8
Der Innenhof von Shamley Green hallte von vergnügten Ausrufen und Lachen wider. Die jungen Leute – die Mädchen in hellen, leichten Sommerkleidern, die jungen Männer leger in Reiterhosen, Stiefeln und hemdsärmelig – rangelten darum, wer wo im offenen Wagen sitzen sollte; mit Ausnahme von Cecily und Tommy, die auf ihren Pferden von Givons Grove herübergekommen waren und nebenherreiten würden.
»Bis heute Abend«, rief Grace ihren Eltern zu und stieg in den Tilbury, auf den sogleich auch Leonard aufsprang. Auf ein Zungenschnalzen von ihr hin setzte sich der plumpe Grauschimmel in Bewegung, dicht gefolgt von Jack und Jill, deren Zügel Stephen in der Hand hatte, neben sich auf dem Kutschbock eine glückstrahlende Becky, hinter sich Ada und Simon, Royston und Jeremy. Zwischen deren Füßen hockte ein aufgeregt winselnder Gladdy und reckte die bebende Schnauze in die Luft. Hufgeklapper und Räderknirschen, Gekicher und fröhliche Stimmen entfernten sich durch die Einfahrt, verklangen zwischen den Feldern und Eichen auf der Straße hinter dem Haus.
»Lassen wir ihnen nicht doch zu viele Freiheiten?« Noch immer waren die Augen des Colonels auf die Mauerecke gerichtet, hinter der die beiden Wagen verschwunden waren.
»Hast du unsere allererste Ausfahrt vergessen?« Constance Norbury, die ihren Kindern und deren Freunden nachgewunken hatte, bis sie nicht mehr zu sehen gewesen waren, hakte sich bei ihrem Mann unter und legte die Wange an seine Schulter, sah ihn von unten herauf an. »Wir beide, in einem offenen Wagen, am Ufer des Hooghly entlang, bis vor die Stadt? Nur wir beide – ohne Begleitung?«
»Das war etwas anderes«, widersprach er dürr. Nur dass die Farbe seiner Iris sich von Eishell zu einem Meerblau wandelte, verriet, wie gern er daran zurückdachte. Seine Augen – es waren seine Augen gewesen, die Constance damals als Erstes aufgefallen waren, im Lazarett von Calcutta. Noch ehe sie ihn selbst wahrnahm, gezeichnet von den sechzehn Monaten, in denen er mit seinem Regiment dreitausend Meilen durch Wildnis und Wüste marschiert war und auf diesem mörderischen Weg vierzehn Gefechte mit den Rebellen überstand, von denen das letzte ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Eine wilde Entschlossenheit hatte in diesen Augen gebrannt, ein stählerner Wille; auch eine Widerspiegelung der Schmerzen, die er litt, aber nie das leiseste Aufflackern von Angst, wie sie es so oft in den Augen all der anderen Verwundeten gesehen hatte. Aus der Neugierde auf jenen Mann war Zuneigung geworden und dann, als er sie zu umwerben begann, irgendwann Liebe.
Sie lächelte. »War es nicht. Mein Vater war außer sich, als er davon hörte.«
»Nur so lange, bis ich in aller Form um deine Hand anhielt.« Er legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich.
Ihr Blick ruhte in stillem Glück auf seinen harten Zügen, dann legte sie ihm besänftigend die Hand auf die Brust. »Sei unbesorgt. Sie sind doch alle sehr vernünftig, trotz ihrer Ausgelassenheit.«
Die Augen des Colonels verengten sich. »Grace und Stephen – ja. Auch Leonard und Cecily. Sogar Danvers. Aber Ashcombe und Digby-Jones ... Letzterer vor allem hat nichts als Unfug im Kopf.« Er zögerte und setzte dann hinzu: »Mir gefällt nicht, wie er Ada ansieht.«
Constance lachte leise und stupste ihn sanft in die Seite. »Ihr Väter seid doch alle gleich ... Kannst du denn kein bisschen stolz darauf sein, dass unser hübsches kleines Mädchen seinen ersten Verehrer hat?«
»Dein seliger Herr Vater hätte unserer Heirat wohl kaum zugestimmt, wäre mir ein Ruf wie der von Digby-Jones vorausgeeilt.«
»So dramatisch?«
Der Colonel nickte bedächtig, die Mundwinkel unter dem Bart herabgezogen. »Sein Sündenregister ist recht umfangreich. Respektloses Verhalten diensthabenden Offizieren gegenüber, Raufereien, diverse Versäumnisse und Trunkenheit – er hat nichts ausgelassen. Zweimal war er im Arrest, und im Frühjahr ist er haarscharf an einem Rauswurf vorbeigeschrammt. Von seinen Eroberungen im Dorf gar nicht erst zu reden.«
Constance schwieg und dachte nach, ehe sie behutsam einwandte: »Vielleicht ist es aber gar nicht so verkehrt, wenn er sich jetzt schon ausgetobt hat. Und Simon ist kein schlechter Kerl – hast du seine Augen gesehen? Im Grunde ist er sehr empfindsam.«
Der Colonel schnaubte. »Ein Grund mehr, weshalb er für Ada nicht taugt!«
»Himmel, William!« Sie lachte auf. »Weder Ada noch Simon werden derzeit an Hochzeit denken! Dafür sind sie beide noch viel zu jung.«
»Umso schlimmer«, orakelte er düster.
Ihre Finger strichen behutsam über das Revers seines Jacketts. »Du weißt aber, was du Stephen versprochen hast? Wenn er unter die ersten zwanzig kommt ...«
»... dann dürfen Danvers und Digby-Jones den Rest des Sommers hier bei uns verbringen, ja. Und ich gedenke, zu meinem Wort zu stehen.«
Wie du es immer getan hast und wie du es immer tun wirst, ging es Constance durch den Kopf, voller Stolz und Liebe für diesen Mann, dessen Leben sie teilte. Nicht einen Augenblick in all diesen Jahren hatte sie sich der trügerischen Vorstellung hingegeben, doch noch eine Spur von Weichherzigkeit in ihm zu entdecken. Männer vom Schlage eines William Lynton Norbury hatten kein weiches Herz, sie wurden allenfalls milder im Alter, so wie ihr Vater, der General. Was William ihr an Liebe gab, war eine hitzige Leidenschaft, die ihr heute noch zuweilen den Atem nahm, und sie wusste, dass er mit ähnlich heftiger Zuneigung an seinen Kindern hing – obwohl er diese viel zu oft hinter seinem Harnisch aus trockener Korrektheit, aus eherner Disziplin und flammendem Traditionsstolz zu verbergen wusste.
»Ich sorge mich um Stephen«, flüsterte sie. »Ist dir nicht aufgefallen, wie bedrückt er wirkt in der letzten Zeit?«
»Kein Wunder«, gab der Colonel zurück, »wenn ihm Becky Peckham derart im Nacken sitzt!«
»Schäm dich!« Constances Faust traf ihn an der Schulter, worauf sein Mund unter dem Bart belustigt zuckte. »Becky ist ein liebenswertes Mädchen, und du hast selbst gesagt, sie gäbe mit ihrer praktischen Art eine passable Herrin für Shamley ab. – Im Ernst, William. Stephen ist nicht glücklich, das sehe ich. Das fühle ich.«
Der Colonel schwieg einige Herzschläge lang. »Ein paar Jahre in einem Regiment, im Dienst für unser Königreich. Ein paar Jahre, Connie – ist das wirklich zu viel verlangt? Danach kann er von mir aus tun, wonach ihm der Sinn steht. Sich auf einen zivilen Posten versetzen lassen oder anfangen, sich um Shamley zu kümmern.« Als sie stumm blieb, setzte er hinzu: »Er wird es überstehen. Er ist schließlich ein Norbury. Und ein halber Shaw-Stewart.«
Sie küsste ihn sanft auf die Wange. »Vielleicht solltest du ihm das einmal sagen, William. Ganz genau so, wie du es mir gerade gesagt hast.«
Der Colonel sah seiner Frau fest in die Augen. »Wir waren uns damals doch einig: erst Cheltenham, dann Sandhurst«, stellte er nüchtern fest.
»Ich weiß.« Ihre hellen Brauen zogen sich zusammen, schmerzlich beinahe, als sie hinzufügte: »Heute glaube ich, es war ein Fehler.«
Bis hinter Abinger Common waren sie gefahren, über Feldwege, die sich durch die wogenden Teppiche von Hafer, Weizen und Gerste wanden. Das Lachen der jungen Leute schallte über die Hecken aus Haselsträuchern und Schlehdorn und über die Bänder purpurfarbener Luzerne hinweg, und wie umhertänzelnde Distelfalter und Kohlweißlinge schwirrten ihre vergnügten Ausrufe über die violetten Seen aus Malven. An einem Waldrand hielten sie an und breiteten rot karierte Decken auf der Wiese aus, in einer Luft, die vom Duft der weiß blühenden Ackerbohnen gewürzt und vom herben Hauch des Raps durchsetzt war. Als hätte man sie tagelang hungern lassen, stürzten sie sich auf das Picknick, auf die Sandwiches mit weißem Guildforder Käse, mit Gurkenscheiben und Brunnenkresse; auf die kleinen Pasteten mit einer Füllung aus Lachs oder Schinken und auf die Stücke von Schokoladenkuchen. Und das Summen der Bienen und Hummeln zwischen den Margeriten und Butterblumen war wie ein gedämpftes Echo der Stimmen der jungen Männer, während sich die helleren Stimmen der Mädchen wie Tonfolgen aus Vogelkehlen darüberlegten.
»Zu schade, dass wir dieses Jahr die Jagd versäumen werden, wenn wir ab September den Dienst im Regiment antreten«, meinte Leonard und machte mit seinem leeren Becher eine ungeduldige Geste zu Royston hin, der ihn mit einer Grimasse aufforderte zu warten, während er sich mit einem Korkenzieher und der Flasche Weißwein abmühte, die er irgendwie ins College hinein- und wieder herausgeschmuggelt hatte. »Vor allem«, fügte Leonard mit einem Grinsen hinzu, »verpasse ich womöglich, wie Grace doch noch ein Schuss danebengeht.«
»Haha«, machte diese augenzwinkernd. »Träum ruhig weiter, Len!« Sie beugte sich vor und fischte unter den Überresten des Picknicks eine Erdbeere heraus und ließ sich wieder auf die Decke zurückfallen.
»Du kannst mit Schusswaffen umgehen?«
Sie sah Jeremy an und nickte mit vollem Mund.
»Grace reitet nicht nur wie der – pardon – Teufel«, presste Royston zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »wie sie uns bereits mehrmals unter Beweis gestellt hat. Auch an ihren Schießkünsten könnte sich manch ein Kadett ein Beispiel nehmen. Was uns auch nicht zu wundern braucht, wenn Schießübungen immer noch freiwillig sind und kein Pflichtfach, wie es sinnvoll wäre.« Er stieß hörbar den Atem aus, als der Korken endlich quietschend und mit einem satten Plopp aus der Flasche glitt. »Ladyyys-uuund-Gentlemeeen«, deklamierte er marktschreierisch unter einer großen Geste, sodass seine Stimme vom Waldrand widerhallte. »Wir präsentieren Ihnen hier und heute eine noch niieee dagewesene Sensation: Graaace Nooor-buu-ryy, die Amazone von Surrey!«
Unter dem prustenden Gelächter, das anhob, langte Grace nach einer weiteren Erdbeere und holte aus.
»Oh-oh«, rief Royston mit mahnend erhobenem Korkenzieher. »Mit dem Essen spielt man nicht, gnädiges Fräulein!«
Grace lachte, und die Erdbeere verschwand in ihrem Mund.
»Meine Mutter hat es mir beigebracht«, erzählte sie Jeremy kauend. Wie die anderen hielt sie ihren Becher, der zuvor noch mit unschuldiger Zitronenlimonade gefüllt gewesen war, Royston hin. »Und die wiederum hat es von meinem Großvater gelernt. Der fand nämlich, im wilden Bengalen müsse eine Generalstochter für jedweden Notfall gerüstet sein.«
»So gesehen ist es fast schade, dass aus dir kein Junge geworden ist.« Das betrübte Gesicht, das Royston zog, während er sich selbst zuletzt einschenkte, bezog sich allerdings offenbar mehr auf den spärlichen Rest des Weins, der ihm noch geblieben war. Seufzend streckte er sich auf der Decke aus und bettete sein Haupt in Cecilys Schoß.
»Was wäre das doch für eine ungeheure Verschwendung gewesen«, kam es erheitert von Leonard, »und was für ein herber Verlust für die Männerwelt!« Mit seiner Stiefelspitze stupste er Cecily gegen die Hüfte, und sie drehte sich mit entrüsteter Miene zu ihm um. »Wolltest du Grace nicht noch etwas geben?«
»Mmhh«, machte Cecily und schlug sich theatralisch vor die Stirn, gab dann Royston ihren Becher und suchte in ihrer Tasche. »Das hätte ich fast vergessen!«
Grace legte den Kopf in den Nacken und lachte über dieses lieb gewordene Ritual, jedes Jahr an Mittsommer, solange sie zurückdenken konnte. Schließlich zog Cecily eine längliche, mit Schleifenband verschnürte Schachtel hervor, die sie ihrer Freundin hinhielt. »Mit den allerbesten Glückwünschen der ganzen Familie Hainsworth!«
»Danke«, antwortete Grace glücklich, als sie die Hand danach ausstreckte. Leonard kam ihr zuvor, schnappte sich die Schachtel und sprang auf, Schalk im Blick und überschießende Fröhlichkeit auf dem Gesicht. Gladdy, der die triefende Schnauze zwischen den Pfoten vergraben hatte, löste seinen Blick von den vor ihm ausgebreiteten Köstlichkeiten und hob aufmerksam den Kopf.
Grace verharrte zögernd auf ihrem Platz, teils weil sie sich zu erwachsen fühlte für dieses alte Spiel, teils weil sich etwas in ihr dagegen sträubte. Seit jenem Abend auf Givons Grove fühlte sie sich in Leonards Gegenwart befangen, witterte in seinen Blicken, in jeder Bemerkung von ihm das, was an jenem Abend unausgesprochen geblieben war.
Ihre Neugierde gewann jedoch die Oberhand; mit einem Funkeln in den Augen schnellte sie hoch. Einen vergnügt kläffenden Gladdy neben sich, rannte sie hinter Leonard her. Immer wieder blieb er stehen und drehte sich lachend zu ihr um, winkte herausfordernd mit der Schachtel und lief unter halb neckenden, halb lockenden Rufen weiter, durch die Wiesen, in Richtung der Rapsfelder, die weithin leuchteten wie Bahnen, die eine Himmelshand aus der Sonne geschnitten und auf der Erde ausgelegt hatte.
»Gib her, Len!« Lachend haschte sie nach ihrem Geschenk, erwischte Leonard immer einmal wieder für einen flüchtigen Moment am Ärmel, versuchte, ihm im Lauf ein Bein zu stellen. Und wie früher war Leonard immer eine Spur schneller und stärker, bis er sie bei der Hand ergriff, sie schwungvoll zu sich heranzog und ihr die Schachtel kampflos überreichte. »Alles Liebe zum Geburtstag, Grace!«
»Oh – Len!«, entfuhr es Grace, als sie die Schleife aufgezogen hatte und den Deckel hob.
»Gefällt es dir nicht?« Er klang enttäuscht.
»Es ist wunderschön«, hauchte sie und strich mit dem kleinen Finger über das Armband. Jedes Glied, in dunkles Gold eingefasst, bestand aus einem Stein, der in den warmen Farbtönen eines Sonnenuntergangs glühte und griechische Göttinnen als cremehelle Reliefs herausgearbeitet hatte. »Aber das ist doch viel zu wertvoll!«
»Es ist genau richtig für dich«, widersprach er leise. »Mutter, Sis und ich haben es aus unserem Familienschmuck für dich ausgesucht.« Er nahm es heraus und schlang es um ihren Unterarm. Stein und Metall fühlten sich erstaunlich warm an auf ihrer Haut, lebendig beinahe, und ein wohliger Schauer durchrann Grace.
»Len«, begann sie, während sie nach den richtigen Worten suchte. »Neulich, an dem Wochenende auf Givons Grove ... als wir beide im Garten waren ...« Ohne aufzublicken, hielt er inne, und eine leichte Röte zeichnete sich auf seinen Wangen ab, als er den Verschluss zuschnappen ließ. »Siehst du – es ist wie für dich gemacht!«
»Len ...«
Die Stirn mit der Hand beschattend, trat er einen Schritt zurück und sah sie unter diesem Schutzschild hervor zerknirscht an. »Ich hatte ehrlich gesagt gehofft, du hättest es schon vergessen.« Er holte tief Atem und ließ die Hand wieder sinken. »Da muss etwas mit mir durchgegangen sein. Vielleicht weil du an dem Abend so betörend ausgesehen hast.«
Grace nickte, kaute jedoch grüblerisch auf ihrer Unterlippe, während sie das Armband betrachtete.
»Du nimmst mir das doch nicht übel? Wir sind doch immer noch Freunde – oder, Grace?« Bittend blickte Leonard sie an, voller Hoffnung.
Die tiefe, in so vielen Jahren gewachsene Zuneigung für ihn rauschte wie eine Sturmflut in Grace empor. »Natürlich, Len. Die besten!«
»Für immer?« Ein schelmisches Grinsen schien in seinem Gesicht auf und nahm seiner Frage ihr Gewicht.
Grace lachte, wie von einer schweren Last befreit. »Ja, für immer!«
Sein Grinsen wurde breiter, und er nahm Grace’ Hand. Zusammen liefen sie zurück und ließen sich atemlos wieder zwischen ihren Freunden niederfallen. Sogleich scharten sich Becky und Ada um Grace und bewunderten das Schmuckstück.
»Danke, Tommy!« Grace wuschelte dem Jungen durch das widerspenstige Haar, worauf dieser rot anlief und nur zu gern dem mit feuchter Schnauze vorgebrachten Drängen Gladdys nachgab, ihm das Fell zu kraulen. Dabei strahlte er aber übers ganze Gesicht, als sei dieses Geschenk ganz allein sein Einfall gewesen.
»Danke, Sis!« Grace drückte ihre Freundin fest an sich.
»Ich wusste ganz einfach, dass es dir gefallen würde«, gurrte Cecily zufrieden.
Stephen stieß Jeremy in den Rücken, und als dieser nicht reagierte, gleich noch einmal. Die abwehrende Kopfbewegung seines Freundes übergehend, rief er: »Grace! Jeremy hat auch noch etwas für dich!«
Unter all den Augenpaaren, die sich erwartungsvoll auf ihn richteten, faltete Jeremy in langsamen, fast widerwilligen Bewegungen sein Jackett auseinander und zog aus der Innentasche ein flaches braunes Päckchen heraus, reichte es ihr wortlos.
Grace hockte sich auf die Knie, schlug sorgsam das Packpapier zurück und betrachtete von allen Seiten das Buch, das darunter zum Vorschein kam: Das Leder in blassem Türkis war vernarbt und stellenweise eingerissen, die pastelligen Blumen darauf abgegriffen und verblichen, die Goldprägung auf dem Rücken zum Teil abgeschabt. Als sie es aufblätterte, blieben ihre Augen auf einer ganz bestimmten Stelle haften, und das Blut schoss ihr in die Wangen.
»Was ist es denn?« Cecily machte den Hals lang. Grace blieb ihr die Antwort schuldig. »Zeig her!« Die Freundin reckte sich ungeduldig vor und schnappte sich das Buch, sog scharf die Luft ein, als sie den Titel entzifferte.
»Was ist das für ein Buch?« Beckys Neugierde war größer als der Sog von Stephens Nähe, größer sogar als ihre Abneigung gegen Cecily.
»Les Fleurs du Mal«, antwortete diese, offenbar derart schockiert, dass sie selbst jegliche Feindseligkeit vergaß und Becky mit großen Augen das Buch zeigte. »Von Baudelaire. Puh, Grace, lass das bloß nicht deine Eltern sehen!« Mit spitzen Fingern blätterte sie durch die vergilbten, muffig riechenden Seiten und überflog die Verse der Blumen des Bösen; Gedichte, ebenso sinnlich-erotisch wie morbide, so drastisch wie poetisch, von denen einige, die in der ersten Ausgabe enthalten gewesen waren, in Frankreich fast fünfundzwanzig Jahre danach noch immer als so anstößig und unmoralisch galten, dass sie dort verboten waren. »Findest du das nicht ein reichlich unpassendes Geschenk, Jeremy?«
Er schwieg, und Grace spürte seinen Blick auf ihrem brennenden Gesicht. Sie streckte die Hand nach dem Buch aus. »Gib es mir zurück, Sis.«
»Sag bloß, dir gefällt so was?!«
»Ja, mir gefällt so was«, erwiderte Grace gereizt. »Gib es mir zurück!«
»Gleich.« Cecily betrachtete fasziniert eine Seite im vorderen Teil des Buches. »Für Grace – von Jeremy, Mittsommer 1881«, begann sie mit hochgezogenen Brauen vorzulesen und wehrte leichthin Roystons Hand ab, als er ihr das Buch wegnehmen wollte. »Ohne Licht kein Schatten ...«
»Das reicht, Sis!« In Leonards Stimme lag eine unverhohlene Warnung.
»... Ohne Schatten kein Licht.« Mit gerunzelter Stirn wandte sie sich zu Jeremy hin. »Was soll das denn bitte bedeuten?«
»Das geht dich gar nichts an!« Grace entriss ihr wütend das Buch, presste es vor ihre Brust. Als ob sie es dadurch vor noch mehr neugierigen Händen aus dieser Runde beschützen könnte. Oder aber als ob sie es so nah an ihrem Herzen haben wollte wie möglich.
»Danke«, flüsterte sie heiser. Jeremy nickte nur.
Stille breitete sich aus über der zuvor noch so redseligen Runde, eine Stille, in der es knisterte vor unausgesprochenen Gedanken und Fragen. Vielsagende Blicke wurden getauscht, streiften Grace und Jeremy, die es vermieden, einander anzusehen.
Es war Royston, der diese Stille durchbrach. »Tja«, seufzte er und griff hinter sich. »Mit einem solch skandalösen, aufregenden Geschenk kann sich die banale Gabe natürlich nicht messen, die Simon und ich für dich ausgesucht haben.« Vergeblich suchte er den Blick des Freundes aufzufangen; Simon hatte nur Augen für Ada.
Grace lachte und nahm das Päckchen entgegen, in dem sich ein Paar sichtlich teure Reithandschuhe befanden. »Danke, euch beiden, sie sind wunderschön!«
»Nicht doch«, gab Royston bescheiden zurück und hob seinen Becher wie zu einem Trinkspruch. »Das Allerschönste heut’ weit und breit – seid immer noch Ihr, holde Maid!«, reimte er schnell zusammen. Gelächter hob an, als er dafür von Cecily einen Klaps ins Genick erhielt. »Ach ja, dich gibt es ja auch noch«, frotzelte er, und bevor ihn noch mehr Hiebe trafen, ergriff er rasch Cecilys Hand, drückte einen Kuss darauf und ließ sie nicht mehr los.
Besänftigt kuschelte sich Cecily an Roystons Schulter. »Erzähl, Grace! Was hast du sonst noch bekommen?«
Erleichtert darüber, sich unverfänglicheren Dingen zuwenden zu können, berichtete Grace von dem gläsernen, bunt schillernden Federhalter, den Stephen ihr geschenkt hatte, von den Ohrringen ihrer Großmutter, die sie von ihren Eltern bekommen hatte und die sie heute Abend tragen würde. Sie beschrieb in begeisterten Worten die filigrane Spitzenborte, die Becky, sehr geschickt in solchen Dingen, ihr gehäkelt, und den bemalten Fächer, den Ada ihr aus Paris mitgebracht hatte. Und immer wieder trafen sich dabei ihre Augen mit denen von Jeremy.
Ohne Licht kein Schatten. Ohne Schatten kein Licht.