Brian Chaney wachte mit dem Schuldbewußtsein auf, wieder zu lange geschlafen zu haben. Das würde ihm der Major nie verzeihen.
Er saß auf der Bettkante, lauschte angestrengt auf die gewohnten Geräusche innerhalb des Gebäudes und hörte diesmal keine. In der ganzen Station schien es ungewöhnlich ruhig zu sein. Chaney stand auf, öffnete die Tür und horchte in den Korridor hinaus. Er sah niemanden, aber die Geräusche aus den gegenüberliegenden Zimmern ließen ihn aufatmen. In einem zog jemand Schubladen auf und knallte sie wieder zu, als könne er etwas nicht finden; im nächsten schnarchte jemand laut. Chaney griff nach einem Handtuch und seinem Rasierzeug, um in den Duschraum zu gehen. Das Schnarchen war bis dorthin zu hören.
Das kalte Wasser war kalt, aber das warme war nur wenige Grade wärmer. Chaney kam aus der Duschkabine, stellte sich vor den Spiegel und verteilte Rasierschaum auf seinem Gesicht.
»Halt!« Arthur Saltus erschien mit hocherhobenem Finger auf der Schwelle. »Weg mit dem Rasierapparat, Zivilist!«
Chaney ließ den Rasierer verblüfft in das lauwarme Wasser fallen. »Guten Morgen, Kapitän.« Er holte den Apparat wieder aus dem Wasser und begann sich zu rasieren. »Warum?«
»Heute nacht ist ein Geheimbefehl gekommen«, behauptete Saltus. »In der Zukunft tragen alle Männer Bärte wie Abe Lincoln. Wir müssen uns anpassen.«
»Nudisten mit struppigen Bärten«, murmelte Chaney. »Ein sehenswerter Anblick.« Er rasierte sich weiter.
Saltus streckte eine Hand unter die Dusche und öffnete den Wasserhahn. Er hatte nichts anderes erwartet. »Das kenne ich aus meiner Rekrutenzeit«, erklärte er Chaney. »Für jede Baracke sind fünfzig Liter heißes Wasser da. Der erste Mann verbraucht sie alle.«
»War das hier eigentlich schon immer eine militärische Anlage?« wollte Chaney wissen.
»Nein, jedenfalls nicht von Anfang an. Das habe ich gleich gemerkt. Katrina hat mir erzählt, daß hier 1941 eine Munitionsfabrik gebaut wurde.« Er trat unter die Dusche. »Das war vor … vor siebenunddreißig Jahren, was? Die Zeit fliegt, und die Mäuse waren an der Arbeit.«
»Aber das andere Gebäude ist neu.«
»Das Laboratorium ist sogar brandneu. Es ist für diese laute Maschine gebaut worden und soll ewig halten. Überall Stahlbeton, zwei Kellergeschosse und so weiter. Unser Fahrzeug ist irgendwo dort unten versteckt und transportiert Affen hin und her.«
»Ich möchte das verdammte Ding endlich einmal sehen!« sagte Chaney.
»Dann sind wir schon zu zweit, Zivilist. Oder zu dritt, wenn wir den Major mitzählen.« Saltus streckte den Kopf aus der Duschkabine und flüsterte laut: »Aber ich habe bereits alles herausbekommen!«
»Wirklich? Was denn?«
»Versprechen Sie mir, daß Sie Katrina nichts davon erzählen? Sie sagen auch dem Mann im Weißen Haus nicht, daß ich gegen die Sicherheitsbestimmungen verstoßen habe?«
»Ehrenwort.«
»Okay. Das Ganze ist nur ein Trick, mit dem wir uns einen Vorsprung verschaffen wollen. Katrina hat uns in die Irre geführt. Wir reisen nicht in die Zukunft – wir reisen weit in die Vergangenheit zurück!«
»Zurück? Warum?«
»Wir reisen zweitausend Jahre weit zurück, Zivilist, um uns Ihre Schriftrollen zu schnappen. Wir kommen nachts an, schleichen uns in die Höhle, in der sie liegen, und fotografieren sie. Deshalb benutzen wir Kameras. Und Sie sprechen inzwischen nähere Angaben über den Fundort auf Tonband. Vielleicht können Sie auch die Titel einiger Rollen ablesen, damit wir wissen, ob wir etwas Wichtiges gefunden haben.«
»Aber sie haben selten Titel.«
»Warum nicht?« fragte Saltus erstaunt.
»Titel waren damals noch nicht wichtig.«
»Okay, macht nichts. Wir fotografieren einfach alles, was wir in die Finger bekommen, und sortieren es dann später. Und sobald wir alles aufgenommen haben, legen wir es zurück und verschwinden.« Saltus nickte zufrieden und trat wieder unter die Dusche.
»Ist das alles?«
»Das genügt uns – wir sind der ganzen Welt voraus! Und viel, viel später entdeckt ein Schäfer die Rollen auf gewöhnliche Weise. Aber wir wissen natürlich längst, was auf ihnen steht.«
Chaney trocknete sich das Gesicht ab. »Wie kommen wir in das Palästina zu Beginn unserer Zeitrechnung? Müssen wir den Atlantik in einem Kanu überqueren?«
»Nein, nein, wir reisen nicht gleich in die Vergangenheit, Zivilist – nicht hier in Illinois. Wenn wir das täten, müßten wir uns den Weg durch Indianergebiet freikämpfen! Die Sache funktioniert anders: Das Amt für Normung schickt unser Fahrzeug nach drüben, sobald die Erprobung in einigen Wochen beendet ist. Es wird in eine Kiste mit der Aufschrift ›Landmaschinen‹ oder dergleichen verpackt und ins Land geschmuggelt, wie es andere Leute auch tun. Wie haben die Ägypter Ihrer Meinung nach ihre Minibombe nach Israel gebracht? Indem sie sie als Postpaket aufgegeben haben.«
»Phantastisch!« sagte Chaney.
Saltus streckte den Kopf aus der Duschkabine. »Wollen Sie eklig sein, Zivilist?«
»Ich bin nur skeptisch, Seebär.«
»Spielverderber!«
»Warum sollten wir die Schriftrollen fotografieren wollen?«
»Um die ersten zu sein.«
»Wozu das?«
Saltus kam wieder unter der Dusche hervor. »Nun … wir wollen eben die ersten sein. Wir sind am liebsten überall die ersten. Wo bleibt Ihr Patriotismus, Zivilist?«
»Ich trage ihn in der Hosentasche bei mir. Wie fotografieren wir die Schriftrollen in einer finsteren Höhle?«
»Dafür bin ich zuständig! Wir nehmen alles mit Infrarot auf, versteht sich. Machen Sie sich wegen der Technik keine Sorgen, Mister. Ich war früher Fotograf, wissen Sie.«
»Das habe ich nicht gewußt.«
»Ich habe als Kameramann angefangen. Erinnern Sie sich noch an die Gemini-Flüge vor dreizehn oder vierzehn Jahren?«
»Ja.«
»Ich war als Fotograf auf dem Flugzeugträger, als die Flüge begannen. Das war 1964. Und 1966, als das Gemini-Programm abgeschlossen wurde, bin ich schon mit dem Hubschrauber zur Kapsel hinausgeflogen.« Saltus zuckte mit den Schultern. »Aber was habe ich jetzt davon? Ich sitze hinter einem Schreibtisch!« Er machte ein unzufriedenes Gesicht.
»Ich habe etwas dazugelernt«, stellte Chaney fest.
»Was denn?«
»Warum Sie und ich hier sind. Ich untersuche die Struktur der Zukunft; Sie werden sie filmen. Welches Spezialgebiet hat der Major?«
»Luftaufklärung. Ich dachte, das wüßten Sie.«
»Nein, das ist mir neu. Spionage?«
»Nein, nein – der gute alte William ist auf Befragung und Auswertung spezialisiert. Er weist die Piloten in ihre Ziele ein, bevor sie losfliegen, und erklärt ihnen, wie sie getarnt sind und verteidigt werden. Und nach ihrer Rückkehr quetscht er sie aus, um zu erfahren, was sie gesehen haben, was sich verändert hat, wo neue Feuerstellungen errichtet worden sind und was sie sonst beobachtet haben.«
»Luftaufklärung«, murmelte Chaney vor sich hin. »Ein heller Kopf?«
»Darauf können Sie Ihren letzten Steuerdollar setzen, Zivilist. Erinnern Sie sich an die Landkarten, die Katrina uns gestern gezeigt hat?«
»Ich vergesse sie bestimmt nicht so schnell. Streng geheim!«
»Für den Major gilt das wörtlich: Er hat sie sich eingeprägt. Mister, wenn Sie ihm heute eine andere Karte zeigen, auf der irgendeine Kleinstadt in Illinois im Vergleich zu gestern einen halben Zentimeter weit verschoben ist, deutet der alte William auf diese Stadt und sagt: ›Gestern hat sie noch hier gelegen.‹ So gut ist er!« Saltus grinste unbekümmert. »Vor ihm kann der Feind keinen Wassertank, keine Raketenstellung und keinen Munitionsbunker verstecken – nicht vor dem alten William.«
Chaney nickte verwundert. »Merken Sie, was für ein erstaunliches Team dieser geheimnisvolle Mr. Seabrooke zusammengestellt hat? Ich wollte, ich wüßte, was uns seiner Meinung nach in Zukunft erwartet …«
Arthur Saltus verließ sein Zimmer, überquerte den Flur und blieb vor Chaneys Tür stehen. Er trug leichte Sommerkleidung.
»He, was ich Sie noch fragen wollte – wie gefällt Ihnen unsere Katrina?«
»Sie ist hübsch und intelligent«, antwortete Chaney ausweichend. Er zeigte auf die geschlossene Tür, hinter der Moresby schnarchte. »Sollen wir ihn wecken?«
»Nein! Er ist ein richtiger Brummbär, wenn er zu früh aus seiner Höhle geholt wird – und er frühstückt nie. Angeblich denkt und kämpft er am besten mit leerem Magen.«
»Der reinste Spartaner«, murmelte Chaney ironisch.
»Schon gut! Kommen Sie, wir gehen zum Frühstück.«
Sie verließen das Gebäude und marschierten auf dem betonierten Gehsteig in Richtung Kantine. Ein Jeep und eine olivgrüne Limousine fuhren an ihnen vorbei. In einiger Entfernung standen Dutzende von Wagen auf dem Parkplatz vor der Kantine. Sie waren die einzigen Fußgänger.
»Heute müßte man schwimmen«, meinte Chaney. »Gibt es hier irgendwo einen Swimming-pool?«
»Es muß wohl einen geben – Katrina hat ihre prächtige Sonnenbräune nicht nur einer Höhensonne zu verdanken. Er liegt drüben an der E Street beim Offiziersklub, glaube ich. Gehen wir heute nachmittag hin?«
»Wenn sie uns läßt. Vielleicht müssen wir lernen.«
»Davon habe ich schon die Nase voll! Mich interessiert es überhaupt nicht, wie viele Wähler mit Plastikmägen in zwanzig Jahren in Chicago leben werden. Mister, wie können Sie sich jahrelang mit solchen Zahlenspielen befassen?«
»Sie faszinieren mich – Zahlen und Menschen. Die Erleichterung, die ein Plastikmagen mit sich bringt, kann einen Wähler veranlassen, der aktiven Partei A den Rücken zu kehren und sich der konservativen Partei B anzuschließen; seine Stimme kann ein Wahlergebnis beeinflussen, und die konservativen Gewählten schieben unter Umständen die Lösung eines Problems hinaus, das schon gestern dringend war. Die Großen Seen sind nur deshalb zu einem Problem geworden.«
»Zu einem Problem?« fragte Saltus erstaunt.
»Die Seen haben den bisher höchsten Wasserstand erreicht und überfluten fünfzehntausend Kilometer Ufer«, erklärte Chaney ihm. »Seit achtzig Jahren fällt im Einzugsbereich der Großen Seen ständig mehr Regen, und der hohe Wasserstand verursacht Schäden. Die Leute haben sich daran gewöhnt, daß gelegentlich ein Sommerhaus im See versinkt – aber bald wird noch mehr hineinfallen. Strände verschwinden, und das tiefliegende Land versumpft. Das sind traurige Aussichten.«
»Wenn wir nach Chicago kommen, müssen wir nachsehen, ob die Michigan Avenue schon versunken ist!«
»Das ist kein Scherz. Vielleicht ist sie wirklich unter Wasser.«
»Verhängnis, Untergang und Verderben!« rief Saltus aus. »In allen Büchern und Zahlenreihen wird immer nur der bevorstehende Untergang verkündet.«
»Ich habe erst ein Buch veröffentlicht. Darin war nicht von einem Untergang die Rede.«
»William hat es als Blödsinn bezeichnet. Ich habe es nicht gelesen – ich bin keine Leseratte, Mister –, aber ihm hat es anscheinend wirklich nicht gefallen. Und Katrina hat gesagt, die Zeitungen hätten Sie kritisiert.«
»Sie haben über mich geredet«, stellte Chaney fest. »Übles Geschwätz!«
»Erinnern Sie sich noch, daß Sie zwei oder drei Tage zu spät angekommen sind? Wir mußten über irgend etwas reden, deshalb haben wir über Sie gesprochen – aus Neugier, weil Sie der einzige Zivilist in einem militärischen Team sein sollten.
Katrina wußte alles über Sie; sie muß Ihre Personalakte gut studiert haben. Sie hat gesagt, Sie hätten mit allen Schwierigkeiten: mit Ihrer Firma, mit Kritikern, Gelehrten, Kirchen und … einfach mit allen.« Saltus beobachtete ihn aus dem Augenwinkel heraus. »Der alte William hat behauptet, Sie legten es darauf an, die Fundamente des Christentums zu zerstören. Folglich müssen Sie irgend etwas getan haben, Mister. Haben Sie die Fundamente angeknabbert?«
»Ich habe zwei Schriftrollen ins Englische übersetzt und sie veröffentlicht«, antwortete Chaney resigniert. »Diese Mühe hätte ich mir allerdings sparen können – oder ich hätte bei irgendwelchen interessanten Ausgrabungen mithelfen sollen. Bestenfalls zehn Prozent der Leser haben mein Buch langsam und sorgfältig genug gelesen, um zu begreifen, was es bedeutet. Die übrigen neunzig Prozent haben schon Krach geschlagen, bevor sie die Hälfte gelesen hatten.«
Saltus nickte grinsend. »William hat Krach geschlagen, und Katrina war offenbar leicht schockiert, aber Gilbert Seabrooke muß es langsam gelesen haben. Katrina hat uns erzählt, daß er Sie in Schutz genommen hat. Ich habe es nicht gelesen und werde voraussichtlich gar nicht erst damit anfangen. Was bin ich also?«
»Ein ehrlicher Neutraler, der in Gefahr ist, eingeschüchtert zu werden.«
»Okay, Sie können ja versuchen, mich einzuschüchtern, Mister!«
»Ich möchte nicht, daß Sie wie die anderen auf mich einreden, Kapitän, deshalb muß ich Ihnen zuerst ein Wort erklären: Midrasch.«
»Und was bedeutet es?«
»Es ist ein hebräisches Wort, das Fiktion, religiöse Fiktion, bedeutet. Sie können es mit allen möglichen modernen Kategorien vergleichen – geschichtlichen Romanen, Kriminalstories, Science-fiction. Die alten Hebräer hatten eine Vorliebe für Midrasch; sie haben für ihre Geschichten biblische Ereignisse und Personen verwendet. Alle Gelehrten sind sich darüber einig, aber die Öffentlichkeit weiß anscheinend nichts davon. Die Leser glauben offenbar, daß alles, was vor zweitausend Jahren geschrieben worden ist, von irgendeinem Heiligen stammen muß.«
»Wahrscheinlich hat es ihnen niemand erzählt«, warf Saltus ein. »Haben Sie ihnen das Wort Midrasch erklärt?«
»Natürlich! Ich habe zwölf Seiten der Einführung darauf verwendet, den Begriff zu erklären!«
»Ah, das war Ihr großer Fehler, Zivilist!« rief Saltus aus. »Wer hat schon Lust, zwölf Seiten lang am Knochen zu knabbern, um endlich ans Mark zu kommen?« Er sah Chaneys Gesichtsausdruck und fügte rasch hinzu: »Entschuldigen Sie, Mister. Ich bin kein großer Leser – und die anderen waren es wohl auch nicht.«
»Sind Sie bibelfest?« fragte Chaney ihn plötzlich. »Kennen Sie die Offenbarung des Johannes?«
»Ich lese nicht viel, Zivilist.«
»Die erste Schriftrolle war das Original dieser Offenbarung – sie ist mindestens hundert Jahre älter als das im Neuen Testament enthaltene Buch. Und die Geschichte ist als Midrasch wiedergegeben. Deshalb ist Major Moresby wütend auf mich. Er und seinesgleichen wollen nicht, daß das Buch hundert Jahre älter ist, als bisher angenommen wurde; sie wollen es nicht als Fiktion sehen. Sie wollen sich nicht damit abfinden, daß diese Story von einem Priester geschrieben worden ist, der das Volk damit unterhalten oder inspirieren wollte. Major Moresby will nicht zugeben, daß es sich um Midrasch handelt.«
Saltus nickte. »Bestimmt nicht! Er nimmt das alles todernst, Mister! Er glaubt an diese Prophezeiungen.«
»Ich nicht«, antwortete Chaney. »Ich bin skeptisch, aber ich lasse anderen Leuten ihren Glauben. Ich habe nicht versucht, ihn zu untergraben; ich habe keine eigene Meinung geäußert. Aber ich habe nachgewiesen, daß die Offenbarung des Johannes eine spätere Kopie dieser Schriftrolle ist, die zudem verändert wurde. Die beiden Versionen passen nicht genau zusammen; die Nahtstellen sind zu erkennen. Der Verfasser der zweiten Version hat einige Abschnitte ausgelassen und sie durch neue ersetzt, die seiner Zeit mehr entsprachen. Kurz gesagt – er hat die Geschichte modernisiert. Aber er ist ohne großes Sprachgefühl ans Werk gegangen, so daß die Nahtstellen deutlich zu sehen sind.«
»Und der alte William ist explodiert«, stellte Saltus fest. »Er hat Ihnen die Schuld an allem gegeben.«
»Das haben fast alle getan. Sie hätten die Zeitungskritiken lesen sollen! Und erst die Kommentare meiner lieben Kollegen …« Chaney winkte resigniert ab. »Wenn ich wieder Urlaub mache, beschränke ich mich auf irgend etwas Harmloses. Vielleicht grabe ich in der Wüste Negev eine zehntausend Jahre alte Stadt aus oder entdecke Atlantis.«
Sie gingen einige Zeit schweigend nebeneinander her. Ein Wagen fuhr an ihnen vorbei zur Kantine.
»Eine persönliche Frage, Korvettenkapitän?« erkundigte Chaney sich.
»Nur zu, Mister!«
»Wie haben Sie es geschafft, diesen Dienstgrad in Ihrem Alter zu erreichen?«
Saltus lachte. »Sie waren nicht beim Militär?«
»Nein.«
»Das liegt an unserem verdammten Krieg, den manche Leute schon als unseren Dreißigjährigen Krieg bezeichnen. In Kriegszeiten wird man schneller befördert – und man kommt schneller voran, wenn man in der Etappe kämpft. Als der Vietnamkrieg fünf Jahre lang gedauert hatte, begann meine Karriere. Als er zehn Jahre alt war, bin ich noch schneller befördert worden. Und als er schon fünfzehn Jahre andauerte – nachdem dieser Waffenstillstand sich als Bluff erwiesen hatte –, war ich der reinste Senkrechtstarter.« Er nickte nachdenklich. »Wir haben viele Männer und Schiffe verloren, als die Chinesen auf uns zu schießen begannen.«
»Ja, ich weiß«, stimmte Chaney zu. »In Israel schreiben die Zeitungen hauptsächlich über den Existenzkampf ihres Landes, aber solche Meldungen werden natürlich auch veröffentlicht.«
»Bisher hat die Öffentlichkeit nur Gerüchte gehört«, stellte Saltus fest. »Washington hält die Verlustziffern noch geheim – aber wenn sie eines Tages bekanntgegeben werden, können Sie sich auf einen Schock gefaßt machen. In einem Krieg ohne Kriegserklärung dringt vieles nicht an die Öffentlichkeit.« Er warf Chaney einen prüfenden Blick zu. »Erinnern Sie sich noch an die Hafenstadt südlich von Saigon, die von einer chinesischen Rakete zerstört wurde?«
»Natürlich!«
»Unsere Seite hat sich dafür revanchiert, Mister, und die Chinesen haben in der gleichen Woche zwei Eisenbahnknotenpunkte verloren. Dort sind jetzt nur riesige Krater zu sehen, und das fruchtbare Land ist in weitem Umkreis radioaktiv verseucht. Ihre Rakete hatte nur einen gewöhnlichen Atomsprengkopf, aber wir haben mit Wasserstoffbomben angegriffen. Behalten Sie das bitte für sich, bis Sie es in der Zeitung lesen – falls es je dazu kommt.«
Chaney starrte ihn besorgt an. »Was haben die Chinesen getan, um sich dafür zu rächen?«
»Nichts – noch nichts. Aber das kommt noch, Mister, das kommt noch! Sobald sie glauben, daß wir schlafen, fallen sie über uns her.«
Chaney nickte langsam. »Sie waren wohl ziemlich lange im Südchinesischen Meer?«
»Allerdings!« bestätigte Saltus. »Im letzten Jahr war ich zweimal auf Schiffen, die von chinesischen U-Booten angegriffen und versenkt wurden. Zweimal, Mister! Die Gelben verstehen ihr Handwerk, kann ich Ihnen sagen!«
»Welchem Dienstgrad entspricht der Korvettenkapitän?«
»Einem Major. Der alte William und ich sind sozusagen gleichwertig. Aber das braucht Sie nicht zu beeindrucken. Ohne diesen Krieg wäre ich wahrscheinlich erst Leutnant zur See.«
Sie gingen schweigend nebeneinander her bis zur Kantine. Chaney dachte an die endlosen Untersuchungen des zukünftigen chinesischen Militärpotentials, die das Pentagon in Auftrag gegeben hatte. Saltus schien einen Teil seiner Vorausberechnungen bestätigt zu haben.
Chaney blieb mit dem Frühstückstablett in den Händen stehen und sah sich suchend um.
»He, dort sitzt Katrina!« sagte Saltus laut.
»Wo?«
»An dem großen Fenster.«
»Ich gehöre nicht zu den Leuten, die auf eine Einladung warten.«
»Weiter, nur weiter, ich bin gleich hinter Ihnen!«
Chaney stellte fest, daß er seinen Kaffee verschüttet hatte, als er Katrinas Tisch erreichte. Er war zu schnell gegangen – und trotzdem zu langsam gewesen.
Arthur Saltus kam ihm zuvor. Er setzte sich prompt neben die junge Frau und stellte sein Tablett vor sich auf den Tisch. Dann starrte er Katrina an, grinste zufrieden und wandte sich an Chaney. »Ist sie heute morgen nicht bezaubernd? Na, was sagt der Dichter zu diesem Anblick? Was würde Freund Shakespeare sagen?«
»Schön, gut und wahr in lieblicher Verbindung – in dieses Dreiklangs einigem Zauberkreise erschöpft sich alle Weisheit und Erfindung«, antwortete Chaney sofort.
»Hört! Hört!« Saltus klatschte Beifall und sah dann herausfordernd zu den anderen Gästen hinüber, die sich nach ihm umgedreht hatten. »Neugierige Bauernlümmel!« flüsterte er laut.
Kathryn van Hise war sichtlich um. Fassung bemüht. »Guten Morgen, Gentlemen. Wo ist der Major?«
»Er schnarcht«, antwortete Arthur Saltus. »Wir haben uns fortgeschlichen, um allein mit Ihnen frühstücken zu können.«
»Und mit diesen hundert anderen Leuten«, fügte Chaney hinzu. »Das ist romantisch!«
»Die Bauernlümmel sind nicht romantisch«, widersprach Saltus. Er sah sich trübselig um. »He, Mister, wir könnten doch mit ihnen üben?« schlug er dann vor. »Warum stellen wir nicht fest, wie viele von ihnen Republikaner sind, die Spiegeleier essen?« Er schnalzte mit den Fingern. »Oder noch besser – wir stellen fest, wie viele republikanische Mägen durch diese Spiegeleier aus der Kantine ruiniert worden sind!«
Katrina hob warnend die Hand. »Seien Sie bitte vorsichtig, wenn Sie sich in der Öffentlichkeit unterhalten. Bestimmte Themen sind nur für den Besprechungsraum geeignet.«
»Ah, da fällt mir etwas ein!« behauptete Chaney. »Heute nacht war ich heimlich im Besprechungsraum, während Sie alle geschlafen haben.« Er wandte sich an die junge Frau. »Ich kenne Ihr Geheimnis. Ich kenne eines der Ausweichziele.«
»Wirklich, Mr. Chaney?«
»Allerdings, Miss van Hise. Ich habe den Raum gründlich durchsucht und unter dem roten Telefon eine geheime Karte entdeckt. Das Ausweichziel ist das Kloster, in dem diese peinlichen Schriftrollen ursprünglich aufbewahrt wurden. Wir sollen sie vernichten.« Er lehnte sich zufrieden grinsend zurück.
Die junge Frau warf ihm einen prüfenden Blick zu. Chaney wurde es unbehaglich zumute.
»Sie haben beinahe recht, Mr. Chaney«, antwortete sie dann so leise, daß ihre Stimme an den Nebentischen nicht zu hören war. »Eines der Ausweichziele liegt in Palästina, und Sie sind auch wegen Ihrer Ortskenntnis in das Team aufgenommen worden.«
Chaney zuckte zusammen. »Ich will nichts mit den Schriftrollen zu tun haben. Ich rühre sie nicht einmal an!«
»Das ist auch nicht nötig. Unser Ausweichziel liegt anderswo.«
»Wo denn?«
»Es ist uns noch nicht gelungen, Ort und Zeit genau festzulegen, aber Mr. Seabrooke hält es für eine lohnende Alternative. Es wird im Augenblick untersucht.« Sie zögerte und betrachtete das Tischtuch. »Das Ausweichziel ist allgemein unter dem Namen ›Schädelstätte‹ bekannt.«
Chaney stieß einen leisen Pfiff aus.
Arthur Saltus starrte ihn an. »Chaney, was …« Er sah zu Katrina hinüber, bevor er sich wieder an Chaney wandte. »He, ich möchte auch wissen, was das heißt!«
»Seabrooke hat sich für ein ungewöhnliches Ausweichziel entschieden«, erklärte Chaney ihm. »Falls wir nicht die Zukunft untersuchen können, soll unser Team in die Vergangenheit reisen und die Kreuzigung filmen.«