DREI

Tor war nicht nach Süden gelaufen. Er wartete in der Nähe der Kuppel, er machte sich Sorgen und verspürte das Bedürfnis, nachzudenken. Zwei Tage, nachdem die anderen fort waren, lag er behaglich am Feuer. Die Läuferbande war böse auf ihn gewesen, obwohl sie alle geschwiegen hatten und bedrückt waren, denn sie wußten, daß er als Onkel für seinen verwaisten Neffen sorgen mußte. Aber Tor war Axtschwinger, und zwar einer von den besten. Sie emp-fanden es irgendwie als Verrat, daß er zurückblieb, trotz der Umstände. Andererseits waren sie immer eine lockere, freiwillige Organisation gewesen, und er wußte, wo seine erste Pflicht lag, trotz seiner eigenen Wünsche. Die Bande würde inzwischen an der gro-

ßen Südkurve des Isso vorbeilaufen, angeführt von Blu. Tor versuchte, das Leben so zu nehmen, wie es kam, obwohl er nicht genau wußte, was er als nächstes tun würde. Es war ihm klar, daß er es nicht ertragen konnte, mit Tristal in Pelbarigan zu bleiben. Er würde alleine weiterziehen, vielleicht seine Bande suchen. Er liebte das Freie, den Schock des Jagens, sogar Hunger ertrug er gern, solange es nicht zu schlimm wurde.

Aber alles war im Fluß. Alle bis auf die alten Shumai hatten jetzt die Speere aufgegeben – seit dem Kampf in Nordwall vor mehr als zehn Jahren. Jetzt hatten sie alle Bogen – meistens dem Langbogen der Pelbar nachgemacht. Vielleicht würde er das auch noch lernen müssen. Es war klar, daß er einem Bo-genschützen nie gewachsen sein würde, aber es kam ihm irgendwie unmännlich vor, so weit vom Gegner entfernt zu sein und ihn mit so einem Ding zu töten.

Er hatte aber noch einen anderen Grund dafür, daß er nicht mitging – ein unbestimmtes Gefühl, das er nicht genau analysieren konnte. Es schien um diesen Ort zu hängen wie ein Dunst. Tor wurde durch seine ganz persönliche Art, Dinge einfach zu wissen oder zu ahnen und darauf zu warten, daß sie in seinem Kopf zu irgendwelcher Klarheit heranwuchsen, immer wieder aus dem Gleichgewicht geworfen. Er fiel dann sogar in Schweigen, wenn seine Männer dabei waren. Ideen stiegen aus ihm auf, ohne daß er vorher daran gedacht hatte. Er hatte den Verdacht, daß seine Männer deshalb so bereitwillig mit Blu abgezogen waren, weil sie sahen, daß er in dieser Stimmung war.

Mehr als einmal hatte es sie gerettet, wenn er etwas schnell erkannte – so war es bei den besten Axt-schwingern – und sie wußten, daß sie Tor schätzen mußten, obwohl sein seltsames Verhalten sie manchmal irritierte.

Spät am Nachmittag hörte Tor aus der Ferne einen schwachen, zittrigen Schrei. Er stand auf und erwiderte ihn, füllte die umliegenden Wälder mit einem halbmenschlichen Geheul. Endlich kamen sie also. Er hatte jedenfalls Fleisch für sie, sieben Murmeltiere, alle mit der Axt getötet. Sie war keineswegs eine nutzlose Waffe, wenn man verstand, sie zu werfen.

Bald erschien eine Reihe von Gestalten in sehr langsamem Trab. Es war Legon mit seiner Frau und drei anderen Familienangehörigen – zwei jungen Männern und einer älteren Frau – ganz am Ende kam Tristal. Der Junge sah blaß aus. Unter seiner Schwä-

che konnte Tor jedoch eine ruhige, für die Shumai typische Entschlossenheit erkennen. Vielleicht war bei ihm doch nicht alles so hoffnungslos.

Tristal schämte sich nicht, er sank neben dem Feuer nieder, ohne seine Fellrolle auszubreiten, während Tor sie alle begrüßte. »Mach dir keine Gedanken wegen Tris«, sagte Legon. »Er war krank. Ist es immer noch. Ein Fieber. Murmeltier, wie? Na, davon könnte ich etwas vertragen. Frey, kannst du uns etwas servieren? Ama, würdest du Tristal etwas geben?«

»Ich kümmere mich um ihn«, sagte Tor. Er setzte sich neben den Jungen. Ja, das Fieber war noch in ihm. Tor gab ihm eine ausgepichte Korbtasse warme Brühe mit fetten Fleischstücken und wilden Zwiebeln darin. Tristal hatte Mühe, sie zu schlucken, schien aber trotzdem Appetit darauf zu haben. Er klammerte sich an Tors Bein, und der Axtschwinger sah, daß der Junge das selbst gar nicht bemerkte. Tor schnitt Murmeltierfleisch in mundgerechte Brocken und fütterte den Jungen damit, während sich die anderen für die Nacht einrichteten. Dann steckte er den Jungen in seine Fellrolle, schürte das Feuer und breitete seine eigene Rolle neben der von Tristal aus. Ama war enttäuscht.

Als das Feuer niederbrannte, bewegte sich Tristal unruhig. »Wo ist Raran?« fragte Tor.

»Sie kommt schon noch. Sie war auf der Jagd, als wir aufbrachen. Sie wird uns schon finden.« Nach kurzer Zeit, wie Tristal gesagt hatte, glitt die Hündin in den Feuerschein und setzte sich neben den Jungen, der die Hand nach ihr ausstreckte. Dann berührte Raran mit ihrer Nase erst Tor, dann Legon und Frey, schließlich kehrte sie zu Tristal zurück und ließ sich mit einem Seufzer schwer auf der anderen Seite von Tor niederplumpsen. Tristal sank bald in Schlaf. Tor lag lange wach und dachte nach. Dreimal flogen Gän-seschwärme hoch über ihnen in die Nacht hinein, ihre gellenden Schreie tönten aus der Dunkelheit herab.

»Tor«, sagte Legon.

»Ja.«

»Er ist ein braver Junge, Tor. Du wirst stolz auf ihn sein. Er lernt gut. Ich habe nie etwas dergleichen gesehen. Man sagt ihm einmal etwas, und er weiß es nicht nur, sondern denkt weiter als man selbst. Er ist sehr ruhig, spricht selten, aber du wirst sehen, er ist da, wenn du ihn brauchst.«

»Gut. Das freut mich. Danke, Leg.«

»Laß ihn hier eine Weile ausruhen. Er ist sehr krank gewesen. Aber er wird wieder gesund. Wir ziehen am Morgen weiter.«

»Ja. Schon gut. Ich habe es nicht eilig. Ich werde ihn nach Pelbarigan bringen.«

»Dorthin?«

»Ja. Den Sommer über. Eine Pelbarfamilie hat sich bereiterklärt, ihn aufzunehmen. Sie waren hier, um den Stab zu sehen. Ein alter Shumai namens Hagen lebt bei ihnen. Alte Freunde.«

»Stel und Ahroe.«

»Du kennst sie?«

»Nur ihre Geschichte. Sie waren im Westen jenseits der großen Berge, weit über das Shumaigebiet hinaus.«

»Sie?«

»Ja. Sie sind Pelbar, aber in beiden ist ein stählerner Kern. Ich freue mich für Tristal. Das wird ihm gut-tun.«

Weiter wurde nichts gesprochen, und bald war Legon eingeschlafen. Da war es wieder in Tors Gedanken. Etwas stand drohend bevor. Nun, er war bereit dafür, was es auch war.

Am Morgen brachen Legon und sein Trupp auf, liefen nach Norden, um die leere Stelle herum, ungeduldig darauf, nach Westen zu kommen. Tor und sein Neffe winkten, Raran wußte nicht, was sie tun sollte. Bald kehrte sie zu Tristal zurück und setzte sich neben ihn, ihr Hinterteil gegen sein Bein geschmiegt.

Durch die Ruhe erholte sich Tristal schnell. Tor baute eine Abschirmung aus Gestrüpp unter der Felsnase, um die Wärme zu halten, und beobachtete den Jungen lässig gähnend. Er wollte keine Ungeduld erkennen lassen. Er wußte, daß Tristal ein schlechtes Gewissen hatte, weil er seinen Onkel vom Lauf nach Westen abhielt. In der ersten Nacht klarte es auf, und die beiden spielten gemächlich ein Sternbenennungs-spiel, aber mit nur zwei Spielern war es schwer. Tor forderte den Jungen auf, die Sterne zu benennen, die er kannte. Sie kletterten auf den Kamm über der Felsnase, und Tristal zeigte hin und benannte den halben Himmel.

»Genug«, sagte Tor. »Ich glaube, du kennst sie al-le.«

»Die schwachen nicht.«

In der nächsten Nacht fand Tristal keine Ruhe. Er fragte seinen Onkel, ob er einen Spaziergang machen könne. Tor zuckte die Achseln und freute sich, daß der Junge sich rasch erholte.

Celeste gab in ihrem Zimmer den Kode für Baustruktur ein, dann folgte sie der Sequenz, bis sie die Bildschirmdetails der Kuppel bekam, die keine allgemein zugängliche Information waren. Was war denn das? – Noch eine Tür? Sie müßte sich in die Er-de öffnen – aber jetzt vielleicht nicht mehr, bei soviel Erosion. Sie verfolgte den Weg dorthin auf dem Schirm, stellte Berechnungen an und schaltete dann die Alarmanlagen aus, jede nur für ein paar Zeitein-heiten, abgestimmt auf die Augenblicke, in denen sie die einzelnen Punkte zu passieren plante. Dann blickte sie sich einmal in ihrem Zimmer um und ging.

Als sie die Tür erreichte, zerstörte sie mit ihrem Ultraschallstock die Plombe. Die Tür schwang nach außen auf. Anders als die letzte Tür befand sich diese Pforte tief unten in der Kuppel, ziemlich nahe an der undeutlich sichtbaren Erde draußen. Sie würde kein Seil brauchen. Celeste schaute hinunter, quetschte sich durch die Tür und schob sie zu. Dann ließ sie sich zu Boden fallen und kam mit einem schwachen Aufschlag auf. Es war Schlamm. So etwas hatte sie noch nie gespürt – kalter, nasser Schmutz. Sie war al-so der allererste Mensch, der seit der Explosion Kuppel und Ebenen verließ. Eine Welle von Stolz bran-dete gegen ihre Angst an.

Vor ihr war ein Berghang, und sie mühte sich rutschend und strampelnd ab, ihn zu ersteigen. Bald war sie schmutzig und bedauerte es. Nein. Zurückkehren würde sie nicht, nicht, solange Butto über seine Un-geheuer herrschte. Irgendwie würde sie hier draußen leben – wenigstens eine Zeitlang –, wo es keine Ge-räusche von weggeworfenen Fleischklumpen gab.

Und hier gab es auch keinen Dexter, stümperhaft und ironisch, kalt persönlich. Zurück konnte sie später immer noch.

Als sie sich der Hügelkuppe näherte, ertastete ihre Hand etwas. Sie starrte es an. Eine Pflanze. Sie kletterte weiter, kam über den Rand des Hügels und sah viele Pflanzen vor sich, schwach erkennbar und aus irgendeinem Grunde naß. Sie fuhr mit der Hand dar-

über, wusch sich daran. So war es also draußen auf der Erde. Was lag da vor ihr? Es sah aus wie ein Wald auf den Audivisi-Bändern. Das alles gab es also draußen? Celeste lachte verbittert. Hier, gleich außerhalb ihrer Sichtweite, außerhalb der Reichweite ihrer Sensorausrüstung wuchs eine ganze Welt. Und die Strahlung? Wenn sie sie nun tötete? Was wollte sie überhaupt anfangen? Wenn so viele Pflanzen lebten, wenn die seltsamen Vögel flogen, konnte da nicht auch sie einen Platz finden? Sie stolperte weiter, tastete sich voran, stürzte gelegentlich über Steine, schürfte sich einmal das Knie auf. Hoch über sich hörte sie die Vögel rufen. Sie waren also da. Sie war in einer Welt mit wirklichen Vögeln!

Nach einer Weile merkte sie, daß sie sich verlaufen hatte. Sie hatte keine Ahnung mehr, in welcher Richtung die Kuppel lag. Sie kniete nieder. Was sollte sie tun? Nun, die Sonne würde kommen, dann würde sie sich schon zurechtfinden. Was war das? Ein Laut vor ihr? Sie stellte ihren Ultraschallstock auf schwache Leistung ein und jagte einen kurzen Stoß los. Sie hörte einen sonderbaren Schrei, schrill und schmerzlich, dann eine Stimme.

»Was ist, Raran? Alles in Ordnung? Hier, leg dich hin. Laß dich ansehen!« Celeste hörte ein leises Winseln, dann ein Knurren. Vielleicht von einem Tier, dachte sie. Ein Tier? Aber die Stimme war menschlich, sie konnte sie verstehen, obwohl die Sprache breit und anders war. Das Knurren hielt an. Celeste verspürte eine Welle der Angst. Sie wandte sich um und wollte davonlaufen, fing an, sich durch die Bü-

sche zu schlagen. Plötzlich hörte sie ein Rauschen, etwas traf sie hart im Rücken. Sie fiel zu Boden, alle viere von sich gestreckt. Als sie sich umdrehte, sah sie undeutlich ein fauchendes Tiergesicht und spürte seinen warmen Atem. Sie kreischte auf und schlug die Hände vors Gesicht, als sie laufende Schritte hör-te.

»Raran, Raran! Was ist los? Hierher! Ein Mensch!

Raran, los, zurück jetzt! Komm!« Der Hund zog sich widerwillig zurück, blieb aber wachsam sitzen.

»Wer bist du?« fragte Tristal und zog sein Messer.

Celeste machte die Hände auf und sah ihn undeutlich über sich, dann kreischte sie wieder und bedeckte ihr Gesicht. Tristal steckte sein Messer in die Scheide und kniete neben ihr nieder. »Was ist los? Komm schon! Niemand tut dir etwas. Setz dich auf und laß dich ansehen. Alles in Ordnung?« Er hob Celeste zu sich hoch und klopfte ihr auf den Rücken, dabei spürte er ihren fremdartigen Tuchmantel und fragte: »Bist du eine Pelbar?«

Celeste öffnete den Mund, versuchte, versuchte immer wieder zu sprechen. Kein Laut kam heraus.

»Hab keine Angst. Raran wird dir nichts tun.

Komm her, Raran!« Tristal tätschelte das Bein des Hundes. »Gib die Pfote! Nun komm schon, gib die Pfote!« Raran hob eine Pfote und tappte mehrmals damit nach vorne, und Tristal nahm Celeste die Hand vom Gesicht und legte sie um die Hundepfote. Sie schauderte.

»Du bist ja nur Haut und Knochen. Bitte komm jetzt mit. Alleine kannst du nicht bleiben. Komm zum Feuer und lern meinen Onkel kennen. Komm!« Er zog sie hoch. Sie ließ sich gegen ihn fallen, fühlte sich hilflos und weinte lautlos vor sich hin.

»Wie heißt du?« fragte Tristal und kniete wieder nieder. »Du wirst alleine gehen müssen. Ich war krank und bin nicht kräftig genug, um dich zu tragen.

Außerdem bist du fast so groß wie ich. Kannst du nicht gehen?«

Celeste stand wieder auf. Sie öffnete den Mund, aber nichts kam heraus. Nichts. Sie bemühte sich krampfhaft. Nichts. Sie lehnte sich gegen den fremden Jungen mit den dünnen, harten Armen. Er stützte sie, bis sie die Fassung wiedergefunden hatte, dann nahm er sie bei der Hand, und die drei Gestalten gingen durch die Dunkelheit. Sie verstand nicht, wie er sah, wohin er ging. Sie taumelte beim Gehen gegen einen Baum und stolperte den Berg hinunter. Sie blieb stehen, befühlte die Rinde, löste dann ihre Hand aus der Tristals und betastete den Baum von allen Seiten.

»Was ist los?« fragte er. »Du kannst doch sehen, nicht wahr?«

Celeste nahm wieder seine Hand. Ja, er merkte deutlich, daß sie sehen konnte. Sie gingen weiter, zwischen Ästen hindurch, die ihr ins Gesicht schlugen. Der große Hund strich unterwegs an ihr vorbei und stieß sie in die Seite, und sie konnte sein Schnaufen hören. Gütiger Gott, warum war sie hier heraus-gekommen? War es das, was die Menschen hier draußen hatten? Wie konnten sie es ertragen – die Gefahr, die Nässe, die Kälte, in Gesellschaft von Tieren?

Weit in der Ferne sah sie ein flackerndes Licht. Tristal blieb stehen. »Nun«, sagte er, »Nachtmädchen – ich werde dich Nachtmädchen nennen, da du ja nicht sprechen willst werde ich meinen Onkel rufen. Du brauchst nicht zu erschrecken.« Celeste verstand ihn nur zum Teil. Tristal hielt die Hände an den Mund und stieß einen langen, zittrigen Shumaischrei aus, ansteigend und anhaltend, gefolgt von einem kurzen.

Celeste spürte, wie sich ihr vor Entsetzen die Haare sträubten.

Aus der Ferne kam ein ähnlicher Schrei zurück, fast ein Echo, aber tiefer: Wieder spürte Celeste einen Schauer der Angst. Aber Tristal bemerkte nur: »Er kommt uns entgegen. Komm jetzt weiter!« Es folgte ein zweiter Schrei, diesmal viel näher und Tristal antwortete. Bald raschelten Schritte im Gebüsch, und eine große Gestalt erschien undeutlich in der Dunkelheit. Ein breitschultriger Mann türmte sich vor Celeste auf.

»Was in aller Welt ...?«

»Ich habe sie im Gestrüpp gefunden. Sie will oder kann nicht sprechen. Sie ist voller Schlamm und ganz naß. Sie hat sonderbare Kleider an. Was sollen wir tun?«

»Hallo«, sagte Tor, beugte sich zu ihr herab und sprach sehr langsam. »Verstehst du mich? Hebe deine Hand, wenn du mich verstehst.« Celeste hob langsam die Hand. Sie konnte ihn verstehen, obwohl seine Sprache breit und näselnd klang.

»Dann komm mit uns! Ich bin Tor. Das ist Tristal, mein Neffe. Wie heißt du?«

Celeste wollte den Mund aufmachen, riß ihn dann weit auf, aber heraus kam nichts. Tor beugte sich dicht zu ihrem Gesicht und schaute sie an. Sie sah seinen blonden Bart und wich erschrocken zurück, dann streckte sie die Hand aus und berührte ihn leicht. Tor lachte.

»Ich werde dich zum Feuer tragen«, sagte er sehr langsam, hob sie mit einem Schwung hoch und marschierte, gefolgt von Tristal, auf das ferne Licht zu.

Bald trabte die Hündin vor ihm her, und Tor mußte sie schelten, weil sie ihm zwischen die Füße lief. Celeste legte den Kopf an seine Schulter. Er war mit einer Art haariger Decke bekleidet. Sie vergrub ihre Nase darin. Der Stoff roch sauer. Oder war das der Mann?

Sie konnte sich nicht erinnern, daß irgend jemand sie schon einmal so aufgehoben hätte; sie war als Kind von der Schaukelmaschine beruhigt worden. Es war ein angenehmes Gefühl, obwohl seine Nähe ihr Angst machte. Bald klammerte sie sich an Tor und entdeckte, daß sie seine Masse und Festigkeit genoß.

Als Tor Celeste in den Kreis des Feuerscheins trug, wurde sie sich einer neuen Empfindung bewußt – des stechenden Geruchs von Holzrauch, den sie zuerst an Tristal wahrgenommen hatte. Der Axtschwinger setzte sie sanft in einem Blätterhaufen nahe an der Felsnase ab, wo die reflektierte Hitze der dampfen-den, lodernden Scheite eine Insel der Häuslichkeit inmitten der großen, kalten Nacht bildete.

Celeste schaute erstaunt ins Feuer. Was war das?

Die Flammen flackerten wie das Licht vom Wasserteich in Kuppel und Ebenen auf und ab, stiegen auf, ver-breiteten Wärme, verzehrten die runden Zylinder.

Tor warf ein paar Scheite auf das Feuer, ein Schwall Funken stieg auf, die in der Luft schwammen und dann verschwanden. Celeste bedeckte ihr Gesicht, dann schaute sie wieder hin, spürte verstärkte Wärme.

»Seltsam«, sagte Tristal.

»Was?«

»Es sieht so aus, als hätte sie noch nie ein Feuer gesehen. Das ist ein Feuer, Nachtmädchen, ein Feuer.

Beweg deinen Kopf so, wenn du weißt, was es ist.«

Tristal nickte.

Celeste sah ihn an, ohne den Kopf zu bewegen, aber mit einem Ausdruck leiser Verachtung.

»Sie findet, daß du sie gönnerhaft behandelst, Tris«, sagte Tor. »Natürlich hat sie schon ein Feuer gesehen. Wie sonderbar sie angezogen ist. Was macht sie im Shumaigebiet? Vielleicht ist sie eine Pelbar aus Threerivers. Ich war nie dort, bin nur vorbeigezo-gen.«

»Nein. Die ziehen sich genauso an wie die anderen.

Dieser Stoff ist völlig anders. Vielleicht kommt sie von wirklich weit her, zum Beispiel von der Mündung des Heart, und ist von ihren Angehörigen getrennt worden. Vielleicht ist es dort warm, und sie hat deshalb keinen richtigen Mantel.« Tristal befühlte ih-re Knöchel über den doppelten Slippern aus der Kuppel. »Sie friert und ist naß und außerdem voller Schlamm. Wir müssen sie waschen und ihr etwas zum Anziehen geben.«

Celeste wich zurück und runzelte die Stirn.

»Kränke sie nicht, Tris. Paß auf, Nachtmädchen, du nickst jetzt mit dem Kopf, wenn du mich verstehst.

Verstehst du mich?« Tor türmte sich, bärtig und pel-zig über ihr auf, die Axt mit dem langen Griff an der Hüfte. Sie blickte mit geweiteten Augen zu ihm hoch, dann nickte sie langsam.

»Gut. Siehst du diesen Wasserschlauch neben dem Feuer? Das Wasser wird jetzt warm sein. Wir setzen uns so, daß wir dir den Rücken zukehren. Ich möchte, daß du deine Kleider ausziehst, dich mit dem Wasser aus dem Schlauch wäschst, indem du den Stöpsel aufmachst, und danach in die Fellrolle kriechst. Dann machst du ein Geräusch – hier, klopfe mit dem Stock – und wir waschen und trocknen deine Kleider. Dann gehen wir wieder weg, und du kannst sie anziehen.

Hast du das verstanden?«

Celeste nickte wieder. Sie war verzweifelt dagegen, zu tun, was er vorschlug, aber er wünschte es eindeutig. Er war bei weitem der größte Mensch, den sie jemals gesehen hatte. Sogar Dexter erschien ihr im Vergleich klein und schmächtig. Sie hatte ihren Stock irgendwo fallengelassen und keine Möglichkeit, sich zu weigern. Tor und Tristal gingen hinüber zum Rand der Felsnase und setzten sich mit dem Rücken zu ihr hin. Celeste sah Steine und Stöcke, die sie als Waffen verwenden konnte, aber sie tat, zitternd vor Kälte und Angst, was Tor gesagt hatte und legte ihre Kleider ab. Ihr weißer, dünner Körper leuchtete im Feuerschein, während sie die beiden beobachtete, die sich mit dem Rücken zu ihr leise unterhielten. Sie sah, wie Tristal die Messerklinge hochhielt, mit der er schnitzte, und wie Tor sie beiseiteschob, so daß der Junge kein Spiegelbild von ihr darin auffangen konnte. Sie wusch sich im warmen Wasser, staunte, daß man es hier einfach auf den Boden fallen und versickern ließ, und erkannte dann, daß natürlich ein unendlicher Wasservorrat als Regen fiel und in den Strömen außerhalb von Kuppel und Ebenen floß.

Niemand hatte dieses Wasser gereinigt. Was war mit der Strahlung? Nun, ihnen schien sie nicht zu schaden. Celeste lief zu Tors Fellrolle, steckte ihre langen, schlanken Beine hinein und wand sich selbst hinterher, bis nur noch ihr Kopf hervorschaute. Das Fell war angenehm weich, roch aber unsauber. Sie streckte die Hand aus und klopfte mit einem Stock auf den Felsen. Tor kam herüber und blickte, die Hände auf den Hüften, lachend auf sie herunter.

»Du siehst aus wie eine Maus in ihrem kleinen Loch, gut«, sagte er. Dann kniete er schnell nieder, nahm ihren Kopf und küßte sie auf die Stirn. Sie spürte, wie sein rauher Bart über ihre Wangen strich und sich dann entfernte. Ihr Herz hüpfte vor Schreck über das plötzlich vor ihr aufgetauchte Gesicht. Ein Kuß. In den Ebenen küßte man sich nie, aber auf Bändern hatte sie es schon gesehen. Cohen-Davies hatte ihr einmal eine längere Abhandlung über das Küssen gehalten und lachend angeboten, ihr zu zeigen, wie die Alten es gemacht hatten, aber als sie Bereitschaft bekundete, erklärte er, daß das ein antiso-zialer Brauch sei, der zu ihrem Überleben in Kuppel und Ebenen nicht passe. Die Genetiker waren dagegen, da es zu den emotionellen Beziehungen führte, welche ihre Bemühungen, die menschliche Rasse für die Zukunft zu reinigen und zu erhalten, sehr er-schwerten.

Aber Tor war sofort aufgestanden und hatte Tristal zugesehen, der zum Bach weiter unten ging, um den Schlamm von ihrem Körperstrumpf und ihrem Gymnastikgewand zu spülen. Der Junge hatte einen Stoffschuh fallenlassen, und Tor trug ihn ihm hinterher und ließ Celeste allein am Feuer zurück.

Was für ein Wunder – ein paar Schritte außerhalb ihrer lebenslangen Heimat. Sie konnte das Feuer knistern und krachen hören, und der Wind machte in den kahlen Ästen darüber ein hohles Geräusch, das sie noch nie gehört hatte. Ein paar Pflanzen sprossen aus der kalten Erde, und unterhalb des Feuers sah sie eine kleine, weiße Blume mit vielen Blütenblättern und dunklen, breiten, bogenförmig eingeschnittenen Blättern. Sie wollte hingehen, aber sie lag nackt in der Fellrolle. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas von so schlichter Schönheit gesehen zu haben. Weiter unten entdeckte sie noch mehr Blüten, aber sie waren in der Dunkelheit schlecht zu erkennen. Als Celeste überlegte, was es bedeutete, wo sie war und wie es da war, wurde sie von ihren Gefühlen des Staunens und Entsetzens beinahe überwältigt. Sie weinte in den Rand des Fells, zitternd und zusammengekrümmt, und als sie aufblickte, sah sie den Mann und den Jungen in ihrer Nähe. Ihre Kleider hingen über einem Ast, der mit einer Stütze neben das Feuer gestellt worden war. Ein leichter Regen hatte eingesetzt, be-rieselte Tors Haar und seinen Bart mit Perlen und verklebte die Haarenden des Fellmantels auf seinen Schultern zu Spitzen.

Tristal kniete neben ihr nieder. »Keine Angst«, sagte er. »Wir tun alles, was wir können, um dir zu helfen. Wir bringen dich nach Hause. Hast du Hunger? Ich will dir ein wenig Murmeltiersuppe geben.

Es sind wilde Zwiebeln drin. Vielleicht schmeckt sie dir.« Er brachte einen ausgepichten Becher dampfender Suppe und stellte ihn so hin, daß sie ihn von der Fellrolle aus erreichen konnte. Dann wandte er sich ab und schlenderte davon.

Tor rief von der anderen Seite des Feuerscheins nach ihm und legte ihm den Arm um die Schultern.

»Gut so. Laß sie in Ruhe. Sie soll sich an uns gewöhnen. Wir werden sie zu ihren Angehörigen bringen, wer immer sie sein mögen. Wahrscheinlich kommt ihr sogar dieses Essen sehr fremd vor.«

Tristal hätte sie gerne beobachtet, wagte es aber nicht. Aber dann drehte er sich doch um und sagte: »Nachtmädchen, die Suppe wird dir schmecken. Versuche zuerst nur die Brühe. Tor hat sie für mich gemacht. Ich war krank. Sie ist leicht zu essen.« Tor gab ihm einen Rippenstoß, und sie ließen sich auf der anderen Seite des Feuers nieder. Tristal fing an, sein Messer zu schärfen, aber Tor veranlaßte ihn, es weg-zulegen.

Celeste schnupperte zuerst an der Suppe. Sie roch fremd und scharf, so animalisch wie das Fell, in das ihr Körper gekuschelt war. Sie nippte vorsichtig, und ein köstlicher Geschmack, wie sie ihn noch nie erlebt hatte, breitete sich in ihrem Munde aus. Aber die Suppe war heiß, sie verbrannte sich fast daran; in der Kuppel kam das Essen mit einer Temperatur von achtundzwanzig Grad, genau portioniert und immer gleich schmeckend aus dem Autoservierer. Ihre Lippen schmerzten von der Hitze, aber das Aroma von Fleisch und Zwiebeln umgab ihre Zunge wie ein Narkotikum und betäubte angenehm ihre Sinne.

Sie trank den ganzen Becher leer, dann schlug sie mit ihrem Stock gegen einen Stein und hielt das leere Ge-fäß hin. Tristal nahm es und füllte nach. Wieder trank sie, fing kleine Fleischstückchen mit ihren Zähnen und betastete sie, während sie jedes gründlich kaute.

Plötzlich fühlte sie sich schläfrig, kuschelte sich in die Fellrolle und war Sekunden später eingeschlafen.

Tor und Tristal spielten ein Spiel, das ›Na,na‹, das Rhythmusspiel der Shumai, und blickten dabei gelegentlich zu dem Mädchen hinüber. Schließlich stand Tor auf, nahm ihre getrockneten Kleider herunter und legte sie zusammen. Als er im Feuer stocherte, erwachte sie. Der Regen hatte sich in feuchten, groß-

flockigen Schnee verwandelt; die Funken stiegen auf und schwärmten in das lautlos fallende Weiß. Celeste war momentan verwirrt und schwindlig vom Anblick der entgegengesetzten Wirbel aus Feuer und schwach erkennbaren Flocken. Was war das?

Tor blickte zu ihr hinunter. »Es schneit. Es ist wieder kälter geworden.« Sie nickte. »Hier sind deine Kleider. Zieh dich an«, fuhr er fort. »Tris und ich werden dir wieder den Rücken zukehren. Dann kannst du herauskommen, wenn du willst, oder weiterschlafen.«

Celeste zog sich an, sie schauderte in ihren verräu-cherten Kleidern, dann ging sie unter der Felsnase hervor und hielt die Hand in den Schnee, der ver-klumpte und schmolz, als er ihre warme Haut be-rührte. Was war mit den Blumen? Sie ging zu ihnen, kniete nieder, sah, wie sich der Schnee langsam auf sie häufte und sie niederdrückte. Mußten sie nun sterben?

Tor trat hinter sie. »Keine Angst«, sagte er. »Das sind Blutwurzen, die sind daran gewöhnt. Fast jedes Jahr fällt Schnee auf die Blüten. Wenn er schmilzt, springen sie wieder auf.«

Sie drehte sich um und runzelte die Stirn. Konnte das sein? Er streckte die Hand aus, und sie nahm sie und zog sich hoch. Sie hielt die Hand fest, spürte ihre Härte, die Schwielen – und ihre Größe, sie war viel größer als die von Royal, sogar als die von Dexter.

War er ein Mutant? Nein. Er war ihr zu ähnlich, und seine elternhafte Sanftheit war eine Dimension, die neu für sie war.

»Leg dich lieber wieder hin«, sagte er. »Morgen bringen wir dich zu deinen Leuten, wer sie auch immer sein mögen.«

Sie kroch zurück in Tors Fellrolle, während Tristal in die seine schlüpfte und Tor Blätter zwischen den beiden aufhäufte, sich hineinwühlte und Raran rief, sie solle sich zu ihm legen. Der große Hund gehorchte, ließ aber eine Vorderpfote auf Tristal ruhen. Bald lagen sie alle ruhig da und atmeten langsam und regelmäßig. Der Hund seufzte wie ein Mensch. Das Feuer brannte nieder, und Celeste starrte staunend nach oben, weil sie, fast ohne zu überlegen, aus einer Welt heraus-und in eine zweite, ganz andere einge-treten war. Sie atmete die feuchte Frühjahrskälte ein, beobachtete den fallenden Schnee und sank schließ-

lich in einen tiefen Schlummer, entschlossen, nicht zurückzugehen. Nein. Wer weiß, was sie wegen ihres Ungehorsams und ihrer Initiative mit ihr machen würden. Sicher würden sie ihr nicht glauben, was sie gesehen hatte, außer sie nahm es mit. Aber dann würden sie wütend sein, weil sie in die reine Welt von Kuppeln und Ebenen, die mehr als tausend Jahre lang sorgfältig konserviert worden war, Strahlung und Mikroorganismen einschleppte.

Ihr letzter Eindruck vor dem Einschlafen war ein Erinnerungsbild – Butto, verschwitzt und nackt, und seine Kompfreunde, wie sie den toten Fötus in die Recyclingröhre gekippt hatten, und an das schwap-pende Geräusch, das der nasse Fleischklumpen dabei verursacht hatte. Sie schauderte unwillkürlich. Tor spürte ihre Bewegung, streckte die Hand hinüber und strich ihr im Dunkeln übers Haar. Nein. Sie würde nicht zurückkehren.

Sie erwachte am Morgen, als Tor sich regte und aufstand. Nun sah sie, daß sie in einer Senke zwischen Bäumen lagen. Im aufsteigenden Licht stellte sie fest, daß jeder Ast und jeder Zweig mit dickem, weißem Schnee bedeckt war, der schon jetzt anfing zu schmelzen und in die Helle eines blauen Tages her-unterzuregnen. Bei diesem fremdartig schönen Anblick schrie sie auf. Tor drehte sich um und sah sie an, lächelte über ihre geweiteten Augen und ging dann zum Feuer, um neues Holz aufzulegen. Alle seine Bewegungen waren fließend und sicher, sie wirkten langsam, waren aber so flink, als hätte er sie vorher studiert und bis zur Perfektion trainiert.

Celeste stand auf, zitternd vor Kälte in ihrem dünnen Gewand, und streifte sich die Stoffschuhe über.

Sie ging zum Feuer, streckte ihre Hände hin, zog sie vor der plötzlichen, starken Hitze zurück und streckte sie dann wieder aus. Die fremdartige Wild-heit ihrer Umgebung erstaunte sie wie ein Traum. Tor legte ihr seinen Mantel um die Schultern und schnallte ihr seinen Leibriemen um die Taille. Der Mantel schien sie zu verschlucken.

Er lachte. »Erst Tris, und nun kommst du heimatlo-ses Kind auch noch dazu. Ich sollte vielleicht einen Kindergarten aufmachen.« Sie runzelte die Stirn.

»Nun, jedenfalls verstehst du, was ich sage«, fügte er hinzu. »Setz dich auf die Fellrolle! Wir müssen dir irgendwelche Schuhe machen; in dieser Nässe kommst du mit denen nicht weit.« Er deutete auf ihr dünnes Schuhwerk.

Sie tat, was er verlangte, und er nahm ein Stück Fell aus seinem Rucksack, kniete zu ihren Füßen nieder und nahm ein paarmal schnell Maß, wobei sie einen sonderbaren Schauder ungewohnter Vertrautheit spürte. Dann lehnte er sich gegen den Felsen und schnitt mit einem scharfen Messer ein primitives Paar weicher Stiefel zu.

»Weck Tris auf, Nachtmädchen! Er soll sie dir nä-

hen, während ich etwas zu essen mache.«

Sie mußte über den Hund hinweggreifen, der wach aber entspannt dalag. Raran ließ ein leichtes, kehliges Knurren hören, und Celeste zuckte zurück. Tor stand auf und stellte sich vor den Hund. Raran rollte sich herum, wedelte mit dem Schwanz und kroch vor seine Füße. Tor hielt sie am Halsband fest. »Jetzt weck ihn auf!«

Wieder griff Celeste hinüber und rüttelte Tristal an der Schulter. Er wachte nur langsam auf, mit ver-quollenen Augen, blickte sich um, als hätte er vergessen, was letzte Nacht passiert war und registrierte erstaunt die Anwesenheit des Mädchens.

»Sie hat unser Nachtmädchen angeknurrt, Tris. Du solltest Raran lieber beibringen, daß sie jetzt noch einen Herrn hat.«

Tristal rollte sich zu dem Mädchen hinüber, dann klopfte er auf seinen Schoß. Raran kam sofort zu ihm und legte den Kopf hinein. »Jetzt streichle sie!« sagte er zu Celeste. Sie streckte die Hand aus, und die Hündin begann wieder tief zu grollen. Tris riß sie fest am Halsband, und sie drückte den Kopf noch stärker gegen sein Bein. »Jetzt!« sagte er wieder, und Celeste berührte ängstlich den Kopf der Hündin, streichelte ihn dann und spürte seine glatte Wärme, weicher als Schlafdecken. Raran schielte sie an. Celeste sah das lange Maul mit den vorstehenden, abgestumpften Reißzähnen und dahinter die Reihen spitzer Backen-zähne, freigelegt von einer schlaffen Lippe mit schwarzem Bogensaum. Das Tier hechelte. Celeste fühlte sich von einem flüchtigen Schwindel ergriffen.

Das war eine Bestie. Sie saß da und berührte eine Bestie, deren Kopf allein länger war als Dexters Nager.

Das plötzliche Gefühl des Neuen wich von ihr; sie wich zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Als sie den Hundegeruch daran wahrnahm, wischte sie sie an Tors Mantel ab, aber schon steckte ihr Raran die Nase wieder in die Hand und befeuchtete sie mit Schleim, dann leckte sie die Finger mit ihrer langen Zunge. Celeste stand da und hielt die Hände in die Höhe. Würde sie jemals wieder sauber werden? Raran stand vor ihr und wedelte jetzt mit ihrem lang-haarigen Schwanz. Celeste rannte zu Tor und klammerte sich an ihn.

»Raran ist nur ein Hund. Über Hunde weißt du wohl auch nicht viel, wie? Das ist schon sonderbar.

Was sollen wir nur mit dir anfangen? Keine Angst.

Heute bringen wir dich nach Hause.«

Sie klammerte sich nur noch fester an ihn, öffnete den Mund und wollte wieder sprechen, sie spürte seine massige Gestalt, seine Wärme, seinen Arm, der sie umfangen hielt.

»Ich ...«, sagte sie. »Ich möchte nirgendwo hingehen. Ich ... ich möchte bei euch bleiben. Ich ... ich kann nicht ... ich kann nicht zurück.«

Tristal blickte von seiner Näharbeit auf. »Sie kann ja doch sprechen. Es hört sich an, als wäre sie eine Pelbar, glaube ich. Nicht wahr?«

»Sonderbar. Ja, es stimmt«, sagte Tor. »Dann wollen wir also im Pelbardialekt sprechen. Ist das besser?

Verstehst du uns deutlicher?«

»Ja.«

»Bist du eine Pelbar?«

»Nein. Ich ... ich ...«

»Das ist nicht so wichtig. Aber ich weiß, daß du nicht mehr Nachtmädchen genannt werden willst, nur weil wir keinen besseren Namen für dich haben.

Wie heißt du?«

»Celeste.«

»Also Celeste. Kein Pelbarname. Bist du sicher, daß du nicht nach Hause willst?«

»Nie. Nein. Ich möcht bei euch bleiben. Hier drau-

ßen.«

» Hier draußen? Wir werden nicht hier draußen bleiben, Celeste. Wir gehen nach Pelbarigan. Möchtest du mitkommen?«

»Pelbarigan? Ja, nimm mich mit! Pelbarigan?«

»Das ist eine Stadt am Heart-Fluß. Eine Pelbarstadt.

Du siehst nicht aus, als wärst du in der Verfassung zum Laufen, aber gehen kannst du. Wir werden mehrere Tage brauchen. Willst du also mit uns kommen?«

Celeste nickte und fragte sich gleichzeitig, worauf sie sich da einließ. Instinktiv griff ihre Hand nach der Knopfreihe an ihrem Gürtel, um nachzusehen, was über Pelbarigan im Zentralspeicher zu finden war, aber das Gerät war natürlich nicht da, und sie spürte nur Tors schweren Leibriemen. Als sie sich umdrehte, sah sie Tristal, der für sie arbeitete, er schob eine breite Stahlnadel durch das Leder ihrer neuen Stiefel.

Er lächelte sie schüchtern an, ohne etwas zu sagen.

Sein Haar glänzte. Es war viel blonder als das von Tor, aber wie bei diesem war es hinter seinem Kopf in einem einzelnen Zopf festgebunden.

Sie hatte sich Tristal nie genau angeschaut, und jetzt sah sie seine klaren, ruhigen Augen, von verwa-schenem Blau. Wieder verspürte sie den Schrecken und das Staunen über das Neue. Niemand in Kuppel und Ebenen sah so aus. Alles Dunkle war aus ihm herausgespült. Aber er war eindeutig ein Wilder, hatte nicht ihre sorgfältige Erziehung und bestimmt keine richtigen technischen Kenntnisse, wie er da flink mit seiner schweren Nadel arbeitete, einen hell-roten Blutstropfen am Zeigefinger.

Tor reichte ihr eine ausgepichte Schale mit dickem, sämigem Eintopf aus denselben Zutaten wie in der Nacht zuvor. Sie aß mit Appetit und blickte dabei hinauf zu einem Eichhörnchen, das zwischen den hohen Ästen herumkletterte und Schneeklumpen ver-streute. Sie hielt inne, den Löffel nahe am Mund. Tristal beobachtete sie. Unten im Tal klopfte ein Specht an einen Baum, und sie wandte erstaunt den Kopf diesem Geräusch zu. Eine unbestimmte Idee entstand in Tristals Kopf, aber er behielt sie für sich.

Im Laufe des Vormittags wurde er mit seinen Stiefeln fertig, er kniete nieder und streifte sie Celeste über, die Slipper ließ er ihr an, dann zeigte er ihr, wie sie die Stiefel binden mußte.

Tristal sagte zu Tor undeutlich etwas davon, er wolle den Berg hinaufgehen, ehe sie aufbrachen, dann machte er sich mit Raran durch den schnell schmelzenden Schnee auf den Weg. In einem leichten Bogen ging er zu der Stelle, wo er Celeste gefunden hatte. Ein kleines Kästchen glänzte im geschmolzenen Schnee. Tristal hob es vorsichtig auf, drehte es um und untersuchte es. Dann steckte er es in seinen Sack und ging weiter den Berg hinauf; bald darauf starrte er nach unten, hinaus über die leere Stelle zu der schweigenden, schneebedeckten Kuppel. Lange schaute er hinüber. Er war sicher, daß Celeste aus der Kuppel gekommen war. Er wollte es Tor nicht er-zählen, damit sein Onkel nicht versuchte, das Mädchen zurückzubringen, und sich dabei an der leeren Stelle vergiftete. Was war mit Celeste? Würde das Gift ihr schaden? Hatte sie sich bald genug gewaschen? War die Strecke so kurz, daß sie sie gefahrlos hätte zurücklegen können? Wie konnte er sie warnen, ohne zu verraten, daß er wußte, woher sie kam, was sie doch sichtlich zu verbergen suchte? Nun, für den Augenblick wollte er es auf sich beruhen lassen.

Noch vor Mittag brachen sie zum Fluß auf. Sie kamen langsam voran, und Celeste fiel es schwer, schneller zu werden. Sie hatte regelmäßig auf Ebene eins im hinteren Teil trainiert und alle vorgeschriebe-nen Übungen gemacht, aber das hatte sie keinesfalls auf das Leben draußen in der Wildnis vorbereitet. Sie bemühte sich, Schritt zu halten, aber die beiden Shumai mußten sehr langsam gehen, sie sagten jedoch nie etwas dazu, sondern blieben freundlich und schweigsam. Sie merkte, daß sie sich auch nicht sehr wohl fühlte. Vielleicht war es das Essen, die Aufre-gung, die Flut von andersartigen Dingen. Teilweise mochte es auch an ihrer Angst vor diesem Universum von Neuem liegen. Sie biß die Zähne zusammen und ging weiter.

Aber bei Einbruch der Nacht war sie so erschöpft, daß sie neben dem Feuer, das Tristal anmachte, auf der Stelle einschlief, während Tor ins Gestrüpp schlenderte und kurz darauf mit zwei Kaninchen an seinem Gürtel zurückkehrte. Er hatte die Tiere abge-balgt, ohne daß Celeste es sehen konnte, damit sie nicht erschrak oder sich ekelte, dann schnitt er – den Rücken ihr zugekehrt – das Fleisch in einen sieden-den Kessel und fügte die wilden Knollen hinzu, die sie unterwegs ausgegraben hatten. Aber Celeste schlief fest, nur ihr dunkles Haar war an der Öffnung von Tors Fellrolle zu sehen.

Am nächsten Morgen fühlte sich Celeste noch schlechter. Sie kämpfte sich hoch und ging bis Mittag, aber dann schnitt Tor mit seiner Axt einige Schößlinge ab, machte eine Bahre und legte sie hinein. Er und Tristal trugen sie bis zum späten Nachmittag, dann entschied Tor nach einem Blick auf seinen Neffen, daß auch der Junge am Ende seiner Kräfte war. Sie gingen weiter, Tor trug die Bahre vorn, und Celeste blickte nach hinten, in Tristals Gesicht, beobachtete seine schnellen Bewegungen, bemerkte seine Erschöpfung, stellte fest, daß er sie fast ohne darüber nachzudenken und ohne Protest ertrug. Sie hielt das für passiv und bewunderte ihn nicht dafür.

Am folgenden Tag schien sie noch schwächer zu sein und Fieber zu haben; wieder trugen die beiden Männer sie, und am späten Vormittag erreichten sie den Fluß. Sie holten Tors Kanu aus dem Baum, in den der Shumai es gehängt hatte, und trieben bald auf den breiten Strom hinaus.

Sie beobachtete Thor, der sie besorgt ansah, während er flußaufwärts ruderte. Sie zeigte kaum Interesse an der großen Wasserfläche, nachdem sie anfänglich davor erschrocken war, und daran erkannte er, daß sie sehr krank sein mußte. Sie konnten nur hoffen, sie sobald wie möglich nach Pelbarigan zu bringen. Celeste schlief unruhig. Sie konnte das Essen nicht bei sich behalten, das Tristal ihr eingab, während er ihren Kopf in seinen Schoß bettete.

Einmal, als sie aufwachte, sah sie nur Dunkelheit, dann kleine Lichtpunkte über sich. Sie schrie vor Angst und setzte sich auf, dann spürte sie Tors Hand auf ihrem Knöchel, und er sagte: »Leg dich hin, Kleines! Wir fahren nach Pelbarigan. Leg dich hin und schau dir die Sterne an! Da. Siehst du, wie die Win-dungen der großen Schlange über den Süden greifen?

Wenn du lange genug hinschaust, siehst du, wie eine Sternschnuppe ihr Licht über den ganzen Himmel zieht. Aber du kannst auch schlafen, wenn du willst.«

Später erwachte sie wieder. Alle Sterne hatten sich bewegt. Raran lag neben ihr, und sie merkte, daß auch Tristal, vor ihr zusammengerollt, im Bug des Kanus schlief. Tor ruderte mit gleichmäßigen Schlä-

gen hinter ihr, und als sie sich regte, sagte er: »Schau noch einmal, Kleines. Siehst du? Über dir ist die Ster-nenkrone. Es sind acht Sterne, und sie heißen Ivi, Odu, Ictu, Nod, Efen Assu, Mok und Orau. Du wirst sie kennenlernen, wenn du unser Sternenspiel lernst.«

»Wo sind wir?« flüsterte sie.

»Ein Stück südlich von Pelbarigan. Bald geht die Sonne auf, und dann brauchst du nur noch den Kopf zu drehen, um die Türme der großen steinernen Stadt zu sehen, wo man viel besser für dich sorgen wird, als wir es können.«

»Tor?«

»Ja?«

»Du hast die ganze Nacht und den ganzen Tag gearbeitet?«

»Nein. Das ist ein Spiel, Celeste. Für jeden Shumai ist es die wahre Flamme des Lebens, draußen in der Luft oder unter diesem Sternenhimmel mit Freunden unterwegs zu sein.«

»Ich verstehe es nicht. Es ist alles so fremd.«

Wie um die Fremdheit noch zu steigern, ertönte in dem trüben, allmählich heller werdenden Licht das lange Horn vom Rive-Turm von Pelbarigan, der Schall hallte klagend bis zu ihnen, warf sich dann wieder auf den Fluß hinaus, prallte immer und immer wieder von jedem herausragenden Vorgebirge der Kalkklippen ab. Tor nahm das lange Stierhorn, das er im Kanu liegen hatte, und blies lang und rund eine Erwiderung, dann ruderte er weiter, wie Tristal im Bug, der inzwischen aufgewacht war und zum Ruder gegriffen hatte.

Celeste wollte sich aufrichten, verlor aber das Interesse. Tor drehte das Kanu langsam herum, damit sie in der Dämmerung einen Blick auf die Stadt werfen konnte, dann fuhr er weiter nach Norden, wo vier Gardisten am Ufer auf sie warteten, schließlich das Boot nahmen und es den sandigen Landehang hi-naufzogen. Ahroe war bei ihnen.

»Ahroe«, sagte Tor. »Das ist Tristal. Wo ist Stel? Er hatte recht. Das ist Celeste. Sie kommt aus der Kuppel.«

»Was? Du hast es gewußt?« fragte Tristal.

Tor lachte. »Ich fürchte, das Draußensein war zuviel für sie. Sie ist sehr krank. Könnt ihr euch um sie kümmern?«

Ahroes Lächeln verblaßte, und sie blies auf dem Horn an ihrer Seite nach weiteren Gardisten. »Tor«, sagte sie. »Du mußt die ganze Nacht gerudert haben.

– Aus der Kuppel? Erstaunlich. Das mußt du uns er-zählen. Komm mit in unser Haus! Wir haben ein Bett für dich und eins für Tristal. Stel wird dir zu essen geben, dann kannst du schlafen. Die Gardisten und ich kümmern uns um das Mädchen. Celeste?« Sich niederbeugend sagte sie: »Hallo, Celeste! Ich bin Ahroe. Willkommen in Pelbarigan. Du wirst bald wieder auf die Beine kommen.«

Celeste schrie auf und streckte die Hände nach Tor aus, der kniete neben ihr nieder und zog sie zu sich hoch. »Du brauchst keine Angst zu haben. Sie werden gut für dich sorgen. Besser als wir. Du kommst wieder unter ein Dach. Ich fürchte, unsere Behandlung ist dir gar nicht gut bekommen. Ahroe wird dich be-hüten. Siehst du? Sie wird wie eine Mutter zu dir sein. Tristal ist wie dein Bruder. Sie haben alles, was du brauchst, nicht nur ein Feuer an einem Felsen und eine schmutzige Fellrolle und Murmeltiereintopf zum Essen. Jetzt gib mir einen Kuß, dann gehe ich mich ausruhen. Es macht mir nichts aus, Tag und Nacht durchzulaufen, aber bei dieser Ruderei kriege ich einen wunden Hintern. Komm, gib mir einen Kuß!«

Celeste hob ihren Mund zu seinem Bart, aber sie wußte nicht, wie sie küssen sollte. Tor gluckste und küßte sie auf die Stirn, dann ließ er sie wieder hinunter. Er stand auf, streckte sich, wischte sich die Hände an den Hosen ab und schritt mit Tristal auf das kleine Haus von Stel und Ahroe zu, das außerhalb der Mauern lag. Raran ging mit wiegendem Schritt neben dem Jungen her. Celeste drehte den Kopf und sah ihm nach, als die Gardisten sie auf eine Bahre legten, sie aufhoben und, begleitet von Ahroe, die die Hand des Mädchens hielt, auf das Haupttor zugingen.