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»Ist dir auch nicht zu kalt?«, fragte Royston besorgt, als Stephen neben der Bank die Bremsen des Rollstuhls anzog und sein Zigarettenetui aus der Sakkotasche hervorholte. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch, während er sich auf der äußersten Kante der Bank niederließ. Die Sonne des Septembertages täuschte: Obwohl ihr kupfern angehauchtes Licht die Blätter der Bäume leuchten ließ wie Juwelen, wie Rubine, wie Topase und wie Bernstein, war die Luft unter dem klarblauen Himmel bereits empfindlich kalt.

Eine Braue Stephens krümmte sich spöttisch, und er fuhr mit beiden Händen an sich hinunter. »Sehe ich etwa aus, als sei ich zu leicht angezogen?«

Royston musterte den dicken Pullover unter dem Tweedsakko, den langen Schal um den Hals des Freundes und die schwere Wolldecke, die über seine Beine gebreitet und bis über die Taille hochgezogen war, und grinste. »Auch wieder wahr. – Danke.« Er nahm sich eine Zigarette aus dem dargebotenen Etui und ließ sich Feuer geben, sog geräuschvoll den Rauch ein. »Was von Grace gehört?«

»Nein«, kam es in entschlossenem Ton von Stephen. »Damit rechnet hier auch so schnell keiner.«

»Unfassbar eigentlich«, sagte Royston und betrachtete die Glutspitze der Zigarette. »Dass Len und Grace eines Tages durchbrennen würden.« Wie ein Lauffeuer hatte sich das Gerücht in Surrey und bis hinauf nach London verbreitet, Grace Norbury und Leonard Hainsworth seien einfach davongelaufen. Beide waren mündig und stammten aus guten Familien, sie waren ein Paar wie aus dem gesellschaftlichen Bilderbuch – warum also hatten sie es für nötig gehalten, durchzubrennen?

»Nonsens!« Stephen blies unter einem trockenen Lachen den Rauch aus. »Das glaubst du doch selbst nicht, dieses Märchen mit dem Durchbrennen!« Als Royston ihn irritiert ansah, fuhr er fort: »Grace hat sich aufgemacht, um Jeremy zu finden – oder wenigstens um zu klären, was mit ihm in Abu Klea geschehen ist. Und Len, der verliebte Trottel, hat sich breitschlagen lassen, mitzugehen. Anders kann ich mir das alles nicht erklären. Becky scheint da mehr zu wissen, hält aber eisern dicht.« Die Zigarette zwischen die knochigen Finger geklemmt, zog er energisch daran.

»Das ist doch Wahnsinn«, murmelte Royston und wickelte sich fester in seinen Mantel. Beim bloßen Gedanken an den Sudan liefen ihm immer noch Schauer über den Rücken. Und gleichzeitig verspürte er Erleichterung. Er wollte sich Leonard und Grace nicht als glückliches Paar vorstellen. Die gemeinsame Zeit im Sudan, die Schrecken der Hölle, durch die sie Seite an Seite gegangen waren, hatten die enge Freundschaft zwischen Royston und Leonard mitnichten vertieft; zerfressen hatten sie sie, nach und nach, weil sie jeden von ihnen kaum merklich verändert hatten. Und in Leonards Zügen die Züge von Cecily wiederzuerkennen, durch ihn an die Frau erinnert zu werden, die er, Royston, einmal so geliebt und die ihn so sehr verletzt hatte, das hatte mit zerstörerischer Kraft an dieser Freundschaft genagt, die einmal so stark, so innig gewesen war.

»Mhhh«, machte Stephen, die Zigarette im Mund. »Um meine Schwester mach ich mir da weniger Sorgen. Die kommt schon irgendwie durch. Die wäre wohl wirklich besser ein Kerl geworden. Ich frag mich eher, ob Len dem gewachsen ist. Ich glaube nämlich, Grace hat wesentlich mehr Mumm in den Knochen als unser Goldjunge.« Während Royston noch das eben Gehörte zu verdauen suchte, setzte Stephen hinzu: »Apropos Mumm in den Knochen. Hast du am zweiten Wochenende im November schon etwas vor?«

Royston ging in Gedanken den Kalender auf seinem Schreibtisch in Ashcombe House durch und schüttelte dann den Kopf. »Nein, nicht dass ich wüsste. Warum?«

Stephen sah ihn an, und seine Augen glänzten mit einer Wärme, die Royston schon lange nicht mehr an seinem Freund gesehen hatte, und dieselbe Wärme schwang in seiner Stimme mit, als er antwortete: »Wärst du bereit, mein Trauzeuge zu sein? Becky und ich haben uns vor zwei Wochen mit dem Segen meiner Eltern verlobt. Der Reverend war nicht ganz so einfach zu überzeugen, hat aber schließlich zähneknirschend nachgegeben.«

Royston blickte ihn mit offenem Mund an. »Ihr habt ... was?!«, stieß er heiser hervor.

Stephen machte ein pfiffiges Gesicht. »Da staunst du, was?«

»Allerdings.« Es war Royston nicht entgangen, dass Stephen gelöster wirkte, weniger zynisch, wenn auch seine frühere Sanftmut, seine Empfindsamkeit nicht wieder zum Vorschein gekommen waren. Doch auch wenn er sich vorhin bei seinem Eintreffen auf Shamley Green still darüber gefreut hatte, wie harmonisch, nachgerade zärtlich Becky und Stephen inzwischen miteinander umgingen, hätte er nicht im Traum daran gedacht, dass ihr Verhältnis zueinander eine solche Entwicklung nehmen könnte. »Hör mal, Stevie«, begann er zögernd, »ich zolle Becky äußersten Respekt dafür, dass sie sich derart aufopferungsvoll um dich kümmert. Aber musst du sie deshalb gleich heiraten?«

Stephens Mundwinkel zogen sich nach unten. »Sag doch einfach ehrlich, was du denkst: dass du es für ein großes Unrecht hältst, wenn ein Krüppel wie ich eine Frau ein Leben lang an sich kettet.« Er steckte sich die fast ausgerauchte Zigarette zwischen die Lippen, löste die Bremsen des Rollstuhls und setzte ein Stück zurück. »Früher warst du nicht so ein kleinkarierter Biedermann«, knurrte er durch den Qualm hindurch und fuhr zurück in Richtung Haus.

»Warte!« Royston drückte die Zigarette aus, erhob sich von der Bank und folgte seinem Freund mit langen Schritten. »Stevie, verdammt – du kannst Becky nicht heiraten!«

Stephen riss den Rollstuhl so heftig herum, dass Royston einen Satz rückwärts machen musste, um die Ecke der Fußstütze nicht gegen das Schienbein zu bekommen, warf den Zigarettenstummel weg und reckte seinen dürren Zeigefinger zu Royston empor. »Mein Leben lang habe ich nicht gewusst, was ich wirklich will«, brüllte er ihn an. »Ich hab immer das getan, was andere von mir wollten! Immer der brave, der folgsame Stevie, der nie aufmuckt! Und wohin hat’s mich gebracht?« Voller Zorn starrte er Royston ins Gesicht und dämpfte seine Stimme zu einem Grollen. »Also sag du mir jetzt nicht, was ich tun kann und was nicht.« Er wendete den Rollstuhl wieder und warf Royston über die Schulter zu: »Ich will und ich werde Becky heiraten. Und es ist mir gleich, wie du oder sonst irgendjemand darüber denkt.«

Die Hände in den Manteltaschen vergraben, stapfte Royston in einigem Abstand hinter ihm her.

»Ihr seid ja schon wieder da«, rief Becky aus, als sie ihnen die Glastür zum Salon öffnete. Sie schloss die Tür hinter ihnen, trat zu Stephen, beugte sich nieder und küsste ihn auf die Wange. »Hast du ihn gefragt?«, wollte sie wissen, während Stephen sich den Schal vom Hals wickelte. Dann knöpfte er sein Sakko auf, und Becky schälte ihn aus der Wolldecke, faltete sie zusammen und nahm ihm Sakko und Schal ab.

»Ja, hab ich«, erwiderte Stephen, als sei Royston gar nicht da. »Und er schien nicht sonderlich erbaut über diese Neuigkeit. Wahrscheinlich«, er warf seinem Freund einen gehässigen Seitenblick zu, »ist er einfach nur neidisch, weil er selbst keine mehr abkriegt und ewig Junggeselle bleiben wird.« Er fuhr aus dem Salon hinaus.

Royston starrte betreten auf seine Schuhspitzen. Sein Freund hatte die Sache nicht ganz getroffen. Als Earl of Ashcombe, mit fast siebenundzwanzig noch unverheiratet und durchaus als gut aussehend zu bezeichnen, stellte Royston eine mehr als passable Partie dar, der weder die missglückte Verlobung mit Lady Cecily Hainsworth noch die Gerüchte um den Tod des alten Earls Abbruch taten. Tatsächlich konnte er sich vor Einladungen kaum retten und hatte nahezu freie Auswahl unter den jungen Ladys der näheren und weiteren Umgebung. Indes fehlte Royston der Mut, eine von ihnen näher kennenzulernen, geschweige denn eine erneute Verlobung in Betracht zu ziehen. Während Cecily aus seinen Gedanken und aus seinem Herzen allmählich verschwand, konnte er die Risse und Sprünge, die sie darin mit solch leichter, solch grausamer Hand hinterlassen hatte, noch immer spüren. Cecily hatte in ihm eine Angst vor der Gnadenlosigkeit des weiblichen Geschlechts hinterlassen, die nicht weichen wollte. Gegen die auch die willigen Freudenmädchen in den feinen Etablissements Londons nichts hatten ausrichten können. Royston hatte sie nur noch aufgesucht, wenn das Drängen seines Körpers allzu schmerzhaft, allzu unbeherrschbar geworden war, in einer Mischung aus Gier und Sehnsucht und aus Rachedurst an der gesamten Weiblichkeit. Jedes Mal hatte er die plüschigen, überladenen Räumlichkeiten mit einem noch größeren Gefühl des Ekels und des Selbsthasses verlassen, und das letzte Mal lag deshalb nun schon eine ganze Zeit zurück.

Er sah auf, als Becky vor ihn hintrat und ihm die Hand auf den Oberarm legte. »Nimm es ihm nicht übel. Er ist bestimmt nur furchtbar enttäuscht – er hatte so gehofft, du würdest sein Trauzeuge sein wollen.«

Becky hatte sich verändert, stellte Royston fest. Gereifter wirkte sie, ruhiger vor allem und fraulicher, und das hochgeschlossene Nachmittagskleid in einem Violett wie Parmaveilchen schmeichelte nicht nur ihrem braunen, wie mit Gold durchwirkten Haar, dem Rehbraun ihrer grün gesprenkelten Augen – es machte aus der Pfarrerstochter, die immer auf durchaus liebenswerte Art ein bisschen provinziell gewirkt hatte, eine richtige Dame. Dazu trugen sicher auch die schlichten Ohrgehänge mit den Amethysten bei, die Royston vor vielen Jahren schon einmal an Lady Norbury gesehen zu haben glaubte. Sein Blick fiel auf den Goldreif an Beckys linkem Ringfinger, den ein von Diamantsplittern umschlossener Smaragd zierte.

»Tu es nicht, Becky«, sagte er leise. »Heirate ihn nicht. Du machst dich nur unglücklich.«

»Siehst du das denn nicht, Royston?«, gab sie ebenso leise zurück, und ihre Stimme klang dabei noch süßer als gewöhnlich, wie Nougat mit Schokolade. »Wir sind glücklich

»Hat er es dir denn nicht gesagt?«, rutschte es ihm, ohne nachzudenken, heraus. »Hat es dir überhaupt irgendjemand gesagt?«

Becky runzelte die Stirn. »Was gesagt?«

Roystons Ohren begannen zu glühen. Er hatte sich zu weit vorgewagt und sich damit in diese peinliche Situation gebracht. Aber Beckys fragender, fast schon angstvoller Blick machte ihm einen Rückzug unmöglich. »Stevie ...«, druckste er herum. »Stevie wird nie ... also, er kann nicht ... Er wird nie seinen – seinen«, er hüstelte, »seinen ehelichen Pflichten nachkommen können.«

Auf Beckys ausgeprägten Wangen flammte es auf, dann lächelte sie, ein strahlendes, dennoch in sich gekehrtes Lächeln. »Vielleicht kannst du das nicht verstehen, als Mann – aber es gibt nicht nur einen Weg, eine Frau glücklich zu machen.« Sie löste die Mehrdeutigkeit ihrer Worte nicht auf, sah ihn stattdessen mit ernster Miene an, einen beseelten Glanz in den Augen. »Ich liebe Stevie über alles, Royston. Und er braucht mich. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«

Royston sah ihr hinterher, wie sie den Salon verließ, so selbstverständlich, als hätte sie Lady Norbury bereits als Herrin des Hauses abgelöst, und er dachte bei sich, dass Becky Stephen mindestens ebenso sehr brauchte wie er sie. Ein Gedanke, der ihn ebenso anrührte, wie er ihm Beklemmung verursachte.

Die verträumte, sehnsüchtige Melodie, die vom Musikzimmer herüberrieselte, zog ihn wie magisch an. Ohne sich willentlich in Bewegung gesetzt zu haben, ging Royston durch den Raum und über den Korridor. An den Türrahmen gelehnt, sah er Ada zu, wie sie am Piano saß und spielte. Er kannte das Stück, das eigentlich für vier Hände geschrieben war, und er nahm an, dass Ada es bewusst ausgesucht hatte, als wollte sie damit ausdrücken, wie sie sich fühlte, wie halbiert; eine Empfindung, die Royston nur zu bekannt vorkam.

Nach dem letzten Akkord nahm Ada die Hände von den Tasten und sah auf, zu ihm hin, nicht wirklich erschrocken, aber doch überrascht. »Hallo, Royston.«

»Hallo, Ads. Entschuldige, dass ich hier so heimlich herumlungere und lausche.«

»Macht doch nichts. Komm ruhig herein.«

Er trat an das Piano. »Wie geht es dir?«

Ada nickte, einen resoluten Zug um den Mund. »Es ... geht.«

»Du siehst auch besser aus als zuletzt im Mai.« Was der Wahrheit entsprach; sie war zwar immer noch sehr dünn und blass, wirkte aber nicht mehr so ausgezehrt, und ihre Züge hatten eine gewisse Weichheit zurückerlangt.

Einer von Adas Mundwinkeln zuckte. »Du siehst auch gut aus.«

Royston strich sich verlegen über den beginnenden Bauchansatz. »Ich fürchte, ich stehe etwas zu gut im Futter mittlerweile.«

Der andere Mundwinkel Adas hob sich. »Steht dir aber gut. Auch«, ihr Zeigefinger tippte auf ihre Wange, »auch der Bart.«

»Danke.« Roystons Hand fuhr über den sorgfältig gestutzten Bart, an den er sich noch nicht ganz gewöhnt hatte.

»Wie geht es deiner Mutter?«

Roystons Mund verzog sich halb traurig, halb spöttisch. »Nichts auf dieser Welt vermag eine Lady Evelyn dauerhaft in die Knie zu zwingen.« Was eine geschönte Zusammenfassung der Tränen, der Wehklagen seiner Mutter nach dem Freitod des alten Earls darstellte, die stets in demselben Ausruf gipfelten: Wie konnte er mir das nur antun! Es war Royston eine Genugtuung gewesen, als neues Oberhaupt der Familie Ashcombe Roderick seinen Segen zur Verlobung mit Helen Dunmore zu erteilen, was Lady Evelyn an den Rand eines Ohnmachtsanfalls gebracht hatte, woraufhin sie sich mehrere Tage lang mit einer Migräne in ihr Zimmer zurückzog.

Ada nickte, wirkte dabei aber zerstreut. Royston zögerte und deutete dann auf die Klavierbank. »Darf ich?«

»Sicher.« Ada rutschte ein Stück zur Seite. Royston schlüpfte aus seinem Mantel, legte ihn oben auf dem Piano ab und nahm Platz. Er lockerte seine Finger und schlug dann die ersten Takte desselben Stücks an, das Ada zuvor gespielt hatte. Aus den Augenwinkeln sah er einen Funken in Adas Augen aufglimmen, und gleich darauf fiel sie in sein Spiel mit ein.

Fasziniert beobachtete sie seine großen, kräftigen Hände, die so geschickt, beinahe zärtlich die Tasten anschlugen. Mühelos konnten seine Finger bei den Akkorden die Tasten überspannen, bei denen Adas kleine Hände sich mit Schnelligkeit behelfen mussten, und verwundert sah sie zu, wie sein Körper in kaum sichtbaren Bewegungen mit der Musik mitging und wie etwas Andächtiges auf Roystons Zügen aufschien.

»Ich wusste nicht, dass du dir etwas aus Musik machst«, sagte sie, während ihrer beider Hände in harmonischer Unterschiedlichkeit die schmeichlerische, mehrstimmige Melodie aus dem Leib des Pianos aufperlen ließen.

Royston lachte leise. »Meine Mutter war der Ansicht, dass es einem Gentleman zwar gut ansteht, Musik zu genießen, aber nicht, sie selbst hervorzubringen. Also habe ich mich klammheimlich während der Musikstunden meiner Schwestern dazugesetzt und später nur gespielt, wenn Lady E. gerade nicht da war.« Ein Anflug wehmütiger, aber auch glücklicher Nostalgie glitt über sein Gesicht. »Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie wir so manchen Abend mit einer hineingeschmuggelten Flasche und gleichfalls verbotenen Zigaretten am Piano in Sandhurst verbrachten. Ich hab gespielt, und gemeinsam haben wir getrunken und gelacht und geraucht und fürchterlich schief irgendwelche Gassenhauer gegrölt. Und Simon hat ...« Er verstummte. Ada hatte ihr Spiel unterbrochen und mit gesenktem Kopf die Hände in den Schoß gelegt. Royston verwünschte seine Gedankenlosigkeit, kam sich dumm und linkisch vor. »Entschuldige, Ads. Ich wollte nicht ...«

Mit einem Kloß im Hals sah er, wie sie aufstand, um die Klavierbank herumging, als wollte sie das Zimmer verlassen, dann jedoch stehen blieb.

»Schon gut«, flüsterte sie mit bebender Stimme. »Schweigen ... Schweigen bringt ihn mir auch nicht wieder.« Unschlüssig machte sie einen Schritt vor und wieder einen zurück, wandte sich halb ab, dann wieder zu Royston um. »Magst ... magst du mich vielleicht auf einem Spaziergang begleiten?«

Eine Mappe an die Brust gepresst, wanderte Ada zwei Wochen später durch den herbstbunten Garten, aus den kupferfarbenen Lichtbahnen des späten Nachmittags in die schweren rauchblauen Schatten dahinter. Unbeirrt behielt sie die Rotunde am Rande des Eichenwäldchens im Blick, auch wenn mit jedem Schritt, den sie darauf zumachte, die Bangigkeit in ihr wuchs. Vor der ersten Stufe blieb sie stehen, atmete tief durch und sprach sich Mut zu, bevor sie dann tapfer die Stufen hinaufstieg und sich am äußersten Rand der Bank niederließ.

Seit Simons Tod war sie nicht mehr hier gewesen. Hier, wo sie sich im Schutze der Dunkelheit so oft hingestohlen hatten, um sich zu küssen und einander Liebkosungen zuzuflüstern. Damals, in jenem Sommer. Ada, meine Liebste. Meine süße, süße Ada.

Ada rieb sich mit dem Ärmel des Mantels über die tränennassen Augen. Die zwei Wochen in London mit den Digby-Jones während des vergangenen Sommers hatten ihr gutgetan. Geborgen hatte sie sich gefühlt und verstanden und getröstet, im Kreise dieser Familie, die ihren jüngsten Sohn verloren hatte.

Wir haben zwar unseren Sohn verloren, aber wir haben eine Tochter dazugewonnen – zumindest hoffen wir das, liebe Ada. Zwei Tränen rollten ihr über die Wangen, als sie an Lady Alfords Worte dachte, und tropften auf das Leder der Mappe. Mit unsicherer Hand wischte Ada sie weg. Die Zeit mit den Digby-Jones, die mit ihr in die Oper und ins Konzert, ins Museum und nach Kew Gardens gegangen waren, hatte ihr in Erinnerung gerufen, dass es nicht nur Leid und Schmerz gab im Leben. Sondern auch Musik und Kunst und Blumen und Freude. Und Menschen gab es, die sie liebten und die nicht wollten, dass es ihr schlechtging. Die Digby-Jones selbst und Simons drei viel ältere Halbbrüder, die so liebenswerte Ehefrauen hatten und so herzige Kinder. Der Colonel und Lady Norbury. Stephen und Becky. Adas Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln, als sie an das stille Glück der beiden dachte, und bekam einen schmerzlichen Zug, als ihr einfiel, dass Stephen nie wieder ganz gesund würde. Royston. Grace.

Grace. Ada ließ den Kopf hängen, und neue Tränen schossen ihr in die Augen. Sie verging vor Scham und vor Schuld. Ihre eigene Stimme schrillte ihr noch im Ohr, mit der sie Grace so hässliche Dinge entgegengeschleudert hatte und für die sie sich vielleicht niemals mehr entschuldigen, die sie nie wieder zurücknehmen konnte. Nur weil Ada ihr das bisschen Hoffnung neidete, dass ihr Liebster vielleicht doch noch am Leben war; dieses winzige Zipfelchen Hoffnung, das Ada selbst nicht vergönnt gewesen war. Und die Schuld, so kleinlich und so niederträchtig empfunden und gehandelt zu haben, lastete schwer auf Adas schmalen Schultern. Es half ihr nicht, dass sich weit hinten in ihrem Kopf der Gedanke zu regen begonnen hatte, dass der Zorn, mit dem sie auf Grace losgegangen war, sich als ein für sie heilsamer herausgestellt hatte. Ein Zorn auf die Ungerechtigkeit des Schicksals, das ihr den Liebsten genommen hatte; ein Zorn aber auch, der bewies, dass noch nicht alles tot war in ihr. Wenn er auch den falschen Menschen getroffen hatte, einen der Menschen, die Ada über alles auf der Welt liebte.

»Es tut mir leid, Gracie«, wisperte Ada unter Schluchzern. »Hörst du? Wo immer du jetzt bist – es tut mir von Herzen leid.« Und bitte – bitte komm heil zurück. Bald. Mit Jeremy.

Sie schniefte und rief sich zur Tapferkeit. Mit dem Saum des anderen Ärmels tupfte sie sich die Augen trocken und schlug die Mappe auf, blätterte all die Schreiben und Dokumente darin durch: das Ergebnis ihres fleißigen Briefeschreibens der letzten Wochen. Wie auf eine stumme, wortlose Frage hin nickte sie und fuhr sich mit dem Handrücken über ihre laufende Nase. Ihre Finger wanderten hinunter, an das seitliche Ende der Bank. Über ihr Gesicht huschte ein kleines, flatteriges Lächeln, als ihre Fingerspitzen über die Rillen tasteten. Ein eckig geratenes, schiefes Herz, in dem sich die Buchstaben A und S vereinten. Ada und Simon. Im schwindenden Licht eines späten Sommerabends hatte er sie hierhergeführt und ihr gezeigt, was er am frühen Morgen, noch vor dem Frühstück, in den Stein eingeritzt hatte. Danke, Simon. Für alles.

Sie schlug die Mappe wieder zu und betrachtete sie eingehend. Du schaffst das, Ada. Das weiß ich.

»Ja«, flüsterte sie. »Ja, ich schaffe das.«

Die Mappe mit überkreuzten Armen an sich gedrückt, kehrte Ada ohne Umwege zum Haus zurück, hängte ihren Mantel auf und ging dann mit entschlossen hochgerecktem Kinn den Korridor entlang, pochte mit den Fingerknöcheln gegen das Holz der Tür.

»Herein!«

»Entschuldige bitte, dass ich dich störe, Papa«, sagte Ada, als sie eintrat und die Tür hinter sich schloss. »Es wird auch nicht lange dauern. – Ja, mein Lieber, ja«, hauchte sie Henry zu, der aus seinem Korb vor dem Schreibtisch auf sie zugejagt kam und jaulend an ihr hochsprang. Mit der freien Hand strich sie ihm über den Kopf.

»Was hast du auf dem Herzen?« Der Colonel setzte seine Brille ab und gab sich alle Mühe, sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen, dass es ausgerechnet Ada war, die ihn in seinem Arbeitszimmer aufsuchte.

Ada holte ein mehrseitiges Dokument aus der Mappe und legte es vor ihren Vater auf den Schreibtisch, in den Lichtkreis der Lampe. »Unterschreibst du mir das bitte?«

Der Colonel setzte seine Brille wieder auf, und er zog eine Braue hoch, als sein Blick auf die Überschrift des Dokumentes fiel und er die erste Seite überflog.

»Mein Kontrakt für eine Stelle als Lehrerin am Bedford ab dem kommenden Trimester«, erklärte Ada, während sie sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch zurechtsetzte.

»Das sehe ich«, knurrte der Colonel und blätterte das Dokument weiter durch, legte es dann beiseite. »Ich dachte, meine Haltung zu dieser Grille von dir hätte ich unmissverständlich deutlich gemacht.«

Ada setzte sich kerzengerade auf. »Ich möchte diese Stelle nicht antreten, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, Papa. Am Bedford kann ich Kost und Logis frei haben. Ich würde nur einen kleinen Betrag des Salärs für mich selbst behalten, damit ich Mama und dir nicht auf der Tasche liegen muss, wenn ich ein neues Kleid brauche oder wenn ich ins Konzert möchte. Den größeren Teil würde ich gern für einen guten Zweck spenden. Ich möchte am Bedford unterrichten, um eine Lebensaufgabe zu haben. Du hast gewiss Verständnis dafür, dass ich auf absehbare Zeit keinen Gedanken an eine Ehe verschwenden kann und will.«

Der Colonel lehnte sich zurück und musterte seine Tochter eindringlich, doch die hielt seinem Blick tapfer stand. Er nahm den Vertrag und ließ ihn sogleich wieder auf den Tisch zurückfallen. »Weiß deine Mutter hiervon?«

»Ja, aber ich brauche deine Unterschrift.« Ada holte tief Luft. »Wenn du deine Zustimmung gibst, verspreche ich dir, mich vom Leben nie wieder derart in die Knie zwingen zu lassen wie in den letzten Monaten.«

Die Augen des Colonels wurden kühl und gletscherglatt. »Falls du versuchen willst, mich zu erpressen, mein liebes Kind, dann –«

»Nein, Papa.« Ada ließ sich nicht einschüchtern. »Ich finde, das wäre eine Abmachung, mit der wir beide gut leben könnten. Am Bedford zu unterrichten wird mir guttun, und das ist doch ganz gewiss auch in deinem Sinne.«

Der Colonel fühlte sich überlistet, auf beschämende Weise mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Als ob er sich plötzlich schachmatt gesetzt sähe, nachdem er die Partie lange in vollster Konzentration durchgehalten und jeden seiner Züge genauestens durchdacht hatte. Verweigerte er Ada die Erlaubnis, gäbe er sich damit nicht nur äußerst wankelmütig, nachgerade wortbrüchig, sondern fegte gleichzeitig auch all die Werte fort, nach denen er sie erzogen und die er ihr für ihren Lebensweg mitgegeben hatte. Und was für ein Vater wäre er denn, wünschte er sich nicht, dass es seiner Tochter gut ging?

Ohne ein weiteres Wort griff er zu seinem Füllfederhalter, blätterte den Kontrakt auf der letzten Seite auf und unterzeichnete ihn, bevor er ihn Ada zurückgab, die ihn ebenso wortlos entgegennahm und sorgfältig in ihre Mappe steckte.

»Danke, Papa«, sagte sie endlich, während sie aufstand. »Vielen Dank.«

Es versetzte ihm einen Stich, dass sie ihm zwar ein kleines Lächeln schenkte, ehe sie sein Arbeitszimmer verließ, ihm aber keinen Kuss auf die Wange gab.

Und während Ada die Treppen zu ihrem Zimmer hinaufstieg, um den unterschriebenen Vertrag in einen Umschlag zu stecken und dann ans Bedford zu schicken, die ersten Sachen zusammensuchte, die sie mitnehmen wollte, mitnehmen in ihr neues Leben als Lehrerin, sann Colonel Norbury darüber nach, wann sein kleines Mädchen erwachsen geworden war. Mit dem Tod von Simon Digby-Jones? Danach? Oder schon davor?

Ada, die immer aus großen Augen ängstlich in die Welt hinausgeschaut und die eine Hand gebraucht hatte, an der sie sich festhalten konnte. Die äußerlich immer noch so zart und mädchenhaft wirkte, ihrer verstorbenen Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten, und die ihm vorhin doch so entschlossen und mutig gegenübergesessen hatte. Fast wie Grace.

Grace. Die immer so vernünftig gewesen war und die sich nun einfach aus dem Haus gestohlen hatte und ihre Familie seither ohne Nachricht ließ, wo sie sich gerade aufhielt und wie es ihr ging. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie von einem Menschen so verraten gefühlt wie von seiner Ältesten, auf die er immer so große Stücke gehalten hatte, und gegen den aufwallenden Zorn dieser Enttäuschung fielen die Sorgen, die er sich um sie machte, kaum mehr ins Gewicht.

Bald würde nur noch Stephen hier im Haus sein. In einer Flucht ebenerdig gelegener Zimmer im hinteren Teil des Hauses, die gerade unter viel Gehämmer und Geklopfe und Gelärme für seine Bedürfnisse umgebaut und renoviert wurden, damit er und Becky Peckham rechtzeitig nach ihrer Hochzeit dort einziehen könnten. Und während Stephen seine Zeit zwischen der Bibliothek und den ersten Schritten als zukünftiger Herr über Shamley Green aufteilte, lernte Lady Norbury seine Verlobte an, ihr eines Tages nachzufolgen.

Der Gedanke an Connie war zu einem andauernden Schmerz geworden. Kein starker Schmerz, doch ein Schmerz, der nie nachließ und der ihn deshalb zermürbte, mehr noch als der pochende Schmerz im Bein und in der Hüfte, der seine Tage und Nächte seit seiner Verwundung vor so vielen Jahren begleitete. Connie, die er im selben Haus, unter demselben Dach wusste und die er jeden Tag sah – und die ihm doch so fern war. Er wusste, sie erwartete eine Art Abbitte von ihm, und doch war er sich im Grunde keiner Schuld bewusst. Er hatte nur getan und verlangt, was er für richtig hielt. Von seinen Kindern. Von ihr. Und nicht zuletzt von sich selbst. Warum sollte er dafür um Verzeihung bitten? Stolzer Zorn mischte sich mit Sehnsucht, der Sehnsucht nach Connies Nähe, nach ihrem warmen Leib nachts im Schlaf, nach der Zärtlichkeit, an der es ihm selbst mangelte und von der sie im Überfluss geben konnte.

Er schob alle diese Gedanken, jede Empfindung beiseite, zog dafür einen Stapel Bewerbungsunterlagen zu sich heran und vergrub sich in seiner Arbeit.