20

Ich war sehr überrascht, meine Zwillinge zu Hause anzutreffen. Am Morgen hatte ich ihnen einen Zettel auf den Tisch gelegt mit dem Hinweis, dass ich arbeiten müsse und eine vegetarische Lasagne zum Aufwärmen im Kühlschrank stehe. Sie hatten etwas auf dem Herzen, sagten mir ihre Blicke sofort. Etwas Großes.

Gut gelaunt setzte ich mich zu ihnen an den Küchentisch. Die leeren Teller standen offensichtlich schon länger dort herum.

»Paps«, begann Louise unsicher. »Wir müssen mit dir reden.«

»Dann legt los!«

»Du riechst nach Knoblauch«, konnte Sarah sich nicht verkneifen.

 

»Es geht um Sam.«

Sam. Aber nun gut, heute war mein Glückstag. Mein Lächeln wurde vielleicht ein wenig künstlich.

»Wir haben uns gestern Abend mit ihm getroffen.«

Jetzt lächelte ich nicht mehr. »Er ist in der Stadt? Ich hatte doch …«

»Du hast gesagt, er darf nicht bei uns wohnen. Du hast nicht gesagt, er darf nicht nach Heidelberg kommen.«

»Er wohnt im Hotel.«

»Im Marriott.«

Dieser Sam war entweder ein Hochstapler oder Sohn reicher Eltern. Beides machte ihn mir nicht sympathischer.

»Er ist total nett!«, erklärte Louise tapfer.

»Und er wollte auch nichts von uns«, fügte Sarah eilig hinzu. »Er hat uns nicht angebaggert oder so was. Das ist es doch, was du denkst.«

Immerhin etwas.

»Okay, ihr habt euch mit ihm getroffen. Euer gutes Recht, stimmt. Aber ihr hättet es mir wenigstens vorher sagen können.«

»Du hättest doch bloß wieder rumgemeckert«, meinte Sarah – vielleicht nicht einmal zu Unrecht.

»Nur, um mir das zu gestehen, sitzt ihr aber nicht hier.«

Die beiden wechselten einen langen Blick. Ich setzte mich aufrecht hin. Wir kamen zum spannenden Teil.

»Sam macht nämlich CDs«, begann Sarah endlich kleinlaut.

»Er ist Musiker, ich weiß. Das habt ihr mir schon erzählt.«

»Ja. Aber nicht nur. Er produziert auch CDs.«

»Er hat sogar ein eigenes Label.«

»Du weißt, was das heißt?«, fragte Louise, als ich nicht gleich reagierte.

»Mädels, ich habe schon Platten gehört und Labels gekannt, da hatte noch niemand im Universum eine Ahnung davon, dass es euch mal geben würde.«

»Und Sam findet …« Louise verschluckte den Rest und schlug die Augen nieder.

Das wurde ja immer spannender.

»Wir haben schöne Stimmen, findet er«, brachte Sarah die Sache zu Ende.

Endlich dämmerte mir, was das werden sollte. Aber noch wollte ich es nicht glauben.

»Das hat er schon am Telefon gesagt«, ergänzte Louise, als würde das irgendetwas besser machen.

»Am Telefon?«

»Du hast uns nicht verboten, mit ihm zu telefonieren!«

»Und ihr habt schöne Stimmen …«

»Er stellt nämlich gerade eine neue Teenie-Group zusammen«, erklärte Sarah.

»Und dafür sucht er noch eine Sängerin«, fuhr Louise fort.

»Ihr seid zwei Sängerinnen.«

»Da wäre ja gerade der Clou! Sam schwebt so ein Projekt vor in der Art wie Tokio Hotel.«

»So ganz ohne Drogen und alles. Total clean eben. So was läuft hammermäßig zurzeit, sagt Sam.«

»Aber eure Schulnoten …?«

»Sam sagt, wenn wir in der Schule nachlassen, dann kündigt er sofort den Vertrag«, versuchte Louise mich zu beruhigen.

»Er sagt, eine ordentliche Ausbildung ist das Wichtigste«, meinte Sarah.

»Und wir lernen ja auch schon dauernd wie blöd. Das musst du zugeben.«

Dieser Sam schien irgendwie zugleich ein Finsterling und ein Wunderknabe zu sein.

»Wie ist er denn auf euch gekommen?«

»Es hat eine Ausschreibung gegeben, im Internet. Man konnte sich bewerben.«

»Und da haben wir ihm einen Take geschickt. Haben wir selber am PC aufgenommen. ›Echo of a night‹, kennst du bestimmt nicht.«

»Und Sam war total happy!«

Sie leuchteten vor Begeisterung und Glück.

»So was wie uns sucht er seit über einem Jahr!«

»Dann war das gestern Abend so eine Art Casting?«

Jetzt strahlten sie wie Flutlichtmasten. »Wir sind die Nummer eins!«

»Zwillinge sind nämlich total der Burner zurzeit, sagt Sam.«

»Bill und Tom von Tokio Hotel sind ja auch Zwillinge!«

»Wir müssten natürlich Gesangsunterricht nehmen.«

Wir kamen zu den Kosten.

»Und ein bisschen Ballettunterricht auch.«

Das klang nicht gut.

»Das übernimmt aber alles Sam. Er hat da wen an der Hand.«

»Eine Freundin in Mannheim. Sie schuldet ihm was, weil er sie groß rausgebracht hat.«

Also vorläufig doch keine Kosten?

»Wer ist diese Freundin?«, wagte ich zu fragen.

»Helen Cederström. Hast du bestimmt schon von gehört.«

»Nein.«

Alt ist man, hatte ich einmal gelesen, wenn man die Musik im Radio noch mag, die Namen der Interpreten aber nicht mehr kennt.

»Paps, die halbe Stadt hängt voller Plakate von ihr!«

»Irgendwie …« Was sollte ich sagen? Die Wahrheit: »Mir ist das alles ein bisschen unheimlich. Ich würde euren Sam gerne kennenlernen, bevor ich mir eine Meinung bilde.«

Louise drückte schon die Tasten ihres Handys.

»Er ist total der Fan von uns«, erklärte mir Sarah währenddessen. »Den Drummer und den Gitarristen hat er auch schon. Wir brauchen nur noch einen Keyboarder und vielleicht ein, zwei Streicher.«

»Wir suchen auch schon einen Namen für die Band!«

»Was sagst du zu Destination Hanoi?«

Vorläufig erst einmal gar nichts.

 

Eine Viertelstunde später drückte ich Sams weiche Hand. Er sah aus wie ein wohlerzogener junger Mann aus einer anständigen und nicht ganz armen Familie. Aus der fließenden Bewegung, mit der er sein einen Tick zu langes braunes Haar zurückstrich, schloss ich, dass er für meine Töchter zumindest als Mann keine Gefahr darstellte.

»Ganz, ganz großes Kompliment, Herr Gerlach«, waren seine ersten Worte. »Sie haben zwei wirklich zauberhafte Töchter.«

Damit war ich schon so gut wie erledigt.

 

Sönnchen war inzwischen zu meiner persönlichen Pressereferentin aufgestiegen.

»Das ZDF will ein Fünfzehn-Sekunden-Statement von Ihnen für die Abendnachrichten«, begann sie, kaum hatte ich am Montagmorgen das Vorzimmer betreten.

»Nein.« Ich hängte meinen wieder einmal durchnässten Mantel an die Garderobe.

»Die Bild-Zeitung für eine bundesweite Titelstory?«

»Zweimal nein.«

»Zwanzig Zeilen für unsere Zeitung zum aktuellen Stand unserer Schwerpunktaktion Kleinkriminalität?«

»Um Himmels willen!«

Wie lange dauerte das wohl, bis die Medien sich wieder wichtigeren Dingen zuwandten? Zwei Tage? Eine Woche? Sichtlich unzufrieden faltete meine Sekretärin ihre Liste zusammen.

Das Telefon läutete. Sie nahm ab. Ihr Blick sagte: Es war für mich. Ich ging hinüber an meinen Schreibtisch und nahm noch im Stehen den Hörer ab.

»Sieben, fünf, drei!«, tönte eine wohl gelaunte Männerstimme. »Rom schlüpft aus dem Ei!«

»Ich fürchte, Sie haben sich verwählt.«

»Baierer hier.«

»Tut mir leid …«

»Der Mann mit dem Traktor.«

»Ach ja.« Ich setzte mich. »Und was war das eben mit Rom?«

»Sag ich doch: Sieben, fünf, drei.«

»Herr Baierer, bitte, mein Humor hält sich am Montagmorgen in Grenzen.«

»Manchmal denke ich, das Einzige, was ich in der Schule gelernt habe, sind der Kopfstand und zwei blöde Sprüche, die man im Leben garantiert zu nichts brauchen kann. Drei, drei, drei – na?«

»Bei Issos Keilerei.« Ich rieb mir die Augen und unterdrückte ein Gähnen.

»Sieben, fünf, drei sind die Ziffern von der Autonummer.«

Jetzt war ich wach. »Der schwarze Geländewagen?«

»Die ganze Zeit hab ich das blöde Gefühl gehabt, dass mit der Nummer irgendwas war. Gestern Nachmittag bin ich dann extra noch mal hingefahren und habe mir die Stelle angeguckt. Und da habe ich auf einmal das Wort Rom im Kopf gehabt, als wär’s innen auf meine Stirn gebrannt. Aber erst am Abend, beim Tatort, hat’s auf einmal geschnackelt: sieben, fünf, drei.«

»Kein Zweifel?«

»Mir ist die Nummer schon aufgefallen, wie dieser Blödmann da vor mir auf der Straße rumgekurvt ist. Der hat’s ja so eilig gehabt, dass er schier noch im Straßengraben gelandet wäre mit seiner Angeberkarre.«

»Den Rest des Kennzeichens wissen Sie nicht zufällig auch noch?«

»Keinen Schimmer. Leider.«

»Könnte es Hof gewesen sein?«

»Das liegt irgendwo in Bayern, oder?«

»In der Nähe der tschechischen Grenze. Das Ortskürzel ist HO.«

»Möglich. Könnte aber genauso gut Mannheim oder Buxtehude gewesen sein. Ich weiß nur eines, aber das weiß ich: sieben, fünf, drei.«

 

Dank moderner Computertechnik und bundesweiter Behördenvernetzung brauchte Sven Balke nur eine Viertelstunde, um abzuklären, dass es im Landkreis Hof genau dreiundzwanzig Fahrzeuge mit der von Baierer genannten Ziffernfolge gab. Keines davon war ein Audi Q7 oder wenigstens ein Geländewagen. Auch vor drei Jahren hatte es keines gegeben.

»Drei Möglichkeiten«, schimpfte er. »Entweder Hof stimmt nicht, oder die Zahlen sind falsch, oder Nikolas hat sich doch beim Wagentyp geirrt.«

Ich gab ihm einen Wink, sich zu setzen, griff zum Hörer und bat Sönnchen, mir eine Verbindung herzustellen. Die Wartezeit versuchte ich für ein wenig psychologische Mitarbeiterbetreuung zu nutzen. Balke sah mit jedem Tag schlechter aus.

»Haben Sie abgenommen?«

»Bin in letzter Zeit ziemlich viel im Fitness-Studio«, erwiderte er trotzig und starrte auf seine Knie. »Und fangen Sie bitte nicht wieder mit Nicole an!«

»Es lag mir auf der Zunge.«

Als er mir ins Gesicht sah, war in seinem Blick etwas Feindseliges. Gerade öffnete er den Mund zu einer sicherlich nicht freundlichen Erwiderung, da summte zu meiner Erleichterung mein Telefon.

»Brettschneider«, meldete sich eine gemütliche Stimme in breitestem Schwäbisch.

»Hauptkommissar Brettschneider?«

»Ehemaliger Hauptkommissar. Bin seit April in Pension.«

»Meinen Glückwunsch. Sie haben damals Nikolas Kowalschik vernommen?«

»Wenn das der Bub ischt, der vor drei Jahren angeblich beinah entführt worden ischt, ja. Aber falls Sie Akten brauchet, müsset Sie sich an die Kollege in Ulm wende.«

»Mir geht es nicht um Akten, sondern um Ihre persönliche Meinung. Für wie glaubwürdig halten Sie die Aussagen des Jungen?«

»Schwer zum sage.« Schon an seiner Art zu sprechen merkte ich: Der Mann hatte beneidenswert viel Zeit. »Das Büble hat halt scho a blühende Phantasie g’habt. Da hat sich mehr als einmal Dichtung und Wahrheit vermischt.«

»Mir geht es um zwei Punkte: den Wagentyp und das Kennzeichen.«

»Das Auto ist natürlich ein großes Thema gewesen.« Plötzlich sprach der pensionierte Hauptkommissar fast akzentfrei Hochdeutsch. Als hätte er sich in Gedanken wieder in sein Büro zurückversetzt. »Ich bin sogar mit dem Nikolas in die Stadt gefahren, zu einem Audi-Händler. Aber von dem Q7, von dem war er nicht abzubringen. Das Kennzeichen – na ja. Die meisten Buchstaben hat er ja schon lesen können, obwohl er noch nicht in die Schule gegangen ist. War schon ein helles Bürschchen, der kleine Nikolas.«

»Das heißt, aus Ihrer Sicht gab es keine Zweifel?«

»Der Zweifel ist gewesen, ob er die ganze Geschichte nicht bloß erfunden hat.«

 

»Der Herr Balke macht mir langsam Sorgen«, sagte meine Sekretärin, als Balke gegangen war. »Der sieht ja furchtbar aus!«

»Er müsste sich mit seiner Freundin aussprechen. Er kommt einfach nicht von ihr los und geht allmählich kaputt an der Geschichte.«

Über ihr Gesicht ging ein Leuchten. »Da hätte ich vielleicht eine Idee!«

»Egal, was es ist, einen Versuch ist es wert. Wenn das so weitergeht, dann wird er am Ende noch krank oder fängt womöglich an zu trinken.«

»Ich bräuchte aber für eine halbe Stunde Ihr Büro.«

»Heute oder morgen?«

Wir einigten uns auf übermorgen. Sönnchen rieb sich die Hände voller Tatendrang. »Die Zeitung hat übrigens schon wieder angerufen …«

»Ich sagte doch schon: nein.«

Aber während ich sprach, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.

»Augenblick, ich hab’s mir überlegt. Sie können mich gleich verbinden.«

 

Die Journalistin, mit der ich wenige Minuten später telefonierte, kannte ich schon von anderen Gelegenheiten. Ihre erste Frage galt der zerstörten Schranke.

»Zu laufenden Ermittlungen kann ich Ihnen leider nichts sagen.«

»Und wie zufrieden sind Sie insgesamt mit den Erfolgen Ihrer neuen Sicherheitspolitik?«

»Verstehen Sie, das sind ja nicht nur meine Erfolge. Es sind die Erfolge eines großen und sehr engagierten Teams. Jeder Beamte, der nachts im Streifenwagen seine Runden durch die Altstadt dreht, trägt mehr dazu bei als ich.«

»Und wie geht’s nun weiter? Was planen Sie als Nächstes?«

»Ich habe beschlossen, unsere Anstrengungen künftig stärker zu fokussieren. Auf Dauer werden wir die gesteigerte Präsenz in der Öffentlichkeit nicht aufrechterhalten können. Deshalb werden wir wechselnde Schwerpunkte setzen.«

Ich hörte das Klappern ihrer Tastatur durchs Telefon. »Leuchtet ein«, meinte sie.

»Die eine Woche werden es Taschendiebe sein, in der nächsten vielleicht Graffiti-Sprayer oder die Zeitgenossen, die gerne Müllgebühren sparen, indem sie ihren Abfall illegal im Wald entsorgen. Damit hoffe ich auch das Bewusstsein der Bürger zu schärfen für die eine oder andere Erscheinung, die wir alle leider längst als selbstverständlich hinnehmen.«

»Und was wird Ihr nächster Schwerpunkt sein?«

Damit waren wir endlich beim eigentlichen Grund des Gesprächs: »Stalking.«

Sie hörte auf zu tippen. »Stalking? Das ist tatsächlich ein Problem?«

»Sogar ein großes! Nur erfährt die Öffentlichkeit wenig davon, weil sich diese Dinge meist im Verborgenen abspielen und die Betroffenen sich oft – teils aus Scham, teils aus Unkenntnis – nicht zur Wehr setzen. Erst kürzlich habe ich zum Beispiel von einem Mann erfahren, der seiner von ihm getrennt lebenden Frau das Leben zur Hölle macht. Er belästigt sie mit Anrufen, setzt ihr Auto als Schnäppchen in die Zeitung oder ihre Wohnung als zu vermieten. So etwas ist kein Spaß, das ist eindeutig kriminell.«

Sie tippte wieder eifrig.