NEUN

Die Protektorin hatte wegen der Krankheit der Dahmena die Ratsversammlung verschoben, und nach ihrem und Hagens Tod verschob sie sie noch einmal.

Dann erteilte sie noch einen umstrittenen Befehl. Sie verlangte, daß die beiden Trauerfeiern gemeinsam im Tempel von Pelbarigan abgehalten wurden. Der Nordquadrant, der normalerweise voller Entrüstung protestiert hätte, fand sich in seiner Schande damit ab, und als sich der Gottesdienst in dem hohen, dü-

steren Steinraum entfaltete, schien er eine seltsame Logik zu erlangen.

Die beiden Särge standen Seite an Seite auf Böcken, der eine war aus sauberen, schlichten Brettern, für einen Shumaijäger bestimmt, der andere eine ge-schwungene, polierte, stoffbeschlagene Truhe für die unnachgiebigste Traditionalistin der Pelbar. Hier, beim Heimgang, kamen sie zusammen. Hagen war durch seine Abenteuerreise nach Westen mit Ahroe ein Volksheld geworden, und ein großer Teil der alten Stadt liebte ihn, besonders Männer und Knaben.

Mit den beiden Todesfällen war das Fluidum der Stadt wieder durch eine bemerkenswerte Geschichte bereichert worden, eine zeitgenössische Legende, die es mit der Flucht der beiden Liebenden Ornay und Lynd oder mit der mutigen Tat des Gardisten Mur-don vor etwa acht Jahren, als die Sentani unerwartet im Winter auf die Holzsammler gestoßen waren, durchaus aufnehmen konnte.

Die Protektorin entschied sich, keine Ansprache zu halten, sondern die ganze Bedeutung des Ereignisses durch den Gesang des vollzählig versammelten Pel-barchors, der auf erhöhten Stufen das vordere Ende des Tempels einnahm, auf die Gemüter wirken zu lassen.

Tor und Celeste standen auf dem Seitenbalkon, und als die Lieder aufstiegen, die Töne miteinander verschmolzen, zu einer Mischung von Traurigkeit und Hochstimmung aufschwollen, nahm das Mädchen die Hand des Axtschwingers, und zum erstenmal, seit sie sich erinnern konnte, strömten ihr die Tränen ungehindert die Wangen hinunter. Zum Teil weinte sie um Hagen, den sie näher kennengelernt hatte, zum Teil wegen der üppigen Traurigkeit des menschlichen Dramas, das dieses so ungleiche Paar vereint hatte. Eine alte Ordnung hatte um ihr Bestehen gekämpft und war dann verblaßt und in die neue eingegangen. Wie fremd das alles war, diese Gefühl-stiefe, dieses Gespinst von Beziehungen, die eine gro-

ße Gesellschaft bildeten und sich ständig verschoben und veränderten – als würden die Befehle, die sie so selbstverständlich in das elektronische Netzwerk der Kuppel eingab, zu verschiedenen Zeiten verschiedene Ergebnisse bringen anstatt der stetigen und zuverlässigen Berechnungen, an die sie gewöhnt war. Zum erstenmal bekam sie einen flüchtigen Eindruck von der kaleidoskopischen Natur der Menschheit, deren Muster sich ständig veränderten und neu bildeten.

Sie schien ihr erschreckend unzuverlässig.

Als Hagen starb, hatte er darum gebeten, in der Nähe seiner alten Ozar-Gefährtin Fitzhugh begraben zu werden. Während sie seinem Sarg die Felsen hinauf zu Fitzhughs hochgelegenem Aussichtspunkt folgten, dachte Celeste, immer noch Tors Hand haltend, über das alles nach. Der Tag war warm, und ih-re Hand schwitzte, aber sie ließ die seine nicht los, und Tor blickte gelegentlich zu ihr hinunter, um zu sehen, was sie bewegte.

Als man Hagen in das sauber ausgehobene Loch senkte, als Ahroe das symbolische Gras auf den Sarg streute, und als donnernd und polternd die Schaufeln voll Erde auf ihn hinunterfielen, hatte Celeste noch ein sonderbares Gefühl. War er fort? Würde er immer hier sein? Sie verspürte ein vages Unbehagen. Recycling war einfacher, sauberer. Was wollte man mit dieser Zeremonie beweisen? Was würde Ahroe jedesmal denken, wenn sich ihr Auge diesem vertrau-ten Felsen zuwandte? Als das Grab zugeworfen und die Erde festgestampft und zum Hügel aufgehäuft wurde, hob Celeste den Blick und wurde sich plötzlich der Lichtflut des Sonnenuntergangs bewußt, die über der weiten Ebene jenseits des Flusses lag und den leichten Spätfrühlingsdunst mit einem roten Hauch erfüllte. Als sie sich umblickte, sah sie, daß all die ernsten Gesichter in rötliches Licht getaucht waren.

Hier war die östliche Grenze von Hagens Ebenen, die sich weit nach Westen erstreckten. Der Sonnenuntergang wanderte über diese Ebenen zurück, das Licht verblaßte wie Hagens Lebensweise, das freie Laufen des Jägers, und auch die starre Haltung der Dahmena schien vom Lichtschein auf den Steinmau-ern von Pelbarigan gedämpft.

Celeste wandte sich Tor zu, der die Hände hinter dem Rücken verschränkte und zurücktrat. Woran dachte er? Auch er war ein Läufer, ein Jäger. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er in der Stadt schuftete, ein Feld umgrub. Er konnte es auch nicht. Das las sie in seinem Gesicht. Einen Augenblick lang begegneten sich ihre Blicke, und sie teilten sich volles, gegenseitiges Verstehen mit. Dann blinzelte und lächelte er ver-schmitzt, und der Augenblick war vorüber.

Eolyn öffnete die Tür zu Dexters Zimmer. Er lag un-tätig auf seiner Couch und blickte schweigend auf, ohne sie zu begrüßen. Sie seufzte und setzte sich auf den Rand seines Arbeitstischs. Er sagte noch immer nichts.

»Dexter«, begann sie. »Bitte, unterbrich mich nicht, laß mich ausreden!«

»Das klingt verhängnisvoll. Ich habe dich davor gewarnt, dich in meine Angelegenheiten einzumi-schen.«

»Es ist nicht verhängnisvoll. Ich will dich nicht be-drohen. Es ist wichtig für mich. Willst du mir jetzt zuhören?«

»Warum sollte ich?«

»Um meinetwillen? Du könntest davon profitieren.

Ich will dir nichts Böses.«

Dexter seufzte, warf ihr einen spöttischen Blick zu und setzte sich auf. »Schieß los!«

»Gut. Also, ich weiß – und du weißt, daß ich weiß –, daß du und Ruthan ... – nicht jetzt, ich zeichne nur einen Informationshintergrund –, daß du und Ruthan öfter beisammen seid. Ich habe es niemandem gesagt und werde dies auch nicht tun, solange Kuppel und Ebenen nicht in irgendeiner Weise dadurch gefährdet sind. Gegenwärtig kann ich keine Bedrohung erkennen. Ihr seid beide vorsichtige und ausgeglichene Menschen. Mir geht es im Augenblick nur um meine eigenen Interessen.«

»Eigene Interessen?«

»Du siehst doch wohl, daß du hier der einzige Mann bist, der möglicherweise für eine Frau interessant sein könnte. Butto ist so unzuverlässig und un-logisch, daß ...«

»Willst du ... – was redest du da? Ich kann es nicht glauben.«

»Warum nicht? Warum solltest du dich nicht für mich interessieren? Wir müssen uns nicht gefühlsmä-

ßig engagieren. Das Leben ist nicht sehr lohnend, nicht wahr? Ich muß einen Grund dafür haben, meine Zeit mit Routinearbeiten, mit der Entwicklung neuer Systeme, mit dem Versuch zu verbringen, das Problem der elektronischen Sondierung des Kuppelbodens zu lösen, nicht wahr? Stell es dir vor wie eine Wartungsarbeit. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich gewartet werden muß.«

»Gütiger Gott! Es gibt doch immerhin Dämpfungsmittel, Eo.«

»Endlich. Endlich willst du darüber sprechen. Betrachte es doch einmal von einem logischen Standpunkt aus! Wartest du die Nagerabteilung nicht?

Überprüfen wir die Systeme nicht? Ich will keine Dämpfungsmittel. Was mit Butto passiert ist, hat mich beunruhigt. Ich möchte den Drogengebrauch auf ein Minimum beschränken. Außerdem möchte ich von einem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus gerne mehrere Dinge herausfinden: erstens, ob es wirklich möglich ist, auf Distanz zu bleiben; zweitens, ob es eine vage Chance gibt, daß ich fähig bin, Kinder zu bekommen, um unsere Bevölkerung wieder aufzufüllen; drittens, ob es meine Einstellung verändert; und viertens und letztens, ob es wirklich Spaß macht.

Es ist so lange her, daß mir etwas wirklichen Spaß gemacht hat.«

Dexter stand plötzlich auf und ging in dem kleinen Raum auf und ab, dann blieb er stehen. »Erstens«, sagte er, »ist es möglich, auf Distanz zu bleiben, aber das ist nicht der Sinn. Der Sinn ist, sich zu engagieren. Zweitens, ob du gebärfähig bist oder nicht, kannst du mit wissenschaftlicheren Methoden nach-prüfen; drittens wird es deine Einstellung tatsächlich verändern, aber wir brauchen dich so, wie du bist – klar und logisch; viertens ... ich habe vergessen, was viertens war. Eolyn, du bist an die ganze Sache von der falschen Seite herangegangen. Du mußt dich ge-fühlsmäßig einbringen.«

»Ich habe dein Verhalten bei Versammlungen beobachtet. Du hast dich nicht eingebracht. Ruthan schon, aber du nicht.«

Dexter setzte sich. »Nein, ich nicht. Ich habe entdeckt, daß ich das nicht kann. Aber sie hat es getan, und das hat die ganze Sache gerettet. Du würdest es verabscheuen. Es wäre nichts als Leere.«

»Du bist in Wirklichkeit ein archaischer Moralist und willst mich nur mit Ausreden abspeisen. Sind wir nicht Freunde? Sind wir nicht verpflichtet, unseren Freunden zu helfen? Ich merke, daß ich Freundschaft brauche. Ich bin ein Rechner, der neu eingestellt werden muß. Meine Schaltkreise verrosten.

Kannst du mich nicht einfach wie eine Maschine behandeln?« Ihr Gesicht verzog sich im Schmerz einge-standener Einsamkeit. Dann bedeckte sie es mit den Händen und ein trockenes Schluchzen schüttelte sie.

Dexter stand völlig verdutzt auf. Er öffnete den Mund und machte ihn wieder zu. Er streckte die Hand aus und zog sie neben sich auf das Schlafpolster herunter. Er sah ihr wohlgeformtes Ohr, die Haarsträhnen darum herum. Nein – es war zu grotesk. Er mußte eine Möglichkeit finden, sie zu dämpfen. Andererseits wäre das gefährlich. Er wagte nicht, sie sich zum Feind zu machen. Die Welt hier war eng begrenzt. Kuppel und Ebenen brauchten sie, besonders jetzt, wo Zeller tot war. Dexter verspürte keinerlei moralische Skrupel, außer für das, was er als den Dunstkreis von Ruthans Gefühlen begriff.

»Du wirst es Ruthan nicht verraten?« Eolyn schüttelte den Kopf, den sie noch immer in den Händen vergraben hatte. Die Lichterreihe auf Dexters Nagermonitor verschob sich, wanderte über den Schirm und flackerte schwach, als eine neue Fütterungsperi-ode einsetzte. Nach einiger Zeit zeigte ein aufblitzen-der Punkt auf der zweiten Ebene eine neue Geburt an, dann eine zweite, eine dritte, eine vierte. Ein Punkt nach dem anderen erlosch. Dexter sah nicht hin. Er befahl auch Ariadne nicht zu klatschen.

»Es geht nicht«, sagte er nach einer Weile und hielt inne.

»Warum nicht?«

»Es geht eben nicht.« Es war ein tristes, hoffnungsloses Unterfangen, das nie zu irgendeinem Ziel führen würde. Er spürte, wie sein Glied erschlaffte, und löste sich von ihr.

Nach einiger Zeit stand Eolyn auf, zog ihren Körperstrumpf glatt und wollte gehen, blieb aber noch einmal stehen.

»Bist du jetzt neu eingestellt?«

»Nein. Nein. Du siehst doch. Es kommt doch nichts dabei heraus. Es tut mir leid. Ich wollte es erzwingen.

Es war ein Fehler. Ich verstehe es nicht. Die Bilder.«

»Die Bilder? Was? Vielleicht änderst du deine Meinung noch. Ich hoffe es um deinetwillen.«

»Und um deinetwillen?«

»Mein Gott, Eolyn. Begreif doch! Mit uns hat das keinen Sinn. Was war dein erster Punkt? Distanz? Du und ich sind die distanziertesten Geschöpfe in diesem ganzen, mageren, elenden Haufen, aber so distanziert kann ich nicht bleiben.«

»Dann ist es Schuldgefühl. Was für ein archaischer Wert.«

»Vielleicht. Wenn alle Werte archaisch sind, wo bleibt dann ...« Dexter schaute zu seinen Bildschirmen hinauf. »O nein! Kassiopeia hat soeben ihren neuen Wurf getötet. Ich muß hinunter.« Er stürzte an Eolyn vorbei, hinunter in die Nagerabteilung.

Eolyn stand im Korridor. Sie streckte die Zehe aus, zeichnete einen Bogen auf den Fußboden und fragte sich, ob bei ihrer Zusammensetzung eine Kleinigkeit vergessen worden war, sie fragte sich, ob auch das geplant war, ob sie der letzte Mensch der Genetiker war, so entworfen, daß sie die Langeweile der Ebenen aushielt, weil sie nicht fähig war, etwas zu empfinden. Ganz bewußt begann sie, die hinter ihr liegende Entscheidung zu erzwingen. Sie würde so weitermachen wie bisher. Langsam fing sie an, Dexter zu hassen, obwohl sie begriff, daß das ein irrationales Ge-fühl war. Wenn Ruthan ihm gegeben hatte, was ihm fehlte, dann hätte er ihr geben müssen, was ihr fehlte.

Das war seine Pflicht als Freund und als Mann. Er hatte es nicht getan. Nun, das war töricht. Und doch war es eine Tatsache.

Am Morgen nach dem Begräbnis trat in Pelbarigan endlich wieder die Ratsvollversammlung zusammen.

Ahroe, die immer noch ausgelaugt wirkte, war anwe-send für den Fall, daß man sie als Zeugin brauchte.

Die Protektorin gebot Schweigen, dann eröffnete sie die Sitzung nach dem Gebet mit einer offiziellen Stellungnahme. »Rätinnen, seitdem wir uns zum letztenmal hier versammelt haben, ist vieles geschehen. Die ursprüngliche Frage wurde jedoch nicht ge-löst. Sie ist uns einfach ins Gesicht hinein explodiert wie ein unbewachter Topf. Wir können heute morgen in zwei Richtungen verfahren. Entweder müssen wir das Gespräch, nicht über Celeste, denn sie habe ich unter den Schutz der Protektorin gestellt, sondern über die Kuppel selbst wiederaufnehmen. Die zweite Möglichkeit wäre meiner Ansicht nach, daß ich die Sache selbst entscheide, vorbehaltlich eures Ein-spruchs. Ich würde diese zweite Möglichkeit vorzie-hen und bin sogar bereit, mein Verbleiben im Amt davon abhängig zu machen. Wenn jemand sich damit nicht einverstanden erklären will, möge er bitte jetzt sprechen.«

Der Rat hatte schon vermutet, daß die Protektorin diesen Kurs einschlagen würde, und weil alle sich darauf eingestellt hatten, war niemand erschrocken oder sprach sich dagegen aus. Der Nordquadrant sah darin die vielleicht einzige Möglichkeit, irgendwel-chen Einfluß zurückzugewinnen – wenn nämlich die Entscheidung der Protektorin schiefging. Es war eine gefährliche Entscheidung. Aber sie fühlten sich hilflos.

»Ich danke euch für euer Vertrauen. Nach Abwä-

gung des vorliegenden Materials ist mein Vorschlag folgender: Es soll eine kleine Expedition ausgeschickt werden, um einen Damm über die leere Stelle zur Kuppel zu bauen. Stel soll dafür verantwortlich sein.

Dailith aus der Garde der Protektorin wird ihn begleiten. Aus jedem Quadranten kann ein Maurer oder ein Gardist mitgehen, wenn der Quadrant das wünscht. Es wird keine größere Expedition und kein größeres Unternehmen sein. Ahroe wird hierbleiben.

Sollte dieser Expedition ein Unheil widerfahren, werden wir keine große Rettungsaktion unternehmen, außer der gesamte Rat stimmt ohne Debatte dafür.

Seid ihr damit einverstanden?«

Im Raum blieb es still. Ahroe machte ein langes Gesicht. Sie sollte also von Stel getrennt werden?

Vielleicht den ganzen Sommer über? Während er in Gefahr war? Und doch begriff sie die Argumentation der Protektorin und ließ sich ihre Besorgnis anmer-ken, überzeugt, daß einige Angehörige des Nordquadranten sich an ihrer Verwirrung weiden würden.

Die Protektorin hatte es schließlich doch geschafft, jeder Partei etwas zu geben. Aber warum mußte gerade sie sooft solche Schwierigkeiten ertragen?

Als die Angelegenheit so schnell entschieden war, wurde der Rat unruhig, aber die Protektorin bestand auf einem kurzen Schweigen von zwei Sonenbreiten, ehe sie ihn entließ. Während der Schatten der Son-nenuhr weiterwanderte, saß sie vollkommen ruhig da; ihr alter Körper war erschlafft, aber doch völlig aufrecht, die Augen geschlossen, das Gesicht seltsam verzückt. Dann hob sie die Hand, und die Gardisten verkündeten durch Klopfen die Vertagung.

Später führte Druk Ahroe zu den Gemächern der Jestana. Die Protektorin stand mit dem Rücken zur Tür und schaute, die Hände hinter sich verschränkt, aus einem Balkonfenster.

»Protektorin?« fragte Ahroe. »Ich bin hier.«

»Ja, Ahroe. Danke. Nur ein Wort an dich in dieser schwierigen Zeit. Es tut mir leid, daß ich das tun mußte. Ich weiß, daß du es verstehen wirst. Sag Stel unbedingt, er soll vorsichtig sein, nichts Unüberlegtes tun. Wenn etwas schiefgeht, kannst du natürlich gehen. Ich bin sicher, du siehst ein, wie notwendig deine Anwesenheit hier ist.«

»Ja, Protektorin. Es ist schwer für mich, aber ich se-he es ein.«

Die Protektorin hatte sich noch immer nicht umgedreht, sie tat es auch dann nicht, als sie weitersprach.

»Ahroe, ich habe dieses Amt nun schon länger inne, als mir lieb gewesen wäre. Es ist nicht leicht. Meine alten Knochen möchten sich zur Ruhe setzen. Wenn irgend etwas danebengeht, auch nur ein bißchen, trete ich zurück. Ich habe das Gefühl, daß es die nächste Protektorin nicht gerade einfach haben wird.

Ich sehe, daß unser altes Regierungssystem modifi-ziert werden muß, nachdem die Bedrohung von au-

ßen beseitigt ist. Meine Verlautbarung heute morgen hatte noch den alten Klang – die Autorität der Protektorin. Diese Autorität wird mit der Zeit untergra-ben werden. Neue Systeme werden kommen und sie ersetzen. Ihr Vorteil ist Sauberkeit und Schnelligkeit.

Ihr großer Makel ist, daß die Protektorin einen gro-

ßen Fehler machen könnte. Vielleicht habe ich gerade einen gemacht. Ich habe, wie jeder andere auch, nur beschränkten Einblick. Ich mußte mich auf die Ethik, auf die Werte Avens verlassen, und mich eng daran halten. Sie haben mich nie im Stich gelassen, aber manchmal war es ein schwerer Weg.«

»Ja, Protektorin«, sagte Ahroe etwas verblüfft. »Ich treffe gerade die Vorkehrungen dafür, daß du bald zum Gardehauptmann berufen wirst, Ahroe. Und Oet steht kurz vor dem Rücktritt. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis du die gesamte Garde befehligen kannst.«

»Aber warum – ich verstehe es nicht.«

»Du hast deine Mutter aufgenommen, die dich verstoßen hatte, Ahroe. Du hast sie in den Armen gehalten und ihr in ihren letzten Stunden Trost gespen-det. Glaube nicht, daß das im Nordquadranten unbemerkt geblieben wäre. Du bist weiter gereist als je-de andere Pelbarfrau in der bekannten Geschichte.

Du bist zurückgekehrt, hast dich als loyal erwiesen, warst beständig, wenn Beständigkeit erforderlich war. Du kommst gut mit den Shumai und den Sentani zurecht. Verstehst du jetzt?«

»Nein, Protektorin. Ich empfinde das alles als Last, wie du es ausdrückst.«

»Protektorin zu sein ist eine viel größere Last. Ich trage sie jetzt seit einigen Jahren. Ich spüre, wie sie mir allmählich entgleitet. Ist dir klar, daß die Dahmena die erste Nacht, die sie in ihrem Leben außerhalb der Stadt war, in deinem Haus verbracht hat? Ist dir klar, daß ich einmal, vor vielen Jahren, Nordwall besucht habe, und daß ich bis auf diese Reise ebenfalls alle Nächte meines Lebens in dieser Stadt geblieben bin? Wie soll ich Entscheidungen treffen für die neue Welt, die sich auftut?«

In Ahroes Geist ging ein fernes Licht auf. Nein.

Konnte die Protektorin das meinen? Es war zu viel.

Konnte sie die Last tragen?

Schließlich sagte die Protektorin: »Du schweigst.

Weißt du, es kann gut sein, daß du irgendwann tatsächlich Protektorin wirst. Ich freue mich, daß du das als Bürde empfindest. Wenn du stolz wärst, würdest du es nicht gut machen. Natürlich kannst du dich weigern. Vielleicht wählt dich der Rat auch niemals.

Aber ich spüre es. Du mußt darüber nachdenken. Du darfst nicht vergessen, daß wir immer noch Pelbar sind. Wir dienen immer noch Aven. Wenn das Rechte getan werden muß, müssen wir es tun, ganz gleich, was es uns kostet. Nun mußt du gehen, Ahroe, und Stel helfen, seine Expedition vorzubereiten.«

»Ja, Protektorin. Danke. Das alles verwirrt mich. Ich muß erst einmal mit mir selbst ins reine kommen.«

»Noch etwas. Das macht mir Sorgen bei dir. Du mußt mehr über Aven wissen, als du für möglich hältst. Ich habe bemerkt, daß du nicht zu den From-men gehörst. Du wirst fromm werden müssen. Ich meine keine leere Frömmigkeit. Ich meine, ein Durch-forschen der Rollen Pells, der Fragmente alter Schriften, die wir haben. Ich sehe, daß dein Freund Tor hin-einschaut. Ohne diese Untermauerung durch histori-sches Wissen kannst du keine klaren Entscheidungen treffen. Entscheidungen werden nicht nur mit dem Kopf getroffen. Wenn, dann sind sie oft schlecht und dumm. Nun kannst du gehen.«

Ahroe verneigte sich vor dem Rücken der Protektorin, denn die hatte sich kein einzigesmal umgedreht.

»Ja. Danke, Protektorin«, sagte sie und ging. Nach einiger Zeit wandte sich die Protektorin doch um. Ihr Gesicht blieb ernst und gespannt, als sie vom Fenster wegging, um Druk zu rufen und sich Tee bringen zu lassen.

Ahroe fand Stel im vorderen Raum, wo er kleine Haufen von Dingen aufschichtete, die er mitnehmen wollte. Er schien eher nachdenklich als begeistert und warf ihr einen Blick zu, der ihr verriet, daß er sie vermissen würde. Er rollte spielerisch etwas in der Hand hin und her.

»Was ist das?«

»Es ist der Kasten, den Tristal gefunden hat. Er ge-hörte Celeste. Wir haben ihn nie zurückgegeben. Tristal dachte, es sei eine Waffe, die seinen Hund verletzt hat, aber ich verstehe das nicht. Schau, hier!

Wenn du da drückst, kommt hinten ein kleiner Stab heraus.«

Ahroe schien sich nicht dafür zu interessieren. Stel legte den Kasten auf einen kleinen Tisch, sah ihn sich an und berührte einen zweiten, quadratischen Ausschnitt in der Oberfläche. Dann wandte er sich seinen Stapeln zu und trug sie aus der Zimmermitte weg.

Ihm war plötzlich ganz seltsam zumute. Plötzlich tat ihm der Kopf weh. Er wandte sich Ahroe zu, die gerade zu Boden stürzte und sich die Ohren zuhielt.

Auf einmal verstärkte sich der Ton, und durch die Steinmauer des Häuschens wurde ein kleines Loch gesprengt, als habe jemand mit einem großen Ham-mer dagegengeschlagen. Stel sprang mit einem Satz auf den Kasten los und schlug auf den Knopf. Der Stab wurde eingefahren.

Ahroe rannte würgend in den anderen Raum, und Stel blieb verlegen stehen, bis sie zurückkam. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst machte sie ein wütendes Gesicht, aber dann begann sie gleichzeitig zu lachen und zu weinen, und sie gingen aufeinander zu und umarmten sich.

»Ich glaube, es war doch eine Waffe. Eine Art von Waffe.«

»Furchtbar. Ich werde sie wegpacken. Nur schade, daß wir sie nicht hatten, als Cyklo gekommen ist.«

»Macht auch nichts, Ahroe. Es ist doch alles noch ziemlich gutgegangen. Bis auf Hagen. Den hat es erwischt.«

Wieder schluchzte Ahroe an seiner Schulter. »Sei vorsichtig. Ich habe ein schreckliches Gefühl bei der Sache. Sei vorsichtig da unten.«

Stel antwortete nicht. Er spürte noch immer ein scharfes Pfeifen in seinem Kopf.

Am übernächsten Morgen brachen Stel und Dailith mit Egar, Aybray und Nuva, drei weiteren Gardisten, auf. Der Nordquadrant schickte niemanden mit. Die Gruppe stieß in zwei großen, stoffbezogenen Kanus im frühen Morgenlicht unter Gelächter und Zurufen vom bevölkerten Ufer ab, die Leute tauchten ihre Paddel rhythmisch ins lehmige Wasser, stemmten sich mit aller Kraft dagegen und schossen hinaus in die Fahrrinne. Ahroe sah ihnen mit zusammengepreßten Lippen nach. Wie schon einmal in diesem Frühling blie-sen die Gardisten zur richtigen Zeit die Horntöne des Abschieds, gefolgt von den ansteigenden Tönen des Gardistengrußes, und die Pelbar hoben als Antwort darauf ihre Ruder. Ahroe sah ihnen nach, bis sie nicht mehr zu unterscheiden waren, Garet stand neben ihr und war wieder still und gekränkt. Raran steckte ihre Nase in seine Hand, stupste ihn leicht mit dem Kopf und wedelte mit dem Schwanz, denn Tristal war zu-rückgekehrt. Garet wollte die Hündin wegschieben, streichelte aber statt dessen ihren breiten Kopf mit dem kurzen, samtigen Fell.

»Ich werde Botschaften für euch hintragen«, sagte Tristal. »Keine Angst, Ahroe. Es wird ihnen nichts geschehen.« Sie antwortete nicht, sondern wandte sich ab und stieg den Hügel zu Hagens Grab hinauf, von wo aus sie die kleinen Boote weit unten auf dem Fluß noch eine Zeitlang sehen konnte.

Dexter sah, wie sein Kommunikator aufleuchtete.

»Dex«, sagte Eolyns Stimme. »Entschuldige. Du mußt mir einiges erklären. Es ist alles so irrational. Ich fürchte mich vor dem, was da in mir erwacht ist.«

Dexter seufzte. »Das haben wir doch schon alles durchgesprochen, Eo. Wir treffen uns bei der Zen-tralkonferenz. Dort werden wir die Berichte über die lebenserhaltenden Systeme untersuchen. Aber ich habe nur bis 7210 Zeit.«

»Ruthan?«

Dexter schaltete ab. Ehe er ging, warf er einen Blick auf den Nagermonitor, schlug mit der Hand gegen die Außenwand und verließ, sich die Handfläche reibend, den Raum.