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Einen solchen Satz hatte noch nie jemand
an mich hingesprochen. Ein paar Augenblicke lang versuchte ich mir
das vorzustellen: wie Lindas Körper irgendwo hing. Die Vorstellung
brachte kein Bild, sondern nur einen Schrecken hervor. Ich dankte
Kindsvogel und legte auf. Die Nachricht verlangsamte mein Denken.
Bei Fräulein Weber entschuldigte ich mich für eine halbe Stunde und
verließ die Redaktion. Unten, auf der Straße, störte mich, daß an
einem Briefkasten die Briefklappe nach oben stand. Ich kam an dem
italienischen Café am Marktplatz vorbei, das es erst seit ein paar
Wochen gab. Fenster und Türen des Cafés waren weit geöffnet. Hinter
der Theke stand ein junger Mann, der Gläser und Eisbecher spülte
und dabei den Schlager mitsang, der aus der Musikbox ertönte. Das
heißt, er sang mit gesenktem Kopf auf die Spüle herab. Das im
Spülwasser versinkende Lied ist der richtige Ausdruck für deine
Trauer, dachte ich. Ich wollte mir in der Nähe des singenden
Spülers einen Platz suchen, aber dann störte mich der Lärm ringsum.
Ich drehte ab und ging an dem Briefkasten vorbei. Im Augenblick,
als ich die nach oben stehende Klappe nach unten drückte, dachte
ich: Aus zu Schluß vorbei für immer. Die Straße, die ich
entlangging, war breit und mit Kopfsteinen gepflastert. Die
schwarzen Kuppen der Steine glänzten in der Sonne. In der Mitte
zogen sich schnurgerade Straßenbahnschienen hin. Der
Straßenbahnverkehr war hier seit Jahren eingestellt, aber die
Schienen waren nicht entfernt worden. Sie zeigten jetzt nichts als
eine leere Ferne, die immer neu in der Mitte der Straße entsprang
und nirgendwo hinführte. Eine Weile redete ich mir ein, daß
Menschen von hinten trauriger und trauererregender aussahen als
Menschen von vorne. Und weil ich viele Personen gleichzeitig von
hinten betrachtete, glaubte ich momentweise, mich inmitten einer
großen Trauergesellschaft zu befinden. Erst die zwanghafte Art, mit
der ich an meiner Idee festhielt, verriet mir immer neu, daß ich
alleine trauerte und niemand von meiner Trauer wußte. Am Ende der
Schienenstraße lag ebenfalls ein Café mit ein paar Stühlen auf
einem terrassenartigen Vorplatz. Es war nicht schön hier, nicht
einmal still. Neben dem Café wurde ein größeres Haus gebaut. Der
Lärm der Betonmischmaschine beherrschte fast die ganze Terrasse.
Trotzdem setzte ich mich nieder und bestellte ein Glas Rotwein und
ein Mineralwasser. Der Kellner zuckte entschuldigend die Achseln,
vermutlich wegen des Baulärms. Wind kam auf und trug leichte
Sandverwehungen in die Umgebung. Zufällig faßte ich mir ins Haar
und ertastete dort ein paar Sandkörner. Mit den Fingerkuppen rieb
ich die Staubkörner eine Weile auf meiner Kopfhaut hin und her.
Durch den Sand im Haar hatte ich plötzlich Anteil am Tod. Es
ergriff mich eine Art freudiger Bestürzung. Der Sand im Haar
drückte meine Trauer erheblich persönlicher aus als der im
Spülwasser versinkende Schlager. Ich schaute den leeren Drehungen
der Betonmischmaschine zu und wartete auf die nächste
Sandverwehung. Ich lebte und staubte ein, ich lebte und war
gleichzeitig ein bißchen tot. Näher war ich Linda nie zuvor
gewesen. Nach einer Weile legte ich mir einen Arm über die Augen
und verbarg die Tränen. Nach einer halben Stunde zahlte ich und
ging zurück in die Redaktion. Herrdegen trat in mein Zimmer und
fragte: Werden Sie zur Beerdigung der verstorbenen Kollegin
fahren?
Ich würde gern, sagte ich.
Sie können zwei Tage Sonderurlaub haben, sagte
Herrdegen.
Danke, sagte ich.
Ich war dankbar für Herrdegens Diskretion. Er
nannte Linda eine verstorbene Kollegin und umging damit jede
Diskussion der Todesart und der Gründe, die es für diese vielleicht
gab. Am Frühabend ging ich zum Bahnhof und erkundigte mich nach
einer Verbindung. Ich würde mit dem Zug bis Wilhelmshaven fahren
und von dort weiter mit dem Bus bis zur Küste. Die Fahrt dauerte
einen halben Tag, am Abend davor ging ich früh ins Bett. Die Reise
an die Nordsee war meine erste größere Reise überhaupt. Am Tag der
Abfahrt ließ ich mich um fünf Uhr wecken. Eine Weile hatte ich mir
überlegt, ob ich mich anläßlich der Beerdigung nicht doch neu
einkleiden sollte, war dann aber wieder davon abgekommen. In meiner
Je-ka-mi-Garderobe hatte mich Linda zuletzt gesehen. So schlüpfte
ich erneut in meinen (so nannte ich ihn jetzt)
Staub-und-Asche-Anzug. Während des Frühstücks überlegte ich, daß es
für ihren Tod drei Gründe geben könnte. Die Unmöglichkeit, ihre
Heimat zu verlassen, die Unmöglichkeit, mit ihrem Freund, dem
Seemann, zurechtzukommen, und die Unmöglichkeit, ihren Roman zu
schreiben. Später, im Zug, zwischen Koblenz und Köln, erwog ich, ob
ich Lindas Roman schreiben sollte, zu ihrem Andenken. Sie
hatte mir oft von diesem Roman vorgeschwärmt. Manchmal hatte ich
beim Erzählen schon das Gefühl, ich sei mit ihr auf dem Frachter
nach New York gefahren und ich hätte mit ihr Reißaus genommen vor
dem zudringlichen Matrosen. In Dortmund betrat eine Mutter mit Kind
das Abteil. Das Kind forderte die Mutter auf, ein Bild zu malen,
und zwar einen »Fisch mit Augen zu«. Die Mutter gehorchte und malte
auf der Rückseite eines Kassenzettels einen Fisch mit Augenklappe.
Aber das Kind nahm das Bild nicht an und verlangte erneut einen
»Fisch mit Augen zu«. Ich nahm an, es war der Wunsch des Kindes,
die Mutter sollte mit geschlossenen Augen einen Fisch malen, aber
ich traute mich nicht, die Mutter auf diese Idee zu bringen. Als
das Kind merkte, daß die Mutter auch beim zweiten Anlauf seinen
Wunsch nicht verstand, stellte es sich eine Weile an das halboffene
Fenster und sang in den Fahrtwind hinaus. Diese Art des Trostes
(hinaus ins windige Nichts) beeindruckte mich so stark, daß ich
fast eine ganze Stunde lang nicht an Linda denken mußte. In
Osnabrück stieg die Frau mit Kind wieder aus. Als der Zug stand,
ließ sich eine Elster auf dem Nebengleis nieder. Der Vogel lief auf
dem schimmernden Schienenstrang entlang und pickte zuweilen mit dem
Schnabel auf den Stahl. Ich fragte mich, ob Linda als
Selbstmörderin innerhalb oder außerhalb des Friedhofs beerdigt
würde. Ich erinnerte mich an einen Selbstmord, der sich in unserer
Nachbarschaft zutrug, als ich ein Kind war. Der Selbstmörder war
ein kriegsversehrter Mann, der von Beruf Kunsttischler war und sich
in der Nachkriegszeit nicht mehr zurechtfand. Im Krieg war ihm sein
linker Fuß abgeschossen worden. Außerdem konnte er das Kniegelenk
nicht mehr bewegen. So humpelte er mit einem starren Bein und einem
Klumpfuß umher und ertrug (ertrug eben nicht) die Hänseleien der
Nachbarskinder (unter ihnen: ich), die er aufgrund seiner
Behinderung nicht verfolgen und bestrafen konnte. Eine Stelle als
Kunsttischler fand er nicht mehr. Er wurde ein Arbeitsloser, der
von Woche zu Woche bitterer darüber klagte, daß es ihm bei den
Nazis viel besser ergangen war, obgleich die Nazis schuld daran
waren, daß er in den Krieg hatte ziehen müssen und dabei einen Fuß
verloren hatte. Immer öfter wegen dieser Dummheit (und immer
seltener wegen des Klumpfußes) machten sich die Nachbarn über ihn
lustig. Er fühlte den Spott, konnte aber auch ihn nicht abstellen,
sowenig wie die Hänseleien der Kinder. Seine Frau baute in diesen
Jahren in einem Geräteschuppen eine Dampfwäscherei auf. Erst in
einem, dann in zwei großen Kesseln wusch sie jeden Tag große Mengen
weißer und bunter Wäsche. Ihr Mann ging ihr zur Hand, so gut er
konnte. Weil er aber nicht aufhören konnte, die Nazizeit zu loben,
wurde er von seiner Frau zurechtgewiesen und vom Umgang mit ihren
Kunden mehr und mehr ferngehalten. Eines Morgens, als die Ehefrau
wie üblich die Kesselfeuer anzünden wollte, fand sie ihren Mann
hängend in der Waschküche. Sie stürzte schreiend hinaus in den
Gemüsegarten des Hinterhofs und lief eine Weile (das sagte meine
Mutter) wie ein geköpftes Huhn umher. Mutter erzählte damals auch,
daß der Kunsttischler tatsächlich außerhalb des Friedhofs bestattet
wurde, in der Nähe des Eingangs, dicht an der Mauer, ohne Pfarrer,
ohne Segen, ohne Gebet, ohne Trost: zur Strafe dafür, daß er in
Gottes Zuständigkeit eingegriffen hatte.
Ich war deswegen erleichtert, als ich sah, daß
Lindas Grab innerhalb des Friedhofs angelegt war. Es war ein
winzig kleiner Friedhof auf dem Gipfel einer kleinen Anhöhe. Nach
fast neun Stunden Bahn- und Busfahrt war ich erschöpft und setzte
mich eine Weile auf eine Bank in der Nähe des offenen Grabs. Weil
ich ein wenig verfrüht eingetroffen war, konnte ich meine Blicke
langsam an die Umgebung gewöhnen. Ältere Leute, offenbar aus dem
Dorf, kamen vorbei, blieben stehen, sahen herüber und betraten dann
den Friedhof oder gingen weiter. Vielleicht wurde auch ihnen die
Entscheidung schwer, ob sie an der Beerdigung einer Selbstmörderin
teilnehmen sollten oder nicht. Ein Auto hielt, ein Mann stieg aus
und hob vorsichtig einen Kranz aus dem Fond des Wagens. Rechts,
etwa einen halben Kilometer vom Grab entfernt, sah ich das
Meeresufer. Es war kein richtiges Ufer, sondern ein unscheinbarer
Meeresrand, eine graue, schlammige Wassergrenze mit ein paar Möwen
darüber. Allmählich trafen mehr Trauernde ein. Es waren junge
Frauen darunter, die ich für Lindas ehemalige Schulfreundinnen
hielt. Auch einige ältere Frauen sah ich. Ich betrachtete sie
einzeln und fragte mich, welche von ihnen Lindas Mutter sein
könnte. Zur linken Seite hin hatte der Friedhof keine Begrenzung.
Er hörte hier mit einem schmalen Sandweg auf, auf dessen Gegenseite
Maispflanzen hochwuchsen. Auf den glatten Maisblättern spiegelten
sich Lichtreflexe. Die Sonne stand hoch. Am rechten Friedhofsrand,
zum Meer hin, hoppelten zwei Karnickel zwischen den Gräbern umher.
Die Hortensien ringsum waren schon halb abgewelkt. Ihre riesigen
Blütenballen hatten sich violett und braun eingefärbt. Die
Trauernden drängten jetzt zur winzigen Trauerhalle hin. Ich erhob
mich und stellte mich zu ihnen. Vorne, an der Stirnseite, war der
Sarg aufgebahrt. Es erschien ein Priester, aber er redete nicht. Er
stellte sich vor dem Sarg auf, faltete die Hände zum Gebet und
machte dann das Kreuzzeichen. Der Mann neben mir trug einen offenen
Hemdkragen. Die linke Kragenspitze war über das Revers seiner
Anzugjacke gerutscht. Vier Friedhofsarbeiter erschienen und
stellten sich, zwei links und zwei rechts, an den Seiten des Sargs
auf. Der Priester verließ die Kapelle, die Friedhofsarbeiter hoben
den Sarg und folgten ihm. Bis zum Grab waren es nur ein paar
Schritte. Ich habe nicht sehen können, wo die Friedhofsarbeiter
plötzlich die schweren Seile herholten, die sie jetzt unter dem
Sarg durchschoben. Zentimeterweise senkten sie den Sarg in das Grab
hinab. Dann wurde es still. Kleine Wolken, wie für das unruhige
Auge geschaffen, schoben sich rasch am Himmel entlang. Von der
Friedhofskapelle tönte eine Melodie herüber, die ich nicht kannte.
Es schien eine von Lindas Lieblingsmelodien zu sein. In diesen
Augenblicken, als Linda nur noch durch eine kurz vorüberhuschende
Musik auf der Welt war, brachen ein paar ältere Frauen in
Schluchzen aus. Der Körper einer der Frauen krümmte sich nach
vorne. Sie wurde seitlich von zwei anderen Frauen abgestützt. Mir
halfen ein paar tief herabhängende Telegrafenleitungen, deren
Anblick mich tröstete. Vielleicht war nicht einmal der Tod das
Schlimmste. Sondern der Zwang, ein beliebig törichtes Ereignis (den
Je-ka-mi-Abend) zur letzten Erinnerung an einen toten Menschen
umdeuten zu müssen. Die beiden Karnickel fraßen jetzt frisches
Grünzeug von den Gräbern herunter. Gewitterluft lag über der
Landschaft, aber das Gewitter blieb aus. Ich sah ein paar Möwen zu,
die im Steilflug herabstürzten und am Boden liegende
Schneckenhäuser aufschlugen. Der Priester schüttete drei Häuflein
Erde in das Grab und gab der Frau, die am stärksten geschluchzt
hatte, die Hand, redete aber nicht mit ihr. Einige Trauernde warfen
ebenfalls Erde in das Grab, andere nicht. Der Priester blieb noch
eine Weile am Grab stehen, dann ging er weg. Allmählich verliefen
sich die Trauernden. Ich ging in einigem Abstand hinter ein paar
Männern her, deren Weg ins Dorf führte. Ich war in Versuchung, mich
nach Lindas Elternhaus durchzufragen, das seit kurzem auch ihr
Sterbehaus war. Lindas Dorf war eine merkwürdig ungeordnete
Ansammlung von etwa vierzig bis fünfzig niedrigen Häuschen.
Straßennamen gab es nicht, nur Hausnummern. Die Landschaft ringsum
(Salzwiesen, Äcker, Dünen, Brachland) wirkte leblos, fast unbewohnt
und auch unbewohnbar. Um einige Häuser herum standen hohe
Brombeerhecken und ältliche Schilfstengel. Am Dorfeingang gab es
einen Laden mit einem schmalen Schaufenster. Über dem Ladeneingang
war zu lesen: MODE UND TEXTIL S. JENSEN. Am Boden des Schaufensters
lagen zwei Strickwesten und ein Rock in den Farben des Dorfes:
braunes Violett, schmutziges Türkis, graues Gelb. Die einzige
Heiterkeit ging von einem älteren Mann und zwei nackten
Kleinkindern aus. Der Mann wässerte mit einem Gartenschlauch einen
kleinen Gemüsegarten und richtete den Wasserstrahl manchmal auf die
vergnügt schreienden Kinder. Ein schmaler Wasserlauf durchquerte
das Dorf und führte zu einem Sielhafen, in dem ein paar
Fischerboote festgemacht hatten. Vor einem Haus stand ein kleines
Holzwägelchen, dessen Deichsel auf den Boden herunterreichte. Im
Haus daneben gab es einen Lebensmittelladen mit einem ebenfalls
schmalen Schaufenster. Ausgestellt waren Putzmittel,
Scheuerbürsten, Fliegenfänger, Packpapier und drei Rollen starker
Kordel. Im Hintergrund lehnte ein Schild: CHEMISCHE REINIGUNG
ANNAHME HIER. Und darunter: GEPFLEGTE KLEIDUNG MACHT GLÜCKLICH. An
der Tür hing eine Schiefertafel mit der handgemalten Aufschrift
»Zimmer frei«. Ich kam für eine Weile ins Überlegen. Ich könnte den
Laden betreten und nach Lindas Elternhaus fragen, ich könnte hier
übernachten und am nächsten Tag einen Versuch machen, mit Lindas
Mutter zu sprechen. Vermutlich, dachte ich, würde sie mit einem
Fremden nicht sprechen, aber ich hätte es probiert. Aber dann
öffnete sich die Tür, eine Frau verließ den Laden. Sie ließ die Tür
offenstehen. Ein Geruch nach harten Eiern, Gurken, alten
Aktentaschen und Seife drang nach draußen, ein lebhafter
Todesgeruch. Wenige Sekunden später entschloß ich mich doch zur
Rückkehr. Die Bushaltestelle war nur wenige Schritte von dem
Lebensmittelladen entfernt. Nach rund zehn Stunden, gegen
Mitternacht, traf ich zu Hause ein.