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Jenna und Mary waren schweigend dem Gang weiter gefolgt, als sie plötzlich vor sich ein Keuchen hörten. Beide blieben erschrocken stehen und lauschten.

Dann stürmte Jenna los: »Das ist Jeb!«

Vor ihr machte der Gang eine Biegung. Als sie um die Ecke rannte, sah sie Jeb, der schwer atmend an der Wand lehnte.

Sein Gesicht war ausgemergelt und bleich. Haarsträhnen klebten an seiner verschwitzten Stirn. In den Knien eingeknickt, beide Hände in die Seiten gepresst, atmete er tief ein und aus. Er blickte auf, als er Schritte hörte, und seine Lippen zogen sich zu einem Lächeln nach oben.

»Jenna«, sagte er leise.

Er versuchte, sich aufzurichten. Jenna warf sich einfach in seine Arme. Ihre Lippen bedeckten seine Stirn, die Wangen und den Mund mit Küssen und immer wieder flüsterte sie seinen Namen. Jeb erwiderte ihre Umarmung, aber er konnte Jennas Ansturm nicht standhalten.

»Was ist mit dir? Bist du verletzt?« Angst breitete sich in Jennas Brust aus.

»Nein«, sagte er kaum hörbar.

»Freust du dich nicht, mich wiederzusehen?«

Er grinste sein schiefes Grinsen. »Mehr als du dir vorstellen kannst. Jenna, ich …« Er musste wieder keuchend Luft holen. »… ich habe Platzangst. Seit ich hier aufgetaucht bin, fällt mir das Atmen schwer. Meine Muskeln sind verkrampft, sodass ich kaum stehen kann. Ich kann nicht … mehr. Jenna, ich muss hier raus. Sofort.«

Ihre Hand schob sich unter seinen Arm, sie wollte ihn stützen, obwohl sie wusste, dass er viel zu schwer war und sie ihn im Ernstfall nicht halten könnte.

Inzwischen war auch Mary bei ihnen angekommen, offenbar hatte sie die letzten Sätze mitgehört. »Wir bringen dich hier raus, Jeb. Wir finden die Tore.«

Jenna wunderte sich über die Kraft, die in diesen Worten steckte. Auch wenn Mary nichts für sich selbst erhoffte, so war sie doch bereit, anderen zu helfen. Jenna sah sie dankbar an.

»Mary«, raunte Jeb. »Schön, dich zu sehen. León und Mischa?«

Beide Mädchen schüttelten den Kopf. »Wir haben sie nicht gefunden«, meinte Jenna. »Aber irgendwo hier im Labyrinth sind sie. Wir werden noch auf sie treffen«, sagte Jenna mit wesentlich mehr Zuversicht in der Stimme, als sie empfand.

Jebs Zustand hatte ihr einen Schrecken versetzt. Sie wusste, was Angstzustände und Panikanfälle waren, aber dass sie einem so starken und zähen Jungen wie Jeb derartig zusetzen konnten, hätte sie niemals für möglich gehalten.

»Wie viel Zeit ist vergangen?« Jeb richtete sich etwas auf, ein wenig Farbe kehrte in sein Gesicht zurück.

»Keine Ahnung«, antwortete Jenna. »Mehr als vierundzwanzig Stunden dürften es nicht sein, wahrscheinlich wären wir nach mehr als einem Tag ohne Wasser schon in einem ganz anderen Zustand.«

»Dann habt ihr noch eine Chance«, sagte Jeb.

»Ihr?« Jennas Kopf ruckte herum.

»Ich halte euch nur auf. Ich bin einfach zu schwach, aber ihr könnt die Tore erreichen.« Er hob die Hand an, als Jenna etwas einwenden wollte. »Ich versuche hier nicht, den Helden zu spielen, und natürlich werde ich alles unternehmen, um zu den Toren zu gelangen, aber ich muss es in meinem Tempo machen. Wenn alles klappt, schaffe ich es, aber ihr solltet auf Nummer sicher gehen.«

»Ich lasse dich nicht zurück.« Die Worte kamen härter, als Jenna wollte.

»Jenna …«

»Vergiss es, Jeb. Ich bin so froh, dass wir dich gefunden haben, auf keinen Fall lasse ich dich zurück. Wer weiß …« Sie schaute zu Mary hinüber. »… ob Kathy dich sonst findet. Wir glauben, sie könnte uns in die neue Welt gefolgt sein.«

»Ja, und sie ist genau die Psycho-Braut, die sie immer war. Und darum werden wir dir helfen«, sagte nun auch Mary und biss sich nervös auf die Lippen. »Wer weiß, was sie aus Rache alles anstellen würde?«

»Keine Widerrede also: Uns beiden geht es gut. Wir haben keine Verletzungen, wir werden dich stützen.«

Jeb blieb skeptisch. »Was erzählt ihr da? Kathy ist zurück? Das kann ich mir nicht vorstellen und will ich gerade auch nicht. Wichtiger ist: Was ist mit deinem Fuß?«

Zum ersten Mal seit Langem dachte Jenna wieder an ihre Verletzung aus der ersten Welt. »Alles in Ordnung. Tut nicht mehr weh.«

Jeb seufzte. »Ihr wollt es wirklich tun«, stellte er kopfschüttelnd fest.

»Leg deinen Arm um meine Schulter«, meinte Mary. »Jenna nimmt den anderen.«

»Es reicht schon, wenn ich mich bei euch unterhake«, wandte Jeb ein. Die Mädchen verschränkten die Arme an Jebs Seite und zusammen machten sie einen ersten, unbeholfenen Schritt.

»Oh Mann, ist mir das peinlich.«

Jenna lachte. »Das ist wieder so typisch. Ihr Jungs müsst eben doch immer den Helden spielen. Wer sollte dich hier sehen?«

Jeb lächelte sie an, das gab ihr Hoffnung.

»Ich dachte an León und Mischa.«

»Die nicht hier sind.«

»Aber die wir finden werden, richtig?« Jeb schien mit jedem Schritt auch seine Zuversicht wiederzufinden, dachte Jenna.

»Ja«, sagte Mary. »Wir werden sie finden.«

Mischa verbarg sich hinter einer Biegung des Ganges und lauschte. Von weit entfernt vernahm er Stimmen. Zunächst war es nur Gemurmel, aber es kam stetig näher und schließlich erkannte er, wer da sprach.

Er trat in den Gang und blickte die weißen Wände entlang. Aus dem Hintergrund schälten sich drei Gestalten. Jenna, Mary und Jeb. Mischa registrierte sofort, dass etwas mit dem Jungen nicht stimmte.

Er ist verletzt.

Mischa schaute den dreien entgegen und nun entdeckten sie ihn auch. Mary stieß einen überraschten Ruf aus. Sie wollte einen Schritt auf ihn zu machen, hielt sich dann aber zurück, um Jeb weiter zu stützen. Jenna winkte ihm zu, selbst Jeb nickte ihm erfreut zu.

Ihr werdet euch wundern.

Und so war es auch. Je näher sie auf ihn zukamen, desto betroffener wurden ihre Gesichter. Jenna und Mary schienen geradezu entsetzt über sein Aussehen zu sein. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Jeb starrte ihn gebannt an.

Mischa versuchte, nicht zu lächeln, obwohl er überglücklich war, die anderen zu sehen und nicht mehr allein zu sein. Das Lächeln tat weh. Nicht nur, weil sein Gesicht stark verletzt und geschwollen war, sondern auch, weil er zwar in der Schlucht zu einem Team gehört hatte. Jetzt aber war er auf sich allein gestellt. Einer gegen alle. Er würde nie wieder einer von ihnen sein. Sein Entschluss stand fest.

Dann waren sie heran, blieben im Abstand von zwei Metern stehen. Ihre Augen musterten sein Gesicht, die aufgerissenen Knöchel, die blutverschmierten Klamotten. Er konnte sich vorstellen, wie er auf sie wirkte.

»Sieht schlimmer aus, als es ist«, meinte er gelassen.

Marys Augen waren weit aufgerissen. »Was ist passiert? Hat dich jemand angegriffen? Die … Seelentrinker? Sind sie hier?«

Mischa schüttelte den Kopf, so gut es ging, ohne dass ihm wieder schwindlig wurde. »Nein, bin gestürzt.«

Jeb humpelte auf ihn zu. »Aber heftig.«

»War es.«

Jenna öffnete die Arme, als wolle sie Mischa umarmen, aber er wehrte sie mit einer Handbewegung ab. Sie nickte und glaubte, dass er es aus Angst vor Schmerzen tat. Mischa war ihr dankbar dafür und seine gebrochenen Rippen auch. Aber nicht nur deshalb.

»Jetzt sag schon, was ist passiert?«, wollte sie wissen.

»Habt ihr Wasser?«, fragte Mischa.

»Nein. Du auch nicht?«

Er machte eine verneinende Geste. »Mist«, fluchte er leise.

»Weißt du, wo León ist?«, fragte Mary. »Hast du ihn gesehen?«

Mischa hatte mit dieser Frage von Mary gerechnet. Und die Antwort hatte er sich bereits in Gedanken zurechtgelegt. So ruhig wie möglich sagte er: »León ist tot. Ich habe ihn sterben sehen.«

Mary schrie auf. Der Schrei verließ ihren Mund, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können. In ihrem Inneren wurde etwas entfacht, das sie zu verbrennen schien, wie eine Woge aus tiefster Verzweiflung.

León!, brüllte es in ihr. Er kann nicht tot sein. Er darf nicht tot sein! Er darf einfach nicht sterben, bevor er weiß, was ich empfinde.

Mary schob ihre Faust zwischen ihre Zähne und biss mit aller Kraft zu. Vielleicht vertrieb ja dieser Schmerz den anderen, vielleicht tat dann der Gedanke nicht mehr so weh, León für immer verloren zu haben.

Es half nicht.

Trauer, Wut und Verzweiflung ließen sich nicht davon vertreiben, auch nicht der Kloß in ihrem Hals, der ihr die Kehle zu verschließen schien.

León beschützt mich doch, er jagt die Schatten der Vergangenheit davon, wenn ich ihm nahe bin. Sein wildes Grinsen gibt mir Mut und die Kraft, das alles durchzustehen.

Ich kann nicht ohne ihn sein.

Wieder schrie sie auf.

Es klang, als würde ein wildes Tier Qualen leiden. Jenna zuckte zusammen. Noch niemals zuvor hatte sie einen derartigen Schrei gehört. Selbst die Schreie auf der Ebene hatten sie nicht so sehr erschüttert. Zunächst wusste Jenna nicht, wie sie sich verhalten sollte, aber dann packte sie Mary, die sofort wild um sich schlug, und hielt sie fest. Kraftlose Fäuste prasselten auf Jennas Gesicht, aber sie ließ nicht los. Mary wimmerte jetzt nur noch, aber sie hörte nicht auf.

Jeb und Mischa sahen hilflos zu.

Jenna drückte sie eng an sich und zwang sie zu Boden. Sie umfasste Mary mit beiden Armen und dennoch gelang es ihr kaum, sie zu bändigen. Marys Füße trommelten auf den Boden und ihr Wimmern ging in ein abgehacktes Schluchzen über. Sie zog die Beine hoch und wollte Jenna abwerfen, doch Jenna wartete einfach gelassen ab und beugte sich über Mary. Für einen Moment war das Gesicht des dunkelhaarigen Mädchens frei. Jenna nahm es zwischen ihre Handflächen und strich Mary die nassen Strähnen aus der Stirn. »Mary, Mary«, sprach Jenna sanft auf sie ein. Sie schüttelte sie. Einmal. Dann noch einmal.

»Beruhige dich, Mary«, sagte sie energisch.

Marys Augen waren von Tränen überschwemmt, ihr Blick zur Decke gerichtet. »Er ist tot.« Sie murmelte es immer und immer wieder.

»Ja, aber du lebst«, flüsterte Jenna und strich ihr über das Gesicht.

»León ist tot.«

Aus dem Augenwinkel heraus sah Jenna, wie Jeb sich Mischa näherte.

»Ist das wirklich wahr?«, hörte sie ihn fragen.

Mischa nickte. »Er ist in meinen Armen gestorben.«

»Wie konnte das passieren?«

Mischa begann zu erzählen. Zunächst berichtete er von seinem Auftauchen im Labyrinth und den wandernden Zahlen, den mathematischen Rätseln.

Jenna hörte gebannt zu, selbst Mary schien seiner Erzählung zu lauschen. Als Mischa den ablaufenden Countdown erwähnte, stöhnte Jenna auf. Es war also tatsächlich so, dass ihnen die Zeit davonrannte.

»Schließlich bin ich auf León gestoßen, der in einem der Räume gefangen war. Wir sind dann gemeinsam weitergegangen, bis zu dem …« Mischas Stimme brach ab, er schluckte hart.

»Es ist okay, Mischa«, sagte Jeb. »Was ist geschehen?«

Mischa schluckte noch einmal hörbar. Er holte tief Luft, Mary saß auf dem Boden wie erstarrt. »Wir hatten gerade einen Raum verlassen und einen weiteren betreten, als der Boden unter uns aufging. Einfach so. Plötzlich war er verschwunden. Wir stürzten beide in die Tiefe. Mehrere Meter. Der Aufprall war … hart. Ich dachte, ich habe mir jeden Knochen im Leib gebrochen, aber León hatte es schlimmer erwischt. Er ist unglücklich gelandet, auf dem Kopf. Ich hörte nur, wie … irgendwas gebrochen ist … genau kann ich das nicht sagen, denn da unten war es düster.«

»War er sofort tot?«

»Nein, er hat noch von Mary gesprochen.«

Mary schluchzte laut auf. Ihr ganzer Körper bebte. Jennas tröstende Hand stieß sie weg.

»Was ha-hat er gesa-sa-agt?«, fragte Mary.

»Dass er dich liebt. Dann starb er in meinen Armen. Er hörte einfach auf zu atmen und ich war allein.«

Jeb legte Mischa eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, Kumpel, dass du das erleben musstest.«

»Ich habe León immer bewundert. Er war so stark, so kraftvoll, schien unverwüstlich zu sein und nun lag er da wie zerbrochen.«

Jenna legte ihren Kopf an Marys und umarmte sie fest. Doch Mary beugte sich vornüber, die Stirn auf die Knie, und vergrub ihr Gesicht in einer Armbeuge.

»Es tut mir so leid«, sagte Jenna leise. Sie schaute auf zu den beiden Jungs.

Mischas Schultern zuckten, auch er schien zu weinen. Es war schließlich Jeb, der die Nase hochzog, sich mit den Ärmeln seines Hemdes über seine Wangen wischte und fragte: »Und wie bist du da wieder herausgekommen?«

»Dieses Scheiß-Labyrinth. Es war so einfach. Eine Tür ging plötzlich auf. Licht fiel herein. Ich folgte ihm in einen Gang, der mich schließlich zu euch brachte.«

Jeb runzelte die Stirn. »Dann müsst ihr euch zuvor auf einer anderen Ebene befunden haben. Hier drüber.«

»Muss wohl«, antwortete Mischa und zuckte mit den Schultern.

Vieles von dem, was Mischa erzählte, war für Jenna nur schwer verständlich. Räume, deren Türen sich mit mathematischen Lösungen öffnen ließen. Ein Countdown, der bei vierundzwanzig Stunden begonnen hatte. Leóns Fall in die Tiefe und sein Tod.

Sie betrachtete Mischa genauer. Sein Gesicht war geschwollen, ein Auge fast zu, die Nase schien gebrochen zu sein. Sie sah seine in die Seite gepresste Hand und vermutete, dass ihn die alte Verletzung noch schmerzte. Wenn Mischa sprach, entdeckte man eine Lücke in der Reihe seiner ehemals so strahlenden Zähne. Die Lippe war aufgeplatzt.

Das alles konnten die Folgen eines schweren Sturzes sein, aber irgendwie passten die aufgerissenen Knöchel seiner Hände nicht ins Bild. Fast sah es so aus, als hätte Mischa stundenlang auf eine Wand eingedroschen.

Vielleicht vor Verzweiflung, nachdem León gestorben war.

Jetzt war nicht der Augenblick, danach zu fragen. Mary lag noch immer zusammengekrümmt am Boden und schluchzte herzzerreißend. Erst musste sie sich um das Mädchen kümmern.

Nach allem, was sie im richtigen Leben, aber auch hier im Labyrinth mitgemacht hatte, schien nun der Punkt gekommen zu sein, an dem Mary die Kraft verloren hatte, wieder aufzustehen. Alle wussten, wie sehr Mary gekämpft hatte, aber die Nachricht von Leóns Tod schien sie endgültig gebrochen zu haben.

Wie sollen wir das je schaffen? Jeb leidet unter Angstzuständen, hat kaum noch Kraft. Mischa ist verletzt und sieht aus, als hätte er eine Menge Blut verloren, und nun auch noch Mary. León ist vermutlich tot, während Kathy in den Gängen auf uns lauert. Drei Menschen, die jetzt meine Hilfe brauchen, und ich? Ich habe vielleicht die Kraft, aber keine Hoffnung für uns alle.

Leóns Tod hatte ihr endgültig alle Zuversicht geraubt. Es war zu deutlich. Sie waren ins Labyrinth gekommen, um zu sterben. Einer nach dem anderen. Zuerst hatte es Tian erwischt. Dann Kathy. Und nun León.

Falls sie die Tore jemals finden sollten, würde es eines für jeden von ihnen geben, aber wie lange noch konnten sie das alles ertragen? Wie groß konnte der Überlebenswille sein, bei all der übermächtigen Verzweiflung und den gar nicht enden wollenden Schmerzen?

Du bist für die anderen da. Sie brauchen deine Hilfe. Ohne dich wird keiner von ihnen überleben. Auch Jeb nicht.

Und du willst nicht ohne sie überleben, allein zurückbleiben.

Bei diesem Gedanken hätte Jenna am liebsten ihre Verzweiflung herausgebrüllt, aber wenn sie den anderen zeigte, dass sie am Ende allen Glaubens angekommen war, würden Jeb, Mary und wahrscheinlich auch Mischa aufgeben. Sich hinsetzen und nicht mehr aufstehen.

Ich muss für alle stark sein.