Leena Lehtolainen

Weiß wie die

Unschuld

scanned 10-2006/V1.0

Die Leiterin eines Therapiezentrums für Frauen verschwindet plötzlich.

Maria Kallio, neu als Kommissarin bei der Polizei in Espoo, übernimmt den Fall. Bei den Ermittlungen stößt sie auf eine religiöse Fanatikerin, eine Stripperin sowie einen undurchsichtigen Dichterfreund der Vermissten, und alle benehmen sich verdächtig, doch Beweise fehlen. In dieser Situation bricht ein Bankräuber aus dem Gefängnis aus und schwört, Maria, die ihn einst verhaftet hat, zu töten …

ISBN: 3 499 23439 4

Original: Luminainen

Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara Verlag: Rowohlt Taschenbuch Verlag

Erscheinungsjahr: 2003

Umschlaggestaltung: any.way, Barbara Hanke Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Autor

Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Kritike-rin und Autorin in Helsinki. 1993 erschien der erste Roman mit der attraktiven Anwältin und Kommissarin Maria Kallio.

Inzwischen wurden in Finnland acht Kriminalromane veröffent-licht.

Prolog

Ich weiß nicht, wer mehr Angst hatte, die Richterin, vor der ich stand, oder ich. Meine Kommilitonin Riina hatte noch nie jemanden getraut. Sie zitterte, als sie im Festsaal der Villa Elfvik mit der Zeremonie begann. Aber auch für mich war es die erste Trauung. Meine Beine waren wie Pudding, und von meiner Hand, die Anttis Hand umklammerte, fielen Schweißtropfen auf den Fußboden.

»Maria Kristiina Kallio, wollen Sie den hier anwesenden Antti Johannes Sarkela …«

Ich hatte ganz vergessen, dass man auch bei einer standesamtlichen Trauung Ja sagen muss. Das Wort wollte mir nicht über die Lippen kommen, und Antti sah mich an, als fürchte er, ich würde doch noch einen Rückzieher machen. Endlich wisperte ich meine Zustimmung, worauf Antti sein Ja so laut von sich gab, dass er Riina vollends aus der Fassung brachte. Später behaupteten unsere Gäste allerdings, ihnen wäre nichts aufgefallen.

Riina erklärte uns zu Mann und Frau, wir wandten uns dem Publikum zu, küssten uns und nahmen die Gratulationen entgegen. Wir hatten ohne Klimbim heiraten wollen, und da Antti nicht der Kirche angehörte, beließen wir es bei der standesamtlichen Trauung. Mein Verhältnis zum Glauben war so verschwommen, dass es mir nicht schwer fiel, auf den Segen der Kirche zu verzichten.

Ich wurde pausenlos umarmt, von Eltern, Geschwistern, Freunden. Koivu stemmte mich hoch und sagte nur halb im Spaß zu Antti:

»Sieh bloß zu, dass du Maria anständig behandelst!«

Die Abordnung meiner Kollegen war ungewöhnlich schweigsam. Mein Chef, Kriminalrat Jyrki Taskinen vom Dezernat für Gewaltdelikte und Gewohnheitskriminalität bei der Kripo Espoo, gratulierte kurz und sachlich, die beiden anderen, Palo und Ström, wirkten peinlich berührt, als glaubten sie, die Heirat würde mein Arbeitsengagement mindern. Obendrein piepte Taskinens Handy genau in dem Moment, als er Antti die Hand schüttelte.

»Hoffentlich keine Vergewaltigung, dafür hab ich jetzt keine Zeit«, stöhnte ich. Ein Kollege Anttis von der Universität, der mir gerade gratulieren wollte, sah mich befremdet an.

Während ich weiteren Gästen die Hand schüttelte, kam Taskinen zurück. Es war also nichts passiert, was die Anwesenheit des Dezernatsleiters erforderlich machte. Ich unterdrückte meine Neugier und konzentrierte mich wieder auf die Gäste. Wenn wir in zwei Wochen von der Hochzeitsreise zurückkamen, würde genug Arbeit auf meinem Schreibtisch liegen.

Ich bin sicher nicht die Einzige, die zwar als kleines Mädchen von ihrer Hochzeit geträumt, aber schon bald gemerkt hat, dass ein weißer Schleier und ein reicher Mann als Lebensziel nicht genug sind. Zwischen fünfzehn und dreißig war ich mit Leib und Seele Single gewesen, und gelegentlich fragte ich mich immer noch, was mich bewogen hatte, Anttis Heiratsantrag anzunehmen. Ich liebte Antti, das schon. Aber meine Freiheit liebte ich noch mehr, und meinen Job mochte ich auch ganz gern, trotz der unregelmäßigen Arbeitszeit.

»Heißt du jetzt trotzdem noch Kallio?«, fragte Anttis Schwester.

»Wir behalten beide unseren Namen«, beeilte sich Antti zu erklären. Im Frack, der nicht recht zu seinen schulterlangen schwarzen Haaren passen wollte, sah er noch größer und dünner aus als sonst. Mein Brautkleid war weniger konventionell, zwar lang und cremefarben, aber mit blutroten Rosetten benäht, wie sie auch meine Frisur schmückten. Pumps und Handschuhe waren ebenfalls in frivolem Rot. Das kleine Mädchen, das ich einmal war, hätte an meinem Brautkleid sicher einiges auszuset-zen gehabt, doch den Hochzeitsgästen schien es zu gefallen.

»Wie schön, dich mal nicht in den ewigen Jeans oder in deinem einzigen Kostüm zu sehen«, frotzelte Palo, als wir uns auf unserer Runde durch den Saal kurz zu meinen Kollegen setzten.

Pertti Ström grinste. Vor einigen Jahren hatte er mich nämlich im Zusammenhang mit einem Mordfall in Ledermini und Netzstrümpfen zu Gesicht bekommen.

»Hast du mir den Bericht über den Fall Vilén auf den Tisch gelegt?«, fragte er unfreundlich, doch bevor ich antworten konnte, wies Taskinen ihn zurecht:

»Nichts Dienstliches, Pertti, wir sind hier auf Marias Hochzeit!«

»Wenn der Bericht nicht da ist, muss ich sie auf der Hochzeitsreise stören«, knurrte Ström.

»Beruhige dich, er liegt schon auf deinem Schreibtisch«, flötete ich honigsüß und ging an den Nachbartisch. Ström lauerte ständig darauf, dass ich Fehler machte. So wie wir zueinander standen, fragte ich mich, warum er überhaupt zu meiner Hochzeit gekommen war.

Das Hochzeitsmahl schmeckte mir vorzüglich, zumal ich vor dem Fest natürlich keinen Bissen heruntergebracht hatte. Unsere Väter und Freunde hielten Reden, wobei sie mit Klischees nicht geizten. Zum Glück verschonten sie uns wenigstens mit der Jungfrau Maria. Den Hochzeitswalzer legten wir so gut hin, wie es einem fast zwei Meter großen Mann und einer kleinen Frau gelingen kann. Später tanzte ich gerade mit Palo, als Ström auf uns zutrat.

»Raitio ist geschnappt worden, in Turku am Flughafen. Wir müssen ihn abholen.«

Mehr brauchte er nicht zu sagen. Raitio war eine Schlüsselfi-gur in dem Drogenring, dem wir seit längerem auf der Spur waren. Vor ein paar Wochen war er abgetaucht, und wir hatten bereits befürchtet, er wäre ins Ausland entkommen.

»Verschieb deine Hochzeitsnacht und komm mit nach Turku.

Was Neues erlebst du heute Nacht sowieso nicht!«, sagte Pertsa so gehässig, wie ich es selbst von ihm nicht erwartet hätte.

»Ich mach es heute zum ersten Mal in meinem Leben legal«, gab ich im gleichen Ton zurück und wünschte meinen Kollegen eine gute Fahrt. Taskinen gab mir zum Abschied die Hand, Palo verabschiedete sich mit einer unbeholfenen Umarmung. Pertsa, der als Letzter an der Reihe war, flüsterte mir ins Ohr:

»Selbst Polizisten können heiraten, aber glaub mir, es wird nichts daraus. Du würdest doch am liebsten mitkommen, gib’s zu! So was lässt sich kein Mann lange bieten.«

»Danke für die freundlichen Worte, Pertsa«, säuselte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Während er verlegen den Rückzug antrat, überlegte ich, ob er wohl Recht hatte. Zum Glück zog Antti mich auf die Tanzfläche, und ich vergaß meine Zweifel.

Eins

Der Wind rüttelte an meinem kleinen Fiat und fegte Schnee auf die Windschutzscheibe. Der Dezember war ungewöhnlich düster. Schon um drei Uhr herrschte fast völlige Dunkelheit.

Obwohl ich oft nach Nuuksio fuhr, schien mir die Straße plötzlich fremd. Ich rief mir die Streckenbeschreibung ins Gedächtnis: Kurz hinter der Kurve am See rechts abbiegen, dann zweimal links. Das letzte Wegstück würde schmal und wahrscheinlich zugeschneit sein. Zum Glück hatte ich eine Schneeschaufel im Kofferraum.

Wie sich bald herausstellte, brauchte ich sie nicht, denn jemand hatte den Weg zum Gutshaus Rosberga, das hell erleuchtet auf einem Hügel stand, freigeschaufelt. Die steile Auffahrt zum rosafarbenen Portal war sogar gestreut. Im Sommer sah Rosberga sicher bezaubernd aus, doch jetzt wirkten die Rosenbüsche, die sich an der Mauer entlangrankten, kahl und abweisend.

Das Tor war geschlossen, und das Schild, das daran hing, machte nicht gerade einen freundlichen Eindruck. Als das Kurszentrum Rosberga vor einigen Jahren gegründet wurde, hatte vor allem dieses Schild Aufsehen erregt. ZUTRITT FÜR

MÄNNER VERBOTEN stand in nüchternen schwarzen Buchstaben darauf. Die katzengroße Bärenskulptur auf dem Tor sah wesentlich freundlicher aus.

Elina Rosberg, die Gutsherrin, ließ keinen Mann ins Haus. Ihre Therapiegruppen und Selbstverteidigungskurse waren exklusiv für Frauen reserviert. Reparaturen ließ sie angeblich nur von Handwerkerinnen ausführen. Und als sie für ihren Kurs »Geistige Selbstverteidigung« den Vortrag eines Polizisten einplante, lud sie natürlich eine Frau ein.

Die Polizeibehörde von Espoo, bei der ich angestellt war, hatte in den letzten Jahren besonderes Gewicht auf die Öffentlich-keitsarbeit gelegt. In den Schulen hatte man Quartettspiele verteilt, auf denen einzelne Mitarbeiter vorgestellt wurden, und auf den verschiedensten Veranstaltungen sprachen die Beamten bereitwillig über ihre Arbeit. Daher hatte kaum jemand gelacht, als Elina Rosberg eine Polizistin angefordert hatte, die einen Vortrag über speziell für Frauen relevante Verbrechen und über das Verhältnis zwischen Frauen und der Polizei halten sollte.

»Genau das Richtige für Kallio«, hatte Pertti Ström während der Kaffeepause gewitzelt. »Wenn wir wollen, dass diese Emanzen auf die Polizei hören, schicken wir am besten eine von ihrer Sorte hin.«

»Schade, dass Männer keinen Zutritt haben. Sonst könnte ich dich als Demonstrationsobjekt mitnehmen: Hier sehen Sie ein chauvinistisches Polizistenschwein in Reinkultur«, gab ich zurück.

»Pertsa ein Chauvi? Dabei hat er doch sogar seiner Frau erlaubt, arbeiten zu gehen. Was nicht ohne Folgen blieb«, warf Palo ein und duckte sich unter den Tisch, um Pertsas Fausthieb zu entgehen, der nicht ganz so spaßhaft war, wie er schien.

Ströms Scheidung lag schon einige Jahre zurück, doch sie war immer noch ein wunder Punkt.

Ich hatte mich darauf eingestellt, möglichst realistisch zu berichten, sowohl über die Arbeit einer Polizistin als auch über Frauen, die mit der Polizei in Berührung kamen. Das Problem war nur, dass ich nicht wusste, was für ein Publikum mich erwartete. In der Öffentlichkeit war Rosberga zur Festung der fanatischsten Feministinnen abgestempelt worden, umso mehr, da die Kurse zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Frauenver-band Union und der Organisation für sexuelle Gleichberechtigung, Seta, veranstaltet wurden. Als Mitglied beider Vereine wusste ich, dass ihnen sehr unterschiedliche Frauen angehörten. Wahrscheinlich würde ich meinen Berufs-stand verteidigen müssen. Auf jeden Fall würde es anders zugehen als in den Rentner- und Hausfrauenclubs, in denen ich bisher aufgetreten war.

Man ließ mich auch deshalb gern die Behörde repräsentieren, weil ich dem traditionellen Polizistenbild so gar nicht entsprach.

Erstens bin ich eine Frau und zweitens nur knapp über eins sechzig. Meine Wuschelhaare haben einen natürlichen Rotton, den ich oft künstlich verstärke. Ich habe eine Stupsnase und Sommersprossen, die zum Glück im Winter verschwinden. Mein Körper ist eine seltsame Mischung aus Kurven und Muskeln.

Vermutlich habe ich es meinem runden Mund und meinem görenhaften Kleidungsstil zu verdanken, dass ich im Alkoholge-schäft immer noch den Ausweis vorzeigen muss, obwohl ich schon dreißig bin. Jetzt trug ich Jeans, ein Polohemd und ein maskulin geschnittenes Jackett. Ich hatte versucht, mich älter zu schminken. Am Tor war weder eine Klingel noch ein Klopfer zu sehen. Ich wollte gerade aussteigen, um mich irgendwie bemerkbar zu machen, als das Tor wie von selbst aufschwang.

Ich fuhr auf den von kahlen Rosenbüschen gesäumten Innenhof.

Das Klicken, mit dem das Tor ins Schloss fiel, klang irgendwie bedrohlich, obwohl Mauer und Tor ja gerade die von außen drohenden Gefahren abwehren sollten.

Die Wände des Gutshauses Rosberga waren ebenfalls rosenrot gestrichen und von Rosen berankt. Als das für Männer unzugängliche Kurszentrum gegründet wurde, war natürlich über das

»Dornröschenschloss« gespottet worden. »Warten die Feministinnen auf den Kuss des Märchenprinzen?«, hatte ein Boulevardblatt gehöhnt. Die Rosen hatte angeblich Elina Rosbergs Urgroßmutter gepflanzt.

Elina Rosberg stand in der weiß gerahmten Tür und begrüßte mich mit einem festen Händedruck. Sie war etwa zwanzig Zentimeter größer als ich, hatte breite Schultern und einen großen Busen, war aber im Übrigen schlank. Der Wind plusterte ihre kurzen blonden Haare auf, das seitlich fallende Licht hob ihre lange schmale Nase und die hohen Backenknochen hervor.

Selbst in Jeans und zerschlissenem Lammfellmantel wirkte sie wie eine Gutsherrin. Ihre tiefe, sympathische Stimme klang wie die eines Menschen, der gern lacht.

»Möchtest du eine Tasse Tee, bevor du anfängst?«, fragte sie.

»Die Entspannungsübung ist noch nicht vorbei.«

Ich fragte sie, was für ein Publikum mich erwartete.

»Eine außergewöhnlich große Gruppe, rund zwanzig Frauen.

Es ist ja unser erster Kurs über geistige Selbstverteidigung. Die Gruppe ist sehr diskussionsfreudig und oft kontrovers.«

Sie führte mich in eine geräumige Wohnküche. In der Ecke bullerte ein aus Ziegelsteinen gemauerter Backofen, auf der Ofenbank räkelte sich eine Katze.

»Aira, wärst du so lieb, Hauptmeister Kallio eine Tasse Tee einzuschenken? Ich sehe inzwischen im Saal nach, wie weit die Entspannungsübung gediehen ist.« Damit ging Elina Rosberg hinaus. Die Frau, die sie als Aira angeredet hatte, stand am Herd.

»Aira Rosberg«, stellte sie sich vor. »Elinas Tante.«

Auch ohne diesen Zusatz hätte ich eine Verwandte in ihr vermutet, die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Aira Rosberg musste über siebzig sein, doch sie war fast so groß wie ihre Nichte und hielt sich mindestens ebenso gerade. Sie hatte die gleiche lange schmale Nase und die gleichen hellblauen Augen.

Nur die Haare sahen anders aus: Sie trug eine Helmfrisur in elegantem Stahlgrau.

Der Tee war heiß und schmeckte nach Johannisbeeren. Das Brot, das Aira Rosberg mir anbot, lehnte ich dankend ab. Ich setzte mich in einen Sessel in der Ecke und versuchte, meinen Vortrag zu rekapitulieren, sah aber unwillkürlich immer wieder zu der Frau mit der grau gestreiften Marimekko-Schürze hin, die die Spülmaschine ausräumte. Welche Funktion hatte sie in Rosberga? War sie die Köchin? Sie arbeitete konzentriert und zügig, ohne sich weiter um mich zu kümmern, fragte nur einmal, ob ich noch Tee wolle.

Die Zeit schien mir länger, doch der Uhr nach waren erst sieben Minuten vergangen, als Elina Rosberg zurückkam.

»Wir sind bereit, wenn es dir recht ist.« Ich folgte ihr zurück in die Eingangshalle mit der breiten Treppe. Eine Flügeltür führte in einen Raum, der früher einmal der Festsaal gewesen sein musste. An den Wänden hingen kostbare Tapeten mit Rosen-muster, doch auf dem blank gewienerten Parkett standen keine Stilmöbel, sondern leicht gebaute Tische und Stühle, die sich bequem beiseite räumen ließen. Leider waren sie aufgestellt wie in einer Schulklasse. Elina zeigte mir das Rednerpult und den Overheadprojektor. Nachdem sie mich vorgestellt hatte, begann ich meinen Vortrag abzuspulen, zuerst ein wenig nervös, doch schon nach wenigen Minuten ganz locker und gelassen. Elina saß in der ersten Reihe und hörte aufmerksam zu, ihr hellblauer Pullover betonte die Farbe ihrer Augen. Sie hatte ihre langen Beine um die Stuhlbeine geschlungen, einer ihrer grauen Wollstrümpfe war nachlässig mit lila Garn gestopft. Nach einer Weile schlich sich Aira in die letzte Reihe. Sie hatte die Schürze abgelegt und wirkte eckig in ihrem grauen Flanellhemd und der dunkelblauen Hose. Die Frauen saßen still da und hörten zu, sie wirkten interessiert, eine schrieb sogar mit. Gerade so hatte ich mir die Teilnehmerinnen an einem Kurs für geistige Selbstverteidigung in Rosberga vorgestellt: durchschnittlich fünfunddreißig, leger gekleidet, mindestens die Hälfte mit rötlichen Haaren. Fast alle trugen Kalevala-Ohrringe, zwei von ihnen dieselben wie ich, mit kleinen Mondgöttinnen als Anhängern. Wenn ich im Publikum gesessen hätte, wäre ich nicht aufgefallen, niemand hätte mit dem Finger auf mich zeigen und mich als Polizistin identifizieren können.

Zwei der Frauen stachen jedoch deutlich von den anderen ab.

Die jüngere hatte extrem kurze, violett und schwarz gestreifte Haare und mehr Schminke im Gesicht als alle anderen Kursteilnehmerinnen zusammen. Während die anderen Frauen, offenbar wegen der Entspannungsübung, vorwiegend Trainingsanzüge anhatten, trug die mit den gestreiften Haaren ein schwarzes Minikleid, das ihr kaum über den Po reichte und sich über ihren Rundungen spannte, dazu eine schwarze Lederjacke und violette Stiefel mit Pfennigabsätzen. Trotz des Make-ups merkte man bei genauerem Hinsehen, dass sie kaum über zwanzig sein konnte.

Sie starrte gelangweilt auf ihre langen, tiefvioletten Fingernägel und verzog unwillkürlich das Gesicht, sooft das Wort Polizei fiel.

Die zweite Frau, die sich von den anderen unterschied, wirkte abgezehrt, wie jemand, der sein Leben lang schwer gearbeitet hat. Ihre stumpfen blonden Haare waren zu einem festen Dutt aufgesteckt, die regengrauen Augen blickten in die Ferne. Ihr Alter war schwer zu bestimmen, in der omahaften braunen Strickjacke und dem braun karierten Kleid hätte jede Frau ältlich gewirkt. Ich hätte sie gern von nahem gesehen und ihre Stimme gehört. Sie saß reglos da, und es war, als stecke sie unter einer Glasglocke, die sie von den anderen isolierte. Die anderen Frauen lächelten über meine Geschichten, fassten sich gegenseitig am Arm, warfen sich Blicke zu, während die beiden Außenseiterinnen in ihrer ureigenen Einsamkeit hockten, der Streifenschopf laut und unruhig, der Dutt in beklemmender Lautlosigkeit.

Im Anschluss an meinen Vortrag konnten Fragen gestellt werden. Es überraschte mich nicht, dass die Zuhörerinnen über die zunehmende sexuelle Belästigung sprechen wollten, der sie überall in der Stadt ausgesetzt waren.

»Die Polizei sagt immer nur, Frauen sollten bei Dunkelheit nicht allein aus dem Haus gehen«, entrüstete sich eine Rothaarige in meinem Alter. »Ich will in Ruhe joggen können, und zwar dann, wenn es mir passt, nämlich abends, wenn mein Mann zu Hause ist und die Blagen im Bett liegen. Ich bin schließlich nicht die Kriminelle, warum soll ich mir also meinen Tagesablauf von irgendwelchen Scheißkerlen diktieren lassen?«

»Ich stimme dir voll zu, das dürfte nicht sein. Aber es ist besser, kein unnötiges Risiko einzugehen. Wo joggst du denn?«

Ich kannte die Angst, die einen manchmal auf einer dunklen, einsamen Laufstrecke überfällt, wenn man auf jedes Knacken im Gebüsch horcht und sich fragt, ob irgendwo ein Mörder lauert.

Eine der Frauen erzählte, wie sie einen Angreifer durch Bisse abgewehrt hatte, eine andere berichtete von ihrer Kollegin, die nicht mehr begrapscht wurde, seit sie auf einem Betriebsfest der Frau des Betreffenden gesagt hatte, was ihr Mann am Arbeitsplatz trieb. Ich merkte, dass ich zur Therapeutin wurde, bei der die Frauen ihre Erlebnisse abluden, und fühlte mich peinlich berührt. Schließlich war ich gekommen, um über meine Arbeit zu sprechen, und nicht, um Lebensregeln auszuteilen. Ich fühlte mich geradezu erleichtert, als eine der Frauen wütend erzählte, bei einem Verkehrsunfall hätte der Polizist automatisch sie für die Schuldige gehalten und mitfühlend gesagt: »Da wird Ihr Mann aber sauer sein, wenn er sieht, dass seine liebe Frau den Wagen zu Schrott gefahren hat.« Dabei hatte sie das Auto von ihrem eigenen Geld gekauft und sich konsequent geweigert, ihren rücksichtslos fahrenden Mann ans Steuer zu lassen. Dieses Muster kannte ich, diese Art weiblicher Solidarität, und ich musste lächeln, als mir bewusst wurde, wie Recht die Zeitungen hatten: In Rosberga wurden die Männer tatsächlich systematisch schlecht gemacht. Meine praktischen Ratschläge für den Umgang mit Polizisten wurden plötzlich unterbrochen. Die Gestreifte, die sich fast den ganzen Vortrag hindurch auf das Lackieren ihrer Nägel konzentriert hatte, sprang auf und rief:

»Ihr mit euren mickrigen Problemchen, ihr seid doch bestusst!

’ne Delle im Blech, o weh, o weh! Braucht ihr dafür etwa geistige Selbstverteidigung, oder traut ihr euch nicht, über eure wahren Probleme zu reden? Na, was ist?«

Sie war nach vorn gekommen, ein schwerer Moschusduft umwaberte sie, und unter der dicken, zu hellen Puderschicht auf ihrer Stirn drangen kleine Schweißtropfen hervor.

»Ich bin in meinem Leben so oft vergewaltigt worden, dass ich’s nicht mehr zählen kann. Inzest natürlich, und dann ein Haufen andere Kerle, meistens war ich so blau, dass ich vergessen hab, wie die Schweine aussahen. Aber an den Letzten erinnere ich mich. Ich bin eine von denen, die die meisten von euch verachten, ich sag immer, ich bin Sexarbeiterin. Aber keine Hure, ich schlaf nicht mit jedem, ich tanz nur für Geld. Ein Nachbar hat sich immer wieder meine Show angeguckt, und wie ich eines Abends Kartoffeln aus dem Keller geholt hab, ist er über mich hergefallen. Er meinte, weil ich nackt tanze, kann er mich einfach so flachlegen. Da hat er mich dann auf dem Betonboden gefickt, er fand das geil.«

Die mit dickem, schwarzem Lidstrich umrandeten, matten Augen starrten mich an, die gepiercten Nasenflügel flatterten wie bei einem gereizten Tier.

»Du hast ihn doch hoffentlich angezeigt?«, fragte ich hilflos.

»Nee! Glaubst du etwa, die Bullen würden anders denken als mein Nachbar? Aber ich hab ihm geschrieben, ich hätte Aids«, erwiderte sie wütend. »Ich hab’s nicht«, fügte sie rasch hinzu, als wäre der soziale Druck übermächtig, »außer wenn dieser Scheißkerl mich angesteckt hat.«

»Was erwartest du dir eigentlich von diesem Kurs, Milla?« Zu meiner Erleichterung mischte sich Elina Rosberg in das Gespräch ein, das mich einfach überforderte.

»Was ich erwarte? Du, das weiß ich echt nicht. Ich frag mich, was ich hier soll. Aber du«, Milla wandte sich wieder an mich,

»bist du ’ne feministische Polizistin oder was? Was hättest du zu mir gesagt, wenn ich den Kerl angezeigt hätte? Hättest du mich ernst genommen?«

»Natürlich.«

»Du hättest mir keine feministische Moralpredigt gehalten, weil ich Stripperin bin?«

»In so einer Situation hält man keine Moralpredigten.« Mein Versuch, freundlich zu sein, verpuffte wirkungslos, ich spürte die Feindseligkeit, die Milla ausstrahlte, wie beißend kaltes Eis.

»Aber wer keine Anzeige erstattet, macht sich doch erst recht zum Opfer!«, wetterte eine üppige Frau in der ersten Reihe, die eifrig mitgeschrieben hatte. »Durch dein Verhalten bestätigst du diesen Kerl und seinesgleichen ja nur in ihrer Auffassung, dass sie dich, und damit jede Frau, einfach missbrauchen können.

Wann ist das passiert? Vielleicht kannst du jetzt noch Anzeige erstatten?«

»Keinen Bock«, sagte Milla. »Und der Typ hat sich zum Glück seitdem nicht mehr blicken lassen.«

»Diese Inzestgeschichte …«, begann Elina mit der ruhigen, einfühlsamen Stimme eines Menschen, der daran gewöhnt ist, schmerzhafte Dinge anzusprechen. »Gibt es in diesem Zusammenhang etwas, worüber du mit einer Polizistin sprechen möchtest? Ich halte es für sinnvoll, dass wir uns auf polizeiliche Fragen konzentrieren, solange Kriminalhauptmeister Kallio bei uns ist.«

»Ach was, alles längst verjährt«, schnaubte Milla. »Über mich zu reden bringt nichts. Sprecht ihr ruhig über eure Autos oder über entlaufene Kätzchen. Ich geh eine rauchen.« Milla drehte sich um und stolzierte zur rosaroten Tür hinaus.

Elina Rosberg wirkte wie vor den Kopf geschlagen, ihr war momentan die Kontrolle entglitten. Sie sah abwechselnd die Kursteilnehmerinnen und mich an, als erwarte sie, dass eine von uns etwas sagte. Leicht gezwungen erklärte ich die Prozedur der Anzeigenerstattung, obwohl ich selbst verwirrt war, weniger von Millas Verhalten als von Elinas Reaktion. Elina Rosberg war mir seit langem ein Begriff. Vor fünfzehn Jahren hatte sie als Psychologin für eine Jugendzeitschrift geschrieben, die meine Schwester abonniert hatte. Ich ging damals schon in die Oberstufe und fühlte mich über das Blatt erhaben. Nur Elinas Seite las ich regelmäßig, weil sie weder moralisierte noch die Probleme Jugendlicher beschönigte, sondern sachlich und bestimmt auf die Fragen der Leser antwortete. Elina war eine Art Vorbild für mich. Als ich mich an der Polizeischule bewarb, hatte ich gehofft, die zupackende, verständnisvolle Art, die ich an ihr bewunderte, in meinen Beruf einbringen zu können. Obwohl mir diese Illusion bald genommen wurde, war ich davon ausgegangen, dass Elina ihre Arbeit immer noch mit derselben Begeisterung tat wie damals mit knapp dreißig Jahren. Im Kurszentrum Rosberga konnte sie sich auf die Fälle konzentrieren, die sie besonders interessierten, auf Essstörungen und andere frauentypische psychische Symptome.

Es schienen keine Fragen mehr zu kommen. Ich wollte gerade meine Unterlagen einpacken, da stand plötzlich die Frau mit dem Dutt auf. Sie öffnete den Mund, machte ihn wieder zu und sah Elina Hilfe suchend an. Als Elina ihr zunickte, holte sie tief Luft:

»Kann man jemanden daran hindern, seine Kinder zu sehen?«

Ihre Stimme zitterte und brach wie ein zu laut gespieltes Instrument, ihr farbloses Gesicht rötete sich. Es schien eine gewaltige Anstrengung für sie, diese wenigen Worte auszuspre-chen.

»Worum geht es konkret? Ohne die Einzelheiten zu kennen, kann ich nichts Genaues sagen.«

Die Frau sah verschreckt aus und senkte den Kopf. Elina nahm ihr die Antwort ab:

»Johanna hat ihren Mann und die Kinder verlassen, sie will die Scheidung. Beide fordern das Sorgerecht für die Kinder, aber Johannas Mann lässt es nicht zu, dass sie ihre Kinder besucht.«

»Dazu hat er kein Recht, wenn dir der Kontakt nicht per Gerichtsbeschluss verboten wurde.« Ich sah die Frau an, die bei dem Wort »Gerichtsbeschluss« zusammenzuckte. »Warum will dein Mann dich nicht zu den Kindern lassen?«

Diesmal antwortete sie selbst, fast trotzig, obwohl ihr die Stimme zu versagen drohte:

»Weil ich unser jüngstes Kind getötet habe.«

Es war, als hätten sich die Kursteilnehmerinnen schlagartig in kalte, starre Schneefrauen verwandelt. Nach einem kollektiven Stöhnen des Entsetzens wurde es mäuschenstill, aber alle hatten den Blick auf Johanna geheftet, deren Gesicht nun wieder grau geworden war. Auch ich starrte sie an, ihren gesenkten Kopf, das Kleid, das an ihrem ausgemergelten Körper schlotterte.

Hatte sie im Gefängnis gesessen, sah sie deshalb so verhärmt aus?

Wieder unterbrach Elinas ruhige Stimme die Stille:

»Es handelt sich hier um eine kleine Begriffsverwirrung. Ich nehme an, keine der hier Anwesenden hält Abtreibung für Mord, umso weniger, als vermutlich weder Johanna noch das Kind die Geburt überlebt hätten. Johanna hat neun Kinder zur Welt gebracht und wäre schon bei der letzten Entbindung fast gestorben.«

»Hätten die Ärzte dich denn nicht sterilisieren können? Oder dir eine Spirale einsetzen?«, rief die Frau, die Milla vorgeworfen hatte, sich mit der Opferrolle abzufinden.

»Unsere Gemeinde billigt das nicht. Empfängnisverhütung ist gegen Gottes Willen.« Johanna leierte die Phrase ausdruckslos herunter.

»Bist du katholisch?«, hakte die andere Frau nach.

»Johanna gehört einer der orthodoxesten altlaestadianischen Gemeinden an«, nahm ihr Elina die Antwort ab.

»Hat sie einen Rechtsanwalt?« Ich richtete meine Frage an Elina, obwohl es mich irritierte, dass wir über Johannas Kopf hinwegredeten, als wäre sie geistig minderbemittelt. Elina gab mir keine Antwort, sondern sagte mit fester Stimme:

»Wenn niemand mehr Fragen an Kriminalhauptmeisterin Kallio hat, ist es wohl an der Zeit, ihr zu danken und die Diskussion zu beenden.« Sie begann zu applaudieren, und die verdutzten Frauen taten es ihr nach. Während sie den Saal verließen, wandte sich Elina an mich.

»Wir erledigen dann gleich die Honorarfrage. Aber es wäre schön, wenn du vorher noch Zeit hättest, mit Johanna zu sprechen.«

Natürlich hatte ich dafür Zeit. Ich war geradezu versessen darauf, Johannas Geschichte zu hören. Während Elina die Tür zumachte, trat Johanna an meinen Tisch. Zum ersten Mal sah sie mir ins Gesicht. Die Beklemmung, die ich aus ihren grauen Augen las, war so stark, dass es mir schwer fiel, ihrem Blick standzuhalten.

»Wie alt sind deine Kinder?«, fragte ich, weil mir nichts Gescheiteres einfiel. Ich fühlte mich der Situation nicht gewachsen. Wie hätte ich die Sehnsucht einer Mutter nach ihren Kindern nachempfinden können, wo ich mir kaum einzugestehen wagte, dass ich vielleicht doch Kinder haben wollte – aber frühestens in ein paar Jahren.

»Johannes, mein Ältester, ist vierzehn, und Maria, die Jüngste, ist anderthalb.« Ihre Stimme gewann Festigkeit, als sie von ihren Kindern sprach, mit diesem Thema war sie vertraut.

»Maria … meine Namensschwester. Und der zweite Name meines Mannes ist Johannes«, sagte ich mit verzweifelter Munterkeit, als könnte das Johannas Schmerz lindern. »Warum will dein Mann verhindern, dass du deine Kinder besuchst? Nur wegen der Abtreibung? Oder weil du ihn verlassen hast?«

»Das Wort des Mannes ist bei uns Gesetz, und Kinder sind eine Gnade Gottes.« In ihrer Stimme lag kein Hohn. »Wenn ich bei der Niederkunft sterbe, ist es Gottes Wille.«

»Aber du hast ja schon neun Kinder, was ist das für ein Gott, der so etwas will!« Meine Berufsethik ließ mich im Stich, ich war außer mir vor Wut. Johanna wandte das Gesicht ab, und Elina trat rasch zu ihr, wie um sie zu schützen. Ich schämte mich. Würde ich denn nie lernen, mich zu beherrschen?

»Entschuldige bitte, wir wollen uns nicht über deinen Glauben streiten. Reden wir lieber über praktische Fragen. Verhindert dein Mann ganz konkret, dass du deine Kinder zu Gesicht bekommst?«

»Johanna lebt in einer kleinen nordostbottnischen Gemeinde, wo siebzig Prozent der Einwohner Laestadianer sind, einschließ-

lich des Arztes und aller Polizisten, bis auf einen«, erklärte Elina. Dann erzählte sie, dass die Kinder nicht mit der Mutter telefonieren durften und dass der Vater Johannas Briefe zuerst abgefangen und später dem Briefträger verboten hatte, sie zuzustellen. Als Johanna versuchte, ihre Kinder zu besuchen, hatte ihr Mann die Polizei gerufen, die sie kurzerhand aus der Ortschaft auswies. Obwohl ich gleich mehrmals bis zehn zählte, verspürte ich den Drang, gegen irgendetwas zu treten. Was für eine haarsträubende Geschichte! War so etwas im Finnland der neunziger Jahre überhaupt möglich? Laestadianer und Zeugen Jehovas hatte es in meiner Heimatstadt auch gegeben. Ihre Kinder durften in der Schule nicht an der Musikgymnastik teilnehmen, noch nicht einmal im Takt des Tamburins im Kreis gehen, und das Schulfernsehen war für sie auch verboten, aber sonst unterschieden sie sich kaum von anderen. Sicher, diese Leute hatten Unmengen von Kindern, doch ich hatte nie gehört, dass eine Frau bei der Entbindung gestorben wäre.

»Wenn du nicht aggressiv geworden bist, haben die Polizisten falsch gehandelt. Du solltest dich mit diesem einen Beamten in Verbindung setzen, der nicht zu eurer Gemeinde gehört. Und natürlich mit der Provinzialpolizei. Name und Beruf deines Mannes?«

»Leevi Säntti. Prediger«, antwortete Johanna. Auch das hörte sich so unglaublich an, dass ich beinahe lachen musste.

»Er hat also Einfluss im Ort?«

»Er ist der Laienprediger unserer Kirche.«

»Genauer gesagt, ein weithin bekannter Prediger«, ergänzte Elina. Ich überlegte, was die beiden eigentlich von mir wollten.

Wieder fragte ich nach einem Rechtsanwalt. Wie sich herausstellte, gab es auch in dieser Hinsicht Probleme. Der kommunale Rechtshelfer war ebenfalls Laestadianer, aber einen anderen Anwalt konnte Johanna nicht bezahlen.

Ich musste mir in Gedanken einen Tritt geben, damit ich nicht anfing, Versprechungen zu machen. Neben der polizeilichen Ausbildung hatte ich auch Jura studiert und nach dem Examen knapp ein Jahr in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, die dann Konkurs machte. Ab und zu reizte es mich sehr, auch meinen zweiten Beruf auszuüben. Aber woher die Zeit nehmen, auf meinem Schreibtisch lag ohnehin Arbeit genug. Außerdem befürchtete ich, hier in einen Interessenkonflikt zu geraten, obgleich Johannas Wohnsitz weit entfernt lag.

Plötzlich fiel mir Leena ein, eine Kommilitonin, die ab und zu beim juristischen Auskunftsdienst der Frauenunion mitarbeitete.

»Ich habe da eine Bekannte«, sagte ich. »Die könnt ihr anrufen, sie hilft bestimmt. Und ich auch … Ich frage bei der Provinzialpolizei nach, vielleicht kenne ich da jemanden. Hast du die Scheidung schon eingereicht?«

»Noch nicht«, wisperte Johanna.

»Soweit ich es beurteilen kann, bist du weder psychisch krank noch alkoholsüchtig. Und ein anderer Mann ist auch nicht im Spiel, oder?« Johanna schüttelte entsetzt den Kopf. »Es ist kaum anzunehmen, dass das Gericht die Kinder deinem Mann zu-spricht.« Ich wollte ihr Mut machen, obwohl ich wusste, dass die Entscheidung weitgehend vom Richter abhing. In diesem Moment schlug mein Piepser Alarm.

»Tut mir Leid, ich muss telefonieren. Ich habe Bereitschafts-dienst.«

»Das nächste Telefon ist in der Küche. Aira kann inzwischen die Papiere fertig machen. Du hast vermutlich keine Zeit, zum Abendessen zu bleiben?«

»Es sieht nicht so aus. Aber haltet mich über Johannas Fall auf dem Laufenden«, murmelte ich, während ich rasch Leenas Telefonnummer aufschrieb.

In der Küche war Aira mit dem Abendessen beschäftigt, dem Duft nach gab es Gemüseeintopf mit Kräutern. Ich füllte die Honorarquittung aus und rief beim Dezernat an. Pertsa meldete sich. Mürrisch erklärte er, in Suvela habe eine Frau ihren Lebensgefährten erstochen, das falle in mein Ressort. Ich versprach, direkt hinzufahren.

Ohne mich von Elina und Johanna zu verabschieden, ging ich zu meinem Wagen. Hinter einem der gardinenlosen Fenster sah ich fröhlich schwatzende Frauen, die sich um einen langen, von Kerzen beleuchteten Tisch scharten. Elina setzte sich gerade hin, Aira trug Brotkörbe auf. Johanna war nicht zu sehen. Als ich den Motor anließ, ging die Haustür auf. Ich erkannte Millas violett gestreiften Schopf, dann fiel die Tür zu, und es wurde wieder dunkel. Nach einer Weile sah ich im Rückspiegel eine Zigarette aufglühen. Ich fuhr zum Tor, das wieder von selbst aufschwang und sich hinter mir lautlos schloss. Rosberga blieb hinter der Mauer zurück, weit weg vom Rest der Welt.

Zwei

Müde starrte ich durch das Bürofenster auf die Autobahn Helsinki – Turku, auf der selbst jetzt am Nachmittag kaum Verkehr herrschte. Eine unbegreifliche Müdigkeit hatte mich erfasst, der Kopf wollte auf den Tisch sinken, und das Sofa in der Ecke schien mir einladend zuzuwinken.

Vielleicht war es nur Weihnachtsmüdigkeit. Heute war der erste Tag nach Weihnachten. Antti und ich hatten die Feiertage faulenzend und lesend zu Hause verbracht. Ich hatte mich für die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr zum Dienst eingetragen, eine gute Idee, hatte ich gedacht, denn dadurch hatten wir einen Vorwand, weder Anttis Eltern in Inkoo noch meine in Nordkarelien besuchen zu müssen. Jetzt wäre es mir allerdings lieber gewesen, noch ein paar Tage Urlaub zu haben, mit unserem Kater Einstein am Kamin zu sitzen, Hercule Poirots Weihnacht von Agatha Christie zu Ende zu lesen und Schokolade zu futtern.

Nein, keine Schokolade, bääh. Beim Gedanken an Süßigkeiten wurde mir plötzlich übel. Vielleicht hatte ich an den Feiertagen zu viel davon gegessen.

Seufzend legte ich auf dem PC ein neues Dokument an und tippte meinen Bericht über die Vernehmung ein, die ich gerade geführt hatte. Nicht alle Einwohner von Espoo hatten so friedliche Weihnachtstage erlebt wie ich. An Feiertagen häuften sich die Fälle häuslicher Gewalt, und nach der Rückkehr aus dem Weihnachtsurlaub hatte ich Akten über mehrere Körperverletzungen und eine Messerstecherei mit Todesfolge auf meinem Schreibtisch vorgefunden. Kein Wunder, dass einige meiner Kollegen eine ausgesprochen zynische Einstellung zu Ehe und Familienleben hatten. Auch in unserer Abteilung war jeder Zweite geschieden, und Palo war mittlerweile beim dritten Eheversuch angelangt.

Woher kam nur diese Müdigkeit? Ich hatte doch gar nichts Besonderes getan. Selbst unsere täglichen Skitouren waren bei dem starken Frost kürzer und ruhiger ausgefallen als sonst. Antti und ich wohnten seit dem letzten Sommer in Henttaa, in einem renovierungsbedürftigen Einfamilienhaus mit anderthalb Etagen, das den Erben des Bruders eines Kollegen von Antti gehörte.

Das Haus war schwer verkäuflich, weil die geplante Umgehungsstraße direkt an ihm vorbeiführen sollte. Noch hatten wir freie Aussicht über die langsam verwaldenden Brachäcker, auf denen sich Hasen und Maulwürfe tummelten, doch die Verwirk-lichung der Baupläne würde uns eine grau asphaltierte Umgebung bescheren. Dass wir nur auf Abruf in unserem neuen Heim lebten, störte mich eigentlich nicht. Im Gegenteil, vielleicht war mir die Gewissheit, dass es Veränderungen geben würde, sogar willkommener als früher, weil ich jetzt eine feste Anstellung und dazu noch einen Ehemann hatte. Im Allgemeinen hatte ich es nie lange an einem Ort ausgehalten, befristete Jobs und Vertretungen waren mir ganz recht gewesen. Dass ich inzwischen schon zweieinhalb Jahre mit Antti zusammenlebte, war eine reife Leistung für mich. Vielleicht hatte ich nur deshalb den Mut gehabt, ihn zu heiraten, weil es heutzutage so leicht ist, sich scheiden zu lassen.

Im Gegensatz zu mir hatte Antti in Henttaa bereits Wurzeln geschlagen und trauerte um die bald verlorene Landschaft. Er hatte sich mit den Gegnern der Umgehungsstraße in Verbindung gesetzt, doch der Kampf schien aussichtslos: Was sich die Straßenbaubehörde und die zuständigen Beamten in Espoo einmal in den Kopf gesetzt hatten, das wurde verwirklicht, selbst wenn die neue Straße überflüssig war. Schon damals, als der Ausbau des westlichen Zubringers in Tapiola die Landschaft seiner Kindheit zerstört hatte, war Antti verzweifelt gewesen, und letzten Endes war die Landschaftsverschandelung wohl auch der Grund, weshalb seine Eltern ihr Haus in Tapiola verkauft hatten und nach Inkoo in ihr bisheriges Sommerhaus gezogen waren.

Antti war ein vehementer Gegner des Straßenbauprojekts geworden und hatte gleichzeitig ein so ausgeprägtes Umweltbe-wusstsein erworben, dass ich ihm halb im Spaß prophezeit hatte, er würde bei der nächsten Kommunalwahl für die Grünen kandidieren.

»Obwohl du lieber die Sozis oder die Sammlungspartei unter-wandern solltest, die treiben den Straßenbau doch am eifrigsten voran«, meinte ich schließlich. Es war nicht zu übersehen, dass Antti eine neue Freizeitbeschäftigung brauchte. Mir genügten Joggen, Bodybuilding und das regelmäßige Training auf dem Schießstand der Polizei, mit dem ich nach einem Vorfall im Sommer des letzten Jahres begonnen hatte. Ich hatte damals zum ersten Mal in meiner Laufbahn von der Waffe Gebrauch machen müssen und festgestellt, dass meine Treffsicherheit zu wünschen übrig ließ. Inzwischen hatte sich meine Schießtechnik verbessert, aber ich hoffte inständig, meine Fertigkeiten nicht unter Beweis stellen zu müssen.

Das Telefon klingelte, die Zentrale teilte mit, Aira Rosberg wolle mich sprechen. Erst nach einigen Sekunden erinnerte ich mich wieder an Aira, Elina und das Gutshaus Rosberga. In der Hektik der Weihnachtsvorbereitungen hatte ich sie ebenso vergessen wie mein Versprechen, in Johannas Angelegenheit meine Fühler bei der zuständigen Provinzialpolizei auszustre-cken.

Sobald die Verbindung hergestellt war, sagte Aira merklich zögernd:

»Ich weiß nicht, ob ich die Polizei damit belästigen sollte, aber

… Elina ist verschwunden …«

»Verschwunden? Wie denn das?«

»Seit gestern Abend hat sie niemand mehr gesehen. Ihr Bett sieht unberührt aus, aber ihr Nachthemd und ihr Morgenmantel sind nirgends zu finden. Dafür liegt ihre Straßenkleidung im Zimmer, als wäre sie im Nachthemd weggegangen.«

»Wann wurde sie zuletzt gesehen?«

»Ich habe gestern Abend gegen zehn kurz mit ihr gesprochen, als sie von ihrem Abendspaziergang zurückkam und in ihr Zimmer ging. Wir haben über Weihnachten vier Frauen hier, aber von denen hat sie auch keine gesehen.«

»Und sie hat keine Nachricht hinterlassen?«

Aira schien mit der Antwort zu zögern. »Nein.«

»Gibt es jemanden, zu dem sie gegangen sein könnte? Wer sind ihre engsten Freunde?«

»Ich habe natürlich sofort bei Joona angerufen … bei Joona Kirstilä. Er ist Elinas Freund. Aber bei ihm ist sie auch nicht.«

»Joona Kirstilä, der Dichter?«, fragte ich neugierig. Elina stand immer wieder im Licht der Öffentlichkeit, aber von einer Liebesbeziehung hatte ich nie gehört.

»Ja, genau der. Sie sind seit ein paar Jahren befreundet. Elina übernachtet ab und zu bei ihm in der Lapinlahdenkatu, deshalb dachte ich, sie wäre vielleicht dort.«

»Besteht irgendein besonderer Grund zur Besorgnis, was Elinas Verschwinden betrifft? Ist an Weihnachten etwas Außergewöhnliches vorgefallen? Gab es Streit? Wer hält sich denn zur Zeit in Rosberga auf?«

»Johanna Säntti und Milla Marttila hast du ja, wenn ich mich recht entsinne, bereits kennen gelernt. Die beiden haben seit dem Kurs Anfang Dezember praktisch hier gewohnt. Tarja Kivimäki, eine alte Bekannte von Elina, ist kurz vor Weihnachten angekommen, Niina Kuusinen am ersten Feiertag. Sie hat ebenfalls an Elinas Kursen teilgenommen.«

Es wunderte mich, dass Milla immer noch in Rosberga war, obwohl sie sich dort gar nicht wohl zu fühlen schien. Und Johanna … hatte sie mit ihren Kindern nicht einmal Weihnachten feiern dürfen? Ich schob den Gedanken beiseite und fragte weiter:

»Elina geht also normalerweise nicht weg, ohne Bescheid zu sagen?«

»Nein! Es ist wirklich merkwürdig, ich …«

»Sie wird seit weniger als vierundzwanzig Stunden vermisst.

Bei Erwachsenen unternimmt die Polizei nach so kurzer Zeit noch nichts. Hat Elina andere Freunde oder Verwandte, bei denen sie sich aufhalten könnte?« Wieder verneinte Aira, schien aber nicht geneigt, das Gespräch zu beenden. Ich fragte mich, was sie eigentlich von mir erwartete. Vielleicht hatte sie mich nur angerufen, um sich von einer Sachkundigen bestätigen zu lassen, dass kein Grund zur Sorge bestand, dass immer wieder Menschen ohne Erklärung verschwinden und nach einer Weile unversehrt wieder auftauchen. Aber diesen Trost brachte ich nicht über die Lippen, denn auch mir kam Elina Rosbergs plötzliches Verschwinden seltsam vor.

»Ruf mich wieder an, wenn du bis morgen früh nichts von ihr gehört hast«, sagte ich schließlich. Es kam mir komisch vor, die vierzig Jahre ältere Aira zu duzen, aber sie hatte ja damit angefangen. Das war in Rosberga wohl so üblich. »Ruf sicher-heitshalber auch an, wenn sie zurückkommt«, setzte ich hinzu und gab ihr meine Privatnummer, obwohl ich wusste, dass ich das nicht tun sollte. Ich versuchte mir einzureden, ich wäre nur neugierig, wusste aber, dass ich mir etwas vormachte.

Ich war besorgt.

Um nicht weiter über Elina nachzugrübeln, tippte ich meinen Bericht zu Ende. Bevor ich nach Hause fuhr, rief ich Antti an und bat ihn, meine Skier zu wachsen. Den ganzen Tag über hatte dichtes Schneetreiben geherrscht, und die Felder lagen unter einer dicken weißen Decke. Jetzt am Abend klarte es auf, das Thermometer sank unter null, genau das richtige Wetter zum Skilaufen. Einer der vielen Vorzüge unseres Hauses in Henttaa war die Möglichkeit, direkt von der Haustür aus loszulaufen.

Auf dem Flur kam mir Pertti Ström entgegen. Er hatte über Weihnachten Dienst geschoben, seine Familie brauchte ihn nicht, wie er sagte. Seine Exfrau und ihr neuer Mann waren mit den Kindern auf die Kanarischen Inseln geflogen. Pertsa schaute noch bärbeißiger drein als gewöhnlich, seine großporige Gesichtshaut war von tiefen Falten durchzogen, und die an den Schläfen schütter werdenden hellbraunen Haare klebten am Kopf, als seien sie schweißnass. Die zweimal gebrochene Nase leuchtete rot in seinem winterblassen Gesicht. Ob er eine Erkältung ausbrütete?

»Diese verfluchte Schießerei in Perkkaa hat mich einen ganzen Tag gekostet! Angeblich kann sich keiner an irgendwas erinnern«, knurrte Pertsa als Antwort auf meinen Gruß.

»Herrgottsackzement, ich bin sicher, dass die sich erst hinterher zugedröhnt haben, nachdem sie den Kerl erschossen hatten, damit sie behaupten können, sie hätten totale Mattscheibe gehabt! Und was hat unsere Jungvermählte über Weihnachten getrieben? Gegessen und gebumst, was?«

An Ströms Ausdrucksweise hatte ich mich schon auf der Polizeischule gewöhnt. So begnügte ich mich damit, zustim-mend zu lächeln. Gar so drastisch hätte ich mich zwar nicht ausgedrückt, aber er hatte richtig geraten.

»Und, schon was Kleines unterwegs?«, fuhr Pertsa fort und maß mich unverfroren von Kopf bis Fuß.

»Das geht dich zwar nichts an, aber da es dich so brennend zu interessieren scheint, darf ich dich davon in Kenntnis setzen, dass nichts dergleichen geplant ist. Meine Spirale bleibt, wo sie ist«, gab ich zurück und verzog mich, bevor er mit weiteren Kommentaren aufwartete. Ich war nicht in der Stimmung für einen verbalen Schlagabtausch. Unsere Gespräche arteten immer wieder in Streit aus, wir kamen einfach nicht miteinander klar.

Ich hatte mich von Anfang an davor gefürchtet, mit Pertsa Ström zusammenarbeiten zu müssen, obwohl mir zu Ohren gekommen war, dass ausgerechnet er unserem Chef Jyrki Taskinen vorgeschlagen hatte, mir die Stelle bei der Espooer Polizei anzubieten.

Vor einigen Jahren, als ich noch in der Anwaltskanzlei in Tapiola arbeitete, waren wir im Zusammenhang mit einem Mordfall heftig aneinander geraten. Pertsa hatte einen Unschuldigen verhaftet, der mich als Rechtsbeistand engagiert hatte.

Dass die Aufklärung des Falles letzten Endes nicht der Polizei, sondern mir zu verdanken war, hatte Pertsa natürlich nicht verdauen können. Erst später hatte ich erfahren, dass damals gerade seine Scheidung lief und er sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Er selbst hatte darüber nie ein Wort verloren, aber Palo, dessen Ehefrau Nummer drei mit Pertsas Ex befreundet war, tratschte mit Vergnügen über Ströms Privatleben.

In Henttaa waren die Straßen von Schneewehen wie aus dem Bilderbuch gesäumt, sie brachten die weihnachtliche Beleuchtung der Häuser doppelt schön zur Geltung. Unsere rote Bruchbude sah geradezu anheimelnd aus. Antti hatte als Willkommensgruß eine Stalllaterne angezündet und schaufelte gerade den Hof frei. Es hatte wieder angefangen zu schneien.

Ich aß rasch eine Banane und zog mich um. Die frische Luft blies meine Müdigkeit davon, das Geräusch der gleitenden Skier war vertraut und doch von einem Winter zum anderen wieder ganz neu. Aber so sehr ich mich auch bemühte, mich ganz auf das Skilaufen zu konzentrieren, meine Gedanken kehrten immer wieder zu Elina Rosberg zurück. Wo war sie bloß abgeblieben?

Natürlich kann man niemanden nach seinem öffentlichen Image beurteilen, aber ich hatte nicht den Eindruck gewonnen, dass Elina Rosberg zu impulsivem Handeln neigte. Sie hatte in den letzten Jahren häufig an Fernsehdebatten teilgenommen, bei denen es unter anderem um Probleme der Sexualität und der Geschlechterrollen ging. Während die anderen Teilnehmer sich in Rage geredet und gegenseitig niedergeschrien hatten, war Elina geradezu aufreizend ruhig geblieben, bis die anderen nach und nach still wurden und ihr zuhörten. Nein, sie schien mir nicht der Typ zu sein, der sich ohne Ankündigung in den Zug setzte und Freunde in einer anderen Stadt besuchte. Schon gar nicht, wenn sie Gäste hatte.

Nach ein paar Kilometern kehrte die Müdigkeit zurück. Meine Beine waren schlapp und kraftlos, ich schaffte es kaum noch, die Skier vorwärts zu schieben. Antti fuhr in gleichmäßigem Tempo vor mir her, und es fuchste mich, dass ich ihn bitten musste, langsamer zu laufen.

»Na, Schneefrau, was ist los?«, lachte er. Ich schüttelte den Schnee aus dem Haar.

»Meine Beine fühlen sich ganz komisch an. Vielleicht kriege ich die Grippe? Ach ja, meine Tage müssten bald kommen, wahrscheinlich liegt es nur daran.«

»Kehren wir lieber um«, schlug Antti vor. Irgendwie schaffte ich es, mit meinen Wackelpeterbeinen zu wenden. Ich gab mir Mühe, nicht an meine Mattigkeit zu denken, sondern mich auf Anttis Rücken zu konzentrieren. Sein grüner Anorak leuchtete vor dem Schnee im Dämmerlicht, sein Schatten sah aberwitzig lang und dünn aus. Als er sich umdrehte und fragte, ob das Tempo richtig sei, erinnerte er mich mit seiner großen Hakennase mehr denn je an einen Indianer. Es war ein herrliches Gefühl, unser Haus wieder zu sehen, zu wissen, dass die heiße Sauna auf mich wartete und danach das warme Bett, wo sich Einstein satt und zufrieden am Fußende einrollte. Doch trotz meiner Müdigkeit musste ich immer wieder an Elina denken, selbst im Traum ließ sie mir keine Ruhe. Ich sah sie über das Eis gehen, im flatternden weißen Nachthemd. Plötzlich fuhr der Wind in das Hemd und hob Elina in die Luft, wirbelte sie immer weiter in die Höhe, bis sie nur noch ein kleiner Punkt unter den Schnee-flocken am Himmel war.

Am nächsten Morgen hatte ich kaum mein Dienstzimmer betreten, als Aira Rosberg wieder anrief. Elina hatte immer noch nichts von sich hören lassen. Bedauernd erklärte ich ihr, dass Vermisstenfälle, sofern keine Hinweise auf ein Verbrechen vorlagen, nicht in unser Ressort fielen, sondern von der Schutzpolizei bearbeitet wurden.

»Entschuldige bitte, dass ich dich damit belästige, aber … als Polizistin hast du einen besseren Blick dafür, was wichtig ist und was nicht. Ich hatte gehofft, dass … dass du vorbeikommen könntest.« Airas Stimme klang zugleich besorgt und verlegen.

»Wenn ich bei der Schupo anrufe, schicken sie natürlich einen Mann, und das wäre Elina gar nicht recht.«

»Bei der Schutzpolizei arbeiten heutzutage auch eine ganze Reihe Frauen, aber ich werde sehen, was ich tun kann.« Der Nachmittag war noch nicht völlig verplant, vielleicht würde ich Zeit für einen Abstecher finden. »Ich rufe dich nach zwei Uhr an, aber melde dich, falls du vorher etwas von Elina hörst!«

Im selben Moment kam Taskinen herein und drängte mich, endlich in den Vernehmungsraum zu kommen. Neben den allweihnachtlichen Körperverletzungen bearbeiteten wir einen ziemlich verwickelten Fall von Geldwäsche. Das Dezernat für Wirtschaftskriminalität hatte uns hinzugezogen, weil es sich bei einem der Hauptakteure um einen Betriebswirt aus Haukilahti handelte, der seine Karriere als Konkursbetrüger bereits in den siebziger Jahren begonnen und die Geldwäsche diesmal von seiner Zelle im Bezirksgefängnis aus aufgezogen hatte. Heute hatten wir seinen Schwager vorgeladen, der zwar einer der Hauptaktionäre der Scheinfirma war, aber den Unschuldigen mimte. Wir hatten vereinbart, ihn pausenlos mit unseren Fragen zu bombardieren, um ihn wenigstens zeitweise aus dem Konzept zu bringen. Nachdem wir ihm drei Stunden lang zugesetzt hatten, konnten wir zufrieden sein. Er hatte sich mehrmals in Widersprüche verwickelt und dabei unwillentlich so viel preisgegeben, dass wir beinahe genug Material für die Anklage-erhebung hatten. Seit dem Sommer hatten wir an diesem Fall herumgedröselt, es war phantastisch, ihn bald abschließen zu können.

»Hast du Zeit, mit mir zu essen?«, fragte Taskinen, als wir den Vernehmungsraum verließen.

»Ja, gern. Ich wollte sowieso etwas mit dir besprechen.« Ich berichtete meinem Chef von dem seltsamen Verschwinden Elina Rosbergs, denn ich wollte ihn um Erlaubnis bitten, wenigstens inoffiziell nachzuprüfen, ob Hinweise auf ein Verbrechen zu finden waren. Allerdings hatte ich insgeheim bereits beschlossen, notfalls auch ohne Taskinens Einwilligung nach Rosberga zu fahren.

»Ich habe das Gefühl, Aira Rosberg verschweigt mir den wahren Grund, weshalb sie sich solche Sorgen um Elina macht und unbedingt die Polizei einschalten will. Und überhaupt …«

Wir beluden unsere Tabletts. Taskinen wählte entrahmte Milch und nahm keine Butter zum Brot. Ich nahm reichlich Ketchup zum Nudelauflauf und Knoblauchsoße zum Salat und registrier-te Taskinens amüsierten Blick. Zu Elinas Verschwinden äußerte er sich erst, als wir am Tisch saßen.

»Fahr ruhig hin. Aber wenn dir etwas faul erscheint, bittest du Aira Rosberg, eine offizielle Vermisstenanzeige zu erstatten.

Natürlich kannst du auch die Ausreisen überprüfen. Bei Erwachsenen sind solche Fälle immer etwas heikel. Mit ihrem Freund würde ich an deiner Stelle auch reden.«

»Daran hatte ich auch schon gedacht.« Ich stopfte mir eine Ladung Nudelauflauf in den Mund und betrachtete Taskinens Hände, die fein säuberlich eine Scheibe Roggenbrot zerteilten.

Kriminalrat Taskinen war stets sauber und gepflegt. Er war etwas über eins achtzig groß und trug das glatte blonde Haar seitlich gescheitelt. Der Scheitel war wie mit dem Lineal gezogen, und Schuppen oder Haare auf dem blauen Anzugkra-gen waren schlichtweg unvorstellbar. Die Fingernägel hatte er immer kurz geschnitten, seine Zähne waren makellos weiß. So schmal und stromlinienförmig wie sein Gesicht war auch sein Körper: sehnig wie der eines Marathonläufers. Tatsächlich lief er mit fast fünfzig die zehn Kilometer immer noch in weniger als vierzig Minuten. Die einzige Abweichung von der schmalen Linie war der fast zentimeterbreite, abgewetzte Ehering.

Wegen seines Aussehens hatte ich Taskinen anfangs für einen Pedanten gehalten, doch er hatte sich als angenehmer Vorgesetzter entpuppt. Er erledigte seine Aufgaben gewissenhaft und forderte denselben Einsatz auch von seinen Mitarbeitern, aber er sagte immer klipp und klar, was er wollte und ob er zufrieden war oder nicht. Gelegentlich regte er sich darüber auf, dass ich die Dienstvorschriften allzu großzügig auslegte, doch davon abgesehen hatten wir keine Probleme miteinander. Nach den Erfahrungen mit meinen bisherigen Chefs, einem versoffenen Helsinkier Kriminalbeamten und einem geheimniskrämerischen Juristen, war die Zusammenarbeit mit Taskinen eine wahre Freude. Über sein Privatleben wusste ich wenig, seine Frau arbeitete, wenn ich mich nicht täuschte, bei der Stadt Espoo als Koordinatorin der Kindertagespflege, die gemeinsame Tochter war im Teenageralter und in ihrer Altersklasse finnische Meisterin im Eiskunstlauf. Abgesehen von Pertti Ström kam ich auch mit meinen übrigen Kollegen ganz gut zurecht, obwohl ich nach wie vor die einzige Frau in unserem Dezernat war. Zum Glück arbeiteten in den anderen Abteilungen und bei der Schupo ein paar echt gute Frauen, mit denen ich einmal wöchentlich Volleyball spielte. Ich fühlte mich nicht mehr als Fremdkörper, wie damals auf der Polizeischule, sondern nur als Vertreterin einer Minderheit.

Taskinen und ich arbeiteten bis weit in den Nachmittag hinein an unserem Ermittlungsbericht über den Geldwäschefall. Die Sonne ging bereits unter, als ich meinen Fiat nach Nuuksio steuerte. Nach dem Umzug hatten wir uns dazu durchgerungen, einen Gebrauchtwagen zu kaufen. Im Sommer konnte ich zwar bequem zur Arbeit radeln oder, wenn ich es nicht eilig hatte, sogar zu Fuß gehen, und Antti machte es nichts aus, mit dem Bus zur Uni zu fahren, obwohl die Haltestelle einen Kilometer entfernt war, der Bus nur einmal in der Stunde fuhr und er unterwegs einmal umsteigen musste. Aber für Einkäufe und dergleichen war das alles zu umständlich, und so hatten wir für zehntausend Finnmark einen alten schwarzen Fiat erstanden.

Der kleine Italiener war ganz offensichtlich nicht für Glatteis gebaut; das Heck schlug immer wieder aus, als ich über die kurvenreiche, hügelige Nuuksiontie auf Rosberga zufuhr.

Das Tor war wieder fest verschlossen und schwang diesmal nicht von selbst auf. Aira kam über den Hof und öffnete es. Die letzten Sonnenstrahlen fielen schräg auf die Hauswand und ließen den zartrosa Putz glutrot aufleuchten. Milla stand rauchend vor dem Haus. In ihren schwarzen Kleidern erinnerte sie eher an die böse Fee als an Dornröschen.

»Guck mal an, die Kriminalhauptmeisterin. Suchste Elinas Leiche?«

Aira fuhr bei Millas Worten zusammen – ich ebenfalls, aber ich brachte es trotzdem über mich, Milla ins Gesicht zu sehen.

Unter der gewollt spöttischen Miene glaubte ich echte Besorgnis zu erkennen.

»Hoffentlich nicht«, gab ich zurück und ging an ihr vorbei in die Eingangshalle. Von irgendwoher war gedämpftes Klavier-spiel zu hören, jemand versuchte sich an einem Stück von Satie, das auch Antti manchmal übte.

»Schau dir bitte Elinas Zimmer an, dann verstehst du vielleicht, weshalb ich mir Sorgen mache.« Aira führte mich nach links, an der Küchentür vorbei. »Wir haben das Gutshaus aufgeteilt, die rechte Hälfte der unteren Etage enthält die öffentlichen Räume, Speisesaal, Auditorium und Bibliothek. Die Küche ist hier in der Mitte, neben der Treppe. In der oberen Etage haben wir Gästezimmer für die Kursteilnehmerinnen.«

»Wie viele Gäste könnt ihr unterbringen?«

»Etwa zwanzig, wir haben oben acht Schlafzimmer. Unsere Räume sind hier.« Aira öffnete eine schmale, blau gestrichene Tür. »Das ist mein Zimmer.«

Offensichtlich sollte ich nicht eintreten, sondern nur einen Blick in das Zimmer werfen. Es schien sich um die ehemalige Dienstbotenkammer zu handeln, denn die zweite Tür führte, wenn mich mein Orientierungssinn nicht trügte, direkt in die Küche. Der Raum war spärlich und konventionell möbliert: Bett, Schreibtisch, kleines Sofa, an der gegenüberliegenden Wand ein Bücherregal mit einem kleinen Fernseher. Über dem Bett hing ein Kunstdruck von einem Schutzengel, der zwei kleine Kinder, Junge und Mädchen, über eine Brücke führt.

»Und hier sind Elinas Räume. Das Wohnzimmer benutzen wir allerdings beide.«

Diesmal ließ mich Aira eintreten. Ich machte große Augen.

Die romantischen Blumenständer und Spitzengardinen passten natürlich in das rosarote Gutshaus, doch Elinas Geschmack hatte ich mir anders vorgestellt. Ich hatte schnörkellose Designermö-

bel erwartet, von Artek oder Kukkapuro … Die Rüschen an den Stuhlbeinen und die Spitzendeckchen auf den Beistelltischen passten nicht im Geringsten zu dem Bild, das ich mir von Elina Rosberg gemacht hatte. Aira hatte mein Erstaunen wohl bemerkt, denn sie erklärte:

»Das war das Zimmer meiner Mutter, also Elinas Großmutter.

Sie hat die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens hier unten gewohnt, weil ihr das Treppensteigen schwer fiel. Außerdem liebte sie die Aussicht.«

Ich schaute durch das große Fenster, konnte im Dämmerlicht aber keine Einzelheiten erkennen. Auf dieser Seite des Gebäudes fiel das Gelände ab, und die Mauer, die das Grundstück umgab, war hier so niedrig, dass sie den Blick ins Tal freigab.

Die weiße Fläche, die in der Ferne aufschimmerte, musste der See Pitkäjärvi sein.

»In diesem Zimmer wollte Elina nichts verändern. Das Schlafzimmer hat sie sich nach ihrem eigenen Geschmack eingerichtet.«

Aira öffnete die nächste Tür. Ich betrat Elinas Schlafzimmer, das meinen Erwartungen ebenfalls nicht entsprach. Zwar waren die Möbel schlicht und modern, doch die Farben waren viel zu grell, leuchtendes Rot und Gelb, dazu Hellblau. Ein breites Bett, offenbar ein Wasserbett, beherrschte den Raum. Die Tagesdecke war zurückgeschlagen, doch das Bett schien unberührt. Am Fenster stand ein unbequem aussehender Sessel mit dreieckiger Fußbank. Ein Schreibtisch mit Computer, daneben ein Regal, das mit psychiatrischer Fachliteratur gefüllt war. Über dem Bürostuhl lagen eine sorgfältig gefaltete lila Samthose, eine weiße Bluse und ein rauchgrauer Pullover. »Das hat sie vorgestern angehabt. Meistens zieht sie mehrere Tage nacheinander dieselben Sachen an, wenn sie nicht schmutzig sind. Und da sie ihre Kleider über den Stuhl gelegt und nicht in den Wäschekorb gesteckt hat …«

Airas Schweigen war beredt.

»Das Nachthemd legt sie immer neben das Kissen, aber wie du siehst, liegt es nicht da. Morgenmantel und Pantoffeln sind gewöhnlich im Badezimmer, die habe ich auch nicht gefunden.«

»Wie ist es mit Mänteln und Winterschuhen? Fehlt etwas?«

»Die hat sie im Nebenflur, um Verwechslungen mit den Mänteln der Kursteilnehmerinnen zu vermeiden. Komm mit.«

Aira führte mich zurück in die Eingangshalle und weiter in einen mit der Küche verbundenen Seitengang, der zum hinteren Hof führte. An der Garderobe hingen mehrere Mäntel.

»Das sind meine.« Aira zeigte auf einen abgetragenen, altmodischen Persianer und einen dunkelblauen Steppmantel.

Daneben hingen der Lammfellmantel, den ich an Elina gesehen hatte, eine violette Steppjacke und, sorgfältig auf einen Bügel gehängt, ein eleganter dunkelgrauer Wollmantel.

»Andere Wintermäntel hat Elina nicht. Und die Schuhe sind auch alle noch da, Winterstiefel, Gummistiefel und Wander-schuhe.«

»Könnte es sein, dass eine der Kursteilnehmerinnen ihr etwas zum Anziehen geliehen hat?«

»Da fragst du sie am besten selbst. Jedenfalls hat niemand etwas davon gesagt. Aber gehen wir zurück in Elinas Zimmer.

Den wichtigsten Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmt, habe ich im Bad gefunden.«

Das Bad, das an das Schlafzimmer anschloss, war auf alt renoviert. Die Badewanne hatte Füße, der Toilettendeckel war aus Holz. Es gab sogar Platz für einen kleinen Schminktisch voller Tiegel und Tuben. An der Wand war eine elektrische Zahnbürste angebracht.

»Elina nimmt es mit der Gesichtspflege sehr genau, aber sie hat sämtliche Reinigungsemulsionen und Cremes hier gelassen.«

Ich sah mir die Flaschen und Tiegel der teuren Hautpflegeserie genau an.

»Vielleicht verwendet sie Reisepackungen? Die werden ja von vielen Herstellern angeboten. Außerdem ist es kein Problem, Ersatz zu kaufen.«

»Aber ihr Antibiotikum hätte sie niemals zurückgelassen!

Elina hat eine Atemwegsinfektion und gerade erst mit der Kur begonnen. Sie hatte einen schlimmen Husten, ihre Stimme war fast weg. Aber die Tabletten sind hier, schau!«

Auf dem Schminktisch stand eine kleine weiße Plastikdose mit der Aufschrift »Erasis 400 mg«. Dem aufgeklebten Etikett war zu entnehmen, dass das Medikament für Elina Rosberg verordnet worden war und dreimal täglich eingenommen werden sollte. Ich schraubte die Dose auf. Sie enthielt noch etwa zwanzig Tabletten.

»Das ist allerdings seltsam. Aber auch das Medikament kann man nachkaufen, Elina kennt doch bestimmt viele Ärzte.«

Ich überlegte. Aira schien fest davon überzeugt zu sein, dass an Elinas Verschwinden etwas faul war. Ganz offensichtlich wollte sie mich dazu bringen, eine offizielle Fahndung einzulei-ten. Und doch hatte ich das Gefühl, dass sie mir etwas vorenthielt.

»Wann hast du Elina zuletzt gesehen?«

»Am zweiten Weihnachtstag gegen zehn Uhr abends. Sie kam gerade von einem Spaziergang zurück. Elina war müde, weil sie wegen ihrem Husten mehrere Nächte nicht richtig geschlafen hatte. Ich hielt es für Wahnsinn, in ihrem Zustand in die Kälte zu gehen, aber sie meinte, sie hätte eine Weile ihre Ruhe haben wollen. Ich habe ihr eine Tasse Tee aufgezwungen, die hat sie auf ihr Zimmer mitgenommen. Sie wirkte ganz normal. Gar nicht so, als hätte sie vor, nochmal wegzugehen.«

»War sie allein spazieren gegangen?«

Aira sah mich nachdenklich an.

»Ich glaube, sie war mit Joona zusammen, aber das weiß ich natürlich nicht genau, denn Elina hat ihn nie mit ins Haus gebracht. Männer haben in Rosberga ja keinen Zutritt.«

»Wo haben sie sich denn getroffen, wenn nicht hier?« So bewundernswert Elinas Konsequenz auch sein mochte, ihre Entscheidung, selbst den eigenen Freund nicht ins Haus zu lassen, brachte sicher einige praktische Probleme mit sich.

»Meistens bei Joona.« Airas Tonfall verriet, dass sie Elinas Beziehung zu Joona Kirstilä nicht unbedingt begrüßte. »Und natürlich in der Hütte.«

»In welcher Hütte?«

»Die alte Sauna westlich vom Haus. Elina hat dort vor ein paar Jahren Strom legen lassen. Ich glaube, sie hat sich auch dort mit Joona getroffen, obwohl eigentlich das ganze Grundstück für Männer tabu sein sollte«, erklärte Aira leicht verlegen.

»In die Hütte möchte ich auch noch einen Blick werfen. Aber machen wir erst mal hier weiter. Du hast also Elina nicht mehr hinausgehen hören?«

Aira sah verlegen und irgendwie schuldbewusst aus.

»Ich hatte wegen Elinas Husten auch mehrere Nächte unruhig geschlafen. Deshalb habe ich eine Schlaftablette genommen und mir obendrein Stöpsel in die Ohren gesteckt. Ich bin erst gegen neun wach geworden, als Niina in der Küche mit dem Früh-stücksgeschirr geklappert hat.«

Ich beschloss, mit den anderen Frauen zu sprechen, und hoffte, von ihnen mehr zu erfahren. Aira sagte, Elinas Freundin Tarja Kivimäki sei schon nach Hause gefahren, nach Tapiola. Sie müsse heute wieder arbeiten.

Tarja Kivimäki … Woher kannte ich den Namen? Zum Glück hatte ich heute Morgen endlich daran gedacht, bei der Provinzialpolizei in Johannas Heimat anzurufen, allerdings erfolglos: Ich kannte dort niemanden. Jedenfalls hatte die Polizei aber keine rechtliche Handhabe, Johannas Besuche bei ihren Kindern zu verhindern. Ich fragte Aira, ob Johanna sich mit der Juristin in Verbindung gesetzt hätte, die ich ihr empfohlen hatte. Sie schüttelte den Kopf.

»Johanna ist schrecklich deprimiert wegen der Trennung von ihren Kindern, gerade an Weihnachten … Elina hat zwar mit einer Anwältin gesprochen, aber in erster Linie hat sie sich darauf konzentriert, Johannas Schuldgefühle zu zerstreuen.«

»Schuldgefühle? Wegen der Abtreibung?«

»Und weil sie ihre Kinder im Stich gelassen hat. Vielleicht sprichst du zuerst mit Niina Kuusinen, sie spielt in der Bibliothek Klavier.«

Aira führte mich durch den Speisesaal ins Bibliothekszimmer, aus dem jetzt eine furios gespielte Chopin-Etüde zu hören war.

Niina war allem Anschein nach eine geübte Pianistin. Antti, der immerhin auch kein Anfänger war, kam mit den schwierigen Läufen in der Mitte längst nicht so gut zurecht.

Die junge Frau am Klavier war so in ihr Spiel versunken, dass sie uns nicht hereinkommen hörte. Zuerst sah ich nur ihren Rücken. Die nussbraunen, glatten Haare reichten ihr bis zur Taille und schwangen im Takt ihres Spiels. Ein blauweiß gestreiftes Hemd umhüllte die magere Gestalt, dazu trug sie verschlissene Jeans mit Schlag und klobige Springerstiefel. Von hinten wirkte Niina Kuusinen wie ein Teenager, fast zu zierlich und zerbrechlich für das mit schweren Möbeln und Büchern gefüllte, dunkle Zimmer, in dem nur der Fernseher in der Ecke verhinderte, dass man sich vollends in die zwanziger Jahre versetzt wähnte.

»Niina!«, rief Aira, als die Etüde zu Ende war. »Kriminalhauptmeisterin Kallio möchte dir ein paar Fragen stellen.«

Die junge Frau drehte sich so abrupt auf ihrem Klavierstuhl um, dass das Notenheft herunterfiel und der Klavierdeckel zuschlug. Von vorn sah sie älter aus, obwohl die mandelförmigen, ängstlichen braunen Augen und der kleine Mund kindlich wirkten. Die lange schmale Nase ließ das sonst puppenhafte Gesicht erwachsener erscheinen. Ich schätzte sie auf etwa vierundzwanzig Jahre.

»Hat man etwas von Elina gehört?«, fragte sie aufgeregt. Ihre langen, mit silbernen Ringen geschmückten Finger spielten mit den Haaren.

»Nein. Deshalb möchte ich gern mit dir sprechen. Natürlich ist das keine offizielle Vernehmung. Wann hast du Elina zuletzt gesehen?«

»Am zweiten Feiertag beim Abendessen … gegen acht. Wir anderen sind danach hierher gegangen, in die Bibliothek, um zu lesen oder fernzusehen, aber Elina wollte unbedingt einen Spaziergang machen. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«

Niina sah verstört aus, sie wandte den Blick von mir ab, als könnte sie so die Möglichkeit abwehren, dass Elina etwas zugestoßen war. Sicher erschien ich ihr wie eine Unglücksbotin.

Schließlich mischt sich die Polizei nicht in das geruhsame Leben normaler Leute ein.

»Du hast hier Weihnachten gefeiert, also kanntest du Elina offenbar gut?« Erst als Niina zusammenschrak, merkte ich, dass ich in der Vergangenheitsform gesprochen hatte. Ich korrigierte mich nicht, um nicht noch mehr Verwirrung zu stiften.

»Na ja, so gut auch wieder nicht, ich habe zwei von ihren Kursen besucht, und Anfang Dezember habe ich eine Therapie bei ihr begonnen. Ich habe sonst niemanden, mit dem ich Weihnachten feiern könnte. Meine Mutter ist tot, mein Vater lebt in Frankreich, und Geschwister habe ich keine.« Es war deutlich zu hören, wie einsam sie sich gerade an Weihnachten fühlte.

»Hast du irgendeine Idee, wohin Elina gegangen sein könnte?«

»Ich habe auf ihrer Karte nachgesehen, bin daraus aber nicht recht schlau geworden …«

»Auf welcher Karte?«

»Auf ihrer astrologischen Karte. Allerdings ist der Einfluss von Saturn und Pluto ziemlich stark, das deutet auf selbstzerstö-

rerische Tendenzen hin. Und auf Konflikte mit jemandem, der ihr nahe steht, zum Beispiel mit einem Familienangehörigen …«

Niina sah flüchtig zu Aira hin.

Ab und zu meldeten sich Astrologen, Wahrsager oder Hellse-her bei der Polizei und boten ihre Hilfe bei der Aufklärung schwieriger Fälle an. Ich brachte es nicht fertig, sie ernst zu nehmen, und wimmelte sie jedes Mal so schnell wie möglich ab.

Allerdings wusste ich über Astrologie eigentlich nur, dass ich unter dem Sternzeichen Fische geboren bin, dessen typische Eigenschaften angeblich Sensibilität, Empfindsamkeit, Anpas-sungsfähigkeit und Kreativität sind. In den Beschreibungen der Illustriertenhoroskope erkannte ich mich selten wieder, aber es machte Spaß, sie zu lesen. Immerhin, fast alle Männer, zu denen ich kürzere oder längere Beziehungen gehabt hatte, waren Schützen, auch Antti. Vielleicht hatten die Sternzeichen doch etwas zu bedeuten …

Ich bat Niina um ihre Adresse, falls ich weitere Fragen an sie hätte. Sie schien noch nicht zu wissen, wie lange sie in Rosberga bleiben würde, gab mir aber Anschrift und Telefonnummer. Ich hatte den Eindruck, dass sie erleichtert war, als wir das Bibliothekszimmer verließen, um die anderen Frauen zu suchen.

Milla saß im Auditorium und spielte am Computer Patience.

Rote und schwarze Karten schwebten über den Bildschirm, legten sich aufeinander, die Maus klickte wie wild. Nur gut, dass auf meinem Dienstcomputer keine Spiele installiert waren, sonst wäre ich bestimmt süchtig geworden. Als ich Milla ansprach, sah sie verärgert vom Bildschirm auf und stellte dann seufzend das Gerät ab.

»Nimmst du mich jetzt in die Mangel? Scheiße, hier drin darf man nich mal rauchen!«

Es war geradezu komisch, wie sehr Millas Ausdrucksweise und ihre ganze Haltung an Pertsa Ström erinnerten. Dieser Vergleich würde garantiert beide auf die Palme bringen. Das kam mir so lustig vor, dass ich Milla in mütterlich-freundlichem Ton antwortete:

»Du musst meine Fragen nicht beantworten, das hier ist keine offizielle Vernehmung. Aber wenn du Elina so gern hast, dass du mit ihr Weihnachten feierst, willst du mir doch sicher helfen, sie zu finden.«

»Blabla! Ich weiß gar nix von Elina. Und vorletzte Nacht war ich überhaupt nicht hier.«

Aira schien überrascht.

»Wo sollst du denn sonst gewesen sein? Hier kommt man abends doch gar nicht weg.«

»Nee, wirklich nicht! Ich musste bei dieser Scheißkälte durch den Schnee stapfen bis zur Nuuksiontie und den Daumen raushalten, bis mich einer in die Stadt mitgenommen hat. Am Morgen bin ich mit der ersten Fünfundachtzig zurück. Da ham natürlich alle noch gepennt, außer Johanna. Die hab ich auf dem Flur gesehen. Aber die hat so Schiss vor mir, dass sie nicht mal gefragt hat, wo ich war.«

Milla sah mich herausfordernd an. Ihre Augen waren, wenn das überhaupt möglich war, noch dicker und schwärzer geschminkt als beim letzten Mal, ihre Lippen leuchteten diesmal orange.

»Scheiße, was glotzt ihr mich so an! Man darf das Haus ja wohl mal verlassen, wir sind hier doch nicht in der Strafkolo-nie!«

»Was wolltest du in Helsinki?« Aira hörte sich an wie eine Internatsleiterin, die einer ausgebüxten Schülerin die Leviten liest.

»Ich hatte Bock auf Alkohol und Männer. Und da wir gerade von Männern sprechen, ich hab Elina gesehen, als ich mich zur Nuuksiontie durchgeschlagen hab. Da spazierte sie mit ihrem dichtenden Jüngling den Hügel von Rosberga runter.«

»Um welche Zeit war das? Was hatte sie an?«

»Das muss so Viertel nach neun rum gewesen sein, ich hab nicht genau drauf geachtet.«

»Und du bist erst am nächsten Morgen zurückgekommen?«

»Ja. Ich war bei einem Typ in Kulosaari. Nach seinem Namen hab ich ihn nicht gefragt, aber ich könnte mich vielleicht erinnern, wo er wohnt, wenn ich mich anstrenge. Er war keiner, bei dem ich gern zum Frühstück geblieben wär, aber wenigstens hatte er Geld.«

»Bisher gibt es noch keinen Grund, Alibis zu überprüfen. Aber wie kann ich dich erreichen, wenn weitere Ermittlungen notwendig sein sollten?«

»Ich muss heut Abend arbeiten. Im Erotic-Club ›Fanny Hill‹ in der Helsinginkatu, herzlich willkommen zu unserer niveauvollen Show. Ich wohn in dem Eckhaus Helsinginkatu und Flemingin-katu. Ich kann mir schon denken, was passiert ist. Elina wollte mit ihrem Dichterbubi Schluss machen, der konnte das nicht ertragen und hat sie belabert, mit zu ihm zu kommen. Da hat er erst sie abgemurkst und dann sich selbst. Wahrscheinlich hat er gedacht, so würde er in die finnische Literaturgeschichte eingehen. So ähnlich wie SidVicious, oder?«

Aira hatte offensichtlich nie von der Punkerlegende gehört, aber mich brachte Millas Theorie beinahe zum Lachen.

»Soweit ich weiß, ist Joona Kirstilä höchst lebendig. Wo steckt denn Johanna?« Aira schwieg eine Weile und bat mich dann, Johanna vorläufig noch nicht zu befragen. Sie hätte ihr versichert, Elina nach dem Abendessen am zweiten Weihnachtstag nicht mehr gesehen zu haben. Die Vorstellung, mit Johanna sprechen zu müssen, war so beklemmend, dass ich gern darauf verzichtete.

Aber zu Tarja Kivimäki in Tapiola und zu Joona Kirstilä in der Lapinlahdenkatu in Helsinki musste ich noch fahren. Auch wenn Aira gestern bereits mit Kirstilä telefoniert hatte, hielt ich es für sinnvoll, mit ihm zu reden.

Die graurosa Sauna schmiegte sich westlich vom Haus an die Mauer. Aira hatte mir gesagt, die alte Sauna würde nie abgeschlossen, der Schlüssel stecke. Da sie dort bereits nachgesehen hatte, rechnete ich nicht damit, Elina zu finden, aber vielleicht etwas anderes.

Als ich die Tür öffnete, schlug mir verräucherte Luft entgegen.

Womöglich kam Milla zum Rauchen her, wenn es ihr draußen zu kalt wurde. Im Vorraum war es ziemlich warm, um die fünfzehn Grad, im Saunaraum dagegen nur etwa zwei Grad, denn hier gab es keinen Strom. Der Vorraum war spärlich möbliert. Ein kleiner Tisch mit Deckchen, eine leere Vase, zwei leere Weingläser und ein halb voller Aschenbecher. Dazu ein Stuhl und ein Bett, gut einen Meter breit, auf dem ein Liebes-paar durchaus gelegentlich eine Nacht zubringen konnte. Ein Frotteebademantel in verblichenem Blau, einige Handtücher, in einer Kommode unter dem Tisch zwei Zahnbürsten, Gesichts-creme und eine ungeöffnete Rotweinflasche. Das Bett war nur flüchtig zugedeckt. Ich hob die Decke an und fand auf dem Kissen an der Wand ein schwarzes Haar.

Vielleicht hatte Milla hier nicht nur geraucht, sondern auch ihren Mittagsschlaf gehalten.

Ich ging noch einmal zurück in Elinas Zimmer und schaute in den Kalender auf ihrem Schreibtisch. Für die letzte Woche des Jahres war nur eine feministische Radikaltherapie vermerkt, aber auch dieser Eintrag war durchgestrichen. Ich spielte mit dem Gedanken, Kalender und Adressbuch mitzunehmen, entschied mich aber dagegen. Schließlich konnte Elina jederzeit wieder auftauchen.

Die Nuuksiontie war glatt und dunkel. Ich rief bei meiner Dienststelle an und bat um Überprüfung der Passagierlisten für Auslandsflüge und Schiffe, obwohl ich es für unwahrscheinlich hielt, dass Elina Hals über Kopf verreist war. Unwillkürlich musste ich an die alte Faustregel denken: Je länger eine Person vermisst ist, desto geringer sind die Aussichten, sie lebend zu finden.

Drei

Vom Auto aus rief ich bei Tarja Kivimäki an, doch sie meldete sich nicht. Die Fahrt nach Tapiola konnte ich mir also sparen.

Da im Büro nichts Dringendes anlag, fuhr ich nach Hause.

Antti war noch an der Universität. Zwischen den Jahren war es dort ruhig, da konnte er sich bestens auf seine Forschungsarbeit konzentrieren. Er musste noch zwei Artikel fertig schreiben, deren Abgabetermin näher rückte. Antti hatte vor, sich um die bald frei werdende Assistenzprofessur am Mathematischen Institut zu bewerben und musste deshalb sein Publikationsver-zeichnis aufpäppeln.

»Wenn du die Stelle kriegst, bin ich Frau Professor, das klingt ja richtig vornehm«, hatte ich gefrotzelt, als er mir davon erzählte.

»Große Chancen hab ich nicht, Kirsti Jensen ist die stärkste Kandidatin. Aber es gehört nun mal zum guten Ton, sich zu bewerben, damit sie wenigstens eine Liste aufstellen können.«

Antti … Ich war schon wieder müde, Vitaminmangel vielleicht? Am liebsten hätte ich mich ins Bett verkrochen und Antti gebeten, nach Hause zu kommen. Aber ich hatte Aira versprochen, noch bei Joona Kirstilä vorbeizufahren. Ich kochte eine ordentliche Portion superstarken Kaffee, wusch mir die Schminke aus dem Gesicht und zog mich um. Der Kaffee regte meine Lebensgeister ein wenig an, obwohl er einen seltsamen Metall-geschmack hatte.

Noch einmal versuchte ich Tarja Kivimäki zu erreichen.

Diesmal meldete sich der Anrufbeantworter mit der Nachricht, in dringenden Angelegenheiten sei sie unter ihrem Dienstanschluss bei der Fernsehanstalt Yle zu erreichen. Da endlich fiel der Groschen, jetzt wusste ich, woher ich den Namen kannte: von den Fernsehnachrichten. Tarja Kivimäki war politische Redakteurin beim Nachrichtenstudio. Anders als viele ihrer Kollegen trat sie nie vor die Kamera. Man hörte nur ihre raue, oft aggressive Stimme, sah vielleicht einmal ihre Hand mit den langen, unberingten Fingern, die dem Gesprächspartner das Mikrophon hinhielt. Sie machte es den Interviewten nicht leicht.

Den drögen Finanzminister hatte sie zu meinem Vergnügen einmal völlig aus dem Konzept gebracht. Vergeblich versuchte ich mir ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen. Sie gehörte nicht zu den Fernsehjournalisten, deren Konterfei in den Zeitungen auftauchte.

Ich wählte die Nummer, die auf dem Anrufbeantworter genannt wurde, erreichte Tarja Kivimäki jedoch auch dort nicht.

Man sagte mir, sie sei dabei, eine Reportage für die Abendnach-richten zu schneiden. Ich ließ ihr ausrichten, sie möchte mich am nächsten Morgen in der Dienststelle anrufen, dann legte ich

»Aknepop« von Eppu Normaali auf, drehte die Lautstärke hoch und fing an mich zu schminken. Als Antti anrief, sagte ich, ich würde versuchen, Joona Kirstilä in der Lapinlahdenkatu zu erreichen, und anschließend auf ein Bier ins »Vastarannan kiiski« gehen. Wir verabredeten uns dort. Ich freute mich schon auf das dunkle, starke belgische Bier … Aber zuerst die Arbeit.

Ich warnte Joona Kirstilä nicht vor, denn ich wollte Elina überraschen, falls sie sich aus einem unerfindlichen Grund in seiner Wohnung versteckt hielt. Vielleicht hatte sie einfach den ganzen Weihnachtsbesuch satt und wollte ein paar Tage lang ihre Ruhe haben.

Als ich zur Haltestelle schlitterte, fiel wässriger Schnee. Im warmen Bus wäre ich beinahe eingeschlafen, doch zum Glück machte mich der eisige Wind beim Umsteigen in Tapiola wieder wach. Joona Kirstilä war zu Hause, ich hörte seine Schritte im Flur, dann schaute er durch den Türspion und öffnete schließlich die Tür, ließ die Sicherheitskette aber vorgelegt.

»Was gibt’s?«, bellte er. Offenbar klingelten bei ihm ständig Verehrerinnen.

»Kriminalhauptmeisterin Kallio von der Polizei Espoo, guten Abend.« Ich zückte meinen Ausweis. »Ich würde gern mit Ihnen über Elina Rosberg sprechen.«

»Was will die Polizei von Elina?«, fragte Kirstilä misstrauisch.

»Elina Rosberg wird vermisst. Ich dachte, das hätte Ihnen Aira Rosberg schon mitgeteilt.«

»Aira hat gestern angerufen, aber … Was heißt hier vermisst?

Was hat das alles zu bedeuten?«

»Dürfte ich hereinkommen? Wir können uns auch in der Nähe in eine Kneipe setzen, wenn Sie sich lieber woanders unterhalten möchten.«

Joona Kirstilä zögerte, dann schob er die Sicherheitskette zurück.

»Bei mir ist es allerdings furchtbar unordentlich. Ich hatte in den letzten Tagen keine Zeit zum Aufräumen.«

Kirstilä wohnte in einem recht engen Zweizimmerapartment.

Rechts sah man durch die offene Tür in ein chaotisches Schlafzimmer. Daneben befand sich eine Kochnische, in der nur eine Kochplatte, ein Mikrowellenherd und ein alter, brummender Kühlschrank Platz fanden. Die hohen Decken des alten Hauses verliehen dem kombinierten Wohn- und Arbeitszimmer einen gewissen Charme. Es war mit Büchern und Papieren voll gestopft und erinnerte entfernt an Anttis Bude in der Iso Roobertinkatu vor meinem Einzug. Nur das Klavier fehlte. Auf dem Schreibtisch standen Seite an Seite eine schwarze Schreib-maschine, die mindestens so alt war wie der Dichter, und ein Laptop.

Kirstilä schob einen Stapel Papier vom Sofa und bedeutete mir, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich auf den Fußboden und steckte sich eine Zigarette an. Ich hatte es immer als komisch empfunden, dass Joona Kirstilä tatsächlich wie das Inbild eines Dichters aussah. Die dunklen, gewellten Haare reichten ihm bis über die Ohren, er schob sie wie zwanghaft immer wieder aus dem Gesicht. Seine Haut war blass, die großen, dicht bewimperten Augen glühten dunkelbraun. Die sensiblen Lippen unter der schmalen geraden Nase waren an einem Mundwinkel nach unten gezogen. Es war genau das Gesicht, das man bei einem Dichterjüngling erwartete, und jungenhaft wirkte Joona Kirstilä auch mit über dreißig noch. Er war klein, kaum eins siebzig, und auffallend mager. Sein zierlicher Körperbau wurde durch seine Standardkleidung betont, einen schwarzen Pullover, aus dessen Ärmeln die kleinen Hände mit den vorstehenden Gelenkknochen heraus-schauten. Seine Finger waren lang und schmal, wie geschaffen, eine Schreibfeder zu halten. Ich hatte einige seiner Lyriksamm-lungen gelesen und ihre eigenwillige Sprache bewundert, während die übertriebene Männerromantik der Gedichte nicht nach meinem Geschmack war.

»Was soll das heißen, Elina wird vermisst?«, fragte er erneut und hüllte sich in Rauch. Ich kam nicht dazu, ihm zu antworten, denn die Bücher auf dem Regal neben mir begannen merkwürdig zu schwanken. Ich konnte gerade noch ausweichen, als sie herunterfielen.

»Pentti, lass das!«, rief Kirstilä der graubraun gestreiften, mageren Katze mit dem weißen Brustfleck zu, die geschmeidig von einem Regal zum anderen sprang, herunterhüpfte und an meinen Beinen schnupperte, die bestimmt nach Einstein rochen.

»Das ist also Pentti.«

»Ja, nach meinem Kollegen Saarikoski. Entschuldigung, er ist ziemlich neugierig. Aber Elina …«

Seine Besorgnis wirkte echt. Sie nahm zu, als er erfuhr, dass Elina seit dem vorgestrigen Abend nicht mehr gesehen worden war. Er zündete sich an der ausgerauchten Zigarette gleich die nächste an, und Pentti, der eine Rauchwolke ins Gesicht bekommen hatte, verzog sich schmollend in die Küche.

»Ich habe keine Ahnung, wo sie steckt.« Kirstilä stand auf und trat ans Fenster. Er drückte die Zigarette auf der breiten Fensterbank aus, legte die Stirn kurz an die Scheibe, die seine dunkel leuchtenden Augen zurückwarf wie ein Spiegel.

»Sie sind nicht täglich in Verbindung?«

»Im Allgemeinen nicht.« Kirstilä sprach zum Fenster hin.

»Wenn ich schreibe, will ich von der Welt da draußen nichts wissen. Und Elina hat ihre Kurse. Wir hatten nur ausgemacht, vor Silvester zu telefonieren, Elina will an dem Abend herkom-men …« Seine Stimme erstarb wieder, er hatte offensichtlich die Gewohnheit, seine Sätze unvollendet zu lassen.

»Wann haben Sie Elina Rosberg zuletzt gesehen?«

Seine Gegenfrage überraschte mich:

»Wann ist Elina verschwunden?«

»Am Abend des zweiten Weihnachtstages, also vorgestern.«

»Ich habe sie am Tag vor Heiligabend zuletzt gesehen, nachmittags, kurz bevor ich zum Bahnhof gegangen bin. Ich war über Weihnachten bei meinen Eltern in Hämeenlinna.«

Ich fragte mich, warum er log. Aira war nahezu sicher gewesen, dass Elina mit Joona Kirstilä spazieren gegangen war, und Milla hatte sogar behauptet, die beiden gesehen zu haben. Da ich jedoch kein Verbrechen untersuchte, sondern lediglich Elinas Verbleib feststellen wollte, konfrontierte ich Kirstilä vorläufig nicht mit diesen Aussagen, sondern erkundigte mich nur, wann er aus Hämeenlinna zurückgekommen sei. Gestern Morgen, behauptete er.

»Aira Rosbergs Anruf kam also praktisch gleich nach Ihrer Rückkehr?«

»Ich war gerade ins Bett gegangen, ich hatte nämlich die ganze Nacht mit ein paar Kumpels gesoffen. Deshalb habe ich wohl auch gar nicht ganz aufgenommen, was Aira sagte.

Ziemlich beängstigend. Im Allgemeinen bin ich derjenige, der ab und zu verschwindet.«

Trotz seiner grazilen Statur war Kirstilä dafür bekannt, die berüchtigten Sauftraditionen finnischer Dichter zu pflegen. Es kam mir unwahrscheinlich vor, dass eine Frau wie Elina gerade ihn als Liebhaber wählte. Aber Gefühle haben wohl nichts mit Logik zu tun. Wäre ich allein meinem Verstand gefolgt, hätte ich Antti sicher nicht geheiratet, und auch keinen anderen.

Ich verabschiedete mich von dem ratlosen Dichter und machte mich auf den Weg zur Kneipe. Ich haderte mit mir selbst. Nicht den kleinsten Hinweis auf Elinas Verbleib hatte ich bekommen, dafür aber einer ganzen Reihe von Menschen Angst eingejagt.

Antti saß an einem Fenstertisch und versuchte bei Kerzenlicht zu lesen. Die Schatten, die die flackernde Flamme warf, ließen sein Gesicht noch schmaler und indianerhafter erscheinen. Als ich ans Fenster klopfte, breitete sich ein jungenhaft strahlendes Lächeln auf dem Gesicht meines Mannes aus. »Was trinkst du?«

Neugierig betrachtete ich das bauchige Glas, das mit einem roten Herz und einem rundlichen kleinen Männchen verziert war.

»Belgisches Oerbier, echt lecker.«

Ich probierte, entschied mich dann aber doch für Old Peculier.

Mir schien, als wäre die Kneipe noch verrauchter als gewöhnlich, ich bekam kaum Luft, und auch das Bier schmeckte irgendwie anders. Wir sprachen über Joona Kirstiläs Gedichte, aber ich wurde bald müde, wir mussten gehen. Jetzt schmeckte mir sogar das Bier nicht mehr – waren das etwa schon Alterser-scheinungen? Zu Hause übermannte mich der Schlaf, und am nächsten Morgen fühlte ich mich verkatert, dabei hatte ich doch gerade mal zwei Glas getrunken. In der vorigen Nacht war in ein Restaurant in Soukka eingebrochen worden. Offenbar waren Profis am Werk gewesen, deshalb suchten Palo und ich am Computer nach Rückfalltätern, die in Frage kamen. Wir hatten bereits einige Kandidaten ausgesiebt, als Taskinen hereinkam.

»In Nuuksio wurde im Wald die Leiche einer etwa vierzigjährigen Frau gefunden. Im Nachthemd. Möchtest du sie dir ansehen, Maria?«

An sich wäre die richtige Antwort Nein gewesen. Ich wollte weder Elina Rosberg noch irgendeine andere Frau als Leiche sehen. Dennoch schraubte ich mich hoch und zog die Jacke an.

Palo musste sich eben allein mit dem Computer herumschlagen.

»Ström ist schon unten und sucht einen Wagen aus«, rief Taskinen mir nach, als ich mich auf den Weg zur Zentrale machte, um mich abzumelden.

In der Garage ließ Pertsa gerade unseren stattlichsten Saab an.

Ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz, mochte Taskinen hinten sitzen. Per Lautsprecher wurden die Kriminaltechniker ausgeru-fen.

»Nuuksio … Ist das der gleiche Weg wie nach Soivalla?«, wollte Pertsa wissen.

»Ich weiß noch nicht, wo die Leiche gefunden wurde, frag Taskinen.«

»Du fährst die Nuuksiontie entlang bis zur Abzweigung nach Rosberga. Mit dem Wagen kommen wir dann nicht mehr weit, aber ich habe Stiefel mitgebracht. Dir sind sie bestimmt zu groß, Maria«, sagte Taskinen, der die Tasche mit der Ausrüstung anschleppte.

»Was soll das heißen, wir kommen mit dem Auto nicht ran?

Wo zum Teufel liegt denn der Kadaver?«, brüllte Pertsa, liebenswert wie immer.

»An der Loipe, etwa einen Kilometer abseits des Weges. Ein Skiläufer hat die Tote gefunden und von einem nahe gelegenen Haus aus die Polizei alarmiert.«

»Von Rosberga aus?« Aira und die anderen hatten garantiert sofort gewusst, um wen es sich handelte.

»Nein, vom Nachbarhaus. Er hatte auch in Rosberga geklopft, aber da lassen sie ja keine Männer ein.«

»Dann ist die Tote also eine von den durchgeknallten Lesben, die in Rosberga hausen?« Pertsa kurvte rücksichtslos vom Hof auf die Straße, Schneematsch klatschte auf den Bürgersteig und bespritzte einen alten Mann, der gerade vorbeiging. Taskinen verzog den Mund. Pertsas Ausdrucksweise missfiel ihm ebenso wie sein Fahrstil.

»Elina Rosberg, die Besitzerin des Gutshauses, wird seit einigen Tagen vermisst.« Noch ließ Taskinen sich seine Verärgerung nicht anmerken. Er griff sich das Telefon und gab den Technikern Fahranweisungen.

»Wir hätten Skier mitnehmen sollen«, fluchte Pertsa vor sich hin. »Durch den verdammten Schnee stapfen, so eine Scheiße!«

Der Skiläufer, der die Leiche gefunden hatte, stand wartend am Weg nach Rosberga. In seinem leuchtend blauen Dress und mit den supermodernen Skiern sah er aus, als wäre er geradewegs vom Merkur auf die Erde gefallen. Er tat mir Leid, offenbar war er eine schnelle, schweißtreibende Runde gelaufen und fror jetzt fürchterlich. Zudem sprang Pertsa, der seine Personalien aufnahm, alles andere als freundlich mit ihm um.

Auch ich war nicht gerade erfreut, als ich die hohen Schneewehen sah, durch die die Skispur des Mannes führte. Da mussten wir durch, es half alles nichts.

»Weiter drinnen im Wald kommt man leichter vorwärts, der Regen heute Nacht hat den Schnee größtenteils weggeschmol-zen«, sagte der Skiläufer wie zum Trost. Ich zog die Stiefel an und war froh, dass ich meinen langen Wintermantel heute zu Hause gelassen und stattdessen die hüftlange Steppjacke angezogen hatte. Ich gab mir Mühe, mit dem Skiläufer, Pertsa und Taskinen Schritt zu halten, obwohl sie allesamt im Vorteil waren: Pertsa war fast zwei Meter groß, Taskinen trainierte Marathonlauf und der fremde Mann hatte seine Skier. Ich war zwar auch sportlich, aber meine Beine fühlten sich schon wieder kraftlos an.

Auf den Lichtungen hatten sich weiche Schneewehen gebildet, so hoch, dass der Schnee in die Stiefel drang. Im dichten Wald lag der Schnee nur ein oder zwei Zentimeter hoch, war aber steinhart gefroren und glatt, die Fichtenzweige rissen mir die Wangen auf. Im offenen Gelände fuhr mir der Wind beißend ins Gesicht.

Die Skispur war eine gute Orientierungshilfe. Man hatte eine etwa zwei Meter breite Schneise in den Wald geschlagen, die im Sommer als Wanderweg, im Winter als Loipe genutzt wurde.

Die Leiche lag auf einem kleinen Hügel unter einer Fichte.

Genau genommen ragten nur ihre zierlichen nackten Füße hervor, die gestern noch vom Schnee bedeckt gewesen sein mussten. Der Regen, der den Schnee von den Fichtenzweigen gespült hatte, hatte auch die Leiche durchnässt. Pertsa schob als Erster vorsichtig die Zweige zur Seite, ich hörte ihn scharf einatmen, dann starrte er reglos auf die Gestalt, die unter den Zweigen lag. Ohne zu wissen, was mich erwartete, trat ich meinerseits näher und sah hin.

Die Leiche unter der Fichte war zweifellos Elina Rosberg. Der Morgenmantel aus zartrosa Satin war am Körper festgefroren, der Saum des Nachthemds in der gleichen Farbe war aufgetaut, er flatterte, als ich erschrocken zurückzuckte. Die nackten Beine waren von Erfrierungen übersät, doch auf dem Gesicht lag ein friedlicher Ausdruck, fast ein Lächeln. Und dennoch war es ein totes Gesicht.

Elinas Wangenknochen waren so hoch wie immer, die Augen geschlossen, die Lider bläulich. Es waren keinerlei äußerlichen Gewaltmerkmale zu erkennen. Als hätte sie sich unter dem Baum zur Ruhe gelegt und wäre in Schlaf gesunken wie Dornröschen. Aber einen Prinzen, der sie wachküssen konnte, gab es nur im Märchen.

»Ja, es ist Elina Rosberg«, sagte ich zu Taskinen, der hinter mir stand. Meine nassen Füße froren in den Stiefeln, ein schneidender Schmerz fuhr mir durch die Kehle. Pertsa sprach leise mit dem Skiläufer, als hätte der Anblick von Elinas Leiche seiner großkotzigen Grobheit einen Dämpfer versetzt. Im Wald war es vollkommen still, nur Taskinens Handy piepte und aus der Richtung, aus der wir gekommen waren, ertönten Schritte: Die Technik war im Anmarsch.

Die vertraute Routine wirkte fast tröstlich. Fotos, Messungen, die scheinbar aussichtslose Suche nach Spuren, die Elina auf ihrem Weg durch den Wald vielleicht hinterlassen hatte. Dem ersten Anschein nach war sie erfroren, doch Genaueres über die Todesursache würde erst die Obduktion ergeben.

»Das war’s dann wohl«, seufzte Taskinen schließlich, da die Techniker vorläufig nichts gefunden hatten, was die Beteiligung einer zweiten Person bewies oder ausschloss. »Wie war das noch, Maria, du weißt, wer Rosbergs nächste Angehörige sind?«

»Ich kenne nur die Tante, die in Rosberga wohnt. Elina Rosberg war meines Wissens ledig und kinderlos, und ich glaube, ihre Eltern sind tot.«

»Also auf nach Rosberga.« Taskinen machte sich auf den Rückweg zum Wagen. Die Techniker hatten einen breiten Pfad in den Schnee getrampelt, und ihre Schlitten, mit denen sie die schwere Ausrüstung transportierten, hatten die Schneedecke stellenweise aufgerissen. Wir kamen viel zu schnell voran, ich überlegte fieberhaft, was ich Aira sagen sollte, und dachte gleichzeitig über das zweite Problem nach: das Männerverbot in Rosberga.

»Sollen wir im Auto warten? Die Weiber lassen uns ja nicht rein«, fragte Pertsa, als wir den Hügel zum Gutshaus hochbret-terten. Er schien über die Hausordnung bestens informiert zu sein.

»Das wäre wohl nicht besonders sinnvoll.« Ich stieg aus und klingelte. Aira hatte unsere Ankunft offenbar auf dem Überwa-chungsmonitor beobachtet, denn sie kam nicht ans Tor, sondern öffnete es vom Haus aus. Als erste Männer seit einem Jahrzehnt hielten Taskinen und Ström Einzug in Rosberga.

Die Haustür öffnete Aira immerhin persönlich. Ihr Gesicht war seit unserer letzten Begegnung gealtert, ihr Rücken gebeugt. Sie wusste, weshalb wir gekommen waren, ihre ersten Worte bestätigten es:

»Elina ist also gefunden worden. Wo?«

Taskinen sagte es ihr und betonte, dass wir noch nicht wüssten, wie sie unter den Baum gelangt sei und ob ein Verbrechen vorläge. Aira starrte mit leeren, tränenlosen Augen an ihm vorbei. »Kann ich sie sehen?«, fragte sie schließlich, und ich beeilte mich zu erwidern, dass wir eine offizielle Identifizierung benötigten.

»Bringst du es über dich, gleich mitzukommen, oder möchtest du lieber bis morgen warten? Wir müssen dich auf jeden Fall noch einmal vernehmen und alle anderen, die am Abend des zweiten Weihnachtstags hier in Rosberga waren.«

Aira wollte gerade antworten, als von oben plötzlich ein hysterisches Kreischen zu hören war, dann schlug eine Tür zu, und Niina Kuusinen kam schreiend die Treppe heruntergerannt.

Bei unserem Anblick hielt sie inne, warf sich dann aber auf Pertsa und kreischte:

»Hier dürfen keine Männer rein!« Niina versuchte Pertsa zur Tür zu bugsieren, doch der Versuch war zum Scheitern verurteilt, denn gegen Pertsa mit seinen eins neunzig und hundert Kilo Lebendgewicht kam selbst eine verhältnismäßig große Frau wie Niina nicht an. Ich riss sie zurück, hauptsächlich, damit mein Kollege ihr nicht wehtat.

»Niina!« Schmal und scharf wie ein Speer durchschnitt Airas Stimme das Getöse. »Diese Leute sind Polizisten. Sie haben Elina gefunden.«

Niina hielt in ihrer Bewegung inne, erschlaffte in meinen Armen, spannte sich dann aber wieder. Aira ließ ihr keine Zeit, Fragen zu stellen, sondern fügte mit ihrer neuen, stechenden Stimme hinzu:

»Elina ist tot.«

Niina sackte in sich zusammen und brach in verzweifeltes Schluchzen aus. Ich wunderte mich, wie schnell ihre Reaktion einsetzte: Im Allgemeinen dauert es eine Weile, bevor ein Mensch erfasst, was geschehen ist. Aira nahm Niina in den Arm und murmelte tröstende Worte. Eigentlich war Aira diejenige, die Trost gebraucht hätte. Doch sie machte den Eindruck einer Frau, die daran gewöhnt war, ihre eigenen Bedürfnisse hintan-zustellen und erst später zu weinen, allein in ihrem dunklen Zimmer.

Auch mir kamen fast die Tränen, aber ich floh in Aktionismus:

»Ist von denen, die sich am zweiten Weihnachtstag hier aufgehalten haben, noch jemand im Haus?«

Meine Stimme war kalt und schneidend, sie klang in meinen Ohren kreischend wie eine bremsende Straßenbahn. Aira sah mich kurz an.

»Johanna ist in der oberen Etage. Möchten Frau Hauptmeister ihr persönlich die Nachricht überbringen?«

Es war eine boshafte Frage, die durch die förmliche Anrede noch bissiger klang. Außerdem war ich im Umgang mit Johanna unsicher. Vor gläubigen Menschen war ich immer zurückge-scheut, vielleicht fürchtete ich mich vor ihrem Fanatismus, den ich gelegentlich auch bei mir selbst beobachtete. Und ich fürchtete mich vor Johannas zerrissenem Blick, der in eine Welt führte, in die ich selbst nie geraten wollte.

»Das übernehme ich selbst«, erwiderte ich mit hochgerecktem Kinn. »Wie steht es mit der Identifizierung?«

»Wenn man mir ein paar Stunden Zeit lässt, kann ich mitkommen.« Auch in Airas Stimme lag Kampfgeist. »Aber jetzt brauchen mich Niina und Johanna.« Niina, deren heftiges Schluchzen zu einem kläglichen Winseln abgeflaut war, hob das Gesicht von Airas Schulter.

»Wo hat man Elina gefunden?«

Ich sagte es ihr, beantwortete alle Fragen, so gut ich konnte, und versprach, mehr mitzuteilen, sobald der Obduktionsbericht vorlag. Ein Poltern an der Treppe ließ uns aufschauen.

Johanna stand oben, blass und ausdruckslos, und starrte uns an. Vielleicht hatte sie Mittagsschlaf gehalten, denn sie trug einen nachlässig zugebundenen, blaugrauen Morgenmantel.

Einige glanzlose Strähnen hatten sich aus dem Haarknoten gelöst und umrahmten ihr Gesicht. Wegen der strengen Knoten-frisur war mir bisher gar nicht aufgefallen, dass sie Naturlocken hatte. Ihre Worte dröhnten wie von der Kanzel herab.

»Selbstmord ist Sünde! Selbstmörder kommen nicht in den Himmel! Ich habe Leevi gefragt, ob es nicht Sünde wäre, mein zehntes Kind auszutragen, wenn ich genau weiß, dass wir dann beide sterben. Wäre das nicht Selbstmord und Mord? Aber Leevi meinte, das sei Gottes Wille.«

Ich sah die aufsteigende Panik in Pertsas Augen. Keine Frage, er wollte so schnell wie möglich weg von diesen Frauen, die er allesamt als verrückt einstufte. Ich versuchte, Taskinens Blick aufzufangen, ihm die Entscheidung zuzuschieben, ob wir die Vernehmung fortsetzen sollten. Johanna kam langsam die Treppe herunter, trat zu Aira und Niina und legte mit der Selbstsicherheit einer Mutter, die daran gewöhnt ist, eine große Kinderschar zu hegen, die Arme um sie. Als sie die Augen schloss und ihr Gesicht sich entspannte, wirkte sie fast wie ein junges Mädchen. Plötzlich wurde mir klar, dass sie wahrscheinlich nur einige Jahre älter war als ich, drei- oder vierunddreißig.

Bestimmt hatte sie schon sehr früh mit dem Kinderkriegen begonnen.

»Wann können Sie aufs Polizeirevier kommen? Wir würden uns gern mit Ihnen allen unterhalten.« Taskinens Stimme klang bittend und befehlend zugleich. Wir vereinbarten einen Termin für den nächsten Morgen. Das bedeutete zwar, dass ich an einem Samstag arbeiten musste, aber daran ließ sich nichts ändern.

Vielleicht würde ich sogar die geplante Silvesterfeier bei einer Kollegin von Antti verpassen.

Auf der Rückfahrt zur Dienststelle berichtete ich Pertsa und Taskinen, was ich bisher über Elinas Verschwinden erfahren hatte. Wie erwartet bat Taskinen mich, die ersten Vernehmungen zu führen, falls sie nach der Obduktion überhaupt nötig waren.

»Möglicherweise ist an dieser Sache weiter nichts Seltsames als die Frage, warum die Frau in einer Frostnacht in Nachthemd und Morgenmantel einen Kilometer weit durch den tiefen Schnee gewandert ist. Vielleicht gibt es auch dafür eine natürliche Erklärung. Wir hätten uns erkundigen sollen, ob sie eine Neigung zum Schlafwandeln hatte. Und, Maria, ruf im Personenstandsregister die Angaben zu allen Beteiligten ab.«

»Die Rosberg war reich. Das Haus allein ist Millionen wert, und hat sie nicht einen Teil ihrer Wälder an den Staat verkaufen müssen, als das Naturschutzgebiet Nuuksio eingerichtet wurde?

Mann und Kinder hat sie keine, wer kriegt also das ganze Geld?

Die Tante? Oder irgendein Männerhasserverein?«

»Klar, der Verein Pro Kastration e.V.«, antwortete ich, musste aber zugeben, dass Pertsa einen interessanten Aspekt ange-schnitten hatte. Elina Rosberg war eine wohlhabende Frau gewesen. In welcher Branche hatte die Familie Rosberg ihr Vermögen eigentlich gemacht? In der Holz verarbeitenden Industrie? Als Erstes musste ich mich gründlich über Elina Rosberg informieren.

In meinem Dienstzimmer loggte ich mich in das Personenstandsregister ein und wartete, während die Maschine in der Datenbank nach Elina Rosberg suchte. Mein Blick fiel auf das Geschenk, das mir meine Freundinnen zum Polterabend gemacht hatten, eine Collage von Leckerbissen männlichen Geschlechts mit der Überschrift: DIE LÄSST DU DIR

ENTGEHEN! Geir Moen, Hugh Grant, Mick Jagger, Valentin Kononen … Das Bild entlockte meinen männlichen Kollegen immer wieder säuerliche Bemerkungen, was natürlich ein Grund mehr war, es an der Wand hängen zu lassen. Auf den Gedanken, mir sexuelle Belästigung vorzuwerfen, war bisher noch keiner verfallen, selbst Ström nicht. Da ich in meinem Arbeitszimmer nur selten offizielle Vernehmungen führte, hatte ich es gewagt, das Plakat aufzuhängen, obwohl es eher zu einem Teenager gepasst hätte und meiner Glaubwürdigkeit als Polizistin nicht unbedingt zuträglich war.

Endlich hatte der Computer die Suche abgeschlossen. Während ich den Datensatz ausdrucken ließ, las ich ihn gleichzeitig am Bildschirm ab. Rosberg, Elina Katrina, geboren am 26.11.

1954 in Espoo. Eltern: Gutsbesitzer Kurt Johannes Rosberg, geb. 1914, und Frau Sylva Katrina Rosberg, geb. Kajanus, geb.

1920. Kein Ehepartner, keine Kinder. Auch sonst keine Einträ-

ge. Ich holte mir auch das Strafregister auf den Schirm, obwohl ich ganz sicher war, nichts zu finden. Doch ich hatte mich getäuscht, es war eine Festnahme vermerkt, 1970 bei einer Demonstration gegen den Schah. Danach aber fünfundzwanzig Jahre nichts. Was noch … Hatten wir das Ärzteverzeichnis in unserer Datenbank? Vielleicht wurden da auch die Psychothera-peuten genannt. Wieder tippte ich eine Weile, bevor ich fand, was ich suchte. Elina Rosberg, Abitur 1973 an der Französischen Schule in Helsinki, Diplompsychologin 1979, Approbation als Psychotherapeutin 1981. Seit 1990 Besitzerin des Therapiezentrums Rosberga, vorher unter anderem in der Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik in Helsinki und in der Nervenheilanstalt Lapinlahti tätig. Hobbys: Naturbeobachtungen und Lesen. Auch hier nichts Außergewöhnliches, nichts, was mich weiterbrachte. Elinas Familie war ungewöhnlich klein. Sie war als Einzelkind aufgewachsen. Auch ihre Mutter hatte keine Geschwister gehabt, und die beiden Brüder von Kurt und Aira Rosberg waren im Krieg gefallen. Neben Aira hatten ihr Joona Kirstilä und Tarja Kivimäki am nächsten gestanden. Vielleicht konnten sie mir sagen, wer Elina ermordet haben könnte, wer sie in eine langsam auftauende Schneefrau verwandelt hatte.

Ermordet? Warum in aller Welt versteifte ich mich darauf, bisher deutete doch nichts auf ein Verbrechen hin. Es konnte sich ebenso um einen Unfall oder Selbstmord handeln.

Ich spürte einen seltsamen Druck im Bauch. Meine Tage mussten bald anfangen, wann hatte ich sie eigentlich zuletzt gehabt? Jahrelang war meine Menstruation dem Rhythmus der Pillenpackung gefolgt, aber seit ich die Spirale trug, achtete ich nicht mehr so genau darauf. Meine Brüste waren jedenfalls empfindlich wie immer vor dem Beginn der Periode. Ich kramte gerade in der Schreibtischschublade nach einem Reservetampon, als es klopfte.

»Komm nur rein!« Ich rechnete mit Taskinen, denn von den anderen Kollegen hielt es kaum einer für nötig, anzuklopfen.

Doch an der Tür stand eine mir unbekannte Frau. Sie war etwa so alt wie ich oder ein paar Jahre älter, der Typ Frau, dessen Alter schwer zu schätzen ist. Etwa eins sechzig groß, mit einem blassen, unauffälligen Gesicht, dessen Unpersönlichkeit durch das sorgfältig aufgetragene, in Frauenzeitschriften gern als natürlich bezeichnete Make-up unterstrichen wurde. Die knapp ohrlangen braunen Haare waren nach innen geföhnt und wurden von einem schwarzen Lederreif aus der Stirn gehalten. Sie trug eine elegante Brille, die Augen dahinter hatten die Farbe unreifer Blaubeeren. Das braune Kostüm, das den sehnigen Körper umhüllte, hätte aus einem Katalog für erfolgreiche Karrierefrauen stammen können.

»Sie sind offenbar Hauptmeisterin Kallio. Ich bin hier, um mit Ihnen über Elina Rosberg zu sprechen.«

Was für ein Wahnsinnskontrast: Das Äußere dieser Frau war mir völlig unbekannt, die Stimme dafür umso vertrauter. Es konnte sich nur um die Fernsehjournalistin Tarja Kivimäki handeln. Sie bestätigte meine Vermutung, wobei sie mir kurz, aber fest die Hand drückte. Ihre Fingernägel waren sorgfältig in Form gefeilt und in einem unauffälligen, hellen Ton lackiert.

»Aira Rosberg hat mich angerufen und erzählt, dass man Elina tot aufgefunden hat. Offenbar hält man Selbstmord für möglich.« Tarja Kivimäki nahm auf dem Sofa Platz und schlug damenhaft die Beine übereinander. Sie hatte ausgesprochen schöne, getrimmte Unterschenkel. Für welche Sportart entschied sich eine Frau wie sie? Aus irgendeinem Grund tippte ich auf Schattenboxen oder Fechten.

»Ich möchte klarstellen, dass der Verdacht auf Suizid völlig absurd ist. Elina hätte so etwas nie getan. Wenn sie psychisch so schwer belastet gewesen wäre, hätte sie professionelle Hilfe in Anspruch genommen.« Hinter der ruhigen Stimme schwangen die Schärfe und Wut mit, die ich von ihren politischen Reportagen in den Fernsehnachrichten kannte. Es war eine interessante Kombination: die ruhige, intelligente Oberfläche, unter der unangenehme Fragen hervorbrachen, die viele Politiker in Verlegenheit brachten.

»Bis die Obduktionsergebnisse vorliegen, können wir tatsächlich nur Spekulationen anstellen.« Ich merkte, wie ich mich in Kampfposition begab, um keinen Preis wollte ich vor Tarja Kivimäki als tumbe Polizistin dastehen. Na gut, den Ministerpräsidenten konnte sie ins Stottern bringen, aber Maria Kallio war aus anderem Holz geschnitzt …

»In welchem Stadium befinden sich die Ermittlungen?«

»Von Ermittlungen kann erst die Rede sein, wenn bei der Obduktion Hinweise auf Fremdverschulden gefunden werden.

Aber für alle Fälle kann ich Sie natürlich jetzt schon nach Ihrer letzten Begegnung mit Elina Rosberg fragen. Sie waren am Abend des zweiten Weihnachtstages in Nuuksio?«

»Ich habe die Feiertage dort verbracht. Weggefahren bin ich vorgestern früh, also am Morgen nach dem zweiten Weihnachtstag. Ich hatte Dienst.«

Es erschien mir seltsam, wie gefasst Tarja Kivimäki war. Aira Rosbergs Aussage zufolge war sie seit Jahren eng mit Elina befreundet, daher hätte man annehmen können, dass die Nachricht vom Tod ihrer Freundin sie erschütterte. Aber die Frau, die mir gegenübersaß, war so kühl, als berichte sie über harmonisch verlaufende Tarifverhandlungen.

»Ist über Weihnachten etwas vorgefallen, was erklären könnte, warum Elina Rosberg im Nachthemd mitten im Wald lag?«

Es schien, als fühlte sich Tarja Kivimäki in ihrer neuen Rolle nicht wohl, für gewöhnlich war sie ja diejenige, die die Fragen stellte.

»Es herrschte eine recht gespannte Atmosphäre. Ursprünglich hatten wir zu dritt feiern wollen, nur Aira, Elina und ich. Aber Johanna Säntti und Milla Marttila waren nach irgendeinem Kurs einfach dageblieben. Elina hat immer schon allerlei arme Häschen unter ihre Fittiche genommen, so wie sich andere streunende Hunde ins Haus holen. Zum Beispiel diese Niina Kuusinen. Ein typisches Exemplar von einem Menschen, dessen einziges Leiden ein unermesslicher Egozentrismus ist. Echte Probleme hat nur Johanna Säntti. Und auch sie müsste lediglich die Scheidung einreichen und das Sorgerecht für ihre Kinder fordern, das ist alles.«

»Wie lange kannten Sie Elina Rosberg?«

»Sechs Jahre. Ich war früher Redakteurin beim A-Studio und habe einmal eine Sendung über sexuellen Missbrauch an Kindern gemacht. Das war damals ein ziemlich aktuelles Thema. Elina war eine derjenigen, die ich interviewt habe. Wir waren von Anfang an auf derselben Wellenlänge. Sie war eine hervorragende Interviewpartnerin.«

»Ich erinnere mich noch gut an die Sendung.« Ich steckte damals mitten im Jurastudium, und unser Professor für Strafrecht hatte einen der Inzestfälle aus der Sendung herangezogen, um uns zu demonstrieren, wie schwierig Prozesse zwischen Familienmitgliedern sind: Die volljährigen Töchter einer amerikanischen Familie hatten ihren Vater nachträglich wegen Vergewaltigung angezeigt, aber Mutter und Bruder hatten sich geweigert, gegen den Vater auszusagen. Ich wurde immer noch wütend, wenn ich an den Fall dachte.

»Elina war ein sehr vernünftiger Mensch. Es ist ganz unvorstellbar, dass sie ohne warme Kleidung aus dem Haus gegangen wäre, vor allem bei dem schlimmen Husten, den sie hatte. Ich kann mir keinen anderen Grund dafür denken, als dass jemand in sehr großer Not war. Und trotzdem … Ein Außenstehender wäre ja nicht einmal in die Nähe des Hauses gelangt. Das Tor ist immer verschlossen.«

»Warum eigentlich?«

»Elina wollte keine Eindringlinge, vor allem keine Männer. Es sollte in Espoo wenigstens einen Ort geben, wo Frauen nicht von Männern belästigt werden. Ab und zu randalieren Betrunkene aus Soivalla am Tor oder Halbstarke, die eine Wandertour in Nuuksio machen. Es scheint die Männer ungeheuer zu ärgern, dass es Orte gibt, zu denen sie keinen Zutritt haben.«

»Ganz recht. Wenn wir noch einmal auf den Abend des zweiten Weihnachtstages zurückkommen. Wann haben Sie Elina zum letzten Mal gesehen?«

»Wir haben in der Bibliothek vor dem Fernseher gesessen, Aira und ich. Ich glaube, Niina Kuusinen war auch dabei. Ein alter Film mit Marilyn Monroe, sentimental und lustig. Elina kam zwischendurch herein und sagte, sie wolle einen kleinen Spaziergang machen, weil sie Kopfschmerzen habe. Wir wollten sie davon abbringen, weil sie so erkältet war, aber sie ging trotzdem. Typisch Elina! Es war sinnlos, sie überreden zu wollen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Als der Film zu Ende war, bin ich schlafen gegangen, weil ich am nächsten Morgen früh aufstehen musste. Am Morgen war ich dann noch an Elinas Tür. Wenn sie wach gewesen wäre, hätte ich mich verabschiedet und mich für ihre Gastfreundschaft bedankt, aber im Türspalt war kein Licht zu sehen. Elina hatte mir die Codenummer für das Tor gegeben, sodass ich das Grundstück verlassen konnte. Ich bin dann nach Pasila zum Sender gefahren.«

»Wer außer Ihnen kannte die Codenummer?«

»Aira natürlich, sicher auch Johanna, sie ist schon so lange in Rosberga. Aber im Allgemeinen wird sie nicht bekannt gegeben, damit keine ungebetenen Gäste erscheinen.« Mein Telefon klingelte, und Tarja Kivimäki erhob sich sofort, als wollte sie von der Unterbrechung profitieren. Ich bat den Anrufer, einen Moment zu warten, stand auf, reichte Tarja Kivimäki die Hand und versprach, sie zu informieren, wenn es Neuigkeiten gab.

Vielleicht würde keine weitere Vernehmung mehr nötig sein.

Beim Hinausgehen warf sie einen amüsierten Blick auf meine Delikatessensammlung und rief mit überraschend mädchenhaf-ter Stimme:

»Gute Auswahl! Hugh Grant hat in meinen Augen allerdings seine Glaubwürdigkeit verloren.«

Ich zuckte als Antwort mit den Schultern und griff nach dem Hörer. Am Apparat war der Pathologe, der Elina untersuchte und bereits ein erstes Ergebnis für mich hatte: An Elinas Oberschenkeln, Rücken und Gesäß befanden sich Kratzer und Abschürfungen, die zu einem Zeitpunkt entstanden waren, als sie noch lebte, aber offenbar bewusstlos war. Der Pathologe und die Techniker waren zu dem Schluss gekommen, dass man sie durch den Wald geschleift und unter den Baum gelegt hatte. Was die Bewusstlosigkeit verursacht hatte, wusste der Pathologe noch nicht, versprach mir aber die Laborergebnis-se für den nächsten Morgen.

Als ich auflegte, überfiel mich eine Welle von Übelkeit. Durch den Wald geschleift. Es handelte sich also zumindest um fahrlässige Tötung, eher um Schlimmeres. Sah so aus, als hätte ich wieder einmal einen viel zu komplizierten Mord mit viel zu vielen unangenehmen Verdächtigen am Hals.

Vier

»Ja, ich bin mir ganz sicher, dass es dieser Dichter war, mit dem Elina am zweiten Weihnachtstag abends durch den Wald gegangen ist«, stöhnte Milla Marttila ins Telefon und gähnte ausgiebig. Es war Samstag, einen Tag vor Silvester, kurz nach neun Uhr morgens. Mein Anruf habe sie geweckt, seufzte sie, sie habe bis vier Uhr früh gearbeitet. Offenbar war sie nicht allein, denn im Hintergrund war leises Schnarchen zu hören.

»Kennst du Joona Kirstilä?«

»Der war ein paar Mal als Kunde bei uns. Elina hat er davon bestimmt nichts erzählt. Den Kerl kann man nicht verwechseln, so klein und mickrig, wie der ist, neben Elina sieht er aus wie ein Gnom. Außerdem trägt er ewig diesen roten Schal, damit auch ja alle mitkriegen, dass er ein Dichter ist. À la Edith Södergran.«

»Was? Ach ja, diejenige, die meinte, Dichter sollten einen roten Umhang tragen. Magst du Södergrans Gedichte?«

»Du glaubst natürlich, ’ne Stripperin versteht nix von Lyrik.

Überhaupt kannst du mich mal, ich will jetzt schlafen. Ich …«

»Komm um eins zu mir ins Polizeigebäude. Ich brauche deine offizielle Aussage, dass du Elina mit Kirstilä gesehen hast an ihrem … an dem Abend, als sie verschwunden ist.«

»Wohin? Zur Polizei nach Espoo? Ich hab keinen blassen Schimmer, wo die ist!«

Ich versuchte Milla zu erklären, wo sich die Dienststelle befand, aber sie brüllte, sie würde nie im Leben in den »beschis-senen Hinterwald« finden. Also versprach ich ihr, sie von einem Streifenwagen abholen zu lassen. Wenn Milla um eins kam, nahm ich mir am besten anschließend Kirstilä vor. In einer Stunde sollte ich Aira in der Eingangshalle abholen und sie zur Leichenschauhalle im Gerichtsmedizinischen Institut bringen.

Bei dem Gedanken wurde mir wieder schlecht, ein dumpfes Pochen in den Schläfen gesellte sich dazu. Müdigkeit lag auf meinen Augen wie feuchte Watte. Ich hatte in der letzten Nacht unruhig geschlafen, hatte abwechselnd von Elina und vom Schwangerschaftstest auf der Toilette des Polizeigebäudes geträumt. Auf der Heimfahrt am gestrigen Abend war mir nämlich eine neue Erklärung für meine ständige Müdigkeit eingefallen. Ich hatte im Kalender nachgeschaut – meine letzte Periode lag tatsächlich schon sechs Wochen zurück. So eine Spirale war nicht hundertprozentig sicher.

Ich musste heute Zeit finden, in der Apotheke einen Test zu kaufen.

Ich versuchte, nicht mehr daran zu denken, bisher war es ja nur ein Verdacht. Trotzdem hatte ich mir gestern mein Feier-abendbier verkniffen, obwohl Elinas Tod mich durstig gemacht hatte. Es fiel mir beinahe leichter, über den Mord nachzudenken, als über eine mögliche Schwangerschaft und ein Kind. Einen Mordfall konnte man lösen und dann ein für alle Mal abhaken.

Ein Kind dagegen nahm einen jahrzehntelang in die Pflicht.

Als ich gerade Joona Kirstilä anrufen wollte, kam Pertsa herein. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, ließ er sich auf das schmale Sofa unter meiner Leckerbissensammlung fallen und legte die Füße auf den Tisch.

»Tja, sieht so aus, als ob sich auch dieser Todesfall als Mord entpuppt. Da kannst du also wieder mal deiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen, Kallio. Und obendrein darfst du eine ganze Emanzenherde vernehmen.«

»Wie kommst du auf die Idee, dass Mordermittlungen meine Lieblingsbeschäftigung wären?«

»Du bist bei Mordfällen immer so verdammt engagiert, hast nur deine Arbeit im Sinn und setzt notfalls dein Leben aufs Spiel. Diesmal bist du allerdings schon blass, bevor es richtig losgeht, also pass schön auf dich auf. Oder kommt das von den wilden Liebesnächten?«

»Verdufte, ich hab’s wahnsinnig eilig. Ich muss die Vernehmungen anleiern und dann gleich ins Leichenschauhaus.«

»Weiß ich doch, Baby! Ich bin heute dein Vernehmungspart-ner.«

Pertsa sah ekelhaft zufrieden aus, er wusste genau, dass mir das Arrangement nicht schmeckte. In unserer Abteilung, die erst im vorigen Jahr gebildet worden war, galt die Regel, für jeden Fall einen oder zwei Verantwortliche zu benennen, die die Vernehmungen und Ermittlungen möglichst selbständig organi-sierten. Alle Aufgaben wurden nach Bedarf verteilt, manchmal hatte sogar Taskinen als Zeuge an meinen Vernehmungen teilgenommen. Diese Regelung sollte die strenge Amtshierar-chie aufbrechen und zugleich verhindern, dass wir Ermittler abstumpften, weil wir immer wieder dasselbe taten.

»Ich dachte, Pihko wäre mein zweiter Mann. Ist er heute nicht im Dienst?«

»Der ist doch über Neujahr nach Lappland geflogen. Über die Feiertage musst du mit mir vorlieb nehmen.«

»Okay, aber denk an unsere Arbeitsteilung: Du hältst die Schnauze, ich stelle die Fragen. Du brauchst nicht mal das Tonband anzustellen, es reicht, dass du anwesend bist. Kennst du übrigens jemanden bei der Polizei in Karhumaa oder in Ii?«

»Nicht dass ich wüsste. Wieso?«

»Eine der Frauen, die in den Fall verwickelt sind, kommt von da oben. Überprüf das. Und jetzt hau ab, ich muss arbeiten.

Kommst du mit in die Gerichtsmedizin?«

Pertsa verzog das Gesicht. Keiner von uns sah sich gern Leichen an. Sicher, man gewöhnte sich daran, aber gleichgültig ließ es einen nie. Dabei war Elina Rosberg immerhin eine ungewöhnlich saubere Leiche, unverletzt und unblutig.

»Ich hab auch noch was zu erledigen. Ruf mich an, wenn du mich im Vernehmungsraum brauchst.«

Ich griff nicht sofort nach dem Hörer, als Pertsa gegangen war, sondern dachte über meine persönliche Lage nach. War es gefährlich, schwanger zu werden, wenn die Spirale noch im Körper saß? Ich musste wohl einen Arzt anrufen, sobald ich den Test gemacht hatte. In meinem Zimmer war es stickig. Ich öffnete das briefmarkengroße Lüftungsfenster, kalte Luft wehte auf meine Brüste. Sie froren ganz anders als sonst.

In diesem Moment klingelte das Telefon. Es war Kervinen, der Gerichtsmediziner, der Elinas Obduktion leitete.

»Weißt du, ob Frau Rosberg zum Zeitpunkt ihres Verschwindens Antibiotika genommen hat?«

»Ja, hat sie.« Dass Elina die Tabletten im Badezimmer stehen gelassen hatte, war ja nach Airas Ansicht ein deutlicher Hinweis darauf gewesen, dass etwas nicht in Ordnung war.

»Erinnerst du dich an den Namen des Medikaments oder wenigstens daran, wofür es verschrieben war?«

»Der Name fing mit Era an, und verordnet war es gegen eine Atemwegsinfektion. Elina Rosberg hatte einen schlimmen Husten.«

»Das passt ins Bild, in ihrem Organismus wurde nämlich neben anderen Substanzen auch Erythromycin gefunden, das unter anderem gegen Bronchitis eingesetzt wird. Es wäre hilfreich, die Packung zu bekommen, zumindest erfahren wir dadurch, wer Elina Rosberg behandelt hat. Der Arzt hat offenbar vergessen, ihr zu sagen, dass Erythromycin den Metabolismus von Benzodiapinen inhibiert.«

»Den Metabolismus … Wie war das?« Ich hatte die Fachaus-drücke zwar schon gehört, aber ihre Bedeutung vergessen.

»Erythromycin verzögert die Ausscheidung der Droge und verstärkt ihre Wirkung. Rosberg hat eine mehrfache Dosis Benzodiapin eingenommen und außerdem Alkohol getrunken.

All das hat zusammengewirkt und die Frau in eine tiefe Bewusstlosigkeit versetzt, die lange genug andauerte, um sie erfrieren zu lassen. Die Zusammenwirkung dieser Medikamente ist noch kaum bekannt, ich selbst bin erst vor ein paar Jahren bei einer Pharmakologietagung darauf gestoßen. Damals ging es allerdings nicht um einen Todesfall, sondern um achtundvierzig-stündigen Schlaf. Aber wenn Frost hinzukommt, ist der Effekt tödlich.«

Meine Gedanken überschlugen sich. Antibiotikum, Beruhigungsmittel, Alkohol … War Elinas Tod auf Unwissenheit zurückzuführen? Aber warum war sie im Nachthemd durch den Schnee gegangen?

»Hätte das Beruhigungsmittel in Kombination mit Alkohol auch ohne das Antibiotikum zu Bewusstlosigkeit geführt?«, fragte ich.

»Vielleicht vorübergehend, wahrscheinlich aber nicht lange genug für den Erfrierungstod. Das ist allerdings schwer zu sagen, die Wirkung von Medikamenten und Alkohol ist indivi-duell verschieden. Außerdem spielt die Temperatur eine Rolle.

Über Weihnachten herrschte strenger Frost, und sie ist offenbar während der Nacht verschwunden, nicht wahr?«

»Genau.« Der Fall wurde immer seltsamer. Hatte jemand versucht, Elina in Tiefschlaf zu versetzen? Jemand, der von dem Antibiotikum nichts wusste?

»Na gut. Ich komme in einer halben Stunde zur Identifizierung. Rosbergs Tante kommt mit, ich frage sie nach dem Medikament und dem Arzt. Aber lass sie die genaue Todesursache noch nicht wissen, denn …«

»Sie steht unter Verdacht?«, meinte Kervinen eifrig, als befinde er sich in einem Kriminalroman. Das war seine Methode, seinen Beruf zu ertragen, er hielt die Fälle auf Distanz, betrachtete die Leichen als faszinierende Rätsel, die nie lebende Menschen gewesen waren. Anders als viele seiner Kollegen riss er keine makabren Witze und versuchte nicht, seine Gesprächspartner durch derbe Worte zu schockieren. Es schien ihm einfach Spaß zu machen, den Hilfsdetektiv zu spielen.

»So könnte man vielleicht sagen. Hör mal, darf ich dich noch was Persönliches fragen? Ist es gefährlich, wenn man eine Spirale hat und schwanger wird?«

Aus dem Hörer drang verlegenes Hüsteln.

»Ich bin Pathologe, in der Gynäkologie bin ich nicht so be-wandert. Warte mal … du solltest zum Arzt gehen. Also …«

Kervinen wirkte irgendwie ratlos. Ich überlegte, ob er selbst Kinder hatte oder ob alles, was mit Schwangerschaft und Geburt zusammenhing, ihm immer fremd gewesen war, ob sein medizinischer Eifer ausschließlich den Toten galt.

»Ja, das werde ich wohl tun müssen. Also dann, bis bald. Ich muss jetzt die Zeugin zur Identifizierung abholen.«

Ich fuhr den Wagen vor die Eingangstür. Im Vestibül erwartete mich neben Aira Rosberg auch Johanna Säntti. Neben der verhärmten Johanna wirkte Aira groß und stattlich, doch auf beiden Gesichtern lag dieselbe Trauer, starr und öde. Aira trug den schwarzen Persianer, den ich in Rosberga an der Garderobe gesehen hatte, und einen tief ins Gesicht gezogenen Hut aus demselben Material. Johannas faltenloses Gesicht stand in merkwürdigem Kontrast zu ihrer Kleidung, einem dunklen, sackartigen Mantel und einem schwarzgrau gemusterten Kopftuch.

»Ich habe Johanna mitgebracht. Sie sagt, sie habe der Polizei etwas mitzuteilen«, erklärte Aira.

»Möchtest du hier warten? Wir bleiben nicht lange weg. Oder willst du lieber mitkommen und dort warten?« Es störte mich, dass ständig andere für Johanna sprachen, zuerst Elina und jetzt Aira. Bei der Vernehmung musste sie jedenfalls selbst reden.

»Ich komme mit.« Ihre Stimme war immer noch irritierend nervös und piepsig, aber wenigstens sprach sie. Ich führte die Frauen zum Wagen, beide setzten sich auf die Rückbank. Wir fuhren durch die Dämmerung zur Turkuer Autobahn und weiter zum Gerichtsmedizinischen Institut.

»Es handelt sich nur um eine Formalität, wir wissen ja, dass es Elina ist«, sagte ich in Richtung Rückbank und gab mir Mühe, ruhig und tröstend zu sprechen. Es hatte wieder angefangen zu nieseln. Im Radio war für Südfinnland eine lange Tauwetterpe-riode vorhergesagt worden, die wahrscheinlich den ganzen Schnee, der im Dezember gefallen war, zum Schwinden bringen würde. Ein vorbeirauschender Kleintransporter klatschte mir den Matsch, der sich in den Fahrrinnen gesammelt hatte, an die Windschutzscheibe, sodass ich ein paar Sekunden blind fuhr, bevor ich auf die Idee kam, die Scheibenwischer anzustellen.

Der Lieferwagen lag mindestens dreißig Kilometer über dem Tempolimit, aber das war mir jetzt egal.

»Mach dir keine Sorgen. Ich war dabei, als meine Eltern starben, und bei Elinas Eltern habe ich auch am Totenbett gesessen.« Es klang beinahe so, als wollte sie sich über mich lustig machen. »Ich war ja von Beruf Krankenschwester, ich bin erst zwei Jahre vor der Gründung des Therapiezentrums Rosberga pensioniert worden. Vorher habe ich jahrelang in einem Altersheim gearbeitet. Allerdings hast du noch nichts über die Todesursache gesagt. Ist Elina sehr schlimm zugerichtet worden?«

»Nein.« Meine Wangen brannten vor Scham und Wut. Aira Rosberg torpedierte jeden Versuch, Mitgefühl zu zeigen. Also gut, dann würde ich es eben nicht mehr versuchen. Wir ließen Johanna im Wartezimmer der Klinik zurück. Sie saß mit steifem Rücken in einer Sofaecke, die Beine fest zusammengepresst, wie ein kleines Mädchen, dem man aufgetragen hat, brav zu warten, während die Mutter einkaufen geht. Wie war ein derart willenloses Geschöpf mit neun Kindern klargekommen? Ich meldete uns bei der Information an, und an der Tür zum Leichenraum stieß Kervinen zu uns. Die Krankenschwester, die uns eingelassen hatte, blieb an der Tür stehen wie eine Rettungs-sanitäterin, bereit, hinzuzuspringen, falls die Zeugin ohnmächtig wurde oder einen hysterischen Anfall erlitt.

Die Identifizierung mutete wie ein fremdartiges Ritual an, wie ein religiöser Tanz um das mit einem weißen Tuch bedeckte fahrbare Bett. Wir traten an die Liege, das Tuch wurde angeho-ben. Noch einmal sah ich in Elinas Kälte ausstrahlendes Gesicht, bevor ich den Blick auf Aira richtete. Sie nickte.

»Erfroren«, stellte sie mit sanfter Stimme fest. Ich nickte, bat Aira um ihre Unterschrift und fragte sie nach dem Medikament.

Sie erinnerte sich an den Namen und wusste auch, wer es verschrieben hatte.

»Geh bitte schon zu Johanna ins Wartezimmer, ich komme gleich nach.« Als Aira zur Tür ging, trat die Krankenschwester auf sie zu, offenbar um zu fragen, wie sie sich fühlte. Die Antwort hörte ich nicht, ich sah nur, dass sie gemeinsam den von Neonröhren beleuchteten Flur entlanggingen. Erst jetzt nahm ich den Gestank des Desinfektionsmittels wahr, unter den sich der merkwürdig feminine, blumige Duft von Kervinens Rasierwasser mischte.

»Das Medikament, das sie genannt hat, Erasin, passt sehr gut zu meiner Erythromycin-Theorie. Es hat die Wirkung des Alkohols und des Benzodiapins verstärkt. Wenn sie in ihrem Bett gefunden worden wäre, hätte man denken können, dass sie nur besonders tief schlafen wollte und deshalb eine größere Dosis Beruhigungsmittel und Alkohol zu sich genommen hat.

Natürlich käme auch ein Suizidversuch in Frage. Aber wie sind die Schrammen am Rücken zu erklären? Sie sind ganz frisch, nach Eintritt der Bewusstlosigkeit entstanden, aber definitiv vor ihrem Tod, denn einige haben geblutet.«

»Kann es sein, dass sie sich selbst durch den Wald geschleppt hat, rücklings kriechend? Kann das Medikament zum Beispiel zu einer Lähmung führen oder …«

»Zweimal nein. Ich sehe mir die Knöchel noch einmal genauer an, vielleicht finde ich dort die Antwort.«

»Nämlich?«

»Ich suche nach Druckstellen oder Gewebsveränderungen, die beweisen, dass jemand sie unter den Baum, oder wo immer sie gefunden wurde, gezogen hat. Waren am Fundort Schleifspuren zu sehen?«

»Der Regen hatte den Schnee so aufgeweicht, dass von Spuren kaum mehr die Rede sein kann. Zeig mir mal den Rücken.«

Kervinen bewegte das tote Fleisch mit gleichgültigen Hand-griffen. Ich bemühte mich, die notdürftig zugeflickten Obduktionsschnitte zu ignorieren. Im Vergleich dazu sahen die Kratzer am Rücken winzig, fast bedeutungslos aus. Ich würde mir Elinas Nachthemd und Morgenmantel ansehen müssen.

Wahrscheinlich waren auch sie am Rücken zerrissen, wenn man Elina durch den Wald geschleift hatte.

»Im Übrigen war sie gesund und gut in Form. Sie hat offenbar nicht geraucht und wenig getrunken, scheint ihre Muskeln trainiert zu haben. Etwas ist allerdings seltsam«, sagte Kervinen, als ich schon zur Tür ging, »ich habe in den Akten keine Erklärung für den Muttermund gefunden. Keine Operation oder dergleichen.«

»Was ist mit dem Muttermund? Wovon sprichst du?«

»Den Unterlagen nach hatte Rosberg keine Kinder. Du weißt vielleicht, dass der Muttermund bei einer Frau, die nie geboren hat, rund und fest ist, aber Rosbergs Muttermund war gedehnt, wie bei einer Frau, die schon einmal niedergekommen ist.«

»Willst du etwa behaupten, sie hat ein Kind zur Welt gebracht?«

Kervinens Augen schweiften durch den Raum, er mied meinen Blick, als ob er sich genierte.

»Wie ich schon sagte, bin ich kein Gynäkologe. Die Dehnung kann auch andere Gründe haben, zum Beispiel eine gynäkologische Operation. Wenn du meinst, es wäre wichtig, konsultiere ich noch einen Facharzt.«

»Tu das, obwohl ich nicht weiß, ob es wichtig ist. Vielleicht handelte es sich um eine Fehlgeburt.«

»Die müsste in den Papieren auch vermerkt sein.« Ich hätte gern mit Kervinen weiterspekuliert, doch Aira und Johanna warteten auf mich. Im harten, unwirklichen Licht der Klinikflure verflüchtigte sich der Gedanke, der sich bei mir einnisten wollte.

Elina konnte unmöglich ein Kind haben. Das wäre im Personenstandsregister zu sehen. Warum war Kervinen eigentlich so ausweichend, als schämte er sich, über Schwangerschaftsdinge zu reden? Die Ärzte, die ich kannte, sprachen über das Thema entweder betont sachlich oder übertrieben flapsig. Kervinen war der Erste, der herumdruckste.

Aira saß mit leerem Blick im Wartezimmer. Johanna dagegen war nirgends zu sehen. Ich setzte mich neben Aira, suchte nach Anzeichen eines Schocks, fand aber keine.

»Ist Johanna auf der Toilette?«

»Johanna.« Aira sprach den Namen nach, als bedeute er ihr nichts. »Ach ja, Johanna. Sie war nicht hier, als ich kam.«

Vielleicht war Aira doch nicht so stark, wie sie sich gab, sie schien jetzt völlig durcheinander zu sein. Und wo steckte Johanna? Ich wollte zurück aufs Revier, mit den Vernehmungen beginnen, den minutiös verplanten Tagesablauf ins Rollen bringen. Doch ich konnte Johanna nicht einfach hier lassen, als Ortsfremde hatte sie wahrscheinlich keine Ahnung, wie sie zum Polizeigebäude kam.

»Warte hier, ich suche sie.« Auf der Toilette rief ich vergeblich nach ihr, auf der nächsten ebenfalls. Irgendwo gab es eine Cafeteria, ich glaubte mich zu erinnern, wo, musste mir aber nach fünf Minuten eingestehen, dass ich mich hoffnungslos verlaufen hatte. Ich fragte eine belustigt dreinschauende Schwesternhelferin nach dem Weg und war froh, keine Uniform zu tragen. Eine Polizistin, die sich in der Klinik verirrt, ist die reinste Witzfigur. Sowieso hasste ich es, um Rat bitten zu müssen, denn ich wollte souverän sein. Als ich schließlich in den richtigen Gang einbog, sah ich Johanna vor der Wand stehen und ein Bild anstarren. Ich trat leise zu ihr, doch sie schien meine Anwesenheit nicht wahrzunehmen. Das naive Kunstwerk zeigte eine glückliche Kinderschar, die auf einer blühenden Wiese herumtollte. Johanna strömten die Tränen über das Gesicht, der Kragen ihres grauen Mantels war völlig durchnässt. Auch als ich ihr die Hand auf die Schulter legte, reagierte sie nicht. Erst meine Stimme riss sie aus ihrer Versen-kung.

»Zeit zu gehen, Johanna! Ein hübsches Bild.«

Ein hübsches Bild. Das klang nun wirklich total schwachsin-nig. Wann würde ich endlich den richtigen Umgang mit trauernden Menschen lernen? Warum brachte ich es nicht fertig, unbefangen zu sagen, wie Leid sie mir taten, warum konnte ich keinen Trost spenden? Mit harten Gewohnheitsverbrechern und aalglatten Wirtschaftsbetrügern konnte ich umgehen, meistens brachte ich sie zum Sprechen. Trauer dagegen machte mich stumm und beklommen, ließ mich alle vernünftigen Worte vergessen, zwang mich davonzulaufen, statt näher zu kommen.

Zum Glück folgte Johanna mir brav durch die Gänge. Sie war ganz offensichtlich daran gewöhnt, Befehlen zu gehorchen. Aira war glücklicherweise auf ihrem Platz geblieben. Wir marschier-ten durch den Regen zum Wagen und fuhren ebenso schweigsam wie auf dem Hinweg zur Dienststelle zurück.

Dort angelangt, fragte ich Johanna, ob sie zuerst zur Vernehmung kommen wolle, weil sie im Gerichtsmedizinischen Institut so lange hatte warten müssen.

»Es macht mir nichts aus zu warten«, sagte sie leise, dann fügte sie lauter, fast schneidend, hinzu: »Es ist schön, einmal genug Zeit zu haben, nur dazusitzen und nichts zu tun.«

Obwohl die Espooer Polizei in einem Neubau untergebracht ist, wirken die Vernehmungsräume mit ihren sterilen weißen Wänden unglaublich bedrückend. Zum Glück waren wenigstens die Sitzgelegenheiten bequem. Ich justierte die Mikrophone, während wir auf Pertsa warteten, und fragte Aira, ob sie Kaffee wolle. Mir knurrte bereits der Magen, und mein Hunger wurde erst recht spürbar, als ich Pertsa beim Eintreten das letzte Stück Fleischpastete in den Mund stopfen sah. Aira bat jedoch nur um ein Glas Wasser. Ich sprach das Datum auf Band und bat sie, ihre Personalien anzugeben.

»Aira Elina Rosberg, geboren am zweiten Februar neunzehn-hundertfünfundzwanzig. Von Beruf Krankenschwester, jetzt pensioniert.« Ihre offiziellen Angaben auf Band zu sprechen schien ihr geradezu Vergnügen zu bereiten.

»Elina ist also nach dir benannt worden?«

»Der Name wurde in der Familie meiner Mutter schon immer vererbt, und ich bin … war Elinas Patentante.« Endlich hatte sich ein kleiner Bruch in Airas gleichmäßige Stimme geschlichen.

»Es dauert seine Zeit, bis man lernt, in der Vergangenheit zu sprechen«, sagte sie.

»Weißt du, an wen Elinas Vermögen fällt? Hat sie ein Testament gemacht?«

»Soweit ich weiß, ja. Das lässt sich bei unserem Hausjuristen nachprüfen, Juha Saario von der Kanzlei Saario und Ståhlberg.

Steht im Telefonbuch.« Ich hatte den Eindruck, dass Aira gar nicht darüber nachdachte, was sie sagte, sondern in Gedanken weit, weit weg war.

Ich notierte mir den Namen der Anwaltskanzlei und begann, die Ereignisse des zweiten Weihnachtstages noch einmal aufzurollen, zu denen Aira jedoch nichts Neues beizutragen hatte. Nachdem wir eine halbe Stunde miteinander gesprochen hatten, erwachte sie wie aus einer Erstarrung und unterbrach mich. Sie öffnete ihre Handtasche.

»Hör mir gut zu, Maria. Als Elina verschwand, habe ich keinerlei Nachricht von ihr entdeckt. Aber heute früh fand ich dies hier in meiner Handtasche.« Sie zog einen weißen Briefum-schlag hervor, auf den mit blauem Kugelschreiber »Aira«

geschrieben war. Ich beugte mich vor, um den Umschlag an mich zu nehmen, aber Aira hielt ihn fest und fuhr fort:

»Ich benutze diese Handtasche nur, wenn ich aus dem Haus gehe. Das habe ich seit Weihnachten nicht mehr getan, einkaufen wollte ich erst heute wieder. Deshalb hat es so lange gedauert, bis ich den Umschlag fand. Sieh ihn dir an!«

Erst jetzt reichte sie mir das Kuvert. Darin steckte ein hand-schriftlicher Zettel mit einfachen Worten: »Liebe Aira. Nach allem, was ich gehört habe, kann ich so nicht mehr weiterma-chen. Es tut mir Leid, dir Unannehmlichkeiten zu bereiten.

Elina.«

Es klang wie ein Abschiedsbrief.

Ich las den Zettel noch einmal. »Nach allem, was ich gehört habe.« Was hatte sie gehört, was konnte das für eine Information sein, die eine wie Elina Rosberg in den Selbstmord trieb? Ich musste an Joona Kirstilä denken, der Elina nach Airas wie nach Millas Aussage am Abend des zweiten Weihnachtstages getroffen hatte. War es denkbar, dass Elina sich umgebracht hatte, weil Joona Kirstilä mit ihr Schluss machen wollte? Das konnte ich mir kaum vorstellen.

»Was hat dieser Brief deiner Meinung nach zu bedeuten? Ist es der Abschiedsbrief einer Selbstmörderin? Und was hat Elina gehört? Sie bezieht sich darauf, als wäre sie sicher, dass du von der Sache weißt.«

Aira quälte sich mit der Antwort.

»Offenbar hat Joona …«

»Wollte Kirstilä sie verlassen?« Als Pertsa, dessen Anwesenheit ich völlig vergessen hatte, sich warnend räusperte, merkte ich, dass ich auf dem besten Wege war, Aira etwas in den Mund zu legen. Sie nickte verschämt.

»Hast du Elina denn noch einmal gesehen, als sie von ihrem Spaziergang zurückkam?«

»Nein, das habe ich doch schon gesagt! Aber dass die Beziehung zu Ende ging, davon war schon vor Weihnachten die Rede gewesen.«

»Aber das ist doch ein ziemlich eindeutiger Grund für Depressionen! Warum hast du das nicht von Anfang an gesagt?«

»Ich wollte Joona nicht belasten.« Airas Stimme klang hohl und traurig, dann kamen die Tränen, wie Wasser aus einem hastig aufgedrehten Hahn. Und ich saß hilflos da und schaute sie an. Auch Pertsa rührte sich nicht, er starrte auf seine Schuhspitzen. Erst nach einigen Minuten kam ich auf die Idee, Aira zu fragen, ob sie etwas wolle, ein Taschentuch vielleicht oder ein Glas Wasser. Sie schüttelte den Kopf und holte ihr eigenes Taschentuch aus der Handtasche.

»Es tut mir Leid, es tut mir so Leid«, sprach sie mechanisch vor sich hin und rieb sich die Augen. Ich brummte etwas Tröstendes, Pertsa stand polternd auf und sagte, er hole Wasser.

Jetzt endlich hielt ich das Tonband an. Ich bemühte mich, nicht hinzusehen, während Aira um ihre Selbstbeherrschung kämpfte.

Die Vernehmung wollte sie allerdings nicht mehr fortsetzen, wenn es nicht unbedingt notwendig wäre.

»Ich kann Johanna später nach Rosberga bringen lassen, sodass du gleich nach Hause fahren kannst«, bot ich ihr an.

»Ich mache lieber einen kleinen Spaziergang, in diesem Zustand möchte ich mich nicht ans Steuer setzen.« Aira trank das Glas, das Pertsa ihr gebracht hatte, mit hastigen Zügen aus, ihre Hände zitterten. Ich bat Pertsa, Johanna zu holen. Auf dem Gang sprachen die beiden Frauen kurz über die Rückfahrt nach Rosberga. Ich schaute auf die Uhr. Beinahe zwölf, und um ein Uhr sollte Milla kommen. Bestimmt hatte ich keine Zeit, zwischendurch etwas zu essen, von einem Abstecher in die Apotheke ganz zu schweigen. Verdammter Mist!

Johanna hatte Mantel und Kopftuch abgelegt. Das graue Wollkleid, das darunter zum Vorschein kam, war so altmodisch, dass es in einigen Jahren sicher wieder hochmodern sein würde.

Aus dem diesmal weniger straff gekämmten Dutt hatten sich einige Locken gelöst. Ich hatte irgendwo gelesen, dass Naturlocken durch Schwangerschaft und Stillen glatt werden, aber Johannas Krauskopf hatten selbst neun Schwangerschaften nichts anhaben können.

Ich begann wieder mit den Personalien. Als ich das Geburtsda-tum hörte, musste ich schlucken: Johanna war tatsächlich nur anderthalb Jahre älter als ich.

»Du warst achtzehn, als dein erstes Kind zur Welt kam?« Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen.

»Gerade neunzehn geworden. Leevi und ich haben zwei Wochen nach meinem Abitur geheiratet. Im März des nächsten Jahres wurde dann schon Johannes geboren.«

»Hast du in letzter Zeit Kontakt zu deinen Kindern gehabt?«

Für einen kurzen Moment leuchtete in Johannas Augen eine Freude auf, die alle Furchen aus ihrem Gesicht zauberte.

»Anna, meine älteste Tochter, hat mich gestern in Rosberga angerufen. Sie war weggelaufen, um von der Zelle im Dorf aus telefonieren zu können. Sie sagt, alle Kinder vermissen mich, außer Johannes natürlich, der Junge hört nur auf seinen Vater

…« Ihr Gesicht fiel wieder zusammen, wirkte vorzeitig gealtert und schmerzvoll, doch ihre Stimme blieb fest und warm.

»Anna ist ein gutes Mädchen. Erst dreizehn, aber schon sehr selbständig. Das arme Ding hat mir im Haushalt helfen und sich um die kleinen Geschwister kümmern müssen, und jetzt lastet noch viel mehr auf ihr, denn Leevis Mutter wird nicht mit allem fertig.«

Pertsa scharrte nervös mit den Füßen, seiner Meinung nach war das alles natürlich unnötiges Geschwätz. Aber mir lag daran, dass Johanna sich lockerte, bevor wir über Elina sprachen. Außerdem interessierte mich ihre Lebensgeschichte. Es schien mir unfassbar, dass ein Mann seelenruhig sagen konnte, es sei Gottes Wille, wenn seine Frau, die Mutter seiner neun Kinder, bei der Geburt des zehnten stirbt. So etwas mochte in fernen Ländern vorkommen, wo die Frauen verschleiert gingen und nichts besaßen, nicht einmal ihren eigenen Körper. Aber doch nicht hier in Finnland, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.

»Warum bist du ausgerechnet nach Rosberga gekommen?

Kanntest du Elina von früher?«

»Wo hätte ich jemanden wie sie kennen lernen sollen? Ich habe Maria hier in Helsinki entbunden, in der Universitätsfrau-enklinik, weil auch das bereits eine Risikoschwangerschaft war.

Da lag eine Frauenzeitschrift aus, in der Elina interviewt wurde.

Und einmal habe ich abends ferngesehen.« Johanna errötete, als beichte sie eine Missetat, und mir fiel ein, dass die fanatischsten Laestadianer sogar Fernsehen als Sünde betrachten. »Da kam irgendeine Diskussion, an der Elina teilnahm. Sie war so … so ruhig und Vertrauen erweckend, und sie sagte, jede Frau hätte das Recht, selbst über ihren Körper zu bestimmen …«

Pertsa schnaubte. Gleich würde er mich auffordern, endlich zur Sache zu kommen.

»Eigentlich war es Elina, die mir den Mut gab, die Schwangerschaft zu unterbrechen. Ich hatte mir ihre Telefonnummer besorgt und sie um Rat gebeten. Sie sagte, ich wäre in Rosberga willkommen, wenn ich mich ausruhen wollte nach dem Eingriff.« Das Wort Abtreibung brachte sie offenbar nicht über die Lippen. Pertsa räusperte sich ungeduldig.

»Bist du unmittelbar nach der Abtreibung nach Rosberga gegangen?« Ich schnitt Pertsa eine Grimasse. Er öffnete den Mund, machte ihn aber gleich wieder zu, als er meinen Gesichtsausdruck sah.

»Nein. Ich bin nach Hause gefahren. Aber Leevi wusste, was ich getan hatte, und hat mich geschlagen. Er hat mich ziemlich übel zugerichtet. Und den Kindern hat er gesagt, ihre Mutter sei eine Mörderin.« Während Johanna mit den Tränen kämpfte, spürte ich, wie die Wut in mir hochkam. Ich knirschte mit den Zähnen. Es war jedoch Pertsa, der als Erster den Mund aufmachte:

»Sie haben die Misshandlung doch wohl zur Anzeige gebracht?«

Johanna war über diese Frage so verblüfft, dass sie ihre Tränen herunterschluckte.

»Ich hatte gesündigt. Die Schläge waren eine gerechte Strafe.«

»Sind Sie etwa Muslimin, oder was?« Unter Pertsas Gebrüll zog sich Johanna auf ihrem Stuhl zurück, so weit es nur ging, und senkte den Blick.

»Frau Säntti gehört zu den Laestadianern. Ihr Mann ist Prediger.« Ich hoffte, Pertsa würde aus meinen Worten den Befehl heraushören, die Schnauze zu halten. Und dann ging mir plötzlich auf, dass ich mich genauso verhielt wie Elina und Aira, indem ich für Johanna sprach. Ich ärgerte mich darüber. Johanna sollte lernen zu kämpfen, ich wollte sie nicht zum Schweigen bringen.

»Nach der Misshandlung bist du dann nach Rosberga gefahren?«

»Leevi hat mich aus dem Haus geworfen. Wenigstens hat er mir Geld für die Bahnfahrt gegeben. Was ich mir vom Haushaltsgeld abgespart hatte, war für den Klinikaufenthalt draufgegangen.«

Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. Vom Haushaltsgeld abgezwackt? Für ihre neun Kinder musste Johanna doch mehrere tausend Finnmark Kindergeld bekommen, wo ging das denn hin? Etwa auf Leevi Sänttis Konto?

»Elina hat mich mit dem Wagen vom Bahnhof abgeholt. Sie hat gesagt, es sei alles nicht so schlimm, wir würden gemeinsam dafür sorgen, dass Leevi die Kinder herausgibt. Und Elina hätte es bestimmt geschafft, sie kannte die richtigen Leute. Das war wohl auch der Grund, weshalb Leevi sie umgebracht hat.«

»Was?!« Ich weiß nicht, wer lauter brüllte, Pertsa oder ich.

»Leevi hat am Telefon zu Elina gesagt, Gott würde sie strafen, weil sie mich zum Kindsmord angestiftet hat und jetzt auch noch versucht, die Kinder ihrem Vater wegzunehmen. Und Leevi hält sich für Gottes Werkzeug. Er hat Elina getötet. Ich bin mir ganz sicher.«

Fünf

Als Johanna schließlich gegangen war, sahen wir uns verblüfft an. Johanna hatte immer wieder versichert, kein anderer als Leevi Säntti habe Elina Rosberg getötet. Sie hatte sogar behauptet, Elina sei am Abend ihres Verschwindens nicht mit Joona Kirstilä, sondern mit Leevi spazieren gegangen. Konkrete Beweise konnte sie allerdings nicht vorlegen, ihr Verdacht schien eher auf Wunschdenken zu beruhen. Wenn Leevi Säntti als Mörder verhaftet wurde, bekam Johanna mit Sicherheit die Kinder zugesprochen.

Die Kinder … In der Überraschung über den Brief hatte ich ganz vergessen, Aira Rosberg zu fragen, ob Elina jemals schwanger gewesen war oder sich einem gynäkologischen Eingriff unterzogen hatte, der aus irgendeinem Grund nicht in ihrer Patientenakte vermerkt war. Das würde ich später nachho-len müssen.

»Gehen wir essen«, sagte Pertsa schließlich. Ich sah auf die Uhr. Fünf vor eins.

»Keine Zeit. Um eins kommt die Marttila.«

»Dann soll sie verdammt nochmal warten! Dir knurrt doch auch schon der Magen, dass man es bis in den Flur hört!«

Ich wollte gerade nachgeben, als das Telefon klingelte. Es war Haikala von der Streife, die ich in die Helsinginkatu geschickt hatte. Milla Marttila war nicht in ihrer Wohnung, jedenfalls ging sie weder an die Tür noch ans Telefon.

»Was sollen wir jetzt machen?« Haikala klang verärgert, er hielt die Abholerei für sinnlos, wenn es nicht einmal um eine Verhaftung ging.

»Gibt es da einen Hausmeister?«

»An der Wand hängt der Zettel von einem Wartungsdienst.

Aber wir haben doch keinen Durchsuchungsbefehl.«

»Stimmt, den haben wir nicht. Aber … wartet noch eine Weile. Hatten wir nicht verabredet, dass ihr die Marttila um zwanzig vor eins abholt? Vielleicht ist sie nur kurz aus dem Haus gegangen.«

Das leere Gefühl in meinem Bauch kam plötzlich nicht mehr vom Hunger. Zuerst war Elina verschwunden, jetzt Milla. Oder war sie geflohen? Vielleicht hatte Milla Elina getötet und durch den Wald geschleift, bevor sie in die Stadt gefahren war. Und jetzt hatte sie sich aus dem Staub gemacht.

Oder sich etwas angetan.

»Ich warte jedenfalls nicht«, knurrte Pertsa. »Wenn die dumme Gans abgehauen ist, so what? Oder ist sie deine Hauptverdächtige?«

»Nein. Bisher jedenfalls nicht. Eher eine Zeugin für die Aktivitäten des Freundes.«

»Dann schnapp dir den Freund. Komm schon, wir gehen essen. Kannst ja deinen Piepser mitnehmen.«

»Nein, ich fahre lieber in die Stadt.« Pertsa zuckte mit den Schultern und ging. Ich steckte das Handy ein, holte mein Auto und fuhr als Erstes nach Tapiola zur Apotheke. Ich hatte das Gefühl, von allen angestarrt zu werden, als ich unter den Schwangerschaftstests im Regal die Marke aussuchte, die als die zuverlässigste angepriesen wurde, und an der Kasse bezahlte.

Am liebsten wäre ich sofort nach Hause gefahren und hätte den Test gemacht, doch pflichtbewusst lenkte ich den Fiat auf den Umgehungsring Richtung Helsinki. Als ich bei Otaniemi an der Ampel stand, rief Haikala wieder an.

»Die Frau hat sich nicht blicken lassen. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich habe den Eindruck, in der Wohnung riecht es nach Gas.«

»Um Himmels willen! Hol den Wartungsmann, ich bin schon unterwegs!«

Der blöde Fiat hatte nicht mal eine Sirene. Mit gut zwanzig Kilometer über dem Limit raste ich durch Lehtisaari und Kuusisaari und bog in Munkkiniemi bei Dunkelgelb in die Paciuksenkatu ein. Es hatte wieder angefangen zu schneien, und auf der Tukholmankatu hielt ein Schneepflug den Verkehr auf.

Ich überholte ihn rücksichtslos auf den Straßenbahnschienen, obwohl mir die Sinnlosigkeit meiner Raserei klar war. Was konnte ich denn noch ausrichten, wenn Milla beschlossen hatte, den Kopf in die Backröhre zu stecken?

Der Streifenwagen stand vor einem alten, gelb verputzten Etagenhaus. Ein Krankenwagen war offenbar noch nicht gerufen worden. Ich parkte den Fiat auf dem Bürgersteig und rannte ins Haus. Aus einer der oberen Etagen war Pochen und ein unbe-stimmbarer Lärm zu hören. Der Aufzug war besetzt, also stürmte ich die Treppe hinauf, bis ich im fünften Stock gegen den Rücken eines blau gekleideten Mannes prallte. Wachtmeis-ter Haikala und sein Kollege Akkila schauten interessiert dem nach Bier stinkenden Wartungsfritzen zu, der mit zitternden Händen versuchte, den Universalschlüssel ins Schloss zu kriegen. Der Mann hatte einen Megakater, der Schlüssel landete immer wieder weit neben dem Loch. Schließlich nahm Akkila meine Anwesenheit wahr und schnappte sich den Schlüssel.

»Lassen Sie mich mal ran.«

Die Tür war im Handumdrehen offen, und tatsächlich drang stechender Gasgeruch aus der Wohnung. Ich hatte das Gefühl, jemand hätte mir einen Schneeball in den Bauch gestopft, der jetzt langsam schmolz. Doch ich konnte nicht zu Milla rennen, die Sicherheitskette war vorgelegt. Vergeblich versuchte ich, mich durch den schmalen Spalt zu zwängen, und rief dabei Millas Namen. Dann horchte ich: War da nicht ein leises Zischen zu hören?