28

Während der Fahrt zurück in die Stadt – es war noch nicht einmal halb zehn – wählte ich die Nummer unserer Telefonzentrale und bat eine verschlafen klingende Kollegin, die spärlichen Daten von Ivas Freundin über den Funk zu geben. Mein zweiter Anruf galt dem Krankenhaus und brachte das befürchtete Ergebnis: Muriel Jörgensen war für mich bis auf Weiteres nicht zu sprechen. Nach meinem gestrigen Besuch hatte sie einen Kreislaufkollaps erlitten. Die Ärztin klang besorgt. Schließlich versuchte ich noch, Pretorius zu erreichen. Aber sowohl im Büro als auch unter der Privatnummer meldeten sich nur die Anrufbeantworter. Ich bat auf beiden um Rückruf.

Kurz darauf gab es einen ersten, kleinen Erfolg.

»Sie suchen eine Frau mit roten Zöpfen?«, fragte eine knurrige Männerstimme am Telefon. »Mit einem kleinen, hellblauen Skoda?«

»Die Marke weiß ich nicht. Klein und blau ist richtig.«

Der Anrufer betrieb einen Imbissstand in Rohrbach, Ecke Karlsruher- und Römerstraße, und zu seinen treuesten Stammkunden zählten die Besatzungen einiger unserer Streifenwagen, erzählte er mir widerwillig.

»Und Sie kennen die Frau, die wir suchen?«

»Drüben steht ihr Auto. Vorhin ist sie beim Bäcker gewesen, Brötchen kaufen. Aber jetzt ist sie wieder daheim. Falls sie wegfahren will, soll ich sie festhalten?«

»Es reicht völlig, wenn Sie sich das Kennzeichen merken.«

 

Über Nacht war die Temperatur unter null gefallen. Ein eiskalter Ostwind pfiff, und man erwartete jeden Augenblick die ersten Schneeflocken. Die Pfützen am Straßenrand waren gefroren, eine einsame Zeitung drehte vor Willy’s Wurstbude ihre Kreise. Willy selbst, mit dem ich vor einer knappen Viertelstunde telefoniert hatte, war so dürr, dass ich mich unwillkürlich fragte, wie jemand bei seinem Anblick Appetit auf die nicht einmal so übel aussehenden XXL-Currywürste entwickeln konnte. Die Schürze, die zweimal um ihn herumpasste, war verblüffend sauber. Dazu trug er eine Intellektuellenbrille, und er machte den Eindruck eines gescheiterten Philosophiestudenten auf mich.

Willy wischte hinter seiner Theke herum und vermied es hartnäckig, mir in die Augen zu sehen. Als ich meinen Namen nannte, nickte er nur und wies mit einer beiläufigen Geste auf den kleinen Skoda, der schräg gegenüber unter dem Vordach einer aufgegebenen Tankstelle parkte.

»Das Eckhaus«, brummte er, als wollte er mich loswerden. »Dritter Stock links.«

Die Frau, die ich suchte, wohnte in einem viergeschossigen, gesichtslosen Mietshaus aus den Zeiten der kriegsbedingten Wohnungsnot.

»Ich seh sie hin und wieder auf dem Balkon, wenn sie Wäsche aufhängt«, fügte Willy hinzu. »Und im Sommer sonnt sie sich manchmal oben ohne, falls man Glück hat.«

Auf mein »Tschüss und danke« antwortete er mit resigniertem Achselzucken. Ich überquerte die Straße. Den handgeschriebenen Namen an der Klingel entzifferte ich als A. Sereno. Ich drückte den Knopf, und es dauerte keine Sekunde, bis der Türöffner summte. Ich war froh, ins Warme zu kommen.

Innen roch es nach frischer Farbe.

»Huch«, sagte die Frau, die mich am oberen Ende der Treppe erwartete, bei meinem Anblick. Sie sah tatsächlich ein wenig aus wie eine erwachsene Pippi Langstrumpf ohne Sommersprossen. »Ich dachte, Sie sind der Maler!«

Die roten Zöpfe baumelten unter einer verwegenen Baseballmütze hervor. Und sie hatte doch einige Sommersprossen, wenn man genauer hinsah. Als ich meinen Dienstausweis zeigte, wurde ihr Blick für einen winzigen Moment unruhig, und sie wich einen halben Schritt zurück in die Sicherheit der eigenen vier Wände.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Es geht um Iva.«

»Was ist mit ihr?«

»Ich würde mich gerne mit Ihnen über Ihre Freundin unterhalten. Aber vielleicht nicht gerade auf der Treppe.«

»Ich hab aber nicht viel Zeit.« Nur zögernd gab sie die Tür frei. »Der Maler wollte eigentlich schon vor einer Dreiviertelstunde hier sein.«

Sie führte mich durch einen winzigen Flur in ein kleines Wohnzimmer mit – für einen Altbaufan wie mich – bedrückend niedriger Decke, das mit Möbeln und anderem Hausrat restlos überfüllt war. Offensichtlich war zu den bereits vorhandenen Dingen auch noch der komplette Inhalt eines Kinderzimmers gequetscht worden. Unschwer zu erraten, welches Zimmer heute gestrichen werden sollte. Es gelang mir, mich zwischen Flohmarktstehlampe und Ikeaschrankwand hindurchzuschlängeln und auf einen Sessel zu zwängen, wobei meine Knie gegen die Kante einer großen, feuerwehrrot bemalten Spielzeugkiste stießen.

Frau Sereno schuf für sich selbst Platz auf einem Sofa und sprang im nächsten Moment wieder auf, als hätte sie sich verbrannt. Augenblicke später kam sie mit einem großen Glas Wasser zurück. Mir bot sie nichts an. Sie zwang sich, mir unbefangen ins Gesicht zu sehen.

»Was ist mit Iva?«

»Ich würde gerne mit ihr sprechen.«

»Und warum tun Sie es nicht?«

»Weil mir bisher niemand sagen konnte, wo ich sie finde.«

Wieder sprang sie auf, verschwand im Flur. Dieses Mal hielt sie einen kleinen karierten Notizblock in der Hand, als sie zurückkam. Sie setzte sich und begann mit geübten Bewegungen, eine Skizze zu zeichnen. Eine Reihe von Quadraten erkannte ich, zwei parallele, leicht gekrümmte Linien.

»Da«, sagte sie schließlich, machte in einem der Quadrate ein Kreuz und riss das Blatt vom Block. »Südlich von Kirchheim. Das Kleingartengelände.«

»Dort wohnt sie?«

»Jedenfalls wohnt da ihr Mann, Ratko. Der wird Ihnen schon sagen können, wo Iva steckt.«

»Sie selbst wissen es nicht?«

»Hab sie ewig nicht mehr gesehen.«

Es gibt gute Lügner und schlechte und hundsmiserable. Meine Gastgeberin wider Willen zählte zur dritten Gruppe.

»Frau Sereno, Sie können ruhig offen zu mir sein. Gegen Ihre Freundin liegt nichts vor. Ich möchte wirklich nur mit ihr reden.«

»Aber worüber denn?« Ein blitzschneller Blick zur Uhr.

»Das geht nur Iva und mich etwas an.«

»Ich kann Ihnen aber beim besten Willen nicht sagen, wo sie steckt. Fragen Sie einfach Ratko.«

Ich beugte mich vor und versuchte, ihren Blick einzufangen. Es gelang mir nicht.

»Können Sie nicht, oder wollen Sie nicht, oder dürfen Sie nicht?«

»Ich … Ich kann nicht.«

Die Türklingel schrillte dreimal kurz nacheinander.

»Der Maler«, seufzte sie erleichtert und federte hoch. »Na endlich!«

Immerhin Ivas Nachnamen verriet sie mir noch: Draskovic.

Nach Kirchheim war es nicht allzu weit. Der Zettel mit der Skizze lag auf dem Beifahrersitz. Während der Fahrt suchte ich im Telefonbuch meines Handys Sönnchens Privatnummer. Zum Glück war sie zu Hause und kein bisschen empört, weil ich sie am Samstag mit dienstlichen Dingen belästigte.

»Bei dem Mistwetter mag man ja sowieso nicht aus dem Haus«, meinte sie gut gelaunt. »Wie heißt die Frau noch mal?«

»Sereno.« Ich diktierte ihr die Adresse.

 

»Da ist keiner«, keuchte ein atemloser Jogger und blieb neben mir stehen. »Zu wem wollen Sie denn?«

Ich schätzte den drahtigen Mann im schrillbunten Trainingsanzug auf Mitte dreißig. Er musterte mich neugierig. Sein Atem ging stoßweise und bildete kleine Wölkchen vor seinem auffallend breiten Mund.

»Zu einem gewissen Herrn Draskovic. Ratko Draskovic.«

»Da werden Sie kein Glück haben. In der Hütte da wohnt seit Ewigkeiten keiner mehr, soweit ich weiß.«

Das unübersichtliche Grundstück, vor dessen rostigem Tor wir standen, lag am äußersten Rand eines Kleingartengeländes südlich von Kirchheim und machte einen verwilderten und verlassenen Eindruck. Überall wuchsen Brennnesseln, Brombeerbüsche und Gestrüpp. Dornige Zweige wucherten über den Zaun zur schmalen Straße hin. Hagebutten baumelten traurig an dürren Zweigen. Das schiefe Häuschen, das ich im Hintergrund teilweise ausmachen konnte, war aus allem möglichen und unmöglichen Gerümpel zusammengezimmert, zwei enorme Nussbäume spendeten im Sommer sicherlich angenehmen Schatten. Jetzt knarrten und knackten ihre Äste im wütenden Wind.

Der Jogger hatte offenbar zu viel Zeit. Ich ließ ihn meinen Dienstausweis sehen.

»Hab mir fast gedacht, dass Sie von der Polizei sind. Kommen Sie sonst nicht immer zu zweit?«

»Nicht, wenn es eilig ist.« Ich steckte den Ausweis wieder ein. »Laufen Sie diese Strecke öfter?«

»Nicht oft genug«, seufzte er. »Wenn ich’s zweimal die Woche schaffe, dann bin ich schon ganz zufrieden mit mir.«

»Und Sie haben hier in letzter Zeit wirklich keine Menschen gesehen?«

Beflissen schüttelte er den schmalen Kopf. »Ich sag doch, da ist keiner.«

Ich stemmte das herzzerreißend quietschende Gartentor auf. Das Haus, das ich während unseres kurzen Gesprächs ständig im Auge behalten hatte, verfügte offenbar sogar über Strom. Ein im Wind schaukelndes schwarzes Kabel endete an einem stählernen Mast auf dem Dach. Der blecherne Schornstein qualmte nicht. Als ich jedoch näher kam, bemerkte ich, dass die Luft darüber flimmerte. Vermutlich war das Feuer im Ofen erst vor Kurzem in aller Hast gelöscht worden.

Unter den interessierten Blicken des Joggers klopfte ich an die altersschwache Tür, von der großflächig die graue Farbe blätterte. Auf dem Wasser in der rostigen Regentonne an der Ecke hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet.

»Polizei!«, rief ich. »Bitte machen Sie auf!«

Im Haus blieb es still.

»Ich weiß, dass Sie hier sind«, rief ich lauter als zuvor. »Wenn Sie die Tür nicht öffnen, breche ich sie auf.«

Wieder rührte sich nichts. Ich blickte über die Schulter. Mein Beobachter sah plötzlich am Haus vorbei. Er gab mir mit dem spitzen Kinn einen Wink. Mit zwei Sprüngen war ich an der Ecke, umrundete die Regentonne und sah eben noch einen Schatten über den heruntergetretenen und erbärmlich verrosteten Maschendrahtzaun an der Rückseite des Gartens springen. Der Schatten steckte in einer olivgrünen Jacke, so viel konnte ich noch erkennen, dann hatte dichtes Gebüsch ihn verschluckt. Ich lief los. Das Gelände war tückisch, der Boden uneben, viele Sträucher stachelig.

Sekunden später erreichte ich die Stelle, wo ich den Flüchtenden zuletzt gesehen hatte. Der Raureif auf dem dürren, hohen Gras verriet mir seinen Weg. Der Mann lief auf die Felder zu. Nach vielleicht hundert Metern sah ich ihn wieder.

»Stehen bleiben!«, brüllte ich.

Er lief schneller, nun jedoch im Zickzack, um nicht getroffen zu werden. Offenbar hatte Ratko Draskovic Erfahrung darin, unter feindlichen Beschuss zu geraten. Zu seinem Pech war er allerdings noch schlechter in Form als ich. Kurz bevor wir die offenen Felder erreichten, holte ich ihn ein. Als er mich hinter sich hörte, fiel er unvermittelt auf die Knie, verschränkte die Hände im Genick und erstarrte in Erwartung eines Schlages oder einer Kugel. Zur militärgrünen Jacke trug er eine dunkelbraune, fleckige Tuchhose. Ich tippte ihm auf die Schulter.

»Aufstehen!«

Zögernd, als fürchtete er irgendeine Heimtücke, entspannte er sich. Die Hände lösten sich vom Genick, langsam stand er auf, was nicht ganz einfach war, da er die Hände in Schulterhöhe hielt. Schließlich wandte er sich langsam um, und endlich sah ich sein wettergegerbtes, mageres Gesicht. Die blutunterlaufenen Augen waren voller Angst.

»Nicht schießen!«, bettelte er heiser. »Bitte nicht schießen!«

Ratko Draskovic war klein, drahtig und sicherlich einmal sehr viel kräftiger gewesen als heute.

Ich hob ebenfalls die Hände, um zu zeigen, dass sie leer waren.

Mit ungläubiger Miene ließ er die Arme sinken.

»Kommen Sie.« Ich packte ihn am Oberarm. »Gehen wir zurück.«

Fünf Minuten später saßen wir in dem Häuschen, das von innen noch winziger wirkte als von außen. Es stank nach Alkohol, alten Socken und Männerschweiß. Unaufgefordert riss Draskovic das Fenster auf. Dann machte er sich am Ofen zu schaffen. »Strom teuer«, murmelte er. »Holz besser.«

Bald brummte das Feuer wieder.

»Es geht um Iva«, begann ich.

Draskovic legte noch zwei Scheite nach und schloss die früher einmal durchsichtige Tür des Kaminofens. Dann richtete er sich ächzend auf, sah mir kurz ins Gesicht und dann zu Boden.

»Was mit Iva?«

Seine Stimme klang, als hätte er zeitlebens Kette geraucht.

»Ich muss sie dringend sprechen.«

»Warum?«

»Ich weiß, dass Sie und Ihre Frau illegal in Deutschland sind und arbeiten. Aber das interessiert mich nicht. Es geht um Tim, den Sohn einer Familie, für die Iva längere Zeit gearbeitet hat. Und jetzt setzen Sie sich endlich hin und sehen Sie mich an.«

Er nahm so hastig Platz wie ein Mensch, der es von Kind an gewohnt ist, Befehle zu befolgen.

»Woher kommen Sie beide?«

»Aus …«

»Sie sollen mich ansehen!«

Mit dem Blick eines zu oft geprügelten Hundes sah er mir in die Augen.

»Wovor haben Sie denn solche Angst?«

»Vor …« Sein Blick flackerte. Aber er wandte ihn nicht ab. »Vor allem.«

Durch eine halb offen stehende Tür konnte ich ins Nachbarzimmer sehen, das noch ein gutes Stück kleiner war als das, in dem wir saßen. Obwohl das Feuer im Ofen inzwischen tobte und knackte, wurde es nicht wirklich warm. Vorne glühte einem das Gesicht, während der Rücken kalt blieb.

»Sie wohnen schon länger hier?«

Im Dämmerlicht des Nebenzimmers erkannte ich eine blauweiß karierte Matratze am Boden, auf der eine fleckige Wolldecke und einige Lappen herumlagen, die früher einmal weiß gewesen waren.

»Ich zahlen Miete«, nuschelte Ratko. »Nicht viel. Aber ich zahlen.«

»Und da nebenan schlafen Sie?«

Müde schüttelte er den Kopf. »Ich nicht schlafen. Zehn Jahre.«

»Sie waren im Krieg?«

Er nickte demütig. »Kosovo.«

»Serbe oder Albaner?«

»Serbe.« Seine Antwort war ein Geständnis.

»Und es war so schlimm, dass Sie seither nicht mehr schlafen können?«

Plötzlich herrschte etwas wie zaghaftes Vertrauen in dem engen, mit jeder Minute stickiger werdenden Raum.

»Herr Draskovic, noch einmal: Wo steckt Ihre Frau?«

»Ich …« Seine Hände hörten nicht auf zu zittern. »Ich nicht wissen. Seit September Iva nicht sehen.«

»Vorher haben Sie aber hier zusammengewohnt?«

Er nickte so verzagt, als könnte ihn diese Tatsache Kopf und Kragen kosten.

»Iva ist verschwunden, ohne sich von Ihnen zu verabschieden? Ohne zu sagen, wohin?«

Seine Miene wurde unruhig, als würde er gleich zu weinen beginnen. »Ich schuld. Ich schlagen. Ich manchmal so … Ich schuld. Nächster Morgen Iva gehen arbeiten. Wie jede Tag. Iva viel arbeiten. Iva zäh wie Katze. Aber nicht kommen zurück.«

»Und Sie selbst? Arbeiten Sie auch?«

»Manchmal.« Nachdenklich starrte er auf seine sehnigen Hände, die einfach nicht zur Ruhe kommen wollten. »Ich nicht gut mit Leute. Oft gibt Streit und …«

»Das heißt also, Ihre Frau hat Sie im Wesentlichen ernährt.«

Schuldbewusstes Nicken.

»Und als Dank dafür haben Sie sie hin und wieder verprügelt.«

»Bitte bringen Iva zurück«, krächzte er. »Ich jetzt anders. Ich jetzt gut! Bestimmt!«

»Ungefähr zum selben Zeitpunkt wie Ihre Frau ist auch das Kind der Familie verschwunden, bei der sie gearbeitet hat.«

»Tim verschwunden?«

Seine Überraschung war echt. Dieser Mann war zu kaputt, um noch glaubwürdig zu lügen.

»Was denken Sie? Könnte Iva etwas damit zu tun haben?«

Diesmal schwieg Ratko Draskovic sehr lange. Sein Mienenspiel ließ mich ahnen, wie die Gedanken durch sein geschundenes Hirn tobten und doch keine vernünftige Erklärung zustande brachten. An den Fenstern rüttelte der Wind. Das Brummen und Summen des Ofens wurde mal lauter, mal leiser.

»Iva immer gern Kinder«, flüsterte er schließlich. »Tim … Iva hat großgezogen. Die Frau …«

»Jörgensen.«

»Nicht gute Mutter. Zu viele … Nerven.«

»Sie selbst sollen vor einiger Zeit Streit mit Tims Vater gehabt haben.«

»Jeder hat Streit mit Jörgensen. Schlimme Mensch.«

»Worum ging es dabei?«

»Will nur zahlen Hälfte. Sagen, Arbeit nicht gut.«

»Sie sollen dabei Drohungen ausgestoßen haben.«

Wieder dauerte es lange, bis er sich eine Antwort zurechtgelegt hatte. Das ganze Haus schien zu beben unter dem Sturm, der draußen herrschte.

»Manchmal, wenn wütend, ich sagen Sachen. Aber … sehen Sie doch!«

Anklagend hielt er seine zitternden Hände in die Luft.

»War Ihre Frau Zeugin bei diesem Streit?«

»Ganze Nachbarschaft Zeuge. Alle.«

Die nächste Frage kam mir selbst ein wenig hirnrissig vor. »Könnte es vielleicht sein, dass Iva an Ihrer Stelle Rache genommen hat?«

Er stieß ein Krächzen aus, das in besseren Zeiten ein Lachen hätte werden können. Dann legte er das Gesicht in die schmutzigen, sehnigen Hände und begann, lautlos zu weinen.

»Sie halten das also nicht für möglich?«

»Aber nein! Nicht Iva! Iva gut!«

»Und Sie wissen wirklich nicht, wo sie sich zurzeit aufhält?«

»Wenn wüsste, dann ich jetzt dort und betteln, kommen zurück. Ich sterben ohne Iva.« Aus schwimmenden Augen starrte er mich an. »Ich sterben!«

»Sie sprechen ziemlich gut Deutsch«, sagte ich, als ich mich erhob.

»Iva mich gezwungen.« Ratko nickte ernst. »Ich erst nicht wollen. Nicht denken, so lange bleiben. Aber Iva sagen, wo man ist, man muss können Sprache. Sie kaufen Buch. Und jede Abend lernen. Jede Abend. Iva so zäh. Iva Katze. Aber ich dumm.«

 

»Angelina Sereno ist unverheiratet«, berichtete mir meine unersetzliche Sekretärin während der Rückfahrt in die Innenstadt am Telefon. »Sie arbeitet bei der Heidelberger Zement in Leimen als Fremdsprachensekretärin. Ihren Jungen gibt sie tagsüber zu einer Nachbarin im Erdgeschoss.«

»Dafür dass Sie kaum mehr als eine Viertelstunde Zeit hatten, haben Sie eine Menge herausgefunden!«

Sönnchen lachte stolz. »Diese Nachbarin singt auch in einem Gesangsverein. Nicht im selben wie ich, aber so was verbindet halt. Drum hat sie mir auch im Vertrauen verraten, dass Frau Sereno Ende September ein paar Tage verreist gewesen ist. Den Jungen hat sie bei ihr gelassen.«

»Jeder macht mal Urlaub.«

»Schon. Aber erstens ist das damals ziemlich hopplahopp gegangen mit der Reise, und zweitens war es vom einundzwanzigsten bis zum fünfundzwanzigsten September, also genau in der Zeit, in der Tim verschwunden ist. Und außerdem hat sie ihren Sohnemann sonst immer mitgenommen, wenn sie mal ein paar Tage weggefahren ist. Das sei alles ein bisschen komisch gewesen mit diesem Urlaub, sagt die Nachbarin. Erst hat sie gedacht, es steckt vielleicht ein neuer Mann dahinter.«

»Woher kommt Frau Sereno?«

»Aus Kroatien, meint sie. Aber ihre Muttersprache ist Italienisch.«

»Und weiß die Nachbarin auch, wo sie hingefahren ist?«

»Nein. Auch das hat sie ziemlich gewundert, weil sie ihr sonst eigentlich alles erzählt. Einen Hinweis gibt es aber: Sie hat ihr ein paar Flaschen italienischen Rotwein mitgebracht, als Dank fürs Kinderhüten. Und dieser Wein, der war aus der Gegend von Triest.«

Beim letzten Wort entstand etwas in meinem Kopf. Man konnte es noch nicht Idee nennen. Es war nicht einmal ein Gedanke, kaum mehr als ein Gefühl. Da gab es einen Zusammenhang, den ich noch nicht fassen konnte. Plötzlich war ich sicher, dass die Lösung vor mir lag. Dass ich nur zugreifen musste.

Aber so sehr ich auch grübelte an diesem Samstag, ich fand sie nicht.

Den Nachmittag über saß ich abwechselnd in meinem Sessel und versuchte Musik zu hören oder tigerte ruhelos in der Wohnung herum. Der Sturm hatte sich gegen Mittag plötzlich gelegt. Dafür hatte es wieder einmal zu regnen begonnen. In der Stadt hatte es einige Glatteisunfälle gegeben, hörte ich im Radio.

Meine Töchter verbrachten den ganzen Tag mit Proben. Am nächsten Abend würde nun ihr erster Auftritt sein. Im Gemeindezentrum der Christuskirche, praktischerweise nur zweihundert Meter von unserer Wohnung entfernt. Eine halbe Stunde würden sie singen dürfen, als Vorgruppe für eine Band, die ebenfalls kein Mensch kannte. Dennoch waren sie natürlich restlos aus dem Häuschen, und es gab nichts anderes mehr für sie als ihren allerersten Auftritt vor Publikum, der zweifellos der Beginn einer atemberaubenden Karriere sein würde.

Den Gitarristen und den Schlagzeuger hatte ich gestern Abend kurz kennengelernt, als ich sie nach der Probe abholte. Zuhören war allerdings verboten gewesen, weil das Unglück brachte, wurde ich belehrt. Die beiden Jungs waren schon zwanzig und passten perfekt in Sams Konzept einer Sauber-und-anständig-Gruppe. Außerdem hatte ich bei dieser Gelegenheit auch den Namen der zukünftigen Erfolgsband erfahren, der so genial wie einfach war: »The Twins«.

Erst gegen Abend bekam ich meine abgekämpften, aber durch und durch glücklichen Mädchen wieder zu Gesicht. Ihre Augen glühten. Die Generalprobe war ein Erfolg gewesen, und Sam war über alle Maßen begeistert.

»Paps«, begann Sarah, nachdem das Thema durch war, »möchtest du wissen, warum die Tante auf Korfu ihren Jungen adoptiert hat?«

Ich nahm die Fernbedienung in die Hand und stellte die Musik leiser.

»Natürlich.«

»Sams Freund meint, sie kann angeblich keine Kinder kriegen«, erklärte Louise mit einer Miene, als hätten sie eine welterschütternde Entdeckung gemacht.

Wieder war da plötzlich dieses Gefühl, dieser leise Schrecken. Aber warum? Muriel Jörgensens Schwester konnte keine Kinder gebären. Was war so außergewöhnlich daran?

»Du sagst doch immer, jedes Puzzleteil kann wichtig sein.«

Charlie Parker und Miles Davis spielten einen verträumten Blues. Vor den Fenstern fiel der eiskalte Regen.

Und plötzlich formte sich alles zum Bild. Tims Tante konnte keine Kinder gebären. Warum war ich Idiot nicht längst darauf gekommen?

Meine Töchter sahen mich an.

Sie sahen sich an.

Dann wieder mich.

»Ist irgendwas, Paps?«

»Ich glaube, ihr habt eben den Fall Tim Jörgensen gelöst«, sagte ich, vor Aufregung ein klein wenig heiser.