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Eine knappe Woche später machte ich mich in der Mittagspause auf dem Weg zum Tagesanzeiger, um Herrdegen meinen Entschluß mitzuteilen. Inzwischen war Hochsommer geworden. Auf der Straße herumliegende Lindenblüten rochen ein wenig faulig, fast wie stehengebliebener Senf. Es war wenig Verkehr, ein Teil der Geschäfte hatte wegen Urlaubs geschlossen. In der gesamten Redaktionsetage waren die Fenster geöffnet. Deswegen konnte ich schon auf der Straße Herrdegens Schreibmaschinengeklapper hören. Die Hitze hatte die gebohnerten Holzböden in der Redaktion ein wenig schlierig, fast glitschig gemacht. Die in den Faszikeln abgehefteten Zeitungen rochen säuerlich. Fräulein Weber war in der Mittagspause. Ich durchquerte das Sekretariat und klopfte bei Herrdegen.
Ich störe Sie nicht lange, sagte ich.
Herrdegen unterbrach das Tippen.
Sie stören nicht, sagte er; bringen Sie mir was?
Heute nicht, sagte ich.
Sie wollen mir sagen, daß Sie zu uns kommen werden, sagte Herrdegen.
Ja, sagte ich, das heißt nein.
Herrdegen sah mich an.
Also noch einmal, sagte er, wollen Sie bei uns Volontär werden oder nicht.
Während er redete, tippte er zwischendurch ein paar Sätze, was mich immer noch beeindruckte.
Sie wollen nicht zu uns kommen, sagte er dann. Sie wollen Ihr Studium beenden.
So ist es, sagte ich, ich hoffe, Sie haben Verständnis.
Aber ja, machte Herrdegen; wie lange brauchen Sie noch?
Drei Jahre mindestens, sagte ich.
Der Tagesanzeiger läuft Ihnen nicht davon, sagte Herrdegen.
Das ist gut zu wissen, sagte ich und wunderte mich über meine Gestelztheit. Ich würde gerne als freier Mitarbeiter weiter für Sie schreiben, abends und am Wochenende, so wie zuvor.
Hier hab ich was für Sie, sagte Herrdegen und zog aus der Terminmappe einen Einladungsbrief hervor. Am Samstag morgen wird eine Minigolf-Anlage eingeweiht. Wollen Sie das machen?
Gerne, sagte ich und nahm die Einladung.
Bitte dreißig Zeilen, sagte Herrdegen.
Keine mehr und keine weniger, antwortete ich mit einer Spur Zynismus in der Stimme, die Herrdegen bemerkte und sofort überging. Er spannte ein neues Blatt Papier in seine Schreibmaschine. Das war das Zeichen, daß das Gespräch beendet war. Im Treppenhaus ärgerte ich mich über meinen Hochmut. Herrdegen hatte es nicht verdient, daß ich ihm gegenüber zynisch wurde. Die Vorstellung, daß der Tagesanzeiger ohne mich auskommen mußte, machte mich ein bißchen zufrieden. Sofort empfand ich die Merkwürdigkeit dieses Glücks. Ich trug es ein bißchen mit mir herum, bis es an seiner eigenen Schwerverständlichkeit zugrunde ging.
Die Minigolf-Anlage lag im Eingangsbereich eines Freibads, das erst im vorigen Jahr eröffnet worden war. Die Sonne schien, eine kleine Kapelle spielte, von allen Seiten strömten die Leute herbei. Der Bürgermeister für Sport und Soziales zupfte an seinem Anzug, gleich würde er ein paar Worte sagen. Von der Lokalpresse war außer mir nur Frau Finkbeiner von der Allgemeinen Zeitung und Frau Zimmerling von der Volkszeitung da. Wir begrüßten uns und stellten uns in die Nähe des neuen Kassenhäuschens. Eine junge Dame von der Stadtverwaltung erschien mit einem Tablett und bot Käsehäppchen mit Oliven und Radieschen an. Der Bürgermeister beglückwünschte die Stadt und ihre Einwohner. Ich hörte kaum hin. Ereignisse dieser Art konnte ich inzwischen in einer Art Halbaufmerksamkeit beobachten, festhalten und gleichzeitig vergessen. Mit Frau Finkbeiner zusammen machte ich mich ein bißchen über die Freizeitmenschen lustig. Ich stieß mich an ihrem Drang, wie sie sich nach dem Vorbild von Großbürgern mit einem Golfschläger in der Hand (oder gar mit dem Schläger auf der Schulter) fotografieren ließen. Ich beobachtete ihre falsch gelernte Lässigkeit, mit der sie ihre Billigschuhe auf die Ränder der Golfbahnen stellten. Und ich lachte über das peinliche Getue, mit dem sie dann an der Bar für ein paar Pfennige eine Cola bestellten. Sie fanden es überwältigend, die Imitation von Vorbildern zu sein, die niemals in ihrer Nähe auftauchen würden. Schon während der Nachahmung vergaßen sie, daß sie Nachahmungen waren. Nach etwa zehn Minuten fragte mich Frau Finkbeiner: Haben Sie nicht neulich gesagt, daß Sie eine Wohnung suchen?
Ja, sagte ich.
Suchen Sie immer noch?
Ich habe noch gar nicht richtig angefangen, sagte ich.
Wenn Sie mit einem kleinen Appartement zufrieden sind, könnte ich Ihnen vielleicht weiterhelfen.
Mehr als ein kleines Appartement kann ich mir gar nicht leisten, sagte ich.
Es ist mein Appartement, sagte Frau Finkbeiner. Ich werde in Kürze heiraten und aufhören zu arbeiten.
Oh, machte ich, weil mir sonst nichts einfiel.
Sie können in meinen Mietvertrag einsteigen, dann müssen Sie keine Maklergebühren zahlen.
Wo liegt das Appartement?
In der Stresemannstraße, sagte Frau Finkbeiner, in einem Neubau. Ich habe nur ein Jahr lang darin gewohnt, Sie müßten nicht unbedingt renovieren.
Wie hoch ist die Miete?
Hundertzwanzig, sagte Frau Finkbeiner.
Eigentlich hatte ich die Absicht, den Wunsch nach einer eigenen Wohnung noch eine Weile mit mir herumzutragen und ihn dabei deutlicher werden zu lassen. Dennoch sagte ich: Wann wird die Wohnung frei?
Zum nächsten Ersten.
Das ist bald, sagte ich.
Wenn Sie wollen, können Sie das Appartement gleich anschauen, wenn diese Darbietung hier zu Ende ist.
Nach zehn Minuten machten wir uns auf den Weg. Die Stresemannstraße lag am Rand der Innenstadt. Das Haus war ein einfacher, kastenförmiger Bau, vier Stockwerke hoch, mit kleinen Fenstern und nur angedeuteten Balkons. Frau Finkbeiners Appartement lag in der dritten Etage. Hinter der Eingangstür öffnete sich ein schmaler, niedriger Schlauch. Die linke Seite des Schlauchs war zu einer Kochnische ausgebaut. Auf der rechten Seite befand sich die Tür zu Toilette und Dusche. Der Raum am Ende des Flurs ähnelte einer groß geratenen Schachtel. Die Decke war niedrig, die beiden Seitenwände waren einander zu nah. Das Appartement war kaum mehr als ein Klo mit etwas Umgebung. Ich konnte dabei zuschauen, wie in mir ein Zellengefühl entstand. Dennoch war ich kaum bedrückt. Trotz der Enge fühlte ich die Erregung eines anderen, neuen Lebens, das in diesen Augenblicken seinen Anfang nahm.
Ich nehme die Wohnung, sagte ich.
An einem Montag, wieder in der Mittagspause, stellte mich Frau Finkbeiner der Wohnungsbaugesellschaft als Nachmieter vor. Im Büro nannte mich Frau Finkbeiner einen Kollegen. Als sie sagte, daß ich beim Tagesanzeiger arbeitete, mußte ich nicht widersprechen. Es gab damals kaum etwas Seriöseres als die Verbindung zu einem Lokalblatt. Ich mußte die Wohnung nicht renovieren lassen und ich mußte Frau Finkbeiner keinen Abstand zahlen. Nach einer halben Stunde war der neue Mietvertrag fertig. Frau Finkbeiner übergab mir die Schlüssel zu meiner ersten eigenen Wohnung. Auf der Straße war ich halb erregt und halb erschüttert. Der plötzlich greifbar gewordene Abschied von den Eltern machte mich weich und schwächlich. Der Krieg hatte meine Eltern grob, stumm und müde gemacht. Erst zwanzig Jahre später war es mir möglich, mich in dieses Restkriegsleben angemessen einzufühlen. Jetzt war ich auf unfrohe Weise froh, die Eltern in Kürze verlassen zu dürfen. Aus Schwäche stellte ich mich auf dem Marktplatz hinter ein paar Menschen, die einem Freizeitmaler beim Malen zuschauten. Der Mann hatte im Krieg beide Arme und beide Beine verloren. Sein Rumpf lehnte in einer Art Holzverschlag. Zwischen den Zähnen hielt er einen dünnen Pinsel, mit dem er ein kleines Stück Leinwand bemalte. In kurzen Abständen beugte der Mann den Kopf und tauchte den Pinsel in ein winziges Gefäß mit Wasser, das seitlich an seinem Holzverschlag befestigt war. MIT DEM MUNDE GEMALT stand auf einem Pappschild zu Füßen der Staffelei. Rings um den Holzverschlag lehnten ein paar fertige Bilder. Sie kosteten zwischen fünf und acht Mark. Tatsächlich überlegte ich, ob ich für meine Wohnung ein Bild kaufen sollte, aber dann fiel mir ein, daß ich nicht wußte, wie man einem Mann ohne Arme und ohne Finger ein paar Mark überreichen sollte. Während der Betrachtung des Mundmalers hatte sich meine Erschütterung aufgelöst. Das heißt, ich war erstaunt darüber, wie rasch unangenehme Gefühle verschwanden, wenn man nur die Schauplätze und Anblicke wechselte.
Mutter sah zur Seite und Vater erschrak, als ich zu Hause sagte, daß ich zum Monatsende ausziehen würde. Als ich Kind war, hat mir eine Weile die Sorgfalt gefallen, mit der Vater die Seife im Waschbecken aufbrauchte. Auch das letzte Fitzelchen Seife bewegte er so lange zwischen den Fingern, bis nichts mehr übrig war. Dann aber fürchtete ich mich immer öfter davor, daß Vater nach der Mutter auch mich so lange zwischen seinen Fingern reiben würde, bis er seine Familie völlig aufgelöst hätte. Aber jetzt, durch die Ankündigung meines Verschwindens, war ich plötzlich ein bewegliches Etwas geworden, das ihm lebend aus den Händen gesprungen war. Seit ich als Lehrling arbeitete, mußte ich die Hälfte meines Lehrlingsgehalts zu Hause abgeben. Vermutlich fürchtete Vater, daß mit meinem Auszug auch mein Beitrag zur Haushaltskasse ausfallen würde. Ich sah seinen Schrecken, den er auszusprechen nicht wagte. Deswegen war er sogleich freudig überrascht, als ich zusicherte, daß ich auch nach meinem Auszug die Familie weiter unterstützen werde. Vater traute sich nicht, sich nach meinen finanziellen Verhältnissen zu erkundigen. Wahrscheinlich wartete er darauf, daß ich selbst davon anfing, aber ich fing nicht davon an. Zum ersten Mal war er es, der zwischen uns zum Opfer eines Schweigens wurde. Als er sich wieder gefangen hatte, bot er mir an, als Gegenleistung für die Weiterzahlung meines Haushaltsbeitrags könne ich jede Woche meine schmutzige Wäsche bei Mutter abgeben. Mutter schwieg dazu, sie sah mich nur kurz an. Ich fragte mich, ob Mutter, als sie jung gewesen war, eher sensibel war und erst unter dem Einfluß ihres Ehemannes ein wenig derb werden mußte, oder ob sie schon in ihrer Jugend unzart war und deswegen auch einen entsprechenden Mann geheiratet hatte. Aber dann rief ich mich zur Ordnung und sagte zu mir: Dieses ganze Elterngerümpel wird dich in der neuen Wohnung nicht mehr belästigen.
Der Einzug in mein Appartement dauerte etwa zweieinhalb Stunden. Mein Bett und ein wenig Bettwäsche durfte ich von zu Hause mitnehmen. Von Frau Finkbeiner übernahm ich einen Tisch und einen Stuhl und die Gardinen am Fenster. Meinen Plattenspieler stellte ich auf den Boden, die Platten lehnte ich gegen die Wand. Weil ich mich davor fürchtete, zuviel Geld auf einmal auszugeben, richtete ich die Küchennische nicht ein. Für das Frühstück kaufte ich mir lediglich einen Wassertopf und einen Tauchsieder. Auch auf die Anschaffung eines Schranks verzichtete ich. Meine Kleidungsstücke gefielen mir ohnehin besser, wenn ich sie im Türrahmen hängen sah. Dort schauten sie bedeutsam aus und gaben mir das Gefühl des Aufbruchs. Am tiefsten beeindruckte mich, daß ich vom Bett aus meinen Arbeitstisch sehen konnte. Das Halbdunkel und die Stille am frühen Morgen stimulierten mich. Der Anblick des Sakkos (zerknittert), des Hemdes (verschwitzt), der Hose (staubig), der Erdreste an den Schuhrändern und der Schreibmaschine auf dem Tisch machte mich wortlos und zufrieden. Es war, als könnte ich meinem eigenen Blick dabei zuschauen, wie er aus einer bloßen Ansammlung von Gegenständen eine wunderbare Verschwisterung der Dinge machte: ein Mysterium mit mir selber in der Mitte. Jetzt sah ich auf meine Unterwäsche und die Strümpfe, die ich lose auf die Bücherregale verteilt hatte. Es geschah nichts, ich fühlte die Erregung eines neuen Lebens. Ich war momentweise sicher, daß in diesem Zimmer, an diesem Tisch und an dieser Schreibmaschine mein Roman losgehen würde. Es beunruhigte mich nicht, daß ich vorerst nur Artikel für den Tagesanzeiger zustande brachte. Ich wusch mich oberflächlich, machte mir eine Kanne Kaffee, setzte mich an den Tisch und suchte nach Wörtern. Nein, ich suchte nicht, ich lauschte und lauerte. Ich legte eine Platte mit der »Lyrischen Suite« von Alban Berg auf. Es waren kurze, ausdrucksstarke, leicht verzitterte Stücke, die gut zu meiner ruhigen Unruhe paßten. Ich sah auf die Straße hinunter, die um diese Zeit noch fast menschenleer war. Gerade dämmerte der Tag. An der gegenüberliegenden Häuserzeile ging die Zeitungsausträgerin entlang. Sie zog einen Kinderwagen hinter sich her, der bis oben hin mit frischen Zeitungen gefüllt war. Die Räder des Kinderwagens brachten ein wimmerndes Quietschen hervor, das auf wunderliche Art in die Suite von Berg eindrang. Manchmal ließ die Frau ihren Schlüsselbund zu Boden fallen. Obwohl die Frau dick war, bückte sie sich leicht und schnell. Jetzt öffnete sie eine Flasche Bier. Sie trank im Frühdämmer und schaute dabei die toten Hauswände entlang. Ich merkte, die Bilder sprachen in mich hinein. Die ersten Schwalben flirrten durch die Straße; um diese Zeit sahen sie noch wie Fledermäuse aus. Die Zeitungsausträgerin versenkte die halbleere Bierflasche in einer Ecke des Kinderwagens. Dann verschwand sie hinter einem Wohnblock, ich konnte sie für eine Weile nicht sehen. Kurz darauf zog Frau Meixner vom Obst- und Gemüseladen gegenüber die Rolläden hoch. Kaum war der Laden geöffnet, sprang Frau Meixners Hund auf die Straße hinaus. Es war ein kleiner schwarzer Hund, der den ganzen Tag entweder aus dem Geschäft hinaus- oder in das Geschäft hineinlief. Draußen oder drinnen blieb er eine Weile liegen, dann sprang er wieder auf. Die Unruhe des Tieres machte mich ein wenig verzagt. Wenn ich als Kind verzagt war, ging ich durch die Wohnung und öffnete alle Schubladen. Ich griff mit der Hand in die geöffneten Schubladen und wühlte wahllos in den Dingen. Schon bald endete die Verzagtheit und es begann die Beschäftigung mit einem Gegenstand. Mir fiel ein, daß ich zur Zeit keinen Schrank und deswegen auch keine Schubladen hatte. Die Zeitungsausträgerin kam hinter dem Wohnblock hervor. Der Kinderwagen war jetzt so gut wie leer. In der linken Hand hielt die Frau die Bierflasche, Frau Meixners Hund sprang herbei. Die Zeitungsausträgerin ließ sich auf einem Betonsockel nieder und ruhte aus. Der Hund war nicht aggressiv, nur nervös und neugierig. Die Frau hob sich die Flasche an die Lippen und trank. Es war mir nicht recht, daß der Hund vor der Frau stehenblieb und sie fixierte. Ich fürchtete, die Frau könne sich herausgefordert oder beleidigt fühlen. Aber die Frau vertrieb den Hund nicht. Mit langen Zügen trank sie die Flasche leer und schaute dann auf den Boden. In einem Zimmer im Haus gegenüber flammte gelbes Licht auf und beleuchtete eine kleine Bibliothek. Ein älterer Mann im Schlafanzug betrat das Zimmer und suchte nach einem Buch. Der Anblick der Bücher machte alle Einzelheiten heimisch und zusammengehörig. Das Halbdunkel, die Fremdheit, die Bierflasche, die Stummheit, die Frau, der Hund, alles gehörte in die Welt. Vermutlich fühlte sich die Zeitungsausträgerin nicht beleidigt, ich hatte nur phantasiert. Ich konnte mich kaum vom Fenster trennen. Der Mann im Schlafanzug zog ein Buch aus einem Regal und knipste das Licht aus. Die Zeitungsausträgerin wischte sich den Mund ab, erhob sich und ging zum Straßenrand. Die leere Bierflasche ließ sie in ihrer Jackentasche verschwinden. Der Hund von Frau Meixner rannte zurück in den Laden. Am Straßenrand hielt ein Auto, ein junger Mann stieg aus und hob den Kinderwagen in das Auto. Vermutlich war der junge Mann der Sohn der Zeitungsausträgerin. Die Frau setzte sich auf den Beifahrersitz und wartete. Der Lärm auf der Straße wurde jetzt stärker. Der junge Mann fuhr mit der Zeitungsausträgerin davon. Hinter den Dachfirsten schob sich ein neuer Tag hervor. Ich hatte höchstens noch fünf Minuten Zeit. Ich war heute für die Entladung von sieben Waggons verantwortlich. Im Waschbecken der Toilette spülte ich die Kaffeetasse aus und stellte sie auf das Fensterbrett. Kurz darauf verließ ich die Wohnung. Ich fuhr direkt zur Außenstelle des Arbeitsamtes und engagierte acht Tagelöhner.
Zwei Tage später war Wochenende. Am Sonnabend mußte ich nicht arbeiten. Ich erwog, meine Eltern zu besuchen, kam dann wieder davon ab. Es war sonderbar, mit den Eltern in der gleichen Stadt zu leben und sie nicht sehen zu wollen. Der Tag war leicht und hell und warm. Ich beschloß, in einem Terrassen-Café in der Innenstadt zu frühstücken. Die Straßen wimmelten von Menschen und Tönen und Anblicken. Vor mir ging eine ältere Frau. Am Absatz ihres linken Schuhs war ein Stück braunes Klebeband hängengeblieben, was die Frau nicht zu bemerken schien, obgleich bei jedem ihrer Schritte ein knappes Schleifgeräusch am Boden entstand. Hörte die Frau schlecht? Oder war ihr das Geräusch gleichgültig? War ihr vielleicht alles egal? Der Einfall weckte mein Interesse an der Frau. Schon immer wollte ich einen Menschen kennenlernen, dem alles egal war. Die Leute, die ich kannte, sagten immer nur, ihnen sei alles egal. Aber es genügte, sie ein wenig zu beobachten, und schon wurde deutlich, daß ihnen nichts egal war. Noch während ich grübelte, ob es wenigstens einen Menschen gab, dem alles egal war, verlor ich die Frau mit dem Klebeband aus dem Blick. Ich betrachtete die Schluckbewegungen eines Vogels, der aus einer flachen Regenpfütze trank. Die vielen Details um mich herum beglückten mich. Das Verstricktsein in sie versetzte mich in den Zustand des selber romanhaften Lebens. Am Rande eines kleinen Platzes betrat ich ein Terrassen-Café. Ich setzte mich an einen freien Tisch und bestellte ein Kännchen Kaffee und zwei Plunderhörnchen. Zwei Frauen am Nebentisch empörten sich leise über amerikanische Touristen, die Coca-Cola aus Rotweingläsern tranken. Vor meinen Augen trug ein Kind einen großen runden Laib Brot vorüber. Das Kind drückte sich das Brot mit beiden Händen gegen die Brust. Beim Verlassen des Bürgersteigs stürzte das Kind. Im Sturz ließ es das Brot nicht los. Das Kind fiel nach vorne, aber es gelang ihm, eine Berührung des Brotes mit dem Straßenschmutz zu vermeiden. Rasch erhob sich das Kind und untersuchte zuerst das Brot und dann sich selbst. Die Amerikaner und die sie kritisierenden Frauen waren von dem gestürzten Kind gefesselt. Das Brot war nicht beschädigt, nur leicht eingedrückt. Die Arme des Kindes waren nicht verletzt, nur ein wenig zerkratzt. Sekunden später ergab sich eine Blickkette. Das Kind entdeckte seine Betrachter und sah sie kurz nacheinander an. Erst die beiden Frauen, dann mich, dann die Amerikaner. In der Blickkette stießen das heimliche und das öffentliche Leben sanft aneinander. Das Kind sonnte sich in der Huldigung seiner Betrachter und hob das Brot kurz in die Höhe, dann verschwand es. Ich zweifelte nicht, daß ich mich in einem ungeschriebenen Roman bewegte. Ich sah auf mein Frühstück herunter und wartete auf das Aufzucken des ersten Wortes.