Edel sei der Mensch,
hilfreich und gut
 

 

 

Wer liebt, ist natürlich bereit, dem geliebten Wesen zu helfen. Für besonders edel und gut gilt es aber, auch dort hilfreich zu sein, wo keine besonderen Liebesbande bestehen, also zum Beispiel einem Fremden gegenüber. Selbstlose Hilfe ist ein hohes Ideal und enthält angeblich ihre eigene Belohnung.

Das braucht uns keineswegs abzuschrecken, denn wie jede andere gute Tat kann auch Hilfsbereitschaft von des Gedankens Blässe angekränkelt werden. Das sahen wir bereits beim Thema Liebe. Um Zweifel an der Selbstlosigkeit und Reinheit unserer Hilfsbereitschaft zu entwickeln, brauchen wir uns nur zu fragen, ob wir dabei nicht doch Hintergedanken haben. Tat ich es als Einzahlung auf mein himmlisches Sparkonto? Um zu imponieren? Bewundert zu werden? Um den anderen zur Dankbarkeit mir gegenüber zu zwingen? Ganz einfach, um meinen seelischen Katzenjammer zu kurieren? Sie sehen bereits, der Macht des negativen Denkens sind kaum Schranken gesetzt, denn wer sucht, der findet. Dem Reinen ist angeblich alles rein; der Pessimist dagegen entdeckt überall den Pferdefuß, die Achillesferse oder was es dafür auf dem Gebiet der Podiatrie noch andere Metaphern gibt.

Wem dies Schwierigkeiten bereitet, der nehme sich nur die einschlägige Fachliteratur vor. Die wird ihm die Augen schon öffnen. Da findet er heraus, daß der brave Feuerwehrmann in Wirklichkeit ein verhinderter Pyromane ist; der heldenhafte Soldat lebt seine tief unbewußten selbstmörderischen Triebe beziehungsweise seine mörderischen Instinkte aus; der Polizist gibt sich mit den Verbrechen anderer Menschen ab, um nicht selbst zum Verbrecher zu werden; der berühmte Detektiv hat eine nur mühsam überdeckte paranoide Grundeinstellung; jeder Chirurg ist ein verkappter Sadist; der Gynäkologe ein Voyeur; der Psychiater will Gott spielen. Voilà – so einfach ist’s, die Fäulnis der Welt zu entlarven.

Aber auch der Helfer, dem diese Art des Entdeckens der »wahren« Beweggründe nicht liegt, kann Hilfe zu einer den Laien besonders verblüffenden Form der Hölle machen. Wir brauchen uns dazu nur eine Zweierbeziehung vorzustellen, die sich hauptsächlich auf der Hilfe des einen für den anderen Partner aufbaut. Es liegt in der Natur einer solchen Beziehung, daß sie nur zu einem von zwei möglichen Resultaten führen kann, und beide sind fatal: Entweder bleibt die Hilfe erfolglos, oder sie ist erfolgreich (eine dritte Möglichkeit gibt es wieder einmal nicht). Im ersteren Falle wird auch der eingefleischteste Helfer endlich genug haben und sich tief enttäuscht und verbittert aus der Beziehung zurückziehen. Ist der Helfer aber erfolgreich und bedarf der Geholfene daher der Hilfe nicht mehr, dann bricht die Beziehung gerade deswegen auseinander. Ihr Sinn und Zweck hat sich damit ja erschöpft.

Als literarische Beispiele fallen einem dazu die vielen Romane und Libretti besonders des 19. Jahrhunderts vom jungen Edelmann ein, der sich die Rettung und Seelenwäsche der dämonischen (in Wahrheit aber unschuldigen und liebenswerten) Prostituierten zum Lebensziel gemacht hat. Praktische Beispiele liefern uns die fast immer intelligenten, verantwortungsvollen, aufopfernden Frauen, mit ihrer fatalen Neigung, Trinker, Spieler oder Kriminelle durch die Macht ihrer Liebe in Tugendbolde zu verwandeln, und die bis zum bitteren Ende auf mehr desselben Verhaltens des Mannes mit mehr derselben Liebe und Hilfsbereitschaft reagieren. In bezug auf ihr Unglücklichkeitspotential sind diese Beziehungen fast perfekt, da die Partner in einer Weise zueinander passen und sich aufeinander einstellen, wie es in positiveren Beziehungen kaum möglich zu sein scheint. (Hierin irrte Rabbi Jochanan, als er sagte: »Ein passendes Ehepaar unter Menschen zusammenzubringen ist schwerer als das Wunder Mosi im Roten Meer.«) Um sich aufopfern zu können, braucht eine solche Frau einen problematischen und hinfälligen Menschen; im Leben eines einigermaßen selbständig funktionierenden Mannes sieht sie für ihre Hilfe – und daher für sich selbst – weder genügend Raum noch Notwendigkeit. Er andererseits braucht einen unverzagten Helfer, um weiterhin Schiffbruch erleiden zu können. Eine Partnerin, die dem Grundsatz huldigt, daß eine Hand die andere wäscht, dürfte aus dieser Beziehung sehr bald aussteigen. Das Rezept also: Man suche sich den Partner, der durch sein So- Sein das eigene So-sein-Wollen ermöglicht und ratifiziert, doch hüte man sich auch hier vor dem Ankommen am Ziel.

In der Kommunikationstheorie heißt dieses Beziehungsmuster Kollusion. Gemeint ist damit ein subtiles Arrangement, ein Quid pro quo, eine Vereinbarung auf der Beziehungsebene (unter Umständen ganz unbewußt), wodurch man sich vom anderen als die Person bestätigen und ratifizieren läßt, als die man sich selbst sieht. Der Uneingeweihte könnte sich hier mit Recht fragen, weshalb man dazu eines Partners bedarf. Die Antwort ist einfach: Stellen Sie sich eine Mutter ohne Kind, einen Arzt ohne Kranken, einen Staatschef ohne Staat vor. Das wären nur Schemen, provisorische Menschen sozusagen. Erst durch den Partner, der die notwendige Rolle uns gegenüber spielt, werden wir »wirklich «; ohne ihn sind wir auf unsere Träume angewiesen, und die sind bekanntlich Schäume. Warum aber soll irgend jemand bereit sein, diese bestimmte Rolle für uns zu spielen? Dafür gibt es zwei Beweggründe:

1. Die Rolle, die er spielen muß, um mich »wirklich« zu machen, ist die Rolle, die er selbst spielen will, um seine eigene »Wirklichkeit« herzustellen. Der erste Eindruck ist der eines perfekten Arrangements, nicht wahr? Bemerken Sie bitte aber, daß es, um weiterhin perfekt zu sein, sich absolut nicht ändern darf. Doch schon Ovid schrieb in seinen Metamorphosen: Nichts in der Welt hat Bestand, und immer folgt Ebbe den Fluten. Auf die Kollusion angewendet heißt das, daß Kinder die fatale Neigung haben, aufzuwachsen; Patienten, zu gesunden; und daß damit auf das Hochgefühl des »Stimmens« der Beziehung bald die Ebbe der Ernüchterung folgt und mit ihr der verzweifelte Versuch, dem anderen das Ausbrechen unmöglich zu machen. Auch hierzu Sartre [19, S. 467]:

 

»Während ich versuche, mich vom Zugriff des Anderen zu befreien, versucht der Andere, sich von meinem zu befreien; während ich danach strebe, den Anderen zu unterwerfen, strebt der Andere danach, mich zu unterwerfen. Es handelt sich hier keineswegs um einseitige Verbindungen mit einem Objekt-ansich, sondern um gegenseitige und störende Beziehungen.«

 

Da jede Kollusion notwendigerweise voraussetzt, daß der andere von sich aus genauso sein muß, wie ich ihn will, mündet sie unweigerlich in eine »Sei spontan!«-Paradoxie.

2. Diese Fatalität wird noch offensichtlicher, wenn wir uns den anderen Grund besehen, der einen Partner zum Spielen der für unser Gefühl der »Wirklichkeit« notwendigen Rolle veranlassen kann, nämlich eine der Mühe dieser Akrobatik angemessene Entschädigung. Als Beispiel dafür kommt einem sofort die Prostitution in den Sinn. Der Kunde wünscht sich natürlich, daß die Frau sich ihm nicht nur der Bezahlung wegen hingebe, sondern auch, weil sie es »wirklich « will. (Sie sehen, wie dieser wunderbare Begriff »wirklich« immer wieder hereinspielt.) Es hat den Anschein, daß die begabte Kurtisane es recht gut fertigbringt, diese Illusion zu erwekken und zu erhalten. Bei den weniger talentierten Praktikantinnen kommt es genau an diesem Punkte zur Ernüchterung des Klienten. Dieser Katzenjammer ist jedoch keineswegs auf die Prostitution im engeren Sinne beschränkt; er hat die fatale Neigung, überall dort aufzutreten, wo kollusive Elemente in eine Beziehung hereinspielen. Ein Sadist – so lautet das bekannte Bonmot – ist jemand, der lieb zu einem Masochisten ist. Das Problem vieler homosexueller Beziehungen besteht darin, daß die Betreffenden sich nach einer Beziehung mit einem »wirklichen « Mann sehnen, leider aber feststellen müssen, daß der andere selbst »nur« ein Homosexueller ist.

In seinem Bühnenstück Der Balkon zeichnet Jean Genet [4] ein meisterhaftes Bild dieser kollusiven Welt. Madame Irma ist Leiterin eines Superbordells, in dem die Kunden – selbstverständlich gegen Bezahlung – die Verkörperung ihrer Komplementärrollen mieten können. An einer Stelle zählt Madame einige ihrer Kunden auf. Darunter sind: zwei Könige von Frankreich, mit Krönungsfeierlichkeiten und verschiedenen Ritualen; ein Admiral auf der Brücke seines untergehenden Zerstörers; ein Bischof im Zustande fortwährender Anbetung; ein Richter, der richtet; ein General im Sattel; ein heiliger Sebastian; Christus in Person. (Und all dies, während in der Stadt die Revolution tobt und die nördlichen Stadtbezirke bereits gefallen sind.) Trotz guter Organisation seitens Madame Irmas kommt es aber immer wieder zu ernüchternden Pannen, weil sich auch beim besten Willen die Tatsache nicht vertuschen läßt, daß das Ganze ein bezahltes Spiel ist, und weil außerdem die gemieteten Partner ihre Rollen oft nicht ganz so spielen können oder wollen, wie der Kunde es sich zum Erleben der eigenen »Wirklichkeit« erträumt. So sagt zum Beispiel der »Richter« zur »Diebin «:

 

»Mein Richter-Sein ist eine Emanation deines Diebin-Seins. Du brauchtest dich nur zu weigern … aber ich rate es dir nicht!… dich zu weigern, die zu sein, die du bist – das, was du bist, daher wer du bist – und ich höre auf, zu sein … verschwinde, verdunste. Krepiere. Vernichtet. Verneint… Und dann? Und dann? Aber du wirst dich nicht weigern, nicht wahr? Du wirst dich nicht weigern, eine Diebin zu sein? Das wäre schlecht! Das wäre verbrecherisch! Du würdest mich meines Seins berauben! (Bettelnd.) Sag, meine Kleine, meine Liebe, du wirst dich nicht weigern?

DIEBIN (kokett): Wer weiß?

RICHTER: Was? Was sagst du? Du würdest dich weigern?… Sag mir nochmals, was hast du gestohlen?

DIEBEN (trocken, sich aufrichtend): Nein.

RICHTER: Sag mir, wo? Sei nicht so grausam …

DIEBEN: Duzen Sie mich nicht, wenn ich bitten darf.

RICHTER: Mein Fräulein… meine Dame. Ich bitte Sie. (Wirft sich auf die Knie.) Sehen Sie, ich flehe Sie an? Sie werden mich doch nicht in dieser Stellung darauf warten lassen, ein Richter zu sein? Wenn es keinen Richter gibt, wo kämen wir da schon hin, aber wenn es keine Diebe gäbe?«

 

Das Stück endet mit einer Ansprache Madame Irmas an das Publikum, am Abschluß ihres harten Arbeitstages, oder genauer gesagt, ihrer harten Arbeitsnacht: »Sie müssen nun heimgehen; nach Hause, wo alles – dessen können Sie ganz sicher sein – noch künstlicher ist als hier.« Und als sie das letzte Licht löscht: »Bitte, die Ausgänge sind rechts.« (Hinter der Bühne der Feuerstoß eines Maschinengewehrs.)7