbrief gezeigt. Wen hatte Aira schützen wollen? Mir fiel nur eine Person ein: Johanna Säntti.

Es war schon fast Mitternacht, trotzdem wartete Antti am Bahnhof auf mich. »Anstrengende Reise?«

»Ach, die Fahrt war nicht so schlimm, aber unterwegs hab ich eine schlechte Nachricht bekommen.« Ich erzählte ihm nicht viel, sagte nur, dass es im Nuuksio-Fall ein zweites Gewaltverbrechen, zumindest einen Mordversuch gegeben hatte.

»Dann kannst du wieder mal an nichts anderes denken als an deine Arbeit«, seufzte Antti. »Morgen um fünf treffen sich die Gegner der Umgehungsstraße, ich hatte gehofft, du würdest auch kommen.«

»Das schaff ich wahrscheinlich nicht. Aber wenn Unterschrif-ten gesammelt werden, darfst du meine ruhig fälschen.«

Am Busbahnhof wehte ein eiskalter Wind, der uns beinahe zu Eissäulen erstarren ließ. Antti beschwerte sich wieder einmal darüber, dass es keine Wartehäuschen gab, er hatte ganz offensichtlich seinen Meckertag. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn ich musste ständig an Aira denken. Lebte sie noch? Am liebsten hätte ich sofort im Krankenhaus angerufen, aber im Bus in mein Handy zu brüllen, war mir dann doch zu dumm.

»Ich weiß allerdings nicht, was das überhaupt noch soll, der Protest gegen die Umgehungsstraße, meine ich. Die Pläne sind längst fertig und das Geld ist bewilligt. Wie weit muss man eigentlich in die Wildnis ziehen, damit man sicher sein kann, dass die Umwelt nicht sofort platt gewalzt wird? Und man hat kein bisschen Einfluss darauf! Wenn irgendein Bürokrat oder Bauunternehmer beschließt, ein Stück Wald in eine Asphaltwüs-te zu verwandeln, kommt keiner mehr dagegen an.«

»Kämpfe wie ein Mann!« Ich grinste Antti mit gespielter Munterkeit an, sein Spiegelbild im Busfenster versuchte zurückzugrinsen.

»Das, was letzte Woche passiert ist, hat mich ganz schön mitgenommen. Wenn ich nur daran denke, dass ich dich hätte verlieren können … und das Baby noch dazu. Mich hat das viel mehr niedergeschmettert als dich.«

»Das liegt nur daran, dass ich nicht daran denke, wenn ich es vermeiden kann. Wollen wir hier schon aussteigen und den Rest zu Fuß gehen? Ich hab fast den ganzen Tag im Zug gesessen, ich brauch ein bisschen Bewegung.«

Der Schnee dämpfte alle Geräusche. Er strahlte ein seltsames Licht aus und knirschte unter den Füßen, als wäre er nur eine dünne Haut über dem hohlen Erdball. In einem Jahr würden wir ein fünf Monate altes Baby im Schlitten durch den Schnee ziehen. Die Vorstellung schien mir fast abwegig.

Was mir die Schwangerschaft suspekt machte, war vor allem der unbegreifliche Glorienschein, der die Mutterschaft um-schwebte, die unausgesprochene Erwartung, ich müsste mich verändern, weich, warm und verständnisvoll werden, voll fraulicher Fülle, in der Rolle der Lockenwickler tragenden Hausfrau. Sicher, aus Rollen konnte man ausbrechen, doch das Kind war nun mal ein Kind, ein schutzbedürftiges Wesen, das ohne Pflege sterben würde. Ich dachte an meinen Körper, der an Whisky und hartes Training gewöhnt war und pro Woche mindestens dreißig Kilometer laufen wollte. Ich dachte an mich, an eine Frau, die selbst über ihren Tagesablauf bestimmte und sich in ihren Ermittlungen vergrub. Ich dachte an Antti, der, wenn wir gerade nicht miteinander schliefen, mit seinen Gedanken meist bei mathematischen Theorien war. Er kam bei der ganzen Sache natürlich leichter davon. Als guter Vater galt man schon, wenn man bei der Geburt dabei war, dem Baby ab und zu die Windel wechselte und ihm später, wenn es etwas größer war, das Skilaufen beibrachte. Dennoch hoffte ich, dass die watteweiche Stimmung, die die Elternzeitschriften vermittel-ten, an uns haften blieben wie Kaugummi, bis unser Kind Abitur machte. Vor dem Haus drehte Antti sich zu mir um.

»Schneefrau«, sagte er zärtlich und gab mir einen Stupser auf die Nasenspitze. Die Atemluft hatte sich als grauer Raureif auf meine Haare gelegt, und von den Bäumen war Schnee auf Mütze und Schultern gefallen.

»Wenigstens taue ich wieder auf«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu Antti und dachte an Elina.

Ich rief die Klinik an. Aira Rosbergs Zustand hatte sich nicht wesentlich verändert. Sie war weiterhin bewusstlos, das Ausmaß ihrer Schädelverletzung war noch nicht abgeklärt. Alle übrigen Organfunktionen lagen im Normalbereich, von der Kopfverlet-zung abgesehen, war Aira unversehrt geblieben. Schließlich wagte der Arzt die vorsichtige Prognose, Airas Überlebenschance liege über fünfzig Prozent. Ich überlegte, wie Johanna allein in Rosberga zurechtkam. Konnte sie dort wohnen bleiben, obwohl Aira nicht da war? Vielleicht war es sogar gut, dass jemand das Haus hütete.

Am nächsten Morgen fuhr ich geradewegs zur Klinik. Ich rechnete nicht damit, Aira schon vernehmen zu können, hoffte aber, die behandelnden Ärzte würden mir mehr über ihren Zustand sagen können. Auf jeden Fall musste ich meinen Terminplan für die nächsten Tage umstrukturieren. Dabei fiel mir ein, dass ich am folgenden Tag, am Freitagnachmittag, zu dem Schusswechsel in Nuuksio befragt werden sollte. Meine Stimmung sank. Ich wusste schon im Voraus, was bei den Vernehmungen und dem anschließenden Verfahren heraus-kommen würde: Einer der Polizisten, die während des Einsatzes Befehle gegeben hatten, wurde geopfert, während die eigentlichen Leiter der Operation ungeschoren davonkamen. Mein kleiner Fiat wirkte auf dem Parkplatz des gigantischen Kran-kenhauskomplexes ganz verloren. Als ich durch den Haupteingang trat, wurde mir plötzlich klar, dass diese Klinik in sieben Monaten auch mich verschlucken würde. Der Gedanke besserte meine Laune nicht gerade. Seit ich mit vierzehn Jahren zwei Wochen lang in der Zentralklinik von Nordkarelien liegen musste, weil ein verkaterter Chirurg an meinen Rachenmandeln herumgepfuscht hatte und die Wunde sich nicht schließen wollte, verabscheute ich Krankenhäuser. Ärzte und Krankenschwestern hatten mich behandelt wie einen lästigen Quälgeist und mich gezwungen, widerliche Nudelsuppe zu essen. Eine Klinik war für mich ein Ort, wo man nicht heilte, sondern Zwang ausübte, wo man Menschen nicht als Menschen betrachtete, sondern als blutende Rachenmandeln, als Blinddärme oder Beinbrüche. Ob es hier auf der Entbindungsstation auch so zuging?

Ich musste lang und breit erklären, wer ich war, bevor die Angestellte am Informationsschalter sich herbeiließ, mir zu sagen, wie ich zur Intensivstation kam. Verschiedenfarbige Streifen auf dem Fußboden markierten den Weg zu den einzelnen Abteilungen. Mein Streifen führte zum Aufzug.

Auf der Intensivstation ging der Kampf gegen die Bürokratie weiter. Ich musste zuerst eine Krankenschwester überreden, dann die Stationsschwester, bevor ich zu dem Arzt vorgelassen wurde, der Aira behandelte. Mikael Wirtanen, der Stationsarzt, verhielt sich dagegen geradezu verdächtig zuvorkommend.

Vermutlich war das seiner Erfahrung nach die beste Methode im Umgang mit der Polizei, die einen höflichen Arzt vielleicht weniger nachdrücklich drängte, die Vernehmung eines Patienten zu gestatten.

In Airas Fall konnte davon vorläufig ohnehin keine Rede sein.

»Sie ist zwar bei Bewusstsein, aber noch sehr verwirrt, sie scheint sich nicht zu erinnern, was passiert ist. Sie hat schwerste Kopfschmerzen und bekommt deshalb starke Schmerzmittel. Bis auf weiteres ist es schwierig, das Ausmaß der Verletzung zu beurteilen. Fräulein Rosberg ist bereits siebzig, daher verläuft der Genesungsprozess deutlich langsamer als beispielsweise bei Patienten in Ihrem Alter.«

»Wie wirkt sich ihr allgemeiner seelischer Zustand auf die Genesung aus? Ihre Nichte, die ihr sehr nahe stand, ist vor rund zwei Wochen überraschend gestorben, und jetzt ist sie selbst überfallen worden. Das sind gleich zwei schwere Schockerleb-nisse.«

»Alles wirkt sich auf alles aus. Im Gegensatz zu manchen Kollegen bin ich fest davon überzeugt, dass Psyche und Körper ein unteilbares Ganzes bilden. Im Übrigen ist Fräulein Rosberg für ihr Alter in ausgezeichneter Verfassung.«

Ich überlegte, ob Aira immer noch in Gefahr schwebte. Wenn die Anschläge auf Elina und Aira von derselben Person verübt worden waren, was ich für wahrscheinlich hielt, bestand möglicherweise keine Gefahr, denn der Täter schien vorzugs-weise im Verborgenen zuzuschlagen, und auf der Intensivstation wimmelte es von Menschen. Oder handelte es sich doch um zwei Täter? Wer würde Aira beerben? Das Leben ist kein Kriminalroman, dennoch begann ich mir auszumalen, Joona Kirstilä wäre in Wahrheit Airas unehelicher Sohn und würde Anspruch auf das Erbe erheben. Über diese verdrehten Gedanken musste ich lachen, was mir einen verwunderten Blick von Dr. Wirtanen eintrug.

»Könnte ich Aira sehen? Wenigstens durch eine Glasscheibe?«

»Kennen Sie sie persönlich?«

»Ich ermittle auch im Todesfall Elina Rosberg, habe Aira Rosberg aber schon vorher kennen gelernt.« Mein Vortrag in Rosberga schien unendlich weit zurückzuliegen, er gehörte in eine andere Welt. Damals wusste ich noch nicht einmal, dass sich in meinem Bauch ein Baby versteckte.

»Es nützt Ihnen zwar nichts, sie zu sehen, aber meinetwegen.

Kommen Sie mit.«

Die Tür zu Airas Zimmer war zur Hälfte aus Glas. Ich spähte vorsichtig durch die Scheibe, als hätte ich Angst, Aira würde mich sehen. Aber sie sah gar nichts. Die geschlossenen Augen lagen tief in den Augenhöhlen, die hohen Wangenknochen stachen hervor wie Baumstümpfe im Moos. Der offene Mund unter der Hakennase wirkte tot und Furcht erregend wie ein Sumpfteich. Was hatte dieser Mund verschwiegen? Zwischen den blinkenden Armaturen sah Aira leblos und verloren aus. Das Beatmungsgerät brauchte sie offenbar nicht mehr, es war an die Wand gerückt worden.

»Es kann sein, dass sie schon bald für längere Zeit bei Bewusstsein ist oder auch nicht«, flüsterte Wirtanen.

»Aber sie wird überleben?«

»Sicher. Ob sie wieder ganz gesund wird, lässt sich im Moment noch nicht sagen.«

Ich erklärte Wirtanen, dass Aira möglicherweise weiterhin in Gefahr schwebte und dass ich versuchen würde, einen Wachpos-ten zu schicken. Der Arzt versprach, mich sofort zu informieren, wenn sich Airas Zustand veränderte.

Eine Frau mit dickem Bauch zwängte sich mit mir in den Aufzug. Wieso war sie schon vor der Entbindung in der Klinik, stimmte etwas nicht? Ich erinnerte mich an Geschichten von Bekannten, die monatelang liegen mussten, weil das Kind zu früh zur Welt kommen wollte. Wenn es mir auch so erging, würde ich durchdrehen. Draußen atmete ich ein paar Mal tief durch, bevor ich in meinen Fiat stieg und losfuhr. Ich drehte das Radio an, in der Hoffnung auf Musik, die mich aufputschte.

Mein Wunsch wurde erfüllt: Nach den Pet Shop Boys mit »Go West« legten die Rehupiikles los, und ich trommelte auf dem Lenkrad mit. Mein Musikgeschmack brachte Antti regelmäßig zur Verzweiflung, ich hatte eine Schwäche für die allerpuber-tärste, intelligenzfreie Rockmusik, für Popeda und Klamydia, während er allerhöchstens alte Platten von David Bowie und Pink Floyd hörte.

Ich holte Pihko auf dem Revier ab, gemeinsam machten wir uns auf den schon vertrauten Weg nach Nuuksio und Rosberga.

Was ich dort suchte, wusste ich allerdings nicht.

Pihko erkundigte sich nach meinen Ermittlungen in Karhumaa und berichtete über Johannas erste Vernehmung. Offenbar hatte Aira etwa zwei Stunden am Tor gelegen, bevor Johanna sie fand, das ließ jedenfalls der Schnee vermuten, der auf ihr lag.

Pertsa hatte Johanna zuerst ganz sachlich befragt, dann aber angedeutet, sie habe am Tor auf Aira Rosberg gewartet, die alte Frau mit der Bärenstatue niedergeschlagen und ein paar Stunden später angeblich gefunden.

»Dann hat Ström gesagt, was für ein Pech es doch für Frau Säntti wäre, dass der Schlag nicht tödlich war und dass Aira Rosberg nicht einmal erfroren ist wie ihre Nichte, weil es diesmal nicht so kalt war und sie außerdem ihren Persianerman-tel anhatte. Diese Säntti war bis dahin unglaublich schüchtern, sie hat auf Ströms Fragen mit Müh und Not ein Ja oder Nein herausgebracht. Ich bin fast vom Stuhl gefallen, als sie plötzlich ausgerastet ist. Sie hat gebrüllt, das wäre Schwachsinn, sie würde doch nicht den einzigen Menschen umbringen, bei dem sie Zuflucht findet. Ström wusste gar nicht, wie ihm geschah.

Puupponen war als dritter Mann dabei, zum Protokollführen, und ist vor Lachen bald erstickt, der hasst Ström ja fast so wie du.«

»Wie bitte? Ich hasse Pertti Ström? Wer ist das überhaupt?«

Dass gemeinsame Trauer allem Streit ein Ende setzt, gibt es nur im Märchen. Pertsa war nach Palos Tod derselbe Scheißtyp wie vorher. Ich war froh, dass er mit Taskinen an einem anderen Fall arbeitete und ich Pihko als Partner hatte. Wir schlitterten den Hügel nach Rosberga hinauf. Seltsamerweise stand das Tor offen. Warum wohl? Soweit ich informiert war, hatten die Kriminaltechniker ihre Untersuchungen abgeschlossen. Ich maß die Mauer mit den Augen ab. Ich hätte die Statue nicht ohne Leiter von der Mauer holen können, für Antti mit seinen eins neunzig wäre es dagegen ein Kinderspiel gewesen. Ließ sich daraus etwas schließen? Der Hof lag verlassen da. Der Parkplatz und ein schmaler Gang zur Tür waren erst vor kurzem freigeschaufelt worden, und auf den freigelegten, eisglatten Reifenspuren kam unsere Dienstkarosse, ein Lada, gefährlich ins Rutschen. Zehn Zentimeter vor dem Schneewall konnte ich ihn zum Stehen bringen.

»Ich möchte wetten, dass die Winterreifen nicht mehr zulässig sind«, seufzte ich und stieg aus. Die Haustür war geschlossen, und ich musste dreimal klingeln, bevor Johanna aufmachte.

»Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, ich war am Telefon«, erklärte sie ohne den unterwürfigen Ton, den ich an ihr kannte. »Ein furchtbares Chaos mit der Stornierung der Kurse. Jemand muss sich ja darum kümmern, solange Aira im Krankenhaus liegt.«

Die Verwandlungsspiele in den Frauenzeitschriften, bei denen Lieschen Müller in eine strahlende Schönheit verzaubert wurde, hatten mich immer schon fasziniert. Es war, als hätte Johanna eine solche Prozedur mitgemacht, auch wenn sie kein in zweistündiger Arbeit entstandenes Make-up trug wie die Frauen in den Illustrierten. Was sie so verändert aussehen ließ, waren ihre gerade Haltung, die Kleidung – Jeans und Pullover statt Omakleid – und die bis auf den Rücken fallenden Locken, die heller und glänzender wirkten. Offenbar hatte Johanna es gewagt, die Haarfarbe, die der Schöpfer ihr zugedacht hatte, ein wenig abzuändern.

»Ich habe gestern deine Familie besucht«, sagte ich. »Anna ist wirklich ein patentes Mädchen, und die Kleinen sind so niedlich

…« In ihrem Gesicht zeigte sich ein Anflug von Traurigkeit, doch gleich darauf gewann der Ärger die Oberhand.

»Ja, das sind sie, und ich will sie jetzt endlich zu mir holen.

Ich habe sowohl in Espoo wie in Helsinki eine kommunale Mietwohnung beantragt, aber auf beiden Ämtern hat man mir gesagt, es gäbe nur ganz wenige Wohnungen, die groß genug für uns wären, und für die gibt es lange Wartelisten. Uns würde notfalls eine Zweizimmerwohnung reichen, aber die bekommen wir nicht, das wäre gegen irgendwelche Vorschriften! Und die Mieten auf dem freien Markt kann ich mir nicht leisten. Außerdem bin ich noch in Karhumaa gemeldet. Ich brauche einen festen Wohnsitz in Espoo, vorher kommt die Sache nicht in Gang. Hier kann ich keine Sozialhilfe beantragen, und solange ich mit Leevi verheiratet bin, bekomme ich auch kein Arbeitslo-sengeld, die Einkommensgrenzen sind so niedrig.«

Johanna sprach so lebhaft wie ihre Tochter Anna. War sie, als ich sie vor Weihnachten in Rosberga kennen gelernt hatte, von einer tiefen Depression oder von Psychopharmaka gelähmt gewesen? Welcher seelische Schönheitssalon hatte sie so verwandelt? Oder war die stille Johanna doch die echte und die Frau, die jetzt vor mir stand, eine manisch gewordene Mörderin?

»Wovon lebst du denn jetzt, hast du Ersparnisse?«, fragte ich, obwohl es mich eigentlich nichts anging.

»Elina hat mir fünftausend Finnmark geliehen. Viel brauche ich hier ja nicht, ich zahle keine Miete, und das Essen hat Aira bezahlt. Aber so kann es nicht ewig weitergehen. Wenn Aira wieder gesund ist, leg ich los!«

Ich griff das Stichwort Aira auf, stellte Johanna ungefähr dieselben Fragen wie Pertsa am Tag davor und bekam dieselben nichtssagenden Antworten. Johanna hatte nichts gehört und nichts gesehen, denn im Fernsehen lief eine alte Serie mit Kommissar Harjunpää, die für Johanna taufrisch und spannend war, wie alle Sendungen. Sie wusste nicht, mit wem Aira in den letzten Tagen gesprochen hatte, das Telefon hatte jedenfalls ständig geklingelt. Aira hatte ihr nur gesagt, sie wolle zwei ehemalige Kolleginnen besuchen. Pertsa und Pihko hatten die beiden Frauen bereits befragt, aber auch dort war das Ergebnis mager: Aira sei ungewöhnlich still gewesen, doch das hätten sie auf Elinas Tod zurückgeführt. Der Anschlag auf Aira war alles in allem nicht weniger mysteriös als der Mord an ihrer Nichte.

Als könnte ich dort einen Sinn finden, ging ich wieder in Elinas und Airas Privaträume. Die Wände in Airas Kammer waren kahl, auch im Regal standen nur wenige gerahmte Fotos, eins zeigte Elina, ein anderes ein Paar mittleren Alters in Kleidern aus der Kriegszeit, vermutlich Airas Eltern.

Elinas Rosensalon wirkte verschlafen. Ich nahm ein Fotoal-bum aus dem Regal, sah Elina als Schülerin mit ihren Freundinnen, mit ihren Eltern im Ausland, in London und Paris, mit Aira irgendwo an einem Sandstrand. Das Foto war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, Elina wirkte erschöpft, die Aira von damals sah fast genauso aus wie Elina vor ihrem Tod. Das letzte Foto stammte von irgendeinem Fest und zeigte Elina als Teenager am Arm ihres Vaters, eine frühreife Schönheit im hellblauen Abendkleid. Zwei Männer im Frack, die neben ihr standen, starrten sie mit unverhohlener Bewunderung an. Ich suchte vergeblich nach Fotos von der Indienreise, von der ich nun schon zweimal gehört hatte, von der Reise, auf der Elina sich angeblich eine schlimme Uterusinfektion zugezogen hatte.

Dabei fiel mir ein, dass ich immer noch nicht bei ihrer Frauen-

ärztin angerufen hatte. Obwohl ich nach dem kurzen Genesungsurlaub eigentlich so tüchtig gearbeitet hatte wie immer, hatte ich scheinbar nicht alles im Griff. Vielleicht hatte mein Chef Recht, ich brauchte mehr Urlaub. Aber erst, wenn der Fall Rosberg aufgeklärt war. Hoffentlich war Johanna in Rosberga nicht gefährdet. Sollte ich sie woanders unterbringen?

Aber wo? Für ein Hotel reichte das Geld, das Elina ihr geliehen hatte, nicht lange, zumal sie davon bereits die Reise nach Karhumaa bezahlt hatte.

Ich entdeckte keine Indienbilder, überhaupt fand ich nur wenige Fotos, die Elina als Erwachsene zeigten. Vielleicht hatte sie keine Alben mehr angelegt. Nicht jeder will seine Erinne-rungen auf Fotos festhalten, manchen genügen die im Kopf gespeicherten Momentaufnahmen aus ihrer Vergangenheit.

Ich schaute aus dem Fenster auf die sanft abfallende Wiese.

Die Weidenzweige leuchteten rötlich, Blaumeisen suchten auf dem Hof nach Futter. Der Friede, der über der Landschaft lag, wirkte zerbrechlich, zu viele Gespenster gingen in Nuuksio um.

»Das bringt nichts, gehen wir!«, sagte ich zu Pihko. »Fahr du, ich muss telefonieren. Musst du zurück aufs Revier, oder kannst du zu den nächsten Vernehmungen mitkommen?«

»Ich hab um zwei einen Termin, aber bis dahin hätte ich Zeit.

Eigentlich«, sagte er verlegen und wich meinem Blick aus,

»eigentlich bin ich nicht gern in unserem … in meinem Büro, solange Palos Sachen noch da sind.«

Pihko riss die Tür besonders forsch auf, als müsste er mir nach diesem Geständnis beweisen, dass er kein Waschlappen war. Ich schnallte mich an und ließ mir von der Auskunft die Nummer von Elina Rosbergs Frauenärztin geben.

Als ich mich als Polizistin vorstellte, verband mich die Telefo-nistin des Ärztezentrums ohne Umschweife mit Dr.

Maija

Saarinen.

Sie hatte Elina erst vor einigen Jahren von ihrer Vorgängerin übernommen, die in Pension gegangen war. Auch Maija Saarinen hatte sich über die Form und Vernarbung des Muttermunds gewundert, woraufhin Elina von einer in Indien durchgeführten gynäkologischen Operation erzählt hatte.

»Allerdings habe ich damals überlegt … Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt sagen sollte, aber … Ich habe mich gefragt, ob nicht etwas ganz anderes dahinter steckt.«

»Was denn? Eine Schwangerschaft?«

»Na ja … Bevor Schwangerschaftsabbrüche legalisiert wurden, haben die Frauen selbst abgetrieben oder sind zu Engelmacherinnen gegangen. Dabei sind so ähnliche Narben entstanden. Aber in den Unterlagen, die ich bekommen habe, ist nichts dergleichen erwähnt … Und Frauen ihrer Generation konnten ja schon legal abtreiben, sie hätte es nicht nötig gehabt, jemanden an sich herumpfuschen zu lassen.«

»Wie kann ich Ihre Vorgängerin erreichen?«

»Leider gar nicht mehr. Sie ist vor einem Jahr gestorben.«

Eine Sackgasse nach der anderen, der ganze Fall bestand nur aus Sackgassen! Wann war Elina in Indien gewesen, Mitte der siebziger Jahre? War sie damals nicht mit Kari Hanninen liiert?

Vielleicht war sie von ihm schwanger gewesen und hatte eigenhändig abgetrieben …

Hanninens Anrufbeantworter schaltete sich schon nach dem ersten Klingelton ein. Ich hatte keine Lust, eine Nachricht zu hinterlassen.

»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte Pihko an der nächsten Kreuzung.

»Ich weiß nicht. Halt mal da vorn bei der Tankstelle, ich muss erst noch telefonieren.«

Es war noch nicht mal zwölf, kein Wunder, dass Milla Marttila mich angiftete.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht so früh anrufen!«

»Warum ziehst du nicht einfach den Stöpsel raus, wenn du nicht gestört werden willst?«

»Das geht dich ’nen Scheißdreck an. Also, was willste?«

»Wo warst du vorgestern Abend zwischen zehn und zwölf?«

»Wieso?«

»Jemand hat versucht, Aira Rosberg zu töten.«

»Aira … Ach du lieber Himmel! Wie …«

»Ein Schlag auf den Kopf. Aber sie ist außer Lebensgefahr.

Also, wo warst du?«

»Ich hab von acht bis vier gearbeitet. Kannste im ›Fanny Hill‹

nachprüfen, die machen um sieben auf. Wenn das alles war, schlaf ich jetzt weiter.«

»Musst du heute Abend arbeiten?«

»Ja«, sagte Milla und knallte den Hörer auf.

Bei Niina Kuusinen hatte ich mehr Glück. Ich erreichte sie in ihrer Wohnung in Suvikumpu, sie sagte, sie wäre den ganzen Tag zu Hause. Also fuhren wir auf der Finnoontie Richtung Süden. An einer Tankstelle pries ein Reklameschild »Riesenpo-lizisten« für zwanzig Finnmark an. Wir stillten den ärgsten Hunger mit einem so passend getauften Hamburger und setzten unsere Fahrt fort.