12

 

Major William T. Moresby

4. Juli 1999

 

Dies ist die Last über Duma:

Man ruft zu mir aus Seir:

Hüter, ist die Nacht schier hin?

Der Hüter aber sprach:

Wenn der Morgen schon kommt,

So wird es doch Nacht sein.

Wenn ihr schon fragt,

So werdet ihr doch wieder kommen

Und wieder fragen.

Jesaja 21, 11 und 12

 

Moresby war ein methodischer Mann.

Das rote Blinklicht erlosch. Er griff nach oben, um die Verriegelung zu lösen und die Luke zu öffnen. Das grüne Licht erlosch. Moresby richtete sich auf, so daß Kopf und Schultern aus der Luke ragten. Der Kellerraum war wie erwartet menschenleer. Die kühle Luft roch schwach nach Ozon. Moresby stemmte sich hoch, kletterte aus dem ZVF und merkte, daß die kurze Leiter fehlte. Er knallte die Luke zu, sprang vom Rand des Polywasser-Tanks zu Boden und trat an den Metallspind, in dem sein Anzug hing. Zwei andere, die Saltus und Chaney gehörten, warteten in Plastikbeuteln auf ihre Besitzer. Moresby stellte fest, daß sich selbst im Inneren des Kleiderschranks eine dünne Staubschicht gebildet hatte. Als er angezogen war, glättete er die imaginären Falten seiner Luftwaffenuniform, für die er sich diesmal entschieden hatte.

Moresby sah auf seine Uhr: 10.05. Er warf einen Blick auf die Wanduhr und stellte fest, daß heute wirklich der 4. Juli 1999 war. Die Uhr zeigte allerdings 4.10 – sechs Stunden Unterschied zur Startzeit. Die Außentemperatur betrug 18°C.

Moresby entschloß sich, seine Uhr nach der Wanduhr zu stellen. Bevor er den Raum verließ, grüßte er zackig zu den beiden Fernsehkameras hinüber. Er stellte sich vor, daß die Ingenieure im Kontrollraum sich über diese kleine Geste freuen würden.

Moresby folgte dem Korridor, in dem geradezu unheimliche Stille herrschte, zu dem Schutzraum. Seine Schritte wirbelten die dünne Staubschicht vom Boden auf. Als er die Tür des Schutzraums öffnete, schaltete sich die Deckenbeleuchtung automatisch ein. Moresby sah sich langsam um. Der Schutzraum schien in den letzten Jahren nicht benutzt worden zu sein; die Lagerbestände waren noch so ordentlich wie bei Moresbys letztem Besuch gestapelt. Er zündete eine Laterne an, um zu sehen, ob sie nach so langer Zeit noch brannte, beobachtete zufrieden die gleichmäßige Flamme und drehte sie wieder aus. Die Lagerbestände schienen noch in Ordnung zu sein. Aber dann fiel ihm etwas anderes ein: Er öffnete eine Büchse Wasser, um die Qualität zu prüfen, und mußte feststellen, daß es brackig und abgestanden schmeckte. Aber das war zu erwarten, wenn die Büchsen dieses Jahr nicht ersetzt worden waren. Ein unerwartetes Versehen …

Auf der Werkbank standen drei gelbe Kartons.

Er öffnete den ersten und fand darin eine kugelsichere Weste aus dünnem Kunststoffgewebe. Ihr Verwendungszweck brauchte nicht erklärt zu werden. Moresby zog seine Uniformjacke aus, legte die Weste an, zog die Jacke darüber und machte sich an die Arbeit.

Moresby baute ein Tonbandgerät auf, testete es und benutzte es dann, um seine Beobachtungen festzuhalten: Die Leiter fehlte, er war fast fünf Stunden vor dem Start angekommen, im Kellergeschoß hatte sich Staub angesammelt, der Wasservorrat war nicht erneuert worden. Moresby äußerte keine persönliche Meinung zu diesen Punkten; er berichtete nur, was ihm aufgefallen war. Dann holte er sich ein Funkgerät, schloß es an die Außenantenne an und steckte den Netzstecker ein. Das Tonband lief, als er das Funkgerät auf einem Militärkanal einschaltete.

Stimme: ›… um die Nordwestecke in südlicher Richtung vor – also auf Sie zu, Korporal. Geschätzte Stärke: zwölf, fünfzehn Mann. Achtung, sie haben Granatwerfer! Kommen.‹ Im Hintergrund wurde geschossen.

Stimme: ›Verstanden. Wir haben hier ein Loch im Zaun. Irgendein Hundesohn hat versucht, mit einem Lastwagen durchzubrechen. Der Wagen brennt noch. Vielleicht hält sie das auf. Kommen.‹

Stimme: ›Sie müssen sie unbedingt aufhalten, Korporal! Ich kann keinen Mann entbehren. Wir haben hier Rot drei! Ende.‹

Das Gewehrfeuer verstummte, als das Funkgerät abgeschaltet wurde.

Moresby war kein Mann, der panikartig oder überhastet reagierte. Deshalb begann er jetzt, sich methodisch für seinen Auftrag auszurüsten. Er schnallte sich ein Halfter mit einer Armeepistole um, entschied sich für ein Schnellfeuergewehr und stopfte sich alle Taschen mit Munition voll. Er war vorsichtig genug, seine Dienstgradabzeichen von der Jacke zu trennen, aber es widerstrebte ihm, die Uniform auszuziehen. Er bedauerte nur, daß hier keine Stahlhelme lagerten.

Sein Marschgepäck bestand aus einem leichten Rucksack mit Konserven und Wasserbüchsen. Er entschloß sich, das Tonbandgerät aus Gewichtsgründen zurückzulassen, griff jedoch nach dem Funkgerät, während er eine Karte von Illinois studierte. Er nahm an, daß die Kämpfe irgendwo in der Umgebung von Chicago ausgebrochen sein mußten. Die Verteidigung dieser Stadt hatte stets als problematisch gegolten, weil die ausländische Schiffahrt auf den Großen Seen sich nie lückenlos kontrollieren ließ.

Er wollte eben die Antenne abklemmen, als es im Lautsprecher knackte.

Stimme: ›Adler eins! Die Banditen greifen uns an – sie greifen von Nordwesten an. Ich habe ein Dutzend gezählt. Sie liegen auf dem Abhang unter dem Zaun. Sie haben zwei Granatwerfer! Kommen.‹ Die dumpfen Abschüsse und das Krachen explodierender Granaten übertönten die heisere Stimme fast.

Stimme: ›Sind sie schon durch den Zaun? Kommen.‹

Stimme: ›Negativ … negativ. Der brennende Lastwagen hält sie auf. Wahrscheinlich versuchen sie es jetzt anders … Vielleicht schießen sie ein Loch in den Zaun … Kommen.‹

Stimme: ›Halten Sie sie auf, Korporal. Das ist nur ein Scheinangriff; wir haben den Hauptangriff hier. Ende.‹

Stimme: ›Verdammt noch mal, Leutnant, wir …‹ Schweigen.

Moresby streckte wieder die Hand aus, um die Außenantenne abzuklemmen, aber dann fiel ihm etwas ein. Er schaltete auf einen anderen Militärkanal um – einen von insgesamt sechs – und drückte auf den Sprechknopf des Mikrofons.

›Chicago, hier Moresby, Luftaufklärung. Kommen. Chicago, hier Moresby, Luftaufklärung. Kommen.‹

Keine Antwort. Er wiederholte den Funkspruch, wartete ungeduldig eine Minute lang und unternahm dann einen dritten Versuch. Als sich niemand meldete, schaltete er auf einen anderen Kanal um.

›Chicago oder Gebiet Chicago, hier Moresby, Luftaufklärung. Kommen!‹

Das Knattern im Lautsprecher konnten Schüsse oder atmosphärische Störungen sein. Eine kaum verständliche Stimme antwortete aus weiter Ferne: ›Moresby, hier Nash westlich von Chicago. Sprechen Sie vorsichtig. Kommen.‹

Er drehte den Lautstärkeregler nach rechts. ›Major William Moresby, Luftaufklärung. Ich habe einen Sonderauftrag und versuche Joliet oder Chicago zu erreichen. Wie ist die Lage dort? Kommen.‹

Stimme: ›Sergeant Nash, Sir, Stabskompanie Fünfte Armee. Chicago negativ, wiederhole negativ. Unbedingt meiden. Dort kommen Sie nicht hin, Sir – der See ist heiß. Kommen.‹

Moresby war verblüfft. ›Heiß? Bitte erklären. Kommen.‹

Stimme: ›Nennen Sie mir bitte Ihre Personenkennziffer, Sir.‹

Moresby nannte sie und wiederholte seine Frage.

Stimme: ›Der See ist radioaktiv, Sir. Die Jets haben eine Atomrakete auf die Stadt gelenkt. Wir wissen ziemlich sicher, daß sie die Rakete angefordert haben, aber das verdammte Ding ist bei Glencoe in den See gestürzt. Dort können Sie unmöglich hin, Sir. Die Stadt brennt, und das radioaktive Wasser hat die Ufer meilenweit überschwemmt. Wir versorgen die Zivilisten, die aus diesem Gebiet kommen, aber wir können nicht viel für sie tun. Kommen.‹

Moresby: ›Sind unsere Truppen rechtzeitig herausgezogen worden? Kommen.‹

Stimme: ›Ja, Sir. Die Truppen haben neue Verteidigungsstellungen bezogen. Aber ich weiß nicht, wo sie …‹

Der Rest ging in atmosphärischen Störungen unter.

Moresby brauchte weitere Informationen, aber er wußte, daß er seine Unwissenheit nicht dadurch preisgeben durfte, daß er direkte Fragen stellte. Die Aufforderung, seine Personenkennziffer anzugeben, zeigte deutlich, wie mißtrauisch der andere schon war. Hätte Moresby zögernd oder stockend geantwortet, wäre die Verbindung sofort unterbrochen worden.

Moresby: ›Wissen Sie bestimmt, daß die Atomrakete von den Jets auf Chicago gelenkt worden ist? Kommen.‹

Stimme: ›Ja, Sir, ziemlich sicher. Wir haben eine Relaisstation in Nuevo Leon westlich von Laredo entdeckt. Eine zweite steht in Baja California – eine große Station mit enormer Reichweite. Die Marine hat die Startrampe bei Tienpei geortet. Kommen.‹

Moresby: ›Kennen Sie die Situation in Joliet? Kommen.‹

Stimme: ›Negativ, Sir. Wir haben in letzter Zeit keine Meldungen mehr aus dem Süden bekommen. Wo sind Sie jetzt? Vorsicht bei der Antwort! Kommen.‹

Moresby: ›Ungefähr acht Meilen südlich von Joliet. Vorläufig bin ich in Sicherheit. Ich habe Granatwerferfeuer gehört, ohne die Richtung bestimmen zu können. Wahrscheinlich versuche ich, die Stadt zu erreichen, Sergeant. Kommen.‹

Stimme: ›Sir, wir haben Sie angepeilt und glauben zu wissen, wo Sie sich aufhalten. Dort sind Sie allerdings in Sicherheit. Ihr Signal ist stark. Kommen.‹

Moresby: ›Ich habe hier Anschluß ans Stromnetz, aber ich muß auf Batterie umschalten, wenn ich aufbreche. Kommen.‹

Stimme: ›Richtig, Sir. Falls Joliet nicht erreichbar ist, schlägt mein Chef vor, daß Sie einen Bogen nach Nordwesten machen und sich zu uns durchschlagen. Wir liegen westlich der Marineausbildungsstelle, aber Sie würden bereits vorher auf unsere Posten stoßen. Nehmen Sie sich vor den Jets in acht, Sir. Sie sind schwer bewaffnet und greifen sofort an. Kommen.‹

Moresby: ›Danke, Sergeant. Vielleicht komme ich zu Ihnen. Ende.‹

Moresby schaltete das Funkgerät aus und klemmte die Antenne ab. Das Tonbandgerät wurde abgestellt und blieb auf der Werkbank stehen. Er studierte nochmals die Karte und betrachtete nachdenklich die beiden Straßen, die nach Joliet hineinführten. Aber der Feind würde sie sofort sperren, sobald seine Patrouillen weit genug nach Süden vorgedrungen waren. Außerdem war es zu gefährlich, ein Auto zu benutzen; große bewegliche Ziele wurden schneller erfaßt als ein einzelner Mann.

Ein letzter Blick in den Lagerraum zeigte ihm nichts mehr, was er voraussichtlich brauchen würde. Moresby trank noch eine Büchse Wasser und verließ dann den Schutzraum. Der Korridor lag still, hell und staubig unter den wachsamen Augen der Fernsehkameras. Moresby hielt sich an seine Befehle und versuchte nicht einmal, eine der Türen zu öffnen. Er stieg die Treppe zum Ausgang hinauf. Die Warntafel, die bisher die Mitnahme von Waffen verboten hatte, war schwarz übermalt worden. Er hätte sie diesmal ohnehin ignoriert.

Moresby sah auf seine Uhr, bevor er die beiden Schlüssel in das Doppelschloß steckte. Als er die Tür öffnete, ertönte unter ihm ein Klingelzeichen.

Draußen war es taghell. Es war zehn vor fünf Uhr morgens. Auf dem Parkplatz standen keine Autos.

Moresby wußte, daß er einen Fehler gemacht hatte.

 

Die ersten Geräusche, die er hörte, waren das dumpfe Dröhnen eines Granatwerfers im Nordwesten und Gewehrfeuer in der Nähe – irgendwo am Osttor. Moresby knallte die Tür hinter sich zu und warf sich zu Boden. Daß ganz in seiner Nähe gekämpft wurde, war ein Schock. Er hielt das Gewehr schußbereit, während er zur Ecke des Laborgebäudes kroch.

Zwischen dem Stahlbetonklotz und dem nächsten Gebäude bewegte sich nichts. Aber der Gefechtslärm wurde lauter, als Moresby um die Ecke kroch.

Stürmischer Wind pfiff über das Laborgebäude hinweg, trieb Papierfetzen und Abfälle über die Straße und rauschte in den Bäumen. Der Wind schien von überallher zu kommen, wehte jedoch nach Nordosten. Moresby starrte in diese Richtung und erkannte, was die orangerote Glut am Horizont bedeutete: Dort brannte Chicago, und die unermeßliche Feuersbrunst sog aus allen Himmelsrichtungen Luft an, die sie brauchte, um Beton zu verbrennen, Glas zu schmelzen und Stahl zu verflüssigen.

Moresby beobachtete die Straße und den Parkplatz, bevor er plötzlich aufsprang und mit einigen riesigen Sätzen den Schutz des nächsten Gebäudes erreichte. Niemand schoß auf ihn. Er kroch weiter. Büsche boten ihm teilweise Deckung. Als er liegenblieb, um Atem zu schöpfen, merkte er, daß er das Funkgerät verloren hatte.

Er machte sich Sorgen wegen des Granatwerferfeuers, das noch immer andauerte.

Der Korporal und seine Männer, die den Zaun an der Nordwestecke zu verteidigen hatten, kämpften wahrscheinlich gegen eine Übermacht an. Der Leutnant hatte gesagt, der Hauptangriff werde in seinem Sektor geführt – offenbar irgendwo am Tor –, so daß er keinen Mann entbehren könne. Das war eine Fehlentscheidung gewesen. Moresby war davon überzeugt, daß der Leutnant die Lage falsch beurteilte. Vom Osttor her waren nur Gewehrschüsse und manchmal eine Schrotflinte zu hören, was zu beweisen schien, daß dort Zivilisten kämpften. Aber diese Granatwerfer im Nordwesten waren eine andere Sache!

Moresby setzte sich wieder in Bewegung. Er behielt seine ursprünglich nordwestliche Richtung bei, nutzte jede Deckung aus und rannte öfters die Straße entlang, um Zeit zu gewinnen. Aber er achtete ständig auf irgendeine Bewegung in seiner Nähe. Moresby war sich darüber im klaren, daß ihm eine wichtige Information fehlte: Er wußte nicht, wer die Jets, die Banditen, waren; er konnte Freund und Feind nicht auseinanderhalten. Aber er nahm sich vor, innerhalb der Station niemandem zu trauen, der keine Uniform trug. Schrotflinten waren Waffen, die für gewöhnlich nur Zivilisten benutzten. Anscheinend war das Ganze ein von Zivilisten angezettelter Aufstand.

Der Granatwerfer schoß wieder. Unmittelbar danach war ein zweiter Knall zu hören. Offenbar standen zwei nebeneinander und schossen fast gleichzeitig. Moresby verfiel in einen Dauerlauf, um nicht außer Atem zu geraten. Er dachte sorgenvoll an das chinesische Eingreifen und an die Rakete mit Atomsprengkopf, die für Chicago bestimmt gewesen war. Wer hatte die Chinesen zu Hilfe gerufen? Wer hatte sich mit ihnen verbündet?

Nach erstaunlich kurzer Zeit kam er an einigen Baracken vorbei und erkannte in einer von ihnen das Gebäude, in dem er einige Wochen lang gelebt hätte – vor über zwanzig Jahren. Es schien jetzt abbruchreif zu sein. Moresby lief auf dem Gehsteig weiter. Der Wind wehte in seine Richtung, überholte ihn und trieb ihn vorwärts. Der Feuerschein am Horizont war noch stärker geworden.

Die Granatwerfer schossen wieder. Moresby fluchte und lief schneller. Er überquerte den Parkplatz hinter einem anderen Gebäude, sah dort einen Wagen stehen und merkte erst jetzt, wie kurzsichtig seine Planung gewesen war. Bis zur Nordwestecke der Station waren es noch etwa zwei Kilometer, für die er fast eine Viertelstunde brauchen würde, weil er nicht den direktesten Weg benutzen konnte.

Moresby blieb enttäuscht stehen, als er das Instrumentenbrett des Wagens sah.

Das olivgrüne Fahrzeug war eckiger und kompakter als die großen Limousinen, die er kannte; trotzdem war der Innenraum nicht kleiner, da es einen Unterflurmotor hatte. Moresby sah keinen Zündschlüssel, sondern nur einen Ein-Aus-Schalter. Für den Wahlhebel des automatischen Getriebes gab es drei Stellungen: P(arken), R(ückwärts), V(orwärts). Zwei Schalter für Scheinwerfer und Scheibenwischer und eine Kontrolleuchte vervollständigten das Instrumentenbrett.

Moresby setzte sich ans Steuer und betätigte den Einschalter. Die Kontrolleuchte flammte kurz auf und erlosch dann wieder. Sonst geschah nichts. Er rüttelte an dem Wahlhebel, der auf P stand, und betätigte nochmals den Schalter. Aber auch diesmal blinkte die Kontrolleuchte nur einmal auf. Moresby fluchte über den störrischen Wagen, riß an dem Hebel, stellte ihn auf V – und wurde in den Sitz gedrückt, als das Fahrzeug vorwärtsschoß. Er klammerte sich verzweifelt am Lenkrad fest und trat mit aller Kraft auf die Bremse. Aber der Wagen prallte erst noch vom Randstein ab, bevor er mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Auch beim Beschleunigen war kein Motorengeräusch zu hören gewesen.

Moresby starrte das Instrumentenbrett an, als ihm klarwurde, daß er in einem Elektroauto saß. Dann nahm er langsam den Fuß von der Bremse und ließ das Fahrzeug anrollen. Diesmal bewegte es sich nur im Schrittempo. Moresby trat auf das Beschleunigungspedal. Der Wagen wurde geräuschlos schneller.

Moresby trat das Gaspedal durch und raste auf der Straße nach Nordwesten. Das Gewehrfeuer am Tor hinter ihm schien schwächer geworden zu sein.

 

Der Lastwagen brannte noch immer. Dicker, öliger Rauch quoll aus dem Wrack und wurde vom Wind davongetrieben.

Major Moresby ließ das Elektroauto fünfzig Meter von dem hohen Maschendrahtzaun entfernt stehen und ging dahinter in Deckung. Granatwerferfeuer hatte ein zweites Loch in den Zaun gerissen, und Moresby sah die Leichen von zwei Angreifern in dieser Bresche liegen. Sie trugen Zivilkleidung – schmutzige Hemden und Jeans – und ein gelbes Band um den linken Oberarm. Moresby kroch auf den Zaun zu, um sich über die Lage zu informieren.

Der Granatwerfer war so nahe, daß er den Abschußknall vor der Detonation hörte. Moresby blieb zusammengekrümmt liegen und wartete. Die Granate schlug irgendwo hinter ihm ein, wo das Gelände leicht anstieg, und wirbelte Erdbrocken und Steine auf. Moresby zog den Kopf ein, als es Steine regnete, und wartete darauf, daß der zweite Granatwerfer schießen würde.

Aber die zweite Granate kam nicht.

Moresby hob langsam den Kopf und beobachtete den Abhang unterhalb des Zauns. Dort gab es nur wenig Deckung, und der Gegner hatte einen hohen Preis für seinen Angriff an dieser ungünstigen Stelle gezahlt: Sieben Gefallene lagen auf dem Geländestreifen zwischen dem Zaun und einigen Baumstümpfen in zweihundert Meter Entfernung. Alle Toten waren gleich gekleidet: Hemden, Jeans und ein gelbes Band am linken Oberarm.

Jets.

Moresby starrte die niedrigen Baumstümpfe an. Der Farmer, dem das Feld zwischen dem Fuß des Abhangs und der in fünfhundert Meter Entfernung vorbeiführenden Eisenbahnlinie gehörte, hatte damit begonnen, sie zu roden und zu einem Haufen aufzutürmen. Der Major betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Wenn er einen Angriff gegen den Zaun geführt hätte, wären die Granatwerfer hinter den Baumstümpfen und hinter dem Holzstapel daneben in Stellung gegangen. Nur dort standen sie einigermaßen gedeckt.

Er hielt sein Gewehr schußbereit, während er den Holzstapel beobachtete. War das nicht eine Bewegung? Ja, dort am rechten Rand wurde ein Arm sichtbar. Moresby zielte, schoß und hörte einen gellenden Schmerzensschrei. Der Bandit hielt sich den Arm mit der anderen Hand, während er aufsprang und in geduckter Haltung zu den Baumstümpfen hinüberhetzte, hinter denen Moresby den anderen Granatwerfer vermutete.

Er bot ein leichtes Ziel. Der Major folgte ihm mit der Mündung seines Gewehrs. Als der Fliehende die Baumstümpfe schon fast erreicht hatte, drückte Moresby ab. Der Mann brach zusammen, stürzte aus vollem Lauf nach vorn und blieb bewegungslos liegen.

Der Abschußknall des Granatwerfers war ein groteskes Echo.

Moresby wartete noch eine halbe Sekunde, bevor er das Gesicht in den Armen vergrub. Er hatte richtig vermutet: Der Granatwerfer stand hinter den Baumstümpfen. Die Granate schlug ein und zerfetzte diesmal Metall, anstatt nur Steine und Erdbrocken aufzuwirbeln. Moresby sah sich um und stellte fest, daß das Elektroauto einen Volltreffer abbekommen hatte. Metallsplitter regneten um ihn herab. Er zog wieder den Kopf ein.

Der Splitterregen hörte auf. Moresby schoß wütend auf die Baumstümpfe, um den Werferschützen einzuschüchtern. Dann wartete er auf einen Schuß aus dem zweiten Granatwerfer. Aber die Granate kam nicht. Moresby hörte nur den Wind und einzelne Schüsse vom Osttor her. Er grinste zufrieden, als er erkannte, daß der zweite Granatwerfer offenbar ausgefallen war. Er richtete sich auf und schoß kniend auf die Baumstümpfe. Obwohl er ein gutes Ziel bot, wurde sein Feuer nicht erwidert. Er hatte also nur einen Granatwerfer gegen sich einen Werfer, hinter dem ein Zivilist hockte. Ein gottverdammter, ahnungsloser Zivilist!

Moresby suchte das Gelände hinter dem Zaun nach den Verteidigern ab, nach dem Korporal und seinen Leuten, von denen er vorhin über Funk gehört hatte. Sie hätten ihn unterstützen müssen, als er das Feuer auf die Banditen, eröffnete. Er entdeckte drei von ihnen an der Innenseite des Zauns in der Nähe des brennenden Lastwagens, aber sie konnten nicht mehr schießen. Der Stahlhelm eines vierten Mannes lag zwölf oder fünfzehn Meter von Moresby entfernt auf der zerwühlten Erde. Er wurde auf eine schwache Bewegung in einem Granattrichter aufmerksam und fand dort den einzigen Überlebenden. Ein blasses, schmutziges Gesicht sah aus dem Loch zu ihm auf.

Moresby kroch über den Trichterrand und ließ sich zu dem Soldaten hineinfallen.

Der Mann trug Korporalsstreifen auf dem linken Arm und hielt den Tragriemen eines Funkgeräts in kraftlosen Fingern; der andere Arm und das Gerät fehlten, waren von einer detonierenden Granate abgerissen worden. Der Verwundete bewegte sich nicht, als Moresby neben ihm erschien. Er starrte hilflos die Stelle an, wo eben noch Moresbys Gesicht gewesen war. Der Major streifte den Rucksack ab und gab dem Korporal aus seiner Feldflasche zu trinken. Etwas Wasser blieb im Mund des Verwundeten zurück, aber das meiste lief über sein Kinn und wäre versickert, wenn Moresby es nicht aufgefangen und über das Gesicht des anderen verteilt hätte. Er versuchte, dem Mann wenigstens einen Schluck Wasser einzuflößen.

Der Korporal schüttelte schwach den Kopf. Moresby setzte die Feldflasche ab, weil er erkannte, daß der andere nicht schlucken konnte. Statt dessen goß er sich Wasser in die hohle Hand und wusch damit das staubige Gesicht des Verwundeten. Der Korporal schloß dankbar die Augen. Er hatte noch keinen Laut von sich gegeben, und Moresby wußte, daß es zwecklos war, auf ihn einzureden.

Moresby richtete sich auf und spähte über den Rand des Granattrichters. Hinter den Baumstümpfen war deutlich ein Fuß bis zum Knöchel zu erkennen. Moresby hob langsam sein Gewehr, zielte bedächtig und schoß in den Knöchel. Er hörte einen lauten Schmerzensschrei und Flüche, die ihm galten. Das Ziel verschwand. Moresby betrachtete den Stahlhelm außerhalb des Granattrichters. Er wußte, daß es besser war, die Stellung bald zu wechseln – er mußte sie wechseln, bevor der Granatwerfer sich auf ihn einschießen konnte.

Er schoß nochmals auf die Baumstümpfe, damit der Werferschütze den Kopf unten behielt. Dann spurtete er zu der Bresche im Zaun, wo die beiden toten Angreifer lagen. Dort warf er sich zu Boden, schoß wieder und kroch zu dem ersten Gefallenen, dessen Körper ihm als Deckung dienen konnte. Der Wind pfiff durch die Maschen des Drahtzauns.

Moresby streckte die Hand aus, riß das gelbe Armband des Banditen ab und untersuchte es.

Er hielt einen ungesäumten Stoffstreifen in der Hand, auf den mit Tusche ein großes schwarzes Kreuz gemalt worden war. Das war das einzige Erkennungszeichen: ein schwarzes Kreuz auf gelbem Grund. Moresby überlegte angestrengt, welche Organisation dieses Zeichen benutzte. Und er machte sich Gedanken über den eigenartigen Namen der Angreifer. Warum hießen sie Jets?

Zwecklos. Weder das Zeichen noch der Name waren vor Moresbys Start, vor 1978, bekannt gewesen.

Der Major drehte den Toten auf den Rücken, um sein Gesicht sehen zu können, und schrak zusammen. Auf dem schwarzen, blutverschmierten Gesicht zeichnete sich noch der Todeskampf ab. Dieser Mann war nicht lautlos und augenblicklich gestorben. Er und sein Kamerad hatten versucht, den Zaun zu stürmen, waren von Kugeln durchsiebt worden und hatten hier hilflos gelegen, bis sie verblutet waren.

Major Moresby war den Anblick gefallener Soldaten gewöhnt und erschrak nicht über die Tatsache, daß dieser Mann so elend gestorben war. Aber als er zu dem anderen Toten hinübersah, durchzuckte ihn ein eisiger Schreck. Er wußte plötzlich, was das schwarze Kreuz auf gelbem Grund bedeutete, obwohl er es nie zuvor gesehen hatte. Dieses Abzeichen trugen Aufständische, trugen Rebellen, die mit chinesischer Unterstützung kämpften.

Die Jets waren schwarze Guerillas.

Der Granatwerfer feuerte wieder. Major Moresby duckte sich hinter der Leiche. Er wartete ungeduldig darauf, daß die Granate irgendwo hinter ihm einschlagen würde. Dann wollte er diesen Banditen erledigen!

Es war 6.20 am Morgen des 4. Juli 1999. Die Sonne stand als leuchtende Kugel über dem Dunst am Horizont.

Ein schwarzer Werferschütze mit zerschossenem Knöchel sah vorsichtig hinter einem Baumstumpf hervor und stellte fest, daß er Sieger geblieben war.