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DER ARBEITSBEGINN BEI Erlenbach & Wächter verlief problemlos und glatt. Die Angestellten begrüßten mich freundlich und gleichzeitig routiniert. Sie taten ein bisschen so, als sei mein Eintritt in ihr Büro seit langer Zeit erwartet gewesen und eigentlich überfällig. In gewisser Weise war ich ein weiterer Darsteller eines unter Architekten weithin bekannten Schemas: Nach einer Anfangszeit als freelancer wechselte ich in feste Verhältnisse. Erlenbach wies mir den früheren Schreibtisch von Autz an. Es gab eine Arbeitsgruppe von drei Kollegen, die sich mit der Hängebrücke beschäftigten, ihr wurde ich zugeordnet. Ich fing sofort an zu arbeiten und langweilte mich bald. Ich merkte es, als ich zu lange aus dem Fenster schaute und mich zu oft fragte, ob der Regen draußen gerade oder schräg vom Himmel fiel. Die Frage war nicht zu beantworten, weil niemand sagen konnte, von welchem Punkt des Himmels sich der Regen von den Wolken löste. Außerdem waren fast immer starke Winde unterwegs und trieben den Regen, bevor er auf der Erde ankam, mal dahin und mal dorthin. Dann beschäftigte ich mich mit der Kollegin, die mir gegenübersaß, Frau Fischer. Sie war etwa fünfunddreißig, schlank, hübsch, staubblond. Sie schob sich fast unablässig ihre seitlich ins Gesicht ragenden Haarspitzen in den Mund, kaute auf dünnen Haarbündeln und merkte es oft nicht mehr. Schon fragte ich mich, ob es irgend etwas gab, was ich fast ununterbrochen tat. Ein umständliches Problem war die Mittagspause. Einige Kollegen zogen sich in den sogenannten Pausenraum zurück, tranken einen Becher Kaffee und aßen ein belegtes Brot, das sie sich von zu Hause mitbrachten. Früher, als ich frei gearbeitet hatte, hatte ich ebenfalls unregelmäßig gegessen. Jetzt arbeitete ich regelmäßig und musste auch regelmäßig essen. Anfangs wollte ich es auch mit einem Brot und einem Apfel versuchen, aber ich scheiterte am Pausenraum selber. Es war ein kleiner, beige gestrichener Raum mit einem Fenster ohne Gardine und einem Eisschrank an der linken Wand. Als ich zum ersten Mal in den Raum hineinsah, stand ein einzelnes verlassenes Joghurt auf dem Resopaltisch in der Mitte. Eine andere Kollegin, Frau Bauernfreund, besorgte sich am Wochenanfang die Speisepläne der umliegenden Fastfood-Lokale und Schnellmetzgereien. Frau Fischer entblödete sich nicht, am Montagmorgen vorzulesen, was es die Woche über da und dort zu essen gab. Etliche Fastfood-Anbieter stellten neuerdings Tische und Stühle nach draußen, ganz so, als wären sie »richtige« Restaurants. Man konnte dann verlassen wirkende Menschen sehen (ähnlich wie das Joghurt auf dem Resopaltisch), die an ungedeckten Tischen saßen und irgend etwas verzehrten.

Auch ich hatte Hunger, aber ich wollte mich weder in ein Fastfood-Lokal setzen noch in einer Imbiss-Ecke herumstehen. Ich lief allein in der Gegend umher und sagte immer mal wieder zu mir: Dein Problem ist lächerlich. Wenn es einen Park gegeben hätte, dann … aber es gab keinen Park. Einmal rief Karin an und bat mich, Michaels Schreibtisch zu räumen und ihr seine Privatsachen mitzubringen. Dabei fand ich den fremden Ausweis, den wir gemeinsam gefunden hatten, zum zweiten Mal. Ich betrachtete ihn und nahm ihn an mich. Ich hatte jetzt zwei Gebrauchtfrauen, einen Gebrauchtjob, einen Gebrauchtwagen und jetzt auch noch einen Gebrauchtschreibtisch. Ich erschrak, erhob mich und lief eine Weile im Büro umher. Draußen, auf den Fenstersimsen anderer Büros, saßen Tauben und brachten ihre würgenden Kehllaute hervor. Ich schreckte an diesem Tag nicht davor zurück, die Würgelaute als Zukunftszeichen meines Lebens zu deuten. Es klang, als würde … ach nein, ich wollte den törichten Vergleich nicht denken. Maria versuchte, mich in bessere Stimmung zu bringen. Sie brachte mich dazu, eine neue Hose, zwei Hemden und eine Sommerjacke zu kaufen. Ich ging tatsächlich ein paar Tage lang mit den neuen Sachen ins Büro und erregte die Bewunderung der Kollegen. Dabei brauchte ich weder neue Kleidung noch die Bewunderung einiger Angestellten. Die neue Sommerjacke hatte zur Folge, dass mich Erlenbach ins Hochbauamt schickte, um ein paar technische Details zu klären. Ich fürchte, dass Erlenbach die Peinlichkeit nicht bemerkte, die er mir mit dieser Bevorzugung zufügte. Wenn die Zudringlichkeiten zu stark wurden, sagte ich mir: Du kannst wieder gehen. Zum Glück konnte ich mich mit Maria auch über lächerliche Einzelheiten aussprechen. Gegenüber Karin war ich viel zurückhaltender. Ich konnte nicht richtig einschätzen, wie privat ihre Beziehung zu Erlenbach war, und ich konnte mich nicht von dem Argwohn freimachen, dass sie ihm von mir erzählt hatte, ohne sich etwas dabei zu denken. Zärtlich und fast mütterlich einfühlsam war Maria. Sie beruhigte mich, redete mir zu, streichelte mich und setzte sich beim Vögeln oft auf mich. Da sie wenig Gewicht hatte, spürte ich hauptsächlich ihre Bewegungen und konnte dabei ihren Körper lange anschauen, was mich tröstete. Bei ihr verlor ich sogar die Zwangsvorstellung, dass ich vom Leben benachteiligt sei; jedenfalls immer mal wieder. Dem tagsüber erinnerten Anblick von Maria hing ich häufig nach, wenn ich still an meinem Schreibtisch saß und Konstruktionspläne zeichnete.

Karin lobte mich, dass ich die Stelle ihres verstorbenen Mannes eingenommen hatte. Das Lob reizte mich, was ich zu verbergen suchte. Auch Maria war froh, dass ich eine feste Stelle hatte. Beide Frauen taten so, als hätte ich zuvor in riskanten Verhältnissen gelebt. Die Stelle hatte zur Folge, dass ich auch dann an meine Arbeit dachte, wenn ich gar nicht arbeitete. Früher war es genau umgekehrt: Ich dachte nicht einmal dann an meine Arbeit, wenn ich arbeitete. Nach etwa drei Wochen bildete sich zwischen den Fingern meiner linken Hand ein Ekzem. Die Haut rötete sich und sprang auf. Zuletzt hatte ich ein solches Ekzem vor vielen Jahren, als die Unmöglichkeit meiner Ehe offenkundig wurde. Ich wusste jetzt, dass irgend etwas in meinen Verhältnissen nicht in Ordnung war. Natürlich sah ich in meiner Stelle den auslösenden Faktor. In diesen Tagen überwies mir die Fahrradversicherung den Rechnungsbetrag für den neuen Sattel, 89,– Euro. Nach der Arbeit suchte ich häufig ein Terrassencafé in der Nähe des Büros auf und machte mir moralische Vorhaltungen. Die Hauptüberlegung war die Frage, ob die Kleinkriminalität ein Ausfluss verfrühter Melancholie oder des vorzeitigen Alterns war. Ich saß vor einem zur Hälfte ausgetrunkenen Milchkaffee, hörte dem Tröpfeln des Regens zu und betrachtete erneut die erbarmungswürdigen, wie Erniedrigte und Beleidigte herumstehenden Altbauten. Eine Wespe hatte starkes Interesse an meinem Milchkaffee und ließ sich wie ein winziger Hubschrauber in die Tassenöffnung hinab. Ich staunte, als ich sah, wie sicher die Wespe sogar in dem engen Tasseninnenraum fliegen konnte. Mit winzigen, schnell wiederholten schaukelnden Bewegungen hielt sie sich im dünnen Luftraum der Tasse und ließ sich dann an einer weniger schaumigen Stelle der Tasseninnenwand nieder. Wenn mich in diesen Augenblicken jemand gefragt hätte, was man am besten nach Feierabend tun soll, hätte ich geantwortet: Suchen Sie sich ein kleines Tier und betrachten Sie es. Aber es kam niemand und fragte mich. Ich kratzte an den Aufschürfungen des Ekzems, so dass die Hautflecke größer und röter wurden und außerdem brannten. Vermutlich juckte es mich, dass ich vielleicht nicht den Mut aufbringen würde, mich aus dieser Lage zu befreien. Oder es juckte mich, dass ich zu feige war, mein mangelndes Interesse an einem Wochenendausflugsplan von Karin einzugestehen. Karin wurde von Zeit zu Zeit von der Angst heimgesucht, sie sei nur mangelhaft gebildet, besonders auf den Gebieten der Kunst und der Musik. Dann entschloss sie sich, eine Ausstellung in x, ein Symposion in y oder eine Tagung in z zu besuchen. Diesmal war es eine Monet-Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum, von der sie sich eine Abstillung ihres Mangels erhoffte. Ich hatte mit ihr schon oft solche Termine besucht und glaubte nicht mehr, dass der Bildungstourismus je aufhören könnte.

Karin wünschte, von mir (wie sie es von ihrem Ehemann gewohnt war) im Auto nach dahin und dorthin gefahren zu werden. Für Karin waren meine Dienste offenbar unproblematisch. Für sie war ich der beste greifbare Ersatzdarsteller ihres toten Ehemanns geworden. Sie sprach mit mir, als wäre ich schon immer er gewesen. Also würde ich in Kürze eine Kunstbildungsfahrt nach Wuppertal unternehmen müssen. Warum war denn wieder alles so seltsam? Das konnte doch wieder nur heißen, dass ich mit dem wirklichen Leben nicht recht verwachsen war. Die versuchte Verschmelzung war bei mir während des Vollzugs irgendwann steckengeblieben und hatte dieses jetzt wieder nach vorne drängende Seltsamkeitsgefühl hinterlassen. Weil ich mich wehrlos fühlte, verhärtete sich in mir der Verdacht, dass niemand es mir recht machen konnte, nicht einmal ich selbst, beziehungsweise: ich schon gar nicht. Ich war über diese inneren Missklänge nicht (mehr) beunruhigt. Ich kam am besten zurecht, wenn ich mich vom Leben ein wenig abgestoßen fühlte. Ich war von niemandem abgestoßen, sah ringsum aber doch viele Leute, bei deren Anblick ich starken Widerwillen empfand. Ich verstand diesen Widerspruch nicht, aber es tat mir gut, dass ich ihn entdeckte. Ich drehte meine Tasse, weil die Wespe darin die Seite gewechselt hatte. Auf der mir jetzt zugewandten Rückseite der Tasse sah ich am oberen Tassenrand nicht abgespülte Lippenstiftreste. Eine Weile versuchte ich, die Schmutzspuren gelassen hinzunehmen. Dann merkte ich doch, wie ein kleiner Ekel vor der Gebrauchtheit der Welt wieder in mir hochstieg. Ich winkte die Bedienung herbei, beschwerte mich kurz, zahlte und ging.

Um das Ekelgefühl zu verlieren, betrachtete ich die Schaufenster der kleinen Läden. An der Tür einer Bäckerei hing ein Schild mit der Aufschrift: GUTES VOM VORTAG – 50% RABATT. Der Text leuchtete mir zum Glück sofort ein. Das Leben von gestern musste um die Hälfte billiger sein. Die um die Hälfte reduzierte Einladung lockte mich. Aber ich genierte mich, nach den verbilligten Stücken zu fragen. Ich konnte nicht in den Laden gehen und sagen: Ich kaufe das und das und das – aber bitte alles von gestern. Ich überlegte mir, zwei Kürbiskernbrötchen zu verlangen und im Augenblick, wenn die Verkäuferin die Brötchen eintütete, zu fragen: Sind sie von gestern? Ich? fragte die Verkäuferin und lachte. Oh! machte ich. Ich bin tatsächlich von gestern, aber ich bin auch von heute, sagte die Verkäuferin. Die Antwort gefiel mir sehr, ich wollte sie mir merken. Ich wollte zwei, Verzeihung, ich wollte nur zwei Kürbiskernbrötchen von gestern, sagte ich. Auf gewisse Weise zufrieden ging ich nach Hause. Momentweise kehrte ein Gefühl zurück, in dem ich früher, als ich noch frei arbeitete, halbe Tage verbrachte. Damals konnte ich sogar die Augenblicke spüren, dass ein Tag dann und nur dann mir gehörte, wenn ich stundenlang ohne Absichten und ohne Pläne in diesem Tag herumlief. Dabei wollte ich immer nur sehen, ob die Leute auch heute das taten, was sie gestern und vorgestern schon getan hatten. Wie die meisten Menschen, die mit starken Verdächtigungen umhergehen, wusste ich von allem zuwenig. Jetzt aber kehrte ich mit zwei stark reduzierten Kürbiskernbrötchen nach Hause zurück. In meinem Kühlschrank fand ich einen Rest Mettwurst und einen halben Camembert. Ich hatte vergessen, dass viele Kürbiskerne von einem Brötchen herunterspringen, wenn man das Brötchen durchschneidet. Im Nu hüpften viele Kürbiskernhälften auf den Boden meiner kleinen Küche. Ich aß zuerst die mit Käse belegte Brötchenhälfte und schob dabei mit der Hand die auf den Boden gefallenen Kürbiskerne zu einem Häufchen zusammen. Ich wollte das Häufchen in den Mülleimer schütten, aber plötzlich gefiel mir das Kürbiskernhäufchen, so dass ich es auf dem Boden liegen ließ. Ich stellte es mir schön vor, morgen oder übermorgen von der Arbeit zurückzukehren und dann zu denken: Oh! Mein Kürbiskernhäufchen ist wieder da! Wurde ich allmählich verrückt? Nach meiner Kenntnis wurden die Menschen nicht auf einen Schlag verrückt, sondern langsam, sehr allmählich. Genau diese Entwicklung traf auf mich zu. Ich hatte mir diese Frage schon vor vielen Jahren gestellt. Eine kleine Unruhe trieb mich zum Fenster, ich kaute und sah auf die Straße. Ein Mann mit zwei Plastiktüten lief suchend umher. Zwischen zwei Mülltonnen fand er eine Krücke. Er nahm sie und ging mit ihr weiter. Es sah aus, als hätte er seit vielen Jahren nach einer Krücke gesucht. Ich wurde nicht verrückt, aber auch nicht ruhig. Es gab inzwischen viele Verrückte oder Fastverrückte oder zeitweise Verrückte. Ich betrachtete den kleinen Stapel von Versandhauskatalogen, die ich in den letzten Wochen in meinem Briefkasten gefunden und nicht sofort weggeworfen hatte. Da griff ich eine ältere Idee von Michael Autz wieder auf. Ich trennte aus drei Katalogen je eine Bestellkarte heraus und schrieb auf jede den Namen des Mannes, dessen Personalausweis ich immer noch bei mir trug. Ich bestellte je eine elektrische Zahnbürste, ein Heimbohrer-Set und eine automatische Schuhputzbürste. Eine Adresse gab ich nicht an; ich schrieb auf jede Bestellkarte nur: Postlagernd Frankfurt/Main. Durch eine kleine Drehung des Kopfes blickte ich plötzlich auf das Hochzeitsfoto meiner Eltern, das auf meinem Bücherregal stand. Sahen sie mir immer noch zu und verurteilten mich? Ich war dankbar, dass mich meine Eltern nicht mehr überraschen konnten. Die beiden waren jetzt so weit von mir entfernt, dass sie plötzlich aussahen wie zwei gescheiterte Clowns aus einem anderen Land. Ich fragte mich, wer von beiden fremder aussah. Beide, Vater und Mutter, waren unterempfindlich. Wahrscheinlich war die Unterempfindlichkeit nötig, anders hätten sie nicht leben können. Immer noch war es mir ein Rätsel, wie unterempfindliche Eltern einen überempfindlichen Sohn hatten in die Welt setzen können. Vermutlich verstanden sie das auch nicht. Dabei waren sie beide nur ahnungslos und völlig naiv. Die Mutter stand (zwei Köpfe kleiner als ihr Mann) neben meinem Vater, ihre linke Hand in den angewinkelten Arm ihres Mannes geschoben. Sie lachte nicht, als sie heiratete. Auch mein Vater lachte nicht. Er trug einen dunklen Übergangsmantel, der ihm bis zu den Knien reichte. Unterhalb des Mantelsaums ragten zwei verkrumpelte Hosenbeine hervor. Seine schwarzen Halbschuhe waren vermutlich kurz vor dem Auseinanderfallen. Auch Vater war, genau wie seine Frau, bedrückend schutzlos und ausgeliefert. Später erfuhr ich, dass er zur Zeit der Eheschließung als Montagearbeiter in der Nähe von München gelebt hatte. Er verdiente so wenig, dass er sich als Unterkunft nur eine nicht heizbare Holzbaracke leisten konnte. Seine Frau lebte getrennt von ihm bei ihren Eltern. Durch seine ärmliche Kleidung entgleiste das sowieso schon entgleiste Paar noch einmal. Ich wollte über das Bild (wie schon öfter) lachen, aber es klappte nicht. Ich fand es unpassend, dass ich mich immer noch mit der Armut der Eltern beschäftigte. Eigentlich hatte ich angenommen, dass sich diese Einfühlung irgendwann von selbst auflösen würde. Offenkundig war das Gegenteil der Fall. Ich hatte Mitleid mit den Eltern wie mit Leuten, die sich selbst vernachlässigt hatten und nicht recht wussten, was sie tun sollten. Tatsächlich hatte ich als Kind meinen Eltern gegenüber starke Fremdheit empfunden. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass diese beiden zum Lachen aufreizenden Leute meine Eltern waren. Ich überlegte, ob ich das Foto umdrehen oder in einem Koffer verstauen sollte. Statt dessen stieg ein Wehmutsanfall in mir hoch, der mich für jeden Entschluss unfähig machte.

Am Abend kam es zu einem unerfreulichen Auftritt von Maria, an dem ich leider selbst schuld war. Ich bewirtete sie, wir tranken Wein und plauderten. Maria schwitzte so stark, dass sie sich schon während des Abendbrots auszuziehen begann. Sie fragte scheinheilig, ob ich daran Anstoß nehmen würde. Ich musste über die Frage lachen und küsste ihr schon am Tisch den Busen. Sie trank zuviel, wogegen ich nicht einschritt. Wenn Maria wusste, dass wir bald nach dem Abendbrot ins Bett gingen, wurde sie durch den Alkohol nicht müde, sondern aufgekratzt. Aber dann geschah es. Sie ging ins Bad, um dort den Rest ihrer Kleidung abzulegen. Dabei entdeckte sie in einer Schublade einen Tampon, der nicht von ihr stammte. Weder hatte ich gewusst, dass in einer meiner Schubladen Tampons lagen, noch hatte ich gewusst, dass Maria in diese Schubladen hineinschaute. Sie stürzte aus dem Badezimmer, streckte mir den Tampon entgegen und empörte sich. Wem gehört dieses Ding? Mir war klar, dass der Tampon Karin gehörte. Nach Lage der Dinge wäre Lügen albern gewesen. Ich gab zu, dass ich von Zeit zu Zeit eine andere Frau traf, woraufhin Maria schrie und weinte.

Sag, wer ist die Frau, sagte sie schluchzend, nein, sag es nicht, ich will es nicht wissen, wahrscheinlich ist es eine Schlunze aus eurem Betrieb, ich habe es immer gewusst.

Sie schimpfte weiter und zog sich wieder an. Ich saß in einem Sessel und schaute schweigend in die Umgebung des Zimmers wie einst mein Vater. Maria beugte sich über mich, schüttelte meine Schultern, packte meinen Hemdenkragen und riss ihn auseinander.

Du Lump, schrie sie, ich will dich nicht mehr sehen, geh zu deiner Büronutte.

Als Kind hatte ich Sommerfliegen gefangen und sie in Streichholzschachteln gesperrt, nicht selten mehrere Fliegen in einer Schachtel. Die Fliegen rasten, ohne sich bewegen zu können, sie wurden fast verrückt in der Enge der Schachtel. So ähnlich fühlte ich mich jetzt. Ich saß in einer Schachtel, ich raste vor mich hin und bewegte mich kaum. Von Zeit zu Zeit faltete ich meine Hände und berührte mit den Fingerspitzen der linken Hand die Fingerspitzen der rechten Hand. Immer mal wieder glaubte ich, dass ich nachdachte, aber ich konnte nicht wirklich nachdenken. Es beeindruckte Maria, dass sie meinen Hemdenkragen zerrissen hatte. Tatsächlich war es zwischen uns nie zuvor zu einer solchen Handgreiflichkeit gekommen. Genaugenommen wartete ich darauf, dass Maria sich entschuldigte. In Wahrheit hätte ich mich gerne entschuldigt, wenn ich gekonnt hätte. Ich fühlte, dass mein Hedonismus begonnen hatte, mich mir selber fremd zu machen. Selbstüberfickung, gab es das, fragte ich mich. Ich hatte davon nie etwas gehört oder gelesen. Dann trat Maria fertig angezogen vor mich hin und spuckte auf den Teppich. Sie spuckte nicht wirklich, sie ahmte nur die Bewegung und das Geräusch des Spuckens nach. Danach drehte sie sich um und verließ die Wohnung. Als sie ins Treppenhaus trat, stießen neue Schluchzer aus ihr hervor. Wie ein Spießer sorgte ich mich darum, Nachbarn könnten das Schluchzen gehört haben. Ich war in gewisser Weise dankbar, dass mir ein vergessener Tampon geholfen hatte, eine Klärung herbeizuführen, für welche der beiden Frauen ich mich entscheiden sollte. Ich selbst hätte diese Entscheidung nicht treffen können. Ich liebte beide Frauen, und ich hätte sie auch beide gerne behalten.

Noch zwei Tage später, an einem Samstag, als Karin und ich (in ihrem Auto) nach Wuppertal fuhren, machte ich Monet herunter, was ich selbst ärgerlich fand. Es geschah nur deswegen, weil Karins verstorbener Mann den Maler geschätzt hatte. Es war ein sublimer Akt der Eifersucht, verschoben in ein Bildungserlebnis. Ich nannte Monet einen billigen Kaufhausmaler, der schon im 19. Jahrhundert den Massengeschmack des 20. und 21. Jahrhunderts erkannt hatte und Bilder malte, die heute in jedes Wartezimmer und in jedes Sekretariat hineinpassten. Bevor wir losfuhren, machte sie sich lustig über meine Junggesellenwirtschaft. Sie fasste mit der Hand in meinen sogenannten Wäscheschrank. Was die Unterwäsche betrifft, sagte sie, lebst du wie ein Penner. Wenn meine Sachen in der Wäscherei waren, musste ich mir aushelfen mit älteren Unterhosen, die ich eigentlich schon zum Wegwerfen ausgesondert hatte. Ich hoffte im stillen, sie werde sich nicht bereit erklären, mir demnächst neue Unterhosen zu kaufen. Tatsächlich blieb sie still, wofür ich dankbar war. Eine meiner heftigsten Ängste bestand darin, dass die Liebe mehr und mehr in die Versorgung abwanderte. Bis am Ende nur noch die Versorgung übrig war – und die Liebe sich aufgelöst hatte. Andererseits erkannte ich die Festigung des Alltags, die durch eine dauerhaft anwesende Frau entstand. Der Zwiespalt machte mich stumm, während Karin gesprächiger wurde. Kurz vor Wuppertal nannte sie mich mit dem Namen ihres toten Ehemannes und merkte es nicht oder nicht gleich. Erst im Vorraum des Museums bat sie mich um Entschuldigung. Es schoben sich einige Schluchzer ihre Kehle hoch, so dass sie den Satz nicht zu Ende sprechen konnte. Ich nahm sie an der Hand und ging mit ihr zur Seite. Ich bin überhaupt nur hier, weil Monet der Lieblingsmaler von Michael war und ich endlich einmal sehen will, was ihm so gefallen hat. Danach schluchzte sie erneut und verbarg ihr Gesicht hinter ihrer Handtasche. Ich überlegte, ob ich etwas sagen sollte, und entschied mich fürs Schweigen. In einer Pause sagte Karin: Denk nicht, dass ich dich nicht mag, das Gegenteil ist der Fall, ich mag dich genauso wie Michael und möchte, dass wir zusammenbleiben.

Ich schaute auf die Straße hinaus. Jugendliche stolperten über eine halbzerbrochene Flasche und kickten die Glasstücke in die Gegend. Ich erhob mich und holte bei der Cafeteria zwei Becher Kaffee. Als ich zurückkam, hatte sich Karin beruhigt. Sie sagte: Willst du nicht zu mir ziehen?

Ich war sprachlos.

Ich merke, dass du mir guttust, sagte sie, aber du musst dich jetzt nicht äußern, ich wollte es dir nur sagen.

Der Kaffee war lauwarm. Trotzdem tranken wir die Becher leer. Dummerweise fühlte ich mich Karin gegenüber verpflichtet, worüber ich nicht reden wollte.

Du bist verwirrt, sagte Karin, das ist authentisch, das gefällt mir an dir.

Karin deutete die Situation falsch, worüber ich auch nicht reden wollte. Überhaupt stand mir nicht der Sinn nach Aussprachen, obwohl vielleicht gerade ich eine solche Aussprache nötig gehabt hätte. Ich litt darunter, dass mir alles in den Schoß fiel: eine Stelle, eine Frau, ein Auto, und jetzt möglicherweise eine Wohnung. Es ängstigte mich, dass ich, wenn ich bei Karin einzöge, vollständig die Kopie eines anderen werden müsste. Ich sah die normal erkalteten Beziehungen voraus, die mir drohten. Ich verachtete das normale, flüchtende Leben und die Vernunft, die zu diesem langsam verhungernden Stilleben hinführte. Leider war ich auch mit der Form meines gegenwärtigen wirklichen Lebens nicht einverstanden. Von den beiden Frauen, mit denen ich zusammen war (wenn mir eine nicht schon abhanden gekommen war), kannte ich genaugenommen nur ihr Geschlecht. Das war nicht die ganze Wahrheit, aber ich dachte diese Herabsetzung oft. Das war mein peinlich gewordener Liebesradikalismus, der sich vor Verfeinerungen jeder Art fürchtete. Ich dachte oft, dass es nicht einen einzigen Menschen gab, den das Geschlechtsleben wirklich zufriedenstellte. Alles, was nach diesem Satz hätte kommen sollen (müssen), flößte mir Furcht ein, weil ich den Folgen nicht gewachsen schien. Es kam immer nur zu Zwischenlösungen, die dann endgültig wurden. Auch mit Karin ging es oft nur halbherzig zu. Sie hatte eine entzückende kleine Kindermöse, lieblich umkräuselt von hellblonden Löckchen. Dieses begeisternde Paradieschen war voller Tücken. Erstens war es fast immer trocken und deswegen abgedichtet wie ein Frauenschließfach, wenn es so etwas gibt. Ich musste es lange liebkosen, damit es sich ein wenig öffnete und zutraulich wurde. Zweitens setzte dann, als ich endlich drin war, ein merkwürdiges Theater ein. Karin begann, mich wieder aus sich herauszuschieben, indem sie die Beine immer mehr zusammendrückte, bis ich tatsächlich wieder herausrutschte. Wir hatten nie über diesen fatalen Verlauf gesprochen, gewöhnten uns aber an ihn, als sei er zwischen Mann und Frau das Menschenmögliche.

Willst du noch etwas von der Cafeteria? Oder sollen wir uns jetzt nicht mal die Ausstellung anschauen? fragte Karin.

Es war unglaublich, aber mit solchen Sätzen ging die Zwischenlösung weiter. Ich hatte Bilder von Monet bisher immer nur in billigen Bildbänden oder schlecht gedruckten Kalendern gesehen. Jetzt aber, im Museum, einen halben Meter vor den Originalen, war ich überwältigt. Ich wurde vom fast unaussprechlichen Können dieses Malers überrollt. Monet war ein Künstler, der aus der damals schon öden Gebrauchtwelt eine neue Originalwelt schuf. Und obwohl die darauf abgebildete Welt schon über hundert Jahre alt war, erschien sie frisch und lebendig. Weil ich die Bilder so lange unterschätzt beziehungsweise missverstanden hatte, betrachtete ich sie jetzt mit einem endlich ans Tageslicht gekommenen Schuldgefühl und genoss dessen langsame Selbstauflösung, als sei auch das Schuldgefühl auf den Gemälden abgebildet. In der Auflösung meines verrottenden Vorbehalts konnte ich momentweise sogar hinnehmen, dass Karin in der Anschauung der Bilder eine wieder aufflackernde Verbindung zu ihrem toten Mann zelebrierte, über die sie nicht sprach.

Wir blieben fast eineinhalb Stunden in den Sälen des Museums, zwar gemeinsam, aber die ganze Zeit doch getrennt, unsere inneren Bahnen ziehend, was wir auch dann noch taten, als wir wieder nebeneinander im Auto saßen und nach Hause fuhren.

In ihrer Wohnung verwandelte sich Karin zurück in eine jetzt lebende Frau. Ich hatte schon fast vergessen, dass sie mich aufgefordert hatte, zu ihr zu ziehen. Beziehungsweise, ich hatte geglaubt, dass sie diesen Vorschlag nicht wirklich ernst gemeint hatte, sondern mir nur sagen wollte, wie unzertrennlich sie sich inzwischen fühlte. Jetzt aber, in ihrem Schlafzimmer, als wir unsere Kleider ablegten, erneuerte sie ihre Bitte, beziehungsweise fragte, wann ich denn bei ihr einziehen werde. Sie erkannte nicht (oder es war ihr nicht wichtig), dass mich die Frage herabstimmte, so stark, dass ich eine halbe Stunde später, als wir miteinander schlafen wollten, impotent blieb. Sie umarmte mich und lachte ein bisschen und sagte: Das musst du nicht so ernst nehmen, das ist Michael auch manchmal passiert.