An jenem Abend, als ich mich wie üblich um sieben Uhr zum Essen mit Bobby im Oval Room einfand, musste ich verärgert feststellen, dass er einen Gast mitgebracht hatte. Über mein jüngstes, außerschulisches Tun hatte ich ihm kein Wort gesagt oder angedeutet, und ich brannte darauf, ihm diese neueste Nachricht zu eröffnen – ihn gründlich zu überraschen wenn wir allein waren. Der Gast war eine sehr attraktive junge Dame, damals erst wenige Monate geschieden, mit der Bobby häufig aus gewesen war und die ich schon mehrere Male gesehen hatte. Sie war eine absolut reizende Person, deren sämtliche Versuche, freundlich zu mir zu sein, mich sanft zu überreden, meinen Panzer abzunehmen – oder wenigstens den Helm –, ich als implizite Einladungen deutete, mich zu ihr ins Bett zu legen, sobald es mir möglich sei – das heißt, sobald Bobby, der eindeutig zu alt für sie war, der Laufpass gegeben werden konnte. Während des gesamten Abendessens war ich feindselig und einsilbig. Beim Kaffee schließlich skizzierte ich knapp meine neuen Pläne für den Sommer. Danach stellte Bobby mir einige recht intelligente Fragen. Ich beantwortete sie kühl und übermäßig kurz, ich, der unantastbare Kronprinz der Lage.
»Oh, das klingt aber sehr aufregend!«, sagte Bobbys Gast und wartete lüstern darauf, dass ich ihr meine Montrealer Adresse unterm Tisch zusteckte.
»Ich dachte, du fährst mit mir nach Rhode Island«, sagte Bobby.
»Ach Liebling, sei nicht so ein schrecklicher Trauerkloß«, sagte Mrs X zu ihm.
»Das bin ich gar nicht, aber ich hätte nichts dagegen, ein wenig mehr darüber zu erfahren«, sagte Bobby. Aber ich glaubte, an seinem Verhalten zu erkennen, dass er im Geiste schon bei seinen Bahnreservierungen nach Rhode Island ein Abteil gegen ein unteres Schlafwagenbett tauschte.
»Ich finde, das ist das Reizendste, Schmeichelhafteste, das ich in meinem ganzen Leben gehört habe«, sagte Mrs X warm zu mir. Ihre Augen funkelten vor Verdorbenheit.
An dem Sonntag, an dem ich in der Windsor Station in Montreal auf den Bahnsteig trat, trug ich einen beigefarbenen zweireihigen Gabardineanzug (von dem ich eine verdammt hohe Meinung hatte), ein marineblaues Flanellhemd, eine solide gelbe Baumwollkrawatte, braunweiße Schuhe, einen Panamahut (der Bobby gehörte und mir eher zu klein war) sowie einen rötlichbraunen, drei Wochen alten Schnurrbart. M. Yoshoto holte mich ab. Er war ein winziger Mann, nicht größer als einen Meter fünfzig, und er trug einen ziemlich schmutzigen Leinenanzug, schwarze Schuhe und einen schwarzen Filzhut, dessen Krempe rundherum aufgestellt war. Weder lächelte er, noch, soweit ich mich erinnere, sagte er etwas zu mir, als wir uns die Hand gaben. Seine Miene – und mein Wort dafür kam direkt aus einer französischen Ausgabe von Sax Rohmers Fu-Manchu-Büchern – war unergründlich. Aus irgendwelchen Gründen lächelte ich von einem Ohr zum anderen. Ich konnte mich nicht mäßigen, schon gar nicht damit aufhören.
Von der Windsor Station bis zur Schule war es eine Busfahrt von etlichen Kilometern. Ich bezweifle, dass M. Yoshoto auf der ganzen Fahrt mehr als fünf Worte sagte. Sei es wegen oder trotz seines Schweigens, jedenfalls redete ich unablässig, die Beine übereinandergeschlagen, Knöchel auf Knie, und benutzte unablässig meine Socke zum Aufnehmen des Schweißes auf meinem Handteller. Es erschien mir dringlich, nicht nur meine früheren Lügen zu wiederholen – über meine Verwandtschaft mit Daumier, über meine verstorbene Frau, über mein kleines Gut in Südfrankreich –, sondern sie auch noch auszuspinnen. Schließlich schwenkte ich, praktisch um mir zu ersparen, bei diesen schmerzlichen Erinnerungen zu verweilen (und sie wurden tatsächlich ein wenig schmerzlich), zum Thema vom ältesten und liebsten Freund meiner Eltern: Pablo Picasso. Le pauvre Picasso, wie ich ihn bezeichnete. (Ich wählte Picasso, sollte ich vielleicht erwähnen, weil er mir als der in Amerika bekannteste französische Maler erschien. Kanada betrachtete ich rundheraus als Teil Amerikas.) Um M. Yoshotos willen erinnerte ich mich mit viel theatralischem Mitgefühl für einen gefallenen Riesen, wie oft ich zu ihm gesagt hatte: »M. Picasso, où allez-vous?«, und wie der Meister in seiner Antwort auf diese alles durchdringende Frage unfehlbar langsam, bleiern durch sein Studio schritt, um eine kleine Reproduktion seiner »Gaukler« zu betrachten und seinen Ruhm, den er eingebüßt hatte. Das Dumme an Picasso sei gewesen, erklärte ich M. Yoshoto, als wir aus dem Bus stiegen, dass er auf niemanden hörte – nicht einmal auf seine engsten Freunde.
1940 hatten Les Amis Des Vieux Maîtres Räume im ersten Stock eines kleinen, äußerst bescheiden wirkenden dreistöckigen Gebäudes – eigentlich ein Mietshaus – im Verdun, also dem reizlosesten Viertel Montreals. Die Schule lag direkt über einem Geschäft mit Sanitätsartikein. Ein großes Zimmer und ein winziger, schlossloser Abort, mehr war Les Amis Des Vieux Maîtres nicht. Dennoch erschien mir der Raum, kaum dass ich ihn betreten hatte, auf wundersame Weise präsentabel. Das hatte einen guten Grund. An den Wänden des »Unterrichtsraums« hingen zahlreiche gerahmte Bilder – alles Aquarelle – von M. Yoshoto. Noch immer träume ich hin und wieder von einer bestimmten weißen Gans, die über einen äußerst hellblauen Himmel fliegt, wobei – und das war eine der gewagtesten und versiertesten Leistungen handwerklichen Könnens, die mir je begegnet waren – das Blau des Himmels oder die Idee vom Blau des Himmels sich im Gefieder des Vogels spiegelten. Das Bild hing unmittelbar hinter Mme. Yoshotos Schreibtisch. Es rettete das Zimmer – dieses und ein, zwei weitere Bilder, die ihm an Qualität nahekamen.
Mme. Yoshoto, in einem schönen Kimono aus schwarzer und kirschroter Seide, fegte gerade, als M. Yoshoto und ich das Lehrerzimmer betraten, mit einem kurzstieligen Besen das Zimmer. Sie war eine grauhaarige Frau, bestimmt einen Kopf größer als ihr Mann, und ihre Gesichtszüge wirkten eher malaiisch denn japanisch. Sie hörte auf zu fegen und kam herbei, und M. Yoshoto stellte uns kurz vor. Sie wirkte auf mich ganz genauso unergründlich wie M. Yoshoto, wenn nicht noch mehr. Dann schlug M. Yoshoto vor, mir mein Zimmer zu zeigen, aus dem, wie er mir (auf Französisch) erklärte, erst unlängst sein Sohn ausgezogen sei, der nach British Columbia gegangen sei, um auf einer Farm zu arbeiten. (Nachdem er so lange im Bus geschwiegen hatte, war ich dankbar dafür, dass er nun einigermaßen zusammenhängend redete, und ich hörte ziemlich begierig zu.) Er entschuldigte sich, dass es im Zimmer seines Sohnes keinen Stuhl gebe – nur Sitzkissen–, doch rasch gab ich ihm zu verstehen, dass dies für mich kaum weniger als ein Geschenk des Himmels sei. (Ich glaube sogar, gesagt zu haben, ich fände Stühle abscheulich. Ich war so nervös, dass ich, hätte er mir mitgeteilt, das Zimmer seines Sohnes stehe Tag und Nacht einen halben Meter unter Wasser, wahrscheinlich einen kleinen Freudenschrei ausgestoßen hätte. Wahrscheinlich hätte ich gesagt, ich hätte eine seltene Fußkrankheit, die es erforderlich mache, dass ich meine Füße acht Stunden täglich feucht hielt.) Dann führte er mich eine knarrende Holztreppe zu meinem Zimmer hinauf. Dabei erzählte ich ihm ziemlich demonstrativ, dass ich Buddhismus studierte. Später erfuhr ich, dass er wie auch Mme. Yoshoto Presbyterianer waren.
Tief in der Nacht, ich lag wach im Bett, und Mme. Yoshotos japanisch-malaiisches Abendessen machte sich noch immer massiv bemerkbar, indem es wie ein Fahrstuhl mein Brustbein auf und abwärts fuhr, stöhnte, unmittelbar auf der anderen Seite meiner Wand, der eine oder die andere der Yoshotos im Schlaf. Es war ein hohes, dünnes, gebrochenes Stöhnen, und es schien weniger von einem Erwachsenen zu stammen als entweder von einem tragischen, schwachsinnigen Kleinkind oder einem kleinen, missgebildeten Tier. (Es wurde zu einer regelmäßigen nächtlichen Darbietung. Nie habe ich herausgefunden, von welchem der Yoshotos es kam, schon gar nicht, warum.) Als es ganz unerträglich wurde, es im Liegen zu hören, stand ich auf, zog meine Pantoffeln an, ging im Dunkeln zu einem der Sitzkissen und setzte mich darauf. Zwei Stunden lang saß ich im Schneidersitz da und rauchte Zigaretten, drückte sie auf dem Blatt des einen Pantoffels aus und steckte die Kippen in die Brusttasche meines Schlafanzugs. (Die Yoshotos rauchten nicht, und in den gesamten Räumlichkeiten gab es keinen Aschenbecher.) Gegen fünf Uhr morgens schlief ich dann ein.
Um halb sieben klopfte M. Yoshoto an meine Tür und teilte mir mit, das Frühstück werde um Viertel vor sieben serviert. Durch die Tür fragte er mich noch, ob ich gut geschlafen hätte, und ich antwortete mit »Oui«!. Dann kleidete ich mich an – mit meinem blauen Anzug, den ich für einen Lehrer am Eröffnungstag der Schule angemessen fand, und einer roten Sulka-Krawatte, die meine Mutter mir geschenkt hatte – und eilte, ohne mich gewaschen zu haben, durch den Flur zur Küche der Yoshotos. Mme. Yoshoto stand am Herd und bereitete ein Fischfrühstück zu. M. Yoshoto saß in Unterhemd und -hose am Küchentisch und las eine japanische Zeitung. Er nickte mir unverbindlich zu. Beide hatten sie nie unergründlicher gewirkt. Nun wurde mir irgendein Fisch auf einem Teller mit einer kleinen, aber ins Auge fallenden Spur eingedickten Ketchups am Rand serviert. Mme. Yoshoto fragte mich auf Englisch – und ihr Akzent war unerwartet charmant –, ob mir ein Ei lieber wäre, ich aber sagte: »Non, non, madame – merci!« Ich sagte, ich äße niemals Eier. M. Yoshoto lehnte die Zeitung an mein Wasserglas, und wir drei aßen schweigend; vielmehr, sie aßen und ich schluckte systematisch schweigend.
Nach dem Frühstück zog M. Yoshoto sich, ohne die Küche zu verlassen, ein kragenloses Hemd über, Mme. Yoshoto legte die Schürze ab, und wir drei gingen ziemlich verlegen hintereinander nach unten in den Unterrichtsraum. Dort lagen auf M. Yoshotos breitem Schreibtisch in einem unordentlichen Haufen ein Dutzend oder noch mehr ungeöffnete, riesige, ausgebeulte Umschläge. Für mich hatten sie beinahe etwas frisch Gebürstet-und-Gekämmtes, wie neue Schüler. M. Yoshoto wies mir mei nen Schreibtisch zu, der an der fernen, abgelegenen Seite des Raums stand, und bat mich, Platz zu nehmen. Dann riss er, Mme. Yoshoto an seiner Seite, einige Umschläge auf. Er und Mme. Yoshoto schienen den gemischten Inhalt nach einer gewissen Methode zu sichten, wobei sie sich hin und wieder auf Japanisch berieten, während ich in meinem blauen Anzug und der Sulka-Krawatte am anderen Ende des Raums saß und mich bemühte, wachsam und geduldig zugleich und für das Unternehmen irgendwie unverzichtbar zu wirken. Der Innentasche meines Jacketts entnahm ich eine Handvoll weicher Zeichenbleistifte, die ich aus New York mitgebracht hatte, und breitete sie so geräuschlos wie möglich auf der Platte meines Schreibtischs aus. Einmal warf mir M. Yoshoto aus irgendeinem Grund einen kurzen Blick zu, und ich lächelte ihn übermäßig gewinnend an. Dann setzten sich die beiden unvermittelt und ohne ein Wort oder einen Blick in meine Richtung an ihren jeweiligen Schreibtisch und machten sich an die Arbeit. Es war ungefähr halb acht.
Gegen neun nahm M. Yoshoto die Brille ab, stand auf und kam mit einem Bündel Papiere in der Hand zu mir getappt. Ich hatte anderthalb Stunden mit absolutem Nichtstun verbracht und nur versucht, meinen Magen daran zu hindern, hörbar zu knurren. Rasch erhob ich mich, als er in meine Nähe kam, und bückte mich eine Spur, um nicht respektlos groß zu wirken. Er überreichte mir das Bündel Papiere, das er gebracht hatte, und bat mich, seine schriftlichen Korrekturen freundlicherweise aus dem Französischen ins Englische zu übersetzen. Ich sagte: »Oui, monsieur!« Er machte eine kleine Verbeugung und tappte zu seinem Schreibtisch zurück. Ich schob meine Handvoll weicher Zeichenbleistifte an eine Seite des Schreibtischs, zog meinen Füllfederhalter her vor und machte mich – nahezu untröstlich – an die Arbeit.
Wie so mancher wirklich gute Künstler unterrichtete M. Yoshoto Zeichnen keinen Deut besser als irgendein mittelprächtiger, der ein Händchen fürs Unterrichten hat. Mit seiner praktischen »Überdeck«-Methode – das heißt, seine Pauspapierzeichnungen wurden auf die Zeichnungen des Schülers gelegt – und dazu seinen schriftlichen Kommentaren auf der Rückseite der Zeichnungen konnte er einem einigermaßen talentierten Schüler durchaus zeigen, wie man ein erkennbares Schwein in einem erkennbaren Stall zeichnet oder gar ein pittoreskes Schwein in einem pittoresken Stall. Aber nicht um alles in der Welt konnte er jemandem zeigen, wie man ein schönes Schwein in einem schönen Stall zeichnet (was natürlich der Teil der Technik war, den seine besseren Schüler am begierigsten mit der Post geschickt bekommen wollten). Er ging auch nicht, sollte ich noch hinzufügen, bewusst oder unbewusst sparsam mit seinem Talent um oder war absichtlich unfreigebig, vielmehr war Schenken schlicht nicht seine Sache. Für mich lag in dieser schonungslosen Wahrheit kein echtes Überraschungsmoment, daher erwischte sie mich auch nicht unvorbereitet. Aber sie hatte eine gewisse kumulative Wirkung, wenn man bedenkt, wo ich saß, und als es allmählich Mittagszeit wurde, musste ich sehr darauf achten, meine Übersetzungen nicht mit meinen schweißnassen Handballen zu beflecken. Wie um alles noch bedrückender zu machen, war M. Yoshotos Handschrift kaum leserlich. Als es jedenfalls Zeit zum Mittagessen war, lehnte ich ab, mich zu den Yoshotos zu setzen. Ich sagte, ich müsse zur Post. Dann rannte ich geradezu die Treppe hinunter auf die Straße und lief sehr schnell und vollkommen ziellos durch ein Gewirr seltsamer, ärmlich wirkender Straßen. Als ich an ein Imbisslokal kam, ging ich hinein und verschlang zu drei Tassen trüben Kaffees vier »Coney Island Red-Hot«-Würstchen.
Auf dem Rückweg zu Les Amis Des Vieux Maîtres fragte ich mich zunehmend, erst auf eine vertraut zaghafte Weise, mit der ich aus Erfahrung mehr oder weniger gut umzugehen wusste, dann in absoluter Panik, ob es persönlich gemeint gewesen sei, dass M. Yoshoto mich den ganzen Vormittag lang ausschließlich als Übersetzer benutzt hatte. Hatte der alte Fu Manchu von Beginn an gewusst, dass ich, neben weiterem irreführendem effektvollem Beiwerk, den Schnurrbart eines Neunzehnjährigen trug? Diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen war nahezu unerträglich. Auch nagte es langsam an meinem Gerechtigkeitsgefühl. Ich – ein Mann, der drei erste Preise erhalten hatte, ein sehr enger Freund Picassos (der zu sein ich zunehmend glaubte) – wurde hier als Übersetzer benutzt. Die Strafe entsprach nicht im Ansatz dem Verbrechen. Zum einen war mein Schnurrbart, wie spärlich auch immer, wirklich echt; er war nicht mit Mastix angeklebt worden. Zu meiner Beruhigung betastete ich ihn, als ich zur Schule zurückeilte. Doch je mehr ich über diese ganze Sache nachdachte, desto schneller lief ich, bis ich beinahe schon trabte, als erwartete ich jeden Moment, aus allen Richtungen gesteinigt zu werden.
Obwohl ich für das Mittagessen lediglich rund vierzig Minuten gebraucht hatte, saßen die Yoshotos schon beide am Schreibtisch, als ich zurückkam. Sie schauten nicht auf und gaben durch nichts zu erkennen, dass sie mich hatten hereinkommen hören. Schwitzend und außer Atem ging ich zu meinem Schreibtisch und setzte mich. Während der nächsten fünfzehn, zwanzig Minuten saß ich starr da und ließ mir alle möglichen nagelneuen kleinen Picasso-Anekdoten durch den Kopf gehen, nur für den Fall, dass M. Yoshoto plötzlich aufstand und zu mir kam, um mich zu entlarven. Und dann stand er tatsächlich plötzlich auf und kam her. Ich erhob mich, um ihm – ganz offen, wenn nötig – mit einer frischen kleinen Picasso-Geschichte zu begegnen, doch zu meinem Entsetzen war mir, als er dann vor mir stand, die Handlung entfallen. Ich nutzte den Moment, um meiner Bewunderung für das Bild mit den fliegenden Gänsen, das über Mme. Yoshoto hing, Ausdruck zu verleihen. Ich pries es ziemlich ausgiebig und überschwänglich. Ich sagte, ich würde in Paris einen Mann kennen – er sei sehr reich und gelähmt, sagte ich –, der M. Yoshoto für das Bild wirklich jeden Preis bezahlte. Ich sagte, ich könne sofort mit ihm Kontakt aufnehmen, falls M. Yoshoto Interesse habe. Zum Glück sagte M. Yoshoto jedoch, das Bild gehöre seinem Cousin, der auf Verwandtenbesuch in Japan weile. Dann, noch bevor ich mein Bedauern bekunden konnte, fragte er mich – er sprach mich mit M. Daumier-Smith an –, ob ich so freundlich wäre, einige Lektionen zu korrigieren. Er ging zu seinem Schreibtisch und kam mit drei gewaltigen, ausgebeulten Umschlägen wieder, die er mir auf den Schreibtisch legte. Dann erklärte mir M. Yoshoto, während ich wie benommen und unablässig nickend mein Jackett an der Tasche abklopfte, in der die Zeichenstifte wieder verstaut waren, die Unterrichtsmethode der Schule (oder vielmehr ihre nicht existente Unterrichtsmethode). Nachdem er zu seinem Schreibtisch zurückgekehrt war, dauerte es mehrere Minuten, bis ich mich wieder gefasst hatte.
Alle drei mir zugewiesenen Schüler waren englischsprachige Studenten. Der erste war eine dreiundzwanzig Jahre alte Hausfrau aus Toronto, die sagte, ihr Künstlername sei Bambi Kramer, und die der Schule mitteilte, sie solle ihre Post entsprechend adressieren. Alle neuen Schüler von Les Amis Des Vieux Maîtres wurden gebeten, einen Fragebogen auszufüllen und eine Fotografie von sich beizulegen. Miss Kramer hatte einen 20x25 großen Hochglanzabzug von sich beigelegt, auf dem sie ein Fußkettchen, einen trägerlosen Badeanzug und eine Matrosenmütze trug. Auf ihrem Fragebogen erklärte sie, ihre Lieblingskünstler seien Rembrandt und Walt Disney. Sie schrieb, sie hoffe nur, es ihnen eines Tages gleichtun zu können. Ihre Probezeichnungen waren ziemlich nebensächlich an ihr Foto geklemmt. Alle waren sie beeindruckend. Eine davon war unvergesslich. Die unvergessliche war in schwülstigen Tuschfarben gehalten, und die Unterschrift lautete: »Vergib ihnen ihre Schuld«. Die Zeichnung stellte drei kleine Jungen dar, die in einem merkwürdigen Gewässer angelten, eine ihrer Jacken hing über einem »Angeln verboten! «-Schild. Der größte Junge, im Vordergrund des Bildes, hatte an einem Bein offenbar Rachitis und am anderen Elefantiasis – ein Effekt, den, so viel war klar, Miss Kramer bewusst eingesetzt hatte, um zu zeigen, dass der Junge ein bisschen breitbeinig dastand.
Mein zweiter Schüler war ein sechsundfünfzigjähriger »Gesellschaftsfotograf« aus Windsor, Ontario, namens R. Howard Ridgefield, der schrieb, seine Frau liege ihm seit Jahren in den Ohren, er solle in die Malerei wechseln. Seine Lieblingskünstler waren Rembrandt, Sargent und »Titan«, doch er fügte noch mit Bedacht hinzu, er lege keinen Wert darauf, in dieser Richtung zu zeichnen. Er schrieb, am meisten interessiere ihn weniger die künstlerische als vielmehr die satirische Seite der Malerei. Zur Untermauerung dieses Credos hatte er eine erkleckliche Anzahl von Originalzeichnungen und Ölgemälden beigelegt. Eines seiner Bilder – dasjenige, das ich für sein Hauptwerk halte – ist mir nach all den Jahren ebenso erinnerlich wie, sagen wir, der Text von »Sweet Sue« oder »Let Me Call You Sweetheart«. Es war eine satirische Darstellung der vertrauten, alltäglichen Tragödie eines keuschen jungen Mädchens mit überschulterlangen blonden Haaren und eutergroßen Brüsten, das in der Kirche, geradezu im Schatten des Altars, von ihrem Pfarrer vergewaltigt wird. Die Kleider beider Figuren waren auf drastische Weise in Unordnung geraten. Eigentlich beeindruckten mich viel weniger die satirischen Implikationen des Bilds als das handwerkliche Können, das sich darin zeigte. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie Hunderte von Meilen voneinander entfernt wohnten, hätte ich geschworen, Ridgefield hätte eine rein technische Unterstützung von Bambi Kramer erhalten.
Außer unter ziemlich seltenen Umständen, in Krisen etwa, als ich neunzehn war, zeichnete sich mein Musikantenknochen stets dadurch aus, dass er als allererster Teil meines Körpers teilweise oder vollständig gelähmt war. Ridgefield und Kramer machten vieles mit mir, aber sie amüsierten mich nicht auch nur annähernd. Drei-, viermal, als ich ihre Umschläge durchging, war ich versucht, aufzustehen und bei M. Yoshoto förmlichen Protest einzulegen. Allerdings hatte ich keine klare Vorstellung davon, welche Form mein Protest haben könnte. Ich glaube, ich hatte Angst, ich könnte zu seinem Schreibtisch gehen, nur um schrill zu berichten: »Meine Mutter ist tot, und ich muss mit ihrem charmanten Ehemann leben, und in New York spricht niemand Französisch, und im Zimmer ihres Sohns gibt es keine Stühle. Wie können Sie da von mir erwarten, dass ich diesen beiden Verrückten Zeichnen beibringe?« Schließlich schaffte ich es, da lange darin geübt, Verzweiflung hinzunehmen, doch sehr leicht, sitzen zu bleiben. Ich öffnete den Umschlag meines dritten Schülers.
Mein dritter Schüler war eine Nonne vom Orden der Schwestern von St. Joseph namens Schwester Irma, die an der Grundschule eines Klosters vor den Toren Torontos »Kochen und Zeichnen« unterrichtete. Und ich habe überhaupt keine guten Ideen, wo ich anfangen soll, den Inhalt ihres Umschlags zu beschreiben. Als Erstes könnte ich vielleicht erwähnen, dass Schwester Irma anstelle eines Fotos von sich ohne weitere Erklärung einen Schnappschuss ihres Klosters beigelegt hatte. Auch fällt mir auf, dass sie die Stelle auf ihrem Fragebogen, wo das Alter des Schülers eingetragen werden soll, leer gelassen hatte. Ansonsten war ihr Fragebogen auf eine Weise ausgefüllt, wie es vielleicht kein Fragebogen dieser Welt verdient hat. Sie war in Detroit, Michigan, geboren und aufgewachsen, wo ihr Vater »Prüfer für Ford-Automobile« gewesen war. Ihre akademische Bildung bestand aus einem Jahr an der Highschool. Sie hatte keinen ordentlichen Zeichenunterricht gehabt. Sie sagte, sie unterrichte es allein deswegen, weil Schwester Soundso verschieden sei und Pater Zimmermann (ein Name, der mir besonders ins Auge fiel, weil so auch der Zahnarzt hieß, der mir acht Zähne gezogen hatte) – Pater Zimmermann sie zur Nachfolgerin bestimmt habe. Sie schrieb, sie habe »34 Kätzchen in meiner Kochklasse und 18 Kätzchen in meiner Zeichenklasse«. Ihre Hobbys seien die Liebe zu ihrem Herrn und zum Wort ihres Herrn und »Blätter sammeln, aber nur, wenn sie auf der Erde liegen«. Ihr Lieblingsmaler war Douglas Bunting. (Ein Name, den ich, das sage ich ganz offen, über die Jahre bis in so manche Sackgasse verfolgt habe.) Sie schrieb, ihre Kätzchen zeichneten immer gern »Menschen, wenn sie rennen, und ausgerechnet darin bin ich schrecklich«. Sie schrieb, sie wolle sehr hart daran arbeiten, besser zu zeichnen, und hoffe, wir würden nicht zu ungeduldig mit ihr sein.
In dem Umschlag befanden sich insgesamt nur sechs Proben ihrer Arbeit. (Alle ihre Arbeiten waren unsigniert – eigentlich ein recht geringfügiger, zu jener Zeit jedoch unverhältnismäßig erfrischender Umstand. Die Bilder Bambi Kramers und Ridgefields waren allesamt entweder signiert oder – und irgendwie wirkte das nur noch ärgerlicher – mit Initialen versehen.) Nach dreizehn Jahren erinnere ich mich nicht nur deutlich an alle sechs Proben Schwester Irmas, an vier davon erinnere ich mich sogar, wie ich finde, für meinen Seelenfrieden ein wenig zu deutlich. Ihr bestes Bild war mit Wasserfarben auf braunem Papier gemalt. (Auf braunem Papier, zumal Packpapier, zu arbeiten ist sehr angenehm, sehr anheimelnd. So mancher erfahrene Künstler hat es benutzt, wenn er nichts Großes oder Großartiges vorhatte.) Das Bild war trotz seiner einschränkenden Größe (es maß ungefähr fünfundzwanzig auf achtundzwanzig Zentimeter) eine sehr detaillierte Darstellung von Jesus, wie er zum Felsengrab im Garten Josephs von Arimathäa getragen wird. Im Vordergrund, ganz außen rechts, tragen zwei Männer, offenbar Josephs Diener, ziemlich unbeholfen den Leichnam. Unmittelbar hinter ihnen folgt Joseph (von Arimathäa) – er hält sich unter den Umständen vielleicht eine Spur zu aufrecht. In einer ehrerbietig untergeordneten Entfernung hinter Joseph kommen die Frauen von Galiläa inmitten einer bunt zusammengewürfelten, vielleicht ungeladenen Gruppe Trauernder, Zuschauer, Kinder und nicht weniger als drei ausgelassener, gottloser Köter. Für mich war die Figur auf dem Bild eine Frau links im Vordergrund, die den Betrachter ansieht. Mit der rechten, überm Kopf erhobenen Hand bedeutet sie jemandem aufgeregt – vielleicht ihrem Kind oder ihrem Mann oder möglicherweise dem Betrachter alles liegen und stehen zu lassen und herbeizueilen. Zwei der Frauen in der vorderen Linie der Menge hatten einen Heiligenschein. Ohne eine Bibel zur Hand konnte ich ihre Identität nur grob erraten. Sofort jedoch entdeckte ich Maria Magdalena. Jedenfalls war ich mir sicher, sie entdeckt zu haben. Sie war im mittleren Vordergrund, ging offenbar getrennt von der Menge, mit den Armen an der Seite. Sie trug nichts von ihrem Kummer sozusagen zur Schau – ja, es gab keinerlei äußere Hinweise auf ihre jüngste, beneidenswerte Verbindung mit dem Verstorbenen. Ihr Gesicht war wie alle anderen Gesichter auf dem Bild in einer niedrigpreisigen, schon fertigen Fleischfarbe gehalten. Es war schmerzlich klar, dass auch Schwester Irma die Farbe unbefriedigend gefunden und ihr unberatenes, edles Bestes getan hatte, um sie irgendwie abzumildern. Andere schwerwiegende Mängel gab es in dem Bild nicht. Das heißt, keine, die eine mehr als krittelnde Erwähnung wert waren. Es war in jeder abschließenden Hinsicht das Bild einer Künstlerin und durchdrungen von einem hohen, hohen, systematischen Talent und von Gott weiß wie vielen Stunden harter Arbeit.
Eine meiner ersten Reaktionen war natürlich, mit Schwester Irmas Umschlag zu M. Yoshoto zu rennen. Doch auch hier blieb ich sitzen. Ich hatte keine Lust zu riskieren, dass mir Schwester Irma weggenommen wurde. Schließlich verschloss ich ihren Umschlag einfach sorgfältig, legte ihn auf die Seite meines Schreibtischs und fasste den erregenden Plan, in der folgenden Nacht in aller Ruhe daran zu arbeiten. Dann verbrachte ich den Rest des Nachmittags mit weit mehr Toleranz, als ich zu besitzen geglaubt hatte, ja beinahe gutem Willen, damit, bei einigen männlichen und weiblichen Akten (sans Geschlechtsorgane), die R. Howard Ridgefield geziert und obszön gezeichnet hatte, Überdeck-Korrekturen anzubringen.
Als es Abendessenszeit wurde, öffnete ich drei Knöpfe meines Hemds und verbarg Schwester Irmas Umschlag dort, wo weder Diebe noch, nur um auf Nummer sicher zu gehen, die Yoshotos einbrechen konnten.
Alle Abendmahlzeiten bei Les Amis Des Vieux Maîtres kennzeichnete eine stillschweigende, aber eiserne Prozedur. Punkt halb sechs stand Mme. Yoshoto von ihrem Schreibtisch auf und ging nach oben, um das Abendessen anzurichten, und um Punkt sechs folgten M. Yoshoto und ich – sozusagen im Gänsemarsch. Abstecher gab es keine, wie nötig oder hygienisch sie auch gewesen wären. An jenem Abend fühlte ich mich jedoch, mit Schwester Irmas Umschlag warm an meiner Brust, so entspannt wie noch nie. Ja, während des gesamten Abendessens hätte ich nicht mitteilsamer sein können. Ich gab eine tolle Geschichte von Picasso zum Besten, die mir da erst gekommen war, eine, die ich mir vielleicht für schlechte Zeiten aufgehoben hätte. M. Yoshoto ließ kaum seine japanische Zeitung sinken, um zuzuhören, Mme. Yoshoto hingegen wirkte interessiert oder wenigstens nicht desinteressiert. Wie auch immer, als ich damit fertig war, sagte sie zum ersten Mal, seit sie mich am Morgen gefragt hatte, ob ich gern ein Ei hätte, etwas zu mir. Sie fragte mich, ob ich auch wirklich keinen Stuhl in meinem Zimmer haben wolle. Rasch sagte ich: »Non, non – merci, madame.« Ich sagte, so wie die Sitzkissen an der Wand aufgestellt seien, gäben sie mir die Gelegenheit zu üben, meinen Rücken gerade zu halten. Ich stand auf, um ihr zu zeigen, wie krumm mein Rücken war.
Nach dem Essen, die Yoshotos erörterten auf Japanisch ein vielleicht provokantes Thema, bat ich sie, mich zu entschuldigen. M. Yoshoto sah mich an, als wüsste er nicht recht, wie ich überhaupt in seine Küche gelangt sei, nickte aber, worauf ich rasch den Flur entlang auf mein Zimmer ging. Als ich das Deckenlicht angemacht und die Tür hinter mir geschlossen hatte, holte ich meine Zeichenstifte aus der Tasche, zog dann das Jackett aus, knöpfte mir das Hemd auf und setzte mich mit Schwester Irmas Umschlag in der Hand auf ein Sitzkissen. Bis nach vier Uhr morgens, alles, was ich brauchte, lag vor mir ausgebreitet auf dem Fußboden, widmete ich mich den, wie ich glaubte, unmittelbaren künstlerischen Mängeln Schwester Irmas.
Als Erstes fertigte ich zehn, zwölf Bleistiftskizzen an. Statt ins Lehrzimmer hinuntergehen und Zeichenpapier zu holen, zeichnete ich die Skizzen auf mein persönliches Briefpapier, und zwar auf beide Seiten des Blattes. Als ich damit fertig war, schrieb ich einen langen, fast endlosen Brief.
Zeit meines Lebens bewahre ich alles auf wie eine außergewöhnlich neurotische Elster, und auch den vorletzten Entwurf des Briefs, den ich in jener Juninacht im Jahr 1940 an Schwester Irma schrieb, habe ich noch. Ich könnte ihn hier in seiner Gänze wörtlich wiedergeben, aber das ist nicht nötig. Den Großteil des Briefs, und ich meine Großteil, verwandte ich dazu, sie darauf hinzuweisen, wo und wie sie in ihrem Hauptbild in gewisse Schwierigkeiten geraten sei, besonders bei den Farben. Ich führte einige Künstlerutensilien auf, von denen ich annahm, dass sie ohne sie nicht auskäme, und fügte die ungefähren Ausgaben hinzu. Ich fragte sie, wer Douglas Bunting sei. Ich fragte sie, wo ich einige seiner Werke sehen könne. Ich fragte sie (und ich wusste, wie weit hergeholt das war), ob sie schon einmal Reproduktionen von Gemälden von Antonello da Messina gesehen habe. Ich bat sie, mir bitte zu sagen, wie alt sie sei, und versicherte ihr des Langen und Breiten, dass ich diese Information gegebenenfalls für mich behielte. Ich sagte, ich fragte sie lediglich deshalb, weil diese Information mir helfen würde, sie effizienter zu unterweisen. Praktisch im selben Atemzug fragte ich, ob es ihr gestattet sei, in ihrem Kloster Besucher zu empfangen.
Die letzten paar Zeilen (oder Kubikdezimeter) meines Briefs sollten, wie ich finde, hier wiedergegeben werden – Syntax, Interpunktion, alles.
… Im Übrigen hoffe ich, sollten Sie die französische Sprache beherrschen, dass Sie mich dies wissen lassen, da ich mich in dieser Sprache sehr präzise auszudrücken vermag, nachdem ich den größeren Teil meiner Jugend vornehmlich in Paris, Frankreich, verbracht habe.
Da Ihnen ganz offensichtlich am Herzen liegt, rennende Figuren zu zeichnen, um diese Technik Ihren Schülern im Kloster zu vermitteln, lege ich Ihnen einige Skizzen bei, die ich selbst gezeichnet habe und die Ihnen vielleicht nützlich sein werden. Sie werden sehen, dass ich sie sehr schnell gezeichnet habe und sie keineswegs perfekt oder auch nur sonderlich empfehlenswert sind, dennoch glaube ich, dass sie Ihnen rudimentär aufzeigen, woran Sie Interesse bekundet haben. Leider verfügt der Direktor der Schule hier, wie ich sehr fürchte, über keine systematische Unterrichtsmethode. Ich bin beglückt darüber, dass Sie schon so weit fortgeschritten sind, allerdings habe ich keine Ahnung, was ich seiner Erwartung nach mit meinen anderen Schülern anfangen soll, die meines Erachtens weit zurückgeblieben und vor allem dumm sind.
Leider bin ich Agnostiker, gleichwohl bin ich, mit einiger Distanz, ein großer Bewunderer Franz von Assisis, was sich ja von selbst versteht. Ob Sie wohl gründlich vertraut damit sind, was er (Franz von Assisi) sagte, als man im Begriff stand, ihm einen seiner Augäpfel mit einem rot glühenden, brennenden Eisen zu kauterisieren? Er sagte Folgendes: »Bruder Feuer, Gott hat dich schön und stark und nützlich gemacht; ich bitte dich, sei freundlich zu mir.«
Meiner Ansicht nach malen Sie in vieler Hinsicht wohltuend ein wenig so, wie er sprach. Darf ich Sie im Übrigen fragen, ob die Dame im Vordergrund mit dem blauen Gewand Maria Magdalena ist? Ich meine natürlich auf dem Bild, über das wir sprechen. Wenn nicht, dann habe ich mir leider etwas vorgemacht. Aber das ist ja nichts Neues.
Ich hoffe, Sie wissen mich gänzlich zu Ihrer Verfügung, solange Sie Schülerin bei Les Amis Des Vieux Maîtres sind. Offen gesagt glaube ich, dass Sie äußerst talentiert sind, und es würde mich auch nicht im Mindesten verblüffen, sollten Sie sich noch vor Ablauf mehrerer Jahre zu einem Genie entwickeln. Ich würde Sie darin nicht fälschlich ermutigen. Dies ist auch einer der Gründe, weswegen ich Sie fragte, ob die junge Dame im Vordergrund in dem blauen Gewand Maria Magdalena ist, denn wäre dem so, dann hätten Sie leider doch etwas mehr als Ihre religiösen Neigungen Ihr junges Genie eingesetzt. Das aber ist meiner Ansicht nach nichts, wovor Sie sich fürchten müssten.
In der aufrichtigen Hoffnung, dass Sie sich in bester Gesundheit befinden, verbleibe ich
mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr
(gezeichnet)
JEAN DE DAUMIER–SMITH
Dozent an
Les Amis Des Vieux Maîtres
PS: Beinahe hätte ich vergessen, dass die Schüler jeden zweiten Montag der Schule Umschläge vorlegen sollen. Wollen Sie als Ihre erste Aufgabe freundlicherweise einige Freiluftskizzen für mich anfertigen? Machen Sie sie ganz ungezwungen und überanstrengen Sie sich nicht damit. Natürlich ist mir nicht bekannt, wie viel Zeit man Ihnen im Kloster für Ihr privates Zeichnen einräumt, und ich hoffe, Sie setzen mich darüber in Kenntnis. Auch bitte ich Sie, die nötigen Artikel zu erwerben, die Ihnen zu empfehlen ich so frei war, da ich gern sähe, dass Sie so bald wie möglich mit Ölfarben begännen. Verzeihen Sie mir die Bemerkung, aber ich glaube, Sie sind zu leidenschaftlich, um auf ewige Zeiten lediglich mit Wasserfarben und nie mit Ol zu malen. Das ist ganz sachlich gemeint, und ich möchte keinesfalls abschätzig sein; es ist vielmehr als Kompliment gedacht. Bitte übersenden Sie mir auch alle Ihre früheren Arbeiten, die Sie zur Hand haben, da ich sie sehr gern sehen möchte. Die Tage bis zum Eintreffen Ihres nächsten Umschlags werden für mich unerträglich sein, aber das versteht sich von selbst.
Wenn ich damit nicht zu weit gehe, wäre ich überaus erfreut, falls Sie mir berichteten, ob Sie das Leben als Nonne, in spiritueller Hinsicht natürlich, sehr befriedigend finden. Offen gestanden habe ich, seit ich die Bände 36, 44 und 45 der Harvard Classics las, mit denen Sie vielleicht vertraut sind, als Hobby verschiedene Religionen studiert. Besonders begeistert hat mich Martin Luther, der natürlich Protestant war. Bitte nehmen Sie daran keinen Anstoß. Ich empfehle keine Doktrin; dies liegt nicht in meiner Natur. Noch ein letzter Gedanke: Bitte vergessen Sie nicht, mir Ihre Besuchszeiten mitzuteilen, da ich, soweit ich weiß, an den Wochenenden frei habe und zufälligerweise an einem Samstag in Ihrer Umgebung sein könnte. Bitte vergessen Sie auch nicht, mir mitzuteilen, ob Sie über eine ausreichende Beherrschung der französischen Sprache verfügen, da ich aufgrund meiner wechselnden und weitgehend unsensiblen Erziehung im Englischen vergleichsweise sprachlos bin.
Ich schickte den Brief und die Zeichnungen an Schwester Irma gegen halb vier morgens ab, ging dazu auf die Straße hinaus. Danach zog ich mich, buchstäblich überglücklich, mit dicken Fingern aus und fiel ins Bett.
Kurz vor dem Einschlafen drang erneut das Stöhngeräusch durch die Wand zum Schlafzimmer der Yoshotos. Ich malte mir aus, wie die beiden Yoshotos am Morgen zu mir kamen und mich baten, mich anflehten, mir ihr geheimes Problem bis zum letzten, schrecklichen Detail anzuhören. Ich sah schon genau, wie es sein würde. Ich würde mich zwischen sie an den Küchentisch setzen und ihnen beiden zuhören. Ich würde zuhören, zuhören, zuhören, den Kopf in den Händen – bis ich schließlich, außerstande, es noch länger zu ertragen, Mme. Yoshoto in den Hals greifen, ihr Herz herausziehen und es wie einen Vogel in der Hand wärmen würde. Dann, wenn alles wieder gut wäre, würde ich den Yoshotos Schwester Irmas Arbeiten zeigen, und sie würden meine Freude teilen.
Es wird einem immer viel zu spät klar, doch der ganz besondere Unterschied zwischen Glück und Freude ist, dass Glück ein fester und Freude ein flüssiger Stoff ist. Meine drang schon am folgenden Morgen durch ihren Behälter, als M. Yoshoto mit den Umschlägen von zwei neuen Schülern an meinen Schreibtisch kam. Ich arbeitete gerade an Bambi Kramers Zeichnungen, und das ganz melancholiefrei, da ich ja wusste, dass mein Brief an Schwester Irma sicher in der Post war. Doch war ich nicht einmal annähernd darauf vorbereitet, mich dem wunderlichen Umstand zu stellen, dass es auf der Welt zwei Menschen gab, die noch weniger Zeichentalent besaßen als Bambi oder R. Howard Ridgefield. Ich spürte, dass mich der Anstand verließ, und zündete mir zum ersten Mal, seit ich Teil des Lehrkörpers geworden war, im Unterrichtsraum eine Zigarette an. Das schien zu helfen, und ich wandte mich wieder Bambis Arbeit zu. Doch noch bevor ich drei, vier Züge getan hatte, spürte ich, ohne dabei auf– oder hinüberzublicken, dass M. Yoshoto mich ansah. Dann hörte ich, wie zur Bestätigung, dass sein Stuhl zurückgeschoben wurde. Wie immer erhob ich mich für ihn, als er kam. Er erklärte mir in einem blöden, aufreizenden Flüsterton, er selbst habe nichts gegen das Rauchen, aber leider beinhalteten die Schulvorschriften ein Rauchverbot im Unterrichtsraum. Er schnitt meine überschwänglichen Entschuldigungen mit einer großmütigen Handbewegung ab und ging zu seiner und Mme. Yoshotos Seite des Zimmers zurück. Wirklich panisch fragte ich mich, wie ich die folgenden dreizehn Tage bis zu dem Montag, an dem Schwester Irmas nächster Umschlag fällig war, überstehen sollte, ohne den Verstand zu verlieren.
Das war am Dienstagvormittag. Den Rest des Arbeitstages sowie alle Arbeitsabschnitte der nächsten beiden Tage verbrachte ich in fiebriger Betriebsamkeit. Ich nahm alle Zeichnungen Bambi Kramers und R. Howard Ridgefields gewissermaßen auseinander und fügte sie mit nagelneuen Teilen wieder zusammen. Ich entwarf für beide buchstäblich Dutzende beleidigender, blödsinniger, aber recht konstruktiver Zeichenübungen. Ich schrieb ihnen lange Briefe. R. Howard Ridgefield bettelte ich geradezu an, die Satire eine Weile sein zu lassen. Bambi bat ich mit höchstem Feingefühl, vorerst keine weiteren Zeichnungen mit Titeln im Stile von »Vergib ihnen ihre Schuld« einzureichen. Dann, es war Donnerstagnachmittag, ich fühlte mich gut, war aber schreckhaft, nahm ich mir einen der beiden neuen Schüler vor, einen Amerikaner aus Bangor, Maine, der in seinem Fragebogen mit wortreicher Ehrliche–Haut–Integrität sagte, sein Lieblingskünstler sei er selbst. Er bezeichnete sich als realistischen Abstraktionisten. Was nun meine Zeit nach der Schule betraf, so fuhr ich am Dienstagabend mit dem Bus nach Montreal hinein und durchstand das Programm einer Zeichentrick–Festivalwoche in einem drittklassigen Kino – was im Wesentlichen bedeutete, sich anzusehen, wie eine Reihe von Katzen nacheinander von Mäusebanden mit Sektkorken bombardiert wurden. Am Mittwochabend stapelte ich die drei Sitzkissen in meinem Zimmer aufeinander und bemühte mich, aus der Erinnerung Schwester Irmas Bild von Christi Begräbnis zu zeichnen.
Ich bin versucht zu sagen, dass der Donnerstagabend eigenartig war, vielleicht gar makaber, Tatsache ist aber, dass ich für Donnerstagabend keine den Ansprüchen genügenden Adjektive parat habe. Ich verließ Les Amis nach dem Abendessen und ging ich weiß nicht wohin – vielleicht ins Kino, vielleicht auch nur auf einen langen Spaziergang; ich weiß es nicht mehr, und ausgerechnet hier lässt mich auch mein Tagebuch von 1940 im Stich, denn die Seite, die ich benötige, ist vollkommen leer.
Immerhin weiß ich, warum die Seite leer ist. Als ich zurückkam, von wo auch immer ich den Abend verbracht hatte – und ich weiß, dass es da schon dunkel war –, blieb ich vor der Schule auf dem Trottoir stehen und schaute in das erleuchtete Schaufenster des Sanitätsgeschäfts. Dann geschah etwas absolut Grauenhaftes. Mir drängte sich der Gedanke auf, dass egal, wie gelassen, vernünftig oder schicklich ich eines Tages lernen würde, mein Leben zu führen, ich doch bestenfalls ein Besucher in einem Garten mit Emailurinalen und Bettpfannen wäre, und die blicklose hölzerne Schaufenstergottheit mit einem reduzierten Bruchband stünde daneben. Dieser Gedanke dürfte jedenfalls nicht länger als wenige Sekunden zu ertragen gewesen sein. Ich weiß noch, wie ich auf mein Zimmer floh, mich auszog und ins Bett legte, ohne mein Tagebuch auch nur zu öffnen, ganz zu schweigen davon, einen Eintrag zu machen.
Stundenlang lag ich zitternd wach. Ich horchte auf das Stöhnen aus dem Nachbarzimmer, und ich dachte eindringlich an meine Star-Schülerin. Ich versuchte, mir den Tag, an dem ich sie in ihrem Kloster besuchte, bildlich vorzustellen. Ich sah sie, wie sie mir entgegenkam – an einem hohen Drahtzaun ein schüchternes, schönes Mädchen von achtzehn Jahren, das noch nicht ihr endgültiges Gelübde abgelegt hatte und daher frei war, mit dem Mann ihrer Wahl, einem Peter-Abaelard-Typen, in die Welt hinauszugehen. Ich sah uns langsam, schweigend zu einem abgeschiedenen, grünen Teil des Klostergeländes gehen, wo ich ihr dann plötzlich und ohne Sünde den Arm um die Taille legte. Das Bild war zu ekstatisch, um es zu bewahren, daher ließ ich es schließlich fahren und schlief ein.
Am Freitag verbrachte ich den ganzen Vormittag und einen Großteil des Nachmittags hart arbeitend bei dem Versuch, aus einem Wald von Phallussymbolen, die der Mann aus Bangor, Maine, auf teures Leinenpapier gezeichnet hatte, mit aufgelegtem Pauspapier erkennbare Bäume zu machen. Geistig, seelisch und körperlich war ich schon gegen halb fünf ziemlich fertig, und als M. Yoshoto kurz zu mir an den Schreibtisch kam, erhob ich mich nur halb. Er reichte mir etwas – reichte es mir so unpersönlich, wie der Durchschnittskellner Speisekarten verteilt. Es war ein Brief von der Mutter Oberin von Schwester Irmas Kloster, in dem sie M. Yoshoto mitteilte, Pater Zimmermann habe sich durch Umstände, die außerhalb seines Einflusses lägen, gezwungen gesehen, seine Entscheidung, Schwester Irma ein Studium bei Les Amis Des Vieux Maîtres zu gestatten, zu ändern. Die Absenderin schrieb, sie bedauere jedwede Unannehmlichkeiten oder Unordnung, die diese Änderung der Pläne der Schule bereiten könne, zutiefst. Sie hoffe aufrichtig, dass die erste Unterrichtsgebühr von vierzehn Dollar der Diözese zurückerstattet würde.
Die Maus, dessen bin ich mir seit Jahren sicher, humpelt vom Schauplatz des brennenden Riesenrads mit einem nagelneuen, wasserdichten Plan, die Katze umzubringen, nach Hause. Nachdem ich den Brief der Mutter Oberin endlose, lange Minuten gelesen und wiedergelesen und dann darauf gestarrt hatte, riss ich mich jäh davon los und schrieb Briefe an meine vier verbliebenen Schüler, in denen ich ihnen riet, die Vorstellung, Künstler zu werden, aufzugeben. Ich schrieb ihnen jeweils einzeln, sie besäßen keinerlei Talent, das zu entwickeln sich lohne, und dass sie nur ihre eigene kostbare Zeit sowie die der Schule verschwendeten. Alle vier Briefe schrieb ich auf Französisch. Als ich damit fertig war, ging ich sogleich hinaus und warf sie ein. Die Befriedigung war kurzlebig, aber sehr, sehr gut, solange sie währte.
Als es Zeit wurde, mich zum Abendessen in den Marsch zur Küche einzureihen, bat ich, mich zu entschuldigen. Ich sagte, ich fühlte mich nicht wohl. (1940 log ich viel überzeugender, als dass ich die Wahrheit sagte – ich war mir daher sicher, dass M. Yoshoto mich argwöhnisch ansah, als ich sagte, ich fühlte mich nicht wohl.) Dann ging ich auf mein Zimmer und setzte mich auf ein Kissen. Dort saß ich bestimmt eine Stunde lang, starrte auf das vom Tag erhellte Loch in der Jalousie, ohne zu rauchen, die Jacke auszuziehen oder die Krawatte zu lockern. Dann erhob ich mich abrupt, holte eine große Menge meines privaten Briefpapiers und schrieb Schwester Irma einen zweiten Brief; als Schreibtisch benutzte ich den Fußboden.
Ich habe den Brief nie abgeschickt. Die folgende Wiedergabe ist direkt vom Original abgeschrieben.
Montreal, Kanada
28. Juni 1940
Liebe Schwester Irma,
habe ich in meinem letzten Brief an Sie unwillentlich etwas Abschätziges oder Respektloses gesagt, das die Aufmerksamkeit Pater Zimmermanns geweckt und Ihnen in irgendeiner Weise Unannehmlichkeiten bereitet hat? Sollte dies der Fall sein, so bitte ich Sie, mir wenigstens angemessen die Gelegenheit zu geben, das, was immer ich in dem Eifer, mit Ihnen Freundschaft zu schließen sowie Ihr Lehrer zu werden, unwillentlich gesagt haben mag, zurückzunehmen. Ist das zu viel verlangt? Ich glaube nicht.
Die nackte Wahrheit ist Folgendes: Wenn Sie nicht einige weitere Grundlagen dieses Berufs erlernen, werden Sie den Rest Ihres Lebens nur eine sehr, sehr interessante Künstlerin sein, statt eine große zu werden. Meiner Ansicht nach ist das schrecklich. Erkennen Sie den Ernst der Lage?
Es ist möglich, dass Pater Zimmermann Sie zur Aufgabe der Schule veranlasste, weil er glaubte, sie könne Sie darin beeinträchtigen, eine fähige Nonne zu werden. Sollte dies der Fall sein, kann ich nicht umhin zu sagen, dass ich dies in mehr als einer Hinsicht für sehr unbesonnen halte. Die Schule würde Sie nicht hindern, Nonne zu sein. Ich selbst lebe wie ein bösartiger Mönch. Das Schlimmste, was das Künstlerdasein Ihnen antun könnte, wäre, dass es Sie dauerhaft leicht unglücklich macht. Das aber ist meiner Ansicht nach keine tragische Situation. Der glücklichste Tag meines Lebens war vor vielen Jahren, als ich siebzehn war. Ich war auf dem Weg zum Mittagessen mit meiner Mutter, die zum ersten Mal nach langer Krankheit ausging, und ich war ekstatisch glücklich, als ich plötzlich, ich bog gerade in die Avenue Victor Hugo, das ist eine Straße in Paris, mit einem Mann zusammenstieß, der keine Nase hatte. Ich bitte Sie, diesen Faktor zu bedenken, ja, ich bitte Sie inständig. Er ist sehr bedeutungsträchtig.
Möglich wäre auch, dass Pater Zimmermann Sie veranlasste, die Immatrikulation zu annullieren, weil es Ihrem Kloster an den Mitteln fehlt, den Unterricht zu bezahlen. Ich hoffe aufrichtig, dass dies der Fall ist, nicht nur, weil es mich erleichterte, sondern auch in praktischer Hinsicht. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, bräuchten Sie es nur zu sagen, und ich würde Ihnen meine Dienste auf unbestimmte Zeit gratis anbieten. Können wir diese Angelegenheit weiter besprechen? Darf ich Sie erneut fragen, wann Ihre Besuchstage im Kloster sind? Darf ich so frei sein, einen Besuch bei Ihnen im Kloster am kommenden Samstagnachmittag, dem 6. Juli, zwischen 15.00 und 17.00 Uhr einzuplanen, je nach Fahrplan der Züge zwischen Montreal und Toronto? Ich sehe Ihrer Antwort mit großer Ungeduld entgegen.
Mit Hochachtung und Bewunderung und freundlichen Grüßen
(gezeichnet)
Jean de Daumier–Smith
Dozent an
Les Amis Des Vieux Maîtres
PS: In meinem letzten Brief fragte ich Sie beiläufig, ob die junge Dame in dem blauen Gewand im Vordergrund auf Ihrem religiösen Bild Maria Magdalena die Sünderin ist. Sollten Sie bisher nicht auf meinen Brief geantwortet haben, sehen Sie bitte auch weiterhin davon ab. Es ist möglich, dass ich mich geirrt habe, und zum jetzigen Zeitpunkt meines Lebens fordere ich nicht mutwillig Desillusionen heraus. Ich bin gewillt, im Ungewissen bleiben.
Selbst heute, noch jetzt, neige ich dazu, bei der Erinnerung daran, dass ich zu Les Amis einen Smoking mitgebracht hatte, das Gesicht zu verziehen. Aber ich brachte eben einen mit, und nachdem ich meinen Brief an Schwester Irma beendet hatte, zog ich ihn an. Die ganze Angelegenheit schien danach zu schreien, dass ich mich betrank, und da ich in meinem Leben noch nie betrunken gewesen war (aus Angst, dass übermäßiges Trinken die Hand, die die Bilder malte, die die drei ersten Preise geschnappt hatten, zum Zittern brachte usw.), fühlte ich mich genötigt, mich diesem tragischen Anlass entsprechend zu kleiden.
Die Yoshotos waren noch in der Küche, als ich nach unten schlich und im Windsor Hotel anrief – Bobbys Freundin, Mrs X, hatte es mir vor meiner Abreise aus New York empfohlen. Ich reservierte einen Tisch für eine Person, acht Uhr.
Gegen halb acht streckte ich, geschniegelt und gestriegelt, den Kopf aus meinem Zimmer, um zu sehen, ob einer der Yoshotos herumgeisterte. Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass sie mich in meiner Smokingjacke erblickten. Sie waren nicht zu sehen, und so eilte ich hinunter auf die Straße und hielt nach einem Taxi Ausschau. Mein Brief an Schwester Irma steckte in der Innenseite der Jacke. Ich beabsichtigte, ihn beim Essen noch einmal durchzulesen, vorzugsweise bei Kerzenlicht.
Ich ging Straße um Straße, ohne auch nur ein Taxi zu sehen, schon gar kein leeres. Es war eine Schinderei. Der Montrealer Stadtteil Verdun war in keiner Hinsicht ein schmuckes Viertel, und ich war überzeugt, dass jeder Passant mir einen zweiten, im Grunde kritischen Blick zuwarf. Als ich endlich an dem Imbisslokal anlangte, wo ich am Montag die »Coney Island Red-Hots« verschlungen hatte, beschloss ich, meine Reservierung im Hotel Windsor schießen zu lassen. Ich ging in das Lokal, setzte mich in eine hintere Nische und bestellte, während ich die linke Hand über meine schwarze Fliege hielt, Suppe, Brötchen und schwarzen Kaffee. Ich hoffte, die anderen Gäste hielten mich für einen Kellner auf dem Weg zur Arbeit.
Als ich bei meiner zweiten Tasse Kaffee saß, zog ich den nicht abgeschickten Brief an Schwester Irma hervor und las ihn noch einmal. Der Inhalt erschien mir ein bisschen dünn, und ich beschloss, zu Les Amis zurückzulaufen und den Brief ein wenig aufzupeppen. Auch grübelte ich über meine Pläne, Schwester Irma zu besuchen, und überlegte, ob es nicht gut wäre, meine Zugreservierungen noch am selben Abend abzuholen. Diese beiden Gedanken im Kopf – weder der eine noch der andere gaben mir den Auftrieb, den ich brauchte –, verließ ich das Imbisslokal und ging eilig zur Schule zurück.
Ungefähr eine Viertelstunde später widerfuhr mir etwas extrem Ungewöhnliches. Eine Aussage, die, wie mir wohl bewusst ist, all die unerfreulichen Kennzeichen einer Zuspitzung besitzt, doch genau das Gegenteil ist der Fall. Ich bin im Begriff, eine außerordentliche Erfahrung anzusprechen, eine Erfahrung, die mir noch heute als durchaus transzendent erscheint, und ich möchte nach Möglichkeit gern den Eindruck vermeiden, ich gäbe sie als einen Fall oder auch nur Grenzfall von echtem Mystizismus aus. (Alles andere wäre, meine ich, gleichbedeutend mit der Andeutung oder Behauptung, der Unterschied von spirituellen sorties beim heiligen Franz und dem durchschnittlich überdrehten Sonntags–Aussätzigenküsser sei nur vertikal.)
In der Neun-Uhr-Dämmerung brannte, als ich mich dem Schulgebäude von der anderen Straßenseite her näherte, im Sanitätsgeschäft Licht. Zu meiner Verblüffung sah ich in der Auslage einen lebenden Menschen, eine stramme Frau von ungefähr dreißig in einem grünen, gelben und lavendelblauen Chiffonkleid. Sie wechselte an der hölzernen Schaufensterpuppe das Bruchband aus. Als ich herantrat, hatte die Frau offensichtlich gerade erst das alte Bruchband abgenommen; es steckte unter ihrem linken Arm (mir war ihr rechtes »Profil« zugekehrt), und sie war nun im Begriff, das neue an der Puppe festzuschnüren. Fasziniert sah ich ihr dabei zu, bis sie jäh spürte und dann sah, dass sie beobachtet wurde. Rasch lächelte ich – um ihr zu zeigen, dass das in dem Smoking im Dämmerlicht auf der anderen Seite der Scheibe eine nichtfeindliche Gestalt war –, doch es half nichts. Die Verwirrung der Frau überstieg jedes normale Maß. Sie errötete, sie ließ das abgenommene Bruchband fallen, sie machte einen Schritt zurück in einen Stapel Spülschalen – und dann knickten die Füße unter ihr weg. Sogleich wollte ich nach ihr greifen und prallte mit den Fingerspitzen gegen das Glas. Sie landete hart auf dem Hintern, wie eine Schlittschuhläuferin. Sofort stand sie wieder auf, ohne mich anzusehen. Das Gesicht noch gerötet, schob sie sich mit einer Hand die Haare zurück und machte sich wieder daran, das Bruchband an der Schaufensterpuppe zu verschnüren. Und genau da hatte ich dann meine Erfahrung. Plötzlich (und ich sage dies mit aller gebührenden Verlegenheit) ging die Sonne auf und schoss mit einer Geschwindigkeit von hundertneunundvierzig Millionen Sekundenkilometern auf meinen Nasenrücken zu. Geblendet und sehr verängstigt – musste ich die Hand an die Scheibe legen, um das Gleichgewicht zu halten. Die Sache dauerte nicht länger als ein paar Sekunden. Als ich wieder sehen konnte, war die Frau aus dem Fenster verschwunden und hatte ein schimmerndes Feld herrlicher, doppelt gesegneter Emailblumen zurückgelassen.
Ich trat vom Fenster zurück und ging zweimal um den Block, bis meine Knie nicht mehr zitterten. Dann, ohne einen weiteren Blick in das Schaufenster zu wagen, ging ich zu meinem Zimmer hinauf und legte mich aufs Bett. Einige Minuten oder Stunden später machte ich, auf Französisch, den folgenden kurzen Eintrag in mein Tagebuch: »Ich gebe Schwester Irma die Freiheit, ihrer eigenen Bestimmung zu folgen. Jeder ist eine Nonne.« (Tout le monde est une nonne.)
Bevor ich mich zur Nacht schlafen legte, schrieb ich Briefe an meine frisch relegierten Schüler und nahm sie wieder auf. Ich schrieb, in der Schulverwaltung sei ein Fehler passiert. Überhaupt schienen die Briefe sich von allein zu schreiben. Das mochte etwas damit zu tun gehabt haben, dass ich, bevor ich mich zum Schreiben hinsetzte, von unten einen Stuhl heraufgeholt hatte.
Die Erwähnung scheint ein absoluter Antiklimax zu sein, aber keine Woche später schloss Les Amis Des Vieux Maîtres, weil die Schule unkorrekt angemeldet war (vielmehr weil sie überhaupt nicht angemeldet war). Ich packte meine Sachen und traf mich mit Bobby, meinem Stiefvater, in Rhode Island, wo ich die folgenden sechs oder acht Wochen verbrachte, bis die Kunstschule wieder aufmachte, und wo ich das interessanteste aller sommeraktiven Tiere erforschte, das amerikanische Mädchen in Shorts.
Wie auch immer, mit Schwester Irma hatte ich nie wieder Kontakt.
Allerdings höre ich gelegentlich noch von Bambi Kramer. Als Letztes habe ich von ihr gehört, dass sie dazu übergangen ist, ihre eigenen Weihnachtskarten zu entwerfen. Die werden sich sehen lassen können, wenn sie ihr Händchen nicht verloren hat.
TEDDY
»Ich mach dir gleich einen herrlichen Tag, Freundchen, wenn du nicht auf der Stelle von der Tasche runtergehst. Ganz im Ernst«, sagte Mr McArdle. Er sagte dies auf dem inneren Einzelbett – dem vom Bullauge weiter entfernten. Heftig und mehr mit einem Wimmern als einem Seufzer stieß er das obere Laken von den Knöcheln, als wäre plötzlich jede Bedeckung zu viel für seinen sonnenverbrannten, kraftlos wirkenden Körper. Er lag auf dem Rücken, nur in der Schlafanzughose, in der rechten Hand eine brennende Zigarette. Sein Kopf war gerade genügend abgestützt, um unbequem, beinahe masochistisch am unteren Ende des Kopfbretts zu ruhen. Kissen und Aschenbecher waren beide auf dem Fußboden, zwischen seinem und Mrs McArdles Bett. Ohne sich aufzurichten, streckte er den nackten, rot entzündeten rechten Arm aus und schnippte die Asche ungefähr in die Richtung des Nachttischs. »Oktober, Herrgott«, sagte er. »Wenn das Oktoberwetter ist, dann hätte ich gern August.« Wieder drehte er den Kopf nach rechts, zu Teddy hin, auf Streit aus. »Komm jetzt«, sagte er. »Was glaubst du denn, wozu ich rede? Wegen meiner Gesundheit? Geh doch bitte da runter.«
Teddy stand auf dem breiten Teil einer neuen rindledernen Reisetasche, um besser aus dem offenen Bullauge seiner Eltern sehen zu können. Er trug äußerst schmutzige knöchelhohe Turnschuhe, keine Socken, Seersucker-Shorts, die ihm sowohl zu lang wie auch am Hosenboden eine Nummer zu weit waren, ein verwaschenes T-Shirt, das an der rechten Schulter ein Loch von der Größe eines Zehncentstücks hatte, sowie einen unpassend hübschen schwarzen Krokogürtel. Er musste sich mal wieder die Haare schneiden lassen – besonders im Nacken –, und zwar dringend, wie es nur bei einem kleinen Jungen mit beinahe ausgewachsenem Kopf und schilfrohrdünnem Hals der Fall ist.
»Teddy, hast du mich gehört?«
Teddy lehnte sich nicht ganz so weit oder so gefährlich aus dem Bullauge, wie kleine Jungen sich gern aus offenen Bullaugen lehnen – tatsächlich stand er mit beiden Füßen fest auf der Reisetasche –, aber einfach achtsam vorgeneigt war er auch nicht; sein Gesicht war erheblich mehr außerhalb als innerhalb der Kabine. Nichtsdestoweniger war er durchaus in Hörweite der Stimme seines Vaters – das heißt, ganz besonders der seines Vaters. Mr McArdle spielte, wenn er in New York war, die Hauptrolle in nicht weniger als drei Radioserien, und er hatte das, was man die drittklassige Sprechstimme einer männlichen Hauptrolle nennt: narzisstisch tief, dröhnend und funktionell bereit, jederzeit männlicher zu klingen als alle anderen im Raum, wenn nötig sogar als kleine Jungen. Erholte die Stimme sich von ihrer beruflichen Beanspruchung, verliebte sie sich wechselweise in schiere Lautstärke oder eine theatralische Variante von Gelassenheit-Festigkeit. Im Augenblick war Lautstärke dran.
»Teddy. Verdammt noch mal – hast du mich gehört?«
Teddy drehte sich in der Hüfte, ohne die wachsame Position seiner Füße auf der Reisetasche zu ändern, und bedachte seinen Vater mit einem fragenden Blick voll offener Reinheit. Seine Augen, die von blassbrauner Farbe waren und keineswegs groß, schielten leicht – das linke mehr als das rechte. Sie schielten aber nicht so, dass es entstellend wirkte oder dass man es gleich auf den ersten Blick sah. Sie schielten gerade nur so viel, dass es erwähnt wurde, und nur sofern man eventuell lange und ernsthaft nachgedacht hatte, bevor man sich wünschte, sie wären gerader, tiefer, brauner oder stünden weiter auseinander. Teddys Gesicht, so wie es war, hatte die Wirkung, wenn auch indirekt und nur langsam sich vermittelnd, wahrer Schönheit.
»Ich möchte, dass du von dieser Tasche runtergehst, sofort. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«, sagte Mr McArdle.
»Bleib nur da, wo du bist, mein Schatz«, sagte Mrs McArdle, die frühmorgens offenbar leichte Probleme mit den Stirnhöhlen hatte. Sie hatte die Augen offen, aber nur so gerade. »Rühr dich nicht mal den winzigsten Teil eines Zentimeters.«
Sie lag auf der rechten Seite, das Gesicht auf dem Kissen nach links zu Teddy und dem Bullauge gedreht, den Rücken ihrem Mann zugekehrt. Ihr Oberlaken war fest über ihren sehr wahrscheinlich nackten Körper gezogen und hüllte sie samt Armen und allem bis zum Kinn ein. »Spring rauf und runter«, sagte sie und schloss die Augen. »Zertrampel Papas Tasche.«
»Das ist ja eine jesusherrliche Aussage«, sagte Mr McArdle gelassen-unbewegt an den Hinterkopf seiner Frau gewandt. »Ich bezahle zweiundzwanzig Pfund für eine Tasche, und ich bitte den Jungen höflich, sich nicht daraufzustellen, und du sagst ihm, er soll rauf- und runterspringen. Was soll das denn sein? Witzig?«
»Wenn diese Tasche keinen zehnjährigen Jungen aushält, der für sein Alter sechs Kilo zu wenig hat, dann will ich sie nicht in meiner Kabine«, sagte Mrs McArdle, ohne die Augen zu öffnen.
»Weißt du, was ich gern mal täte?«, sagte Mr McArdle. Ich würde dir gern mal ein Loch in deinen verdammten Kopf treten.«
»Dann tu’s doch.«
Mr McArdle stützte sich abrupt auf einen Ellbogen und drückte die Zigarette auf der Glasplatte des Nachttischens aus. »Irgendwann mal –«, begann er grimmig.
»Irgendwann mal hast du einen tragischen, tragischen Herzinfarkt«, sagte Mrs McArdle mit einem Minimum an Kraftaufwand. Ohne die Arme ins Freie zu stecken, zog er sich das Oberlaken noch fester um und unter den Körper. »Dann gibt es eine kleine, geschmackvolle Beerdigung, und alle fragen, wer diese attraktive Frau in dem roten Kleid ist, die da in der ersten Reihe sitzt, mit dem Organisten flirtet und einen heiligen –«
»Du bist so verdammt witzig, das ist schon gar nicht mehr witzig«, sagte Mr McArdle; er lag wieder reglos auf em Rücken.
Während dieses kleinen Wortwechsels hatte Teddy sich umgewandt und schaute nun wieder aus dem Bullauge. Heute Morgen um drei Uhr zweiunddreißig haben wir die Queen Mary passiert, sie ist in die Gegenrichtung gefahren, falls das jemanden interessiert«, sagte er langsam. »Was ich bezweifle.«
Seine Stimme war merkwürdig und wunderschön rau, wie es die Stimme von manchen kleinen Jungen ist. Jede seiner Formulierungen war wie in uraltes Inselchen, das von einem winzigen Whiskeymeer umspült wird. »Dieser Decksteward, den Booper nicht ausstehen kann, hatte es auf seine Tafel geschrieben.«
»Ich geb dir gleich eine Queen Mary, wenn du nicht augenblicklich von dieser Tasche runtergehst«, sagte sein Vater. Er drehte den Kopf zu Teddy. »Geh jetzt da runter. Lass dir mal lieber die Haare schneiden oder so was.«
Wieder schaute er auf den Hinterkopf seiner Frau. »Er sieht so altklug aus, Herrgott.«
»Ich habe aber kein Geld«, sagte Teddy. Er legte die Hände fester auf den Sims des Bullauges und senkte das Kinn auf die Fingerrücken. »Mutter. Der Mann, der im Speisesaal direkt neben uns sitzt, weißt du? Nicht der ganz dünne. Der andere, am selben Tisch. Genau da, wo unser Kellner immer sein Tablett abstellt.«
»Mmhm«, sagte Mrs McArdle. »Teddy. Mein Schatz. Lass Mutter nur noch fünf Minuten schlafen, sei ein lieber Junge.«
»Warte doch mal. Das ist ganz interessant«, sagte Teddy, ohne das Kinn von seiner Unterlage zu heben und den Blick vom Ozean zu wenden. »Der war kürzlich einmal im Sportraum, als Sven mich gewogen hat. Er kam zu mir und sprach mich an. Er hatte das letzte Band gehört, das ich gemacht habe. Nicht das im April. Das im Mai. Kurz bevor er nach Europa gefahren ist, war er auf einer Party in Boston, und jemand auf der Party kannte jemanden in der Leidekker-Prüfungsgruppe – wen, hat er nicht gesagt –, und die hatten sich das letzte Band, das ich gemacht habe, geliehen und auf der Party gespielt. Anscheinend hat er großes Interesse daran. Er ist ein Freund von Professor Babcock. Anscheinend ist er auch selbst Lehrer. Er sagte, er war den ganzen Sommer am Trinity College in Dublin.«
»Ach?«, sagte Mrs McArdle. »Auf einer Party haben sie es gespielt?«
Sie lag da und stierte schläfrig auf die Rückseite von Teddys Beinen.
»Ich glaube schon«, sagte Teddy. »Er hat Sven eine ganze Menge über mich erzählt, und ich habe direkt daneben gestanden. Es war ziemlich peinlich.«
»Warum war das denn peinlich?«
Teddy zögerte. »Ich sagte ›ziemlich‹ peinlich. Ich habe es modifiziert.«
»Ich modifiziere dich gleich, Freundchen, wenn du nicht auf der Stelle von dieser Tasche runtergehst«, sagte Mr McArdle. Er hatte sich gerade wieder eine Zigarette angezündet. »Ich zähle jetzt bis drei. Eins, verdammt noch mal … Zwei …«
»Wie spät ist es?«, fragte Mrs McArdle plötzlich die Rückseite von Teddys Beinen. »Haben du und Booper nicht um halb elf Schwimmunterricht?«
»Es ist noch Zeit«, sagte Teddy. »… Wumm!«
Unvermittelt streckte er den ganzen Kopf aus dem Bullauge, ließ ihn einige Sekunden draußen und zog ihn dann lange genug herein, um zu berichten: »Gerade hat jemand einen Mülleimer voller Orangenschalen aus dem Fenster gekippt.«
»Aus dem Fenster. Aus dem Fenster«, sagte Mr McArdle sarkastisch und schnippte seine Asche weg. »Aus dem Bullauge, Freundchen, aus dem Bullauge.«
Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. »Ruf mal Boston an. Schnell, lass dir die Leidekker-Prüfungsgruppe geben.«
»Ach, du bist ja so brillant und geistreich«, sagte Mrs McArdle. »Warum versuchst du es nicht?«
Teddy zog den Kopf größtenteils herein. »Die schwimmen ganz hübsch«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Das ist interessant.«
»Teddy. Zum letzten Mal. Ich zähle bis drei, und dann …«
»Ich meine nicht, dass es interessant ist, dass sie schwimmen«, sagte Teddy »Interessant ist, dass ich weiß, dass sie da sind. Wenn ich sie nicht gesehen hätte, wüsste ich nicht, dass sie da sind, und wenn ich nicht wüsste, dass sie da sind, könnte ich nicht einmal sagen, dass es sie gibt. Das ist ein sehr hübsches, ideales Beispiel für die Art und Weise –«
»Teddy«, unterbrach ihn Mrs McArdle, ohne sich unter ihrem Oberlaken sichtbar zu regen. »Such doch mal Booper. Wo ist sie? Bei ihrem Sonnenbrand möchte ich nicht, dass sie heute in der Sonne herumlümmelt.«
»Sie ist ausreichend bedeckt. Ich habe ihr gesagt, sie soll ihre Latzhose anziehen«, sagte Teddy. »Einige versinken jetzt schon. In ein paar Minuten schwimmen sie dann nur noch in meinem Kopf. Das ist ganz interessant, denn wenn man es auf eine bestimmte Art und Weise betrachtet, haben sie überhaupt erst dort angefangen zu schwimmen. Wenn ich hier gar nicht gestanden hätte oder wenn jemand dahergekommen und mir irgendwie den Kopf abgeschlagen hätte, während ich –«
»Wo ist sie jetzt?«, fragte Mrs McArdle. »Sieh deine Mutter doch einmal an, Teddy.«
Teddy drehte den Kopf zu seiner Mutter. »Was?«, sagte er.
»Wo ist Booper jetzt? Ich möchte nicht, dass sie wieder um die ganzen Liegestühle herumstreicht und die Leute belästigt. Wenn dieser schreckliche Mann –«
»Das geht schon klar mit ihr. Ich habe ihr die Kamera gegeben.«
Mr McArdle stemmte sich auf einem Arm hoch. »Du hast ihr die Kamera gegeben!«, sagte er. »Was soll das denn? Meine verdammte Leica! Ich lasse doch keine Sechsjährige überall damit herumzigeu–«
»Ich habe ihr gezeigt, wie sie sie halten soll, damit sie sie nicht fallen lässt«, sagte Teddy. »Und natürlich habe ich auch den Film herausgenommen.«
»Ich will die Kamera, Teddy. Hörst du? Ich möchte, dass du jetzt augenblicklich von der Tasche steigst, und ich möchte, dass die Kamera in fünf Minuten wieder in diesem Zimmer ist – sonst ist unter den Vermissten ein kleines Genie. Ist das klar?«
Teddy drehte die Füße auf der Reisetasche um und stieg herab. Er beugte sich vor und band sich den Schnürsenkel seines linken Turnschuhs zu, wobei ihm sein Vater, der sich noch immer auf den Ellbogen stützte, wie ein Aufsichtslehrer zusah.
»Sag Booper, sie soll herkommen«, sagte Mrs McArdle. »Und gib Mutter einen Kuss.«
Nachdem Teddy den Turnschuh zugebunden hatte, gab er seiner Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Sie wiederum zog den linken Arm gekrümmt unterm Laken hervor, wie um damit unbedingt Teddys Taille zu umfassen, doch als sie den Arm dann draußen hatte, war Teddy schon woanders. Er war auf der anderen Seite herumgegangen und hatte den Raum zwischen den beiden Betten betreten. Er bückte sich und richtete sich wieder auf, unterm linken Arm das Kissen seines Vaters und in der rechten Hand den Glasaschenbecher, der auf den Nachttisch gehörte. Er nahm den Aschenbecher nun in die linke Hand, ging zum Nachttisch und wischte mit der Kante der rechten Stummel und Asche der Zigarette seines Vaters hinein. Dann, bevor er den Aschenbecher wieder dahin stellte, wo er hingehörte, wischte er mit der Unterseite des Unterarms die flockigen Ascherückstände von der Glasplatte des Tischs. Den Unterarm wiederum wischte er an seinen Seersucker–Shorts ab. Dann stellte er mit ungeheurer Sorgfalt, als glaubte er, der Aschenbecher sollte exakt in die Mitte eines Nachttischs gestellt werden oder gar nicht, den Aschenbecher auf die Glasplatte. In dem Augenblick hörte sein Vater, der ihn dabei beobachtete, abrupt auf, ihn zu beobachten. »Willst du denn nicht dein Kissen?«, fragte Teddy ihn.
»Ich will die Kamera, junger Mann.«
»Diese Haltung ist doch nicht bequem. Das ist gar nicht möglich«, sagte Teddy. »Ich lasse es dir hier liegen.« Er legte das Kissen ans Fußende des Bettes, in einiger Entfernung von den Füßen seines Vaters. Er schickte sich an, die Kabine zu verlassen.
»Teddy«, sagte seine Mutter, ohne sich umzudrehen. »Sag Booper, ich möchte sie noch vor der Schwimmstunde sprechen.«
»Lass die Kleine doch mal in Ruhe«, sagte Mr McArdle. »Anscheinend passt es dir nicht, dass sie mal ein paar lausige Minuten Freiheit hat. Weißt du, wie du sie behandelst? Ich sage dir mal genau, wie du sie behandelst. Du behandelst sie wie eine verflixte Kriminelle.«
»Verflixt! Ach, das ist ja süß! Du wirst ja richtig englisch, mein Liebster.«
Teddy verharrte einen Augenblick in der Tür, probierte sinnierend an dem Türknopf herum, drehte ihn langsam nach rechts und links. »Wenn ich durch diese Tür gegangen bin, könnte ich bei allen meinen Bekannten nur noch im Kopf existieren«, sagte er. »Ich könnte auch eine Orangenschale sein.«
»Was, mein Schatz?«, fragte Mrs McArdle, die noch immer auf der rechten Seite lag, vom anderen Ende der Kabine.
»Nun mach mal voran, Freundchen. Bring mir die Leica.«
»Komm, gib deiner Mutter einen Kuss. Einen schönen großen.«
»Jetzt nicht«, sagte Teddy geistesabwesend. »Ich bin müde.«
Er schloss die Tür hinter sich.
Die Tageszeitung des Schiffs lag unmittelbar hinter der Türschwelle. Sie war ein einzelnes Hochglanzblatt, das nur auf einer Seite bedruckt war. Teddy hob sie auf und las sie, während er langsam den langen Korridor Richtung Heck ging. Vom anderen Ende kam ihm eine mächtige blonde Frau in einer gestärkten weißen Uniform entgegen, sie trug eine Vase mit langstieligen roten Rosen. Als sie an Teddy vorbeiging, streckte sie die linke Hand aus, strich ihm damit über den Kopf und sagte: »Da muss sich jemand mal wieder die Haare schneiden lassen!« Teddy blickte teilnahmslos von seiner Zeitung auf, doch da war die Frau schon vorbei, und er drehte sich nicht nach ihr um. Er las weiter. Am Ende des Ganges, vor einem riesigen Wandgemälde vom heiligen Georg mit dem Drachen über dem Treppenabsatz, faltete er die Schiffszeitung zweimal zusammen und steckte sie in die linke Gesäßtasche. Dann stieg er die breiten, flachen teppichbedeckten Stufen zum Hauptdeck, eine Treppe höher, hinauf. Er nahm zwei Stufen auf einmal, allerdings langsam, hielt sich dabei am Geländer fest und legte den ganzen Körper hinein, als wäre das Ersteigen einer Treppe für ihn, wie für viele Kinder, ein mäßig angenehmer Selbstzweck. Auf dem Absatz des Hauptdecks ging er direkt zum Tresen des Zahlmeisters, wo gerade eine gut aussehende junge Frau in Marineuniform Dienst tat. Sie war dabei, einige vervielfältigte Papierbögen zusammenzuheften.
»Könnten Sie mir bitte sagen, wann das Spiel heute beginnt?«, fragte Teddy sie.
»Wie bitte?«
»Könnten Sie mir sagen, wann das Spiel heute beginnt?«
Die junge Frau lächelte ihn lippenstiftig an. »Welches Spiel denn, Kleiner?«, fragte sie.
»Sie wissen schon. Dieses Wörterspiel, das gestern und vorgestern lief, wo man die fehlenden Wörter einsetzen soll. Es geht vor allem darum, dass man alles in einen Zusammenhang stellen muss.«
Die Frau war im Begriff, drei Blatt Papier zwischen die Ebenen ihres Hefters zu stecken, hielt damit aber inne. »Ach«, sagte sie. »Erst am Spätnachmittag, glaube ich. Ich glaube, gegen vier Uhr. Aber ist das nicht ein bisschen zu hoch für dich?«
»Nein … Danke«, sagte Teddy und wandte sich zum Gehen.
»Moment noch, Kleiner! Wie heißt du denn?«
»Theodore McArdle«, sagte Teddy. »Und Sie?«
»Ich?«, sagte die Frau und lächelte. »Ich heiße Ensign Mathewson.«
Teddy sah zu, wie sie ihren Hefter zusammendrückte. »Dass Sie Ensign sind, wusste ich«, sagte er. »Ich weiß nicht genau, aber ich glaube, wenn jemand einen fragt, wie er heißt, sagt man doch den vollständigen Namen. Jane Mathewson oder Phyllis Mathewson oder was er eben ist.«
»Ach, wirklich?«
»Wie gesagt, ich glaube es«, sagte Teddy. »Aber sicher bin ich mir nicht. Es könnte anders sein, wenn man in Uniform ist. Jedenfalls danke für die Information. Auf Wiedersehen!«
Er wandte sich um und ging die Treppe zum Promenadendeck hinauf, wieder zwei Stufen auf einmal, diesmal aber schien er es ziemlich eilig zu haben.
Nach intensiver Suche entdeckte er Booper ganz oben auf dem Sportdeck. Sie war in einer sonnigen Schneise – beinahe einer Lichtung – zwischen zwei Decktennisplätzen, auf denen nicht gespielt wurde. In der Hocke, die Sonne im Rücken, die seidigen, blonden Haare von einer leichten Brise gekräuselt, häufte sie geschäftig zwölf oder vierzehn Shuffleboard-Scheiben zu zwei einander berührenden Stapeln auf, einen mit den schwarzen, einen mit den roten Scheiben. Dicht dabei, rechts von ihr und nur in der Rolle des Beobachters, stand ein sehr kleiner Junge in einem kurzärmeligen Baumwoll-Spielanzug. »Sieh mal!«, sagte Booper gebieterisch zu ihrem Bruder, als der näher kam. Sie beugte sich vor und umschloss die beiden Stapel Shuffleboardscheiben mit den Armen, um ihr Werk herauszustellen und es von allem anderen, was es sonst noch an Bord gab, abzugrenzen. »Myron«, sagte sie feindselig zu ihrem Kameraden, »du machst alles schattig, sodass mein Bruder es nicht sehen kann. Beweg deinen Hintern.«
Sie schloss die Augen und wartete mit einer gottergebenen Grimasse, bis Myron zur Seite gerückt war.
Teddy stand vor den beiden Scheibenstapeln und blickte prüfend auf sie hinab. »Das ist sehr hübsch«, sagte er. »Sehr symmetrisch.«
»Der da«, sagte Booper und zeigte dabei auf Myron, »hat noch nie was von Backgammon gehört. Die haben nicht mal eins.«
Teddy warf einen kurzen, sachlichen Blick auf Myron. »Hör mal«, sagte er zu Booper. »Wo ist die Kamera? Papa will sie sofort wiederhaben.«
»Der wohnt auch gar nicht in New York«, teilte Booper Teddy mit. »Und sein Vater ist tot. Er ist in Korea gefallen.« Sie wandte sich an Myron. »Stimmt doch, oder?«, fragte sie fordernd, ohne jedoch auf eine Antwort zu warten. »Und wenn jetzt noch seine Mutter stirbt, ist er eine Waise. Nicht einmal das hat er gewusst.«
Sie sah Myron an. »Oder?«
Myron verschränkte zurückhaltend die Arme.
»Du bist der dümmste Mensch, der mir jemals begegnet ist«, sagte Booper zu ihm. »Du bist der dümmste Mensch auf diesem Ozean. Hast du das gewusst?«
»Das ist er nicht«, sagte Teddy. »Das bist du nicht, Myron.« Zu seiner Schwester sagte er: »Schenk mir doch mal kurz deine Aufmerksamkeit. Wo ist die Kamera? Ich muss sie sofort haben. Wo ist sie?«
»Da drüben«, sagte Booper und zeigte in überhaupt keine Richtung. Sie schob ihre beiden Stapel mit den Shuffleboard-Scheiben näher zu sich heran. »Jetzt brauche ich nur noch zwei Riesen«, sagte sie. »Die könnten dann Backgammon spielen, bis sie ganz müde sind, und dann könnten sie auf den großen Schornstein klettern und die auf alle runterschmeißen und sie töten.« Sie sah Myron an. »Die könnten auch deine Eltern töten«, sagte sie bestimmt zu ihm. »Und wenn sie das nicht tötet, weißt du, was du dann noch tun könntest? Du könntest auf Marshmallows Gift tun und sie ihnen zu essen geben.«
Die Leica lag ungefähr drei Meter entfernt an dem weißen Geländer, das das Sportdeck umgab. Sie lag auf der Seite in der Abflussrinne. Teddy ging hin, hob sie am Gurt auf und hängte sie sich um den Hals. Sogleich nahm er sie aber wieder ab. Er ging damit zu Booper. »Booper, tu mir einen Gefallen. Bring sie bitte runter«, sagte er. »Es ist zehn Uhr. Ich muss in mein Tagebuch schreiben.«
»Ich hab keine Zeit.«
»Mutter will dich sowieso gleich sprechen«, sagte Teddy.
»Du lügst.«
»Ich lüge nicht. Sondern sie«, sagte Teddy. »Also nimm die bitte mit, wenn du gehst … Komm schon, Booper.«
»Weshalb will sie mich denn sprechen?«, fragte Booper fordernd. »Ich will aber nicht mit ihr sprechen.« Unvermittelt schlug sie Myron, der im Begriff war, die oberste Shuffleboard-Scheibe von dem roten Stapel zu nehmen, af die Hand. »Finger weg«, sagte sie.
Teddy hängte ihr den Gurt, an dem die Leica hing, um den Hals. »Ganz im Ernst jetzt. Bring sie sofort zu Papa, und wir sehen uns dann später am Pool«, sagte er. »Um halb elf treffen wir uns am Pool. Oder auch gleich davor, wo man sich umkleidet. Sei jetzt mal pünktlich. Das ist ganz unten auf Deck E, vergiss es nicht, nimm dir also viel Zeit.«
Er drehte sich um und ging.
»Ich hasse dich! Ich hasse alle auf diesem Ozean!«, rief Booper hinter ihm her.
Unterhalb des Sportdecks, auf dem breiten hinteren Ende des Sonnendecks, konsequent im Freien, waren ungefähr fünfundsiebzig oder mehr Liegestühle aufgestellt und sieben oder acht Reihen tief ausgerichtet; die Gänge dazwischen waren gerade breit genug, dass der Decksteward durch sie hindurch konnte, ohne zwangsläufig über den Krimskrams der sonnenbadenden Passagiere – Strickbeutel, Unterhaltungsromane, Flaschen mit Sonnenöl, Kameras – zu stolpern. Es war schon voll, als Teddy kam. Er begann in der hintersten Reihe und ging methodisch von Reihe zu Reihe vor, blieb dabei an jedem Stuhl stehen, ob er nun besetzt war oder nicht, um das Namensschild auf der Armlehne zu lesen. Nur ein oder zwei der dort liegenden Passagiere sprachen ihn an – das heißt, machten irgendwelche abgedroschenen Scherze, zu denen Erwachsene gegenüber einem zehnjährigen Jungen, der zielstrebig nach seinem Stuhl sucht, zuweilen neigen. Seine Jugend und Zielstrebigkeit waren ziemlich offensichtlich, aber vielleicht fehlte generell in seinem Auftreten vollständig – oder war kaum vorhanden – jener niedliche Ernst, bei dem viele Erwachsene spontan oder herablassend losreden. Auch seine Kleidung mochte damit zu tun haben. Das Loch in der Schulter seines T-Shirts war nicht niedlich. Der übergroße hängende Hosenboden seiner Seersucker-Shorts, ihre überlangen Beine – das war nicht niedlich.
Die vier Liegestühle der McArdles, mit Kissen versehen und bereit, in Anspruch genommen zu werden, standen in der Mitte der zweiten Reihe von vorn. Teddy ließ sich auf einem nieder, der – ob dies nun seine Absicht war oder nicht – keinen unmittelbar besetzten Nachbarn hatte. Er streckte die nackten, ungebräunten Beine aus, Füße zusammen, und zog beinahe gleichzeitig ein kleines Notizbuch zu zehn Cent aus seiner rechten Gesäßtasche. Dann, sofort auf einen Punkt konzentriert, als existierten nur er und das Notizbuch – kein Sonnenschein, keine Mitreisenden, kein Schiff –, blätterte er die Seiten um.
Mit Ausnahme sehr weniger Bleistiftnotizen waren die Einträge offenbar allesamt mit Kugelschreiber erfolgt. Geschrieben waren sie in Druckbuchstaben, wie sie gegenwärtig an amerikanischen Schulen unterrichtet werden, statt in der alten Palmer-Schreibschrift. Die Handschrift war leserlich, ohne hübsch-hübsch zu sein. Das Bemerkenswerte daran war ihr Fluss. In keiner Hinsicht – zumindest nicht in mechanischer – wirkten die Wörter und Sätze, als wären sie von einem Kind geschrieben worden.
Teddy ließ sich mit dem Lesen seines offenbar letzten Eintrags erheblich Zeit. Er umfasste etwas über drei Seiten:
Tagebuch vom 27. Oktober 1952
Eigentum von Theodore McArdle
412 Deck A
Angemessene und angenehme Belohnung, wenn Finder gleich bei Theodore McArdle abgibt.
Versuche, ob du Papas Armee-Hundemarken findest, trage sie dann, wann immer möglich. Es bringt dich nicht um, und ihm wird es gefallen.
Professor Mandells Brief beantworten, wenn du Gelegenheit und Geduld dazu hast. Ihn bitten, mir keine Gedichtbände mehr zu schicken. Ich habe sowieso schon genug für 1 Jahr. Ich habe sie sowieso schon total satt. Ein Mann geht am Strand entlang und wird bedauerlicherweise von einer Kokosnuss am Kopf getroffen. Sein Kopf bricht bedauerlicherweise in zwei Hälften auf. Dann kommt seine Frau am Strand entlang, sie singt ein Lied und sieht die 2 Hälften und erkennt sie und hebt sie auf. Sie wird natürlich sehr traurig und weint herzzerreissend. Genau da habe ich Gedichte satt. Angenommen, die Dame hebt die 2 Hälften einfach nur auf und schreit sehr zornig »Lass das!« hinein. Erwähne das aber nicht, wenn du seinen Brief beantwortest. Es ist ziemlich kontrovers, und außerdem ist Mrs Mandell Dichterin.
Svens Adresse in Elizabeth, New Jersey, besorgen. Es wäre interessant, seine Frau kennenzulernen, auch seinen Hund Lindy. Allerdings besäße ich nicht gern selbst einen Hund.
Kondolenzbrief an Dr. Wokawara wegen seiner Nephritis schreiben. Seine neue Adresse bei Mutter erfragen.
Morgen früh vor dem Frühstück das Sportdeck zur Meditation ausprobieren, aber nicht das Bewusstsein verlieren. Auch nicht im Speisesaal das Bewusstsein verlieren, wenn dieser Kellner wieder den großen Löffel fallen lässt. Papa war ziemlich wütend.
Morgen, wenn du die Bücher zur Bibliothek zurückbringst, Wörter und Wendungen nachsehen –
Nephritis
Myriaden
geschenkter Gaul
gerissen
Triumvirat
Zum Bibliothekar netter sein. Über allgemeine Dinge mit ihm sprechen, wenn er neckisch wird.
Teddy zog abrupt einen kleinen, patronenförmigen Kugelschreiber aus der Seitentasche seiner Shorts, nahm die Kappe ab und begann zu schreiben. Statt der Liegestuhllehne nahm er den rechten Oberschenkel als Unterlage.
Tagebuch vom 28. Oktober 1952
Selbe Adresse und Belohnung wie am 26. und 27.
Oktober 1952 geschrieben.
Nach der Meditation heute Morgen habe ich Briefe an die folgenden Personen geschrieben.
Dr. Wokawara
Professor Mandell
Professor Peet
Burgess Hake, jr.
Roberta Hake
Sanford Hake
Oma Hake
Mr Graham
Professor Walton
Ich hätte Mutter fragen können, wo Papas Hundemarken sind, aber sie würde wahrscheinlich sagen, ich müsse sie nicht tragen. Ich weiß, er hat sie dabei, denn ich habe gesehen, wie er sie eingepackt hat.
Meiner Meinung nach ist das Leben ein geschenkter Gaul.
Ich finde es sehr geschmacklos von Professor Walton, meine Eltern zu kritisieren. Er will die Leute in ein bestimmtes Schema pressen.
Es passiert entweder heute oder am 14. Februar 1958, wenn ich sechzehn werde. Es ist lächerlich, es auch nur zu erwähnen.
Nachdem er den letzten Eintrag gemacht hatte, richtete Teddy weiter seine Aufmerksamkeit auf die Seite und hielt den Kugelschreiber gezückt, als würde noch mehr kommen.
Es war ihm offenbar nicht bewusst, dass er einen einsamen, interessierten Beobachter hatte. Ungefähr fünf Meter entfernt vorschiffwärts von der ersten Reihe der Liegestühle aus und sechs oder sieben ziemlich sonnenblendende Meter über ihm beobachtete ihn unverwandt ein junger Mann von der Reling des Sportdecks aus. Das währte schon ungefähr zehn Minuten. Es war offensichtlich, dass der junge Mann nun zu einer Art Entscheidung gelangt war, denn er nahm abrupt den Fuß von der Reling. Er blieb noch kurz stehen, schaute weiter zu Teddy hinab, dann entschwand er aus dem Blickfeld. Keine Minute später erschien er jedoch, aufdringlich vertikal, zwischen den Reihen der Liegestühle wieder. Er war ungefähr dreißig oder jünger. Sogleich schritt er durch den Gang zu Teddys Stuhl, warf dabei ablenkende kleine Schatten auf Romanseiten und stieg (wenn man bedenkt, dass er die einzige aufrechte, sich bewegende Gestalt in Sichtweite war) ziemlich ungehemmt über Strickbeutel und andere persönliche Gegenstände.
Teddy schien nicht bewusst zu sein, dass jemand am Fußende seines Liegestuhls stand – und überdies auch noch einen Schatten auf sein Notizbuch warf. Einige Leute, ein oder zwei Reihen hinter ihm, ließen sich jedoch leichter ablenken. Sie schauten zu dem jungen Mann hoch, wie vielleicht nur Leute auf einem Liegestuhl zu jemandem hochschauen können. Der junge Mann besaß indes eine Selbstsicherheit, die wirkte, als könnte sie sich endlos so halten, freilich unter der sehr kleinen Bedingung, dass er mindestens eine Hand in der Hosentasche hatte. »Hallo!«, sagte er zu Teddy.
Teddy schaute hoch. »Hallo«, sagte er. Teils schloss er sein Notizbuch, teils ließ er es von allein zufallen.
»Dürfte ich mich einen Augenblick setzen?«, fragte der junge Mann mit anscheinend grenzenloser Freundlichkeit. »Ist dieser Stuhl besetzt?«
»Also, diese vier Liegestühle gehören meiner Familie«, sagte Teddy. »Aber meine Eltern sind noch nicht auf.«
»Nicht auf? An so einem Tag«, sagte der junge Mann. Er hatte sich schon auf den Stuhl zu Teddys Rechter niedergelassen. Die Stühle waren so dicht aneinandergestellt, dass die Armlehnen sich berührten. »Ein Sakrileg ist das«, sagte er. »Ein absolutes Sakrileg.« Er streckte die Beine aus, die an den Schenkeln ungewöhnlich kräftig waren, fast als wären sie selbst menschliche Körper. Er war ganz überwiegend im Stil der Ostküste aufgemacht: oben Bürstenschnitt, unten abgewetzte Brogues, dazwischen eine etwas gemischte Kluft – gelbbraune Wollsocken, holzkohlengraue Hose, ein Button-down-Hemd, keine Krawatte und ein Fischgrätjackett, das aussah, als wäre es in einem der beliebteren Oberseminare in Yale, Harvard oder Princeton gemessen gealtert. »O Gott, ein himmlischer Tag«, sagte er beifällig und blinzelte in die Sonne. »Ich bin dem Wetter immer völlig ausgeliefert.« Er legte die kräftigen Beine an den Knöcheln übereinander. »Ich bin nämlich bekannt dafür, dass ich einen vollkommen normalen Regentag als persönliche Beleidigung auffasse. Daher ist das hier das absolute Manna für mich.« Obwohl seine Sprechstimme wohlerzogen in der üblichen Bedeutung war, trug sie doch erheblich weiter als angemessen, als wäre er irgendwie mit sich übereingekommen, dass alles, was er zu sagen hatte, weitgehend richtig klang – intelligent, gebildet, sogar amüsant oder anregend –, entweder von Teddys Warte aus oder von der der Leute in der Reihe dahinter, falls sie zuhörten. Er schaute schräg zu Teddy hinab und lächelte. »Wie ist es bei dir mit dem Wetter?«, fragte er. Sein Lächeln war nicht unsympathisch, doch es war gesellschafts- oder konversationsmäßig und bezog sich, wie indirekt auch immer, auf sein Ego. »Hat das Wetter dich auch schon mal über jedes vernünftige Maß hinaus gestört?«, fragte er lächelnd.
»Ich nehme es nicht besonders persönlich, falls Sie das meinen«, sagte Teddy.
Der junge Mann lachte und legte dabei den Kopf zurück. »Wunderbar«, sagte er. »Mein Name ist übrigens Bob Nicholson. Ich weiß nicht, ob wir dazu schon im Sportraum gekommen sind. Deinen Namen kenne ich natürlich.«
Teddy verlagerte das Gewicht auf eine Hüfte und verstaute das Notizbuch in der Seitentasche seiner Shorts.
»Ich habe zugesehen, wie du geschrieben hast – von ganz dort oben«, sagte Nicholson berichtend und zeigte hinauf. »Großer Gott. Du hast ja richtiggehend geackert wie ein kleines Pferd.«
Teddy sah ihn an. »Ich habe etwas in mein Notizbuch geschrieben.«
Nicholson nickte lächelnd. »Wie war’s in Europa?«, fragte er konversationsmäßig. »Hat es dir gefallen?«
»Ja, sehr. Vielen Dank.«
»Wo warst du denn überall?«
Teddy beugte sich unvermittelt vor und kratzte sich an der Wade. »Also, es würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen, alle Orte aufzuzählen, weil wir mit unserem Wagen unterwegs waren und ziemlich lange Strecken fuhren.«
Er lehnte sich wieder zurück. »Meine Mutter und ich waren aber überwiegend in Edinburgh, Schottland, und Oxford, England. Ich glaube, ich habe Ihnen schon im Sportraum erzählt, dass ich in diesen beiden Städten zu einem Vorstellungsgespräch musste. Vor allem an der Universität Edinburgh.«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Nicholson. »Ich hatte mir schon gedacht, dass du vielleicht so etwas gemacht hast. Und? Wie lief’s? Haben sie dich ausgequetscht?«
»Wie bitte?«, sagte Teddy.
»Wie lief’s? War es interessant?«
»Manchmal ja. Manchmal nein«, sagte Teddy. »Wir sind ein wenig zu lange geblieben. Mein Vater wollte ein wenig früher als mit diesem Schiff zurück nach New York. Aber dann kamen Leute aus Stockholm, Schweden, und Innsbruck, Österreich, um mich kennenzulernen, und da mussten wir dann noch warten.«
»So ist es immer.«
Zum ersten Mal sah Teddy ihn direkt an. »Sind Sie Dichter?«, fragte er.
»Dichter?«, sagte Nicholson. »Himmel, nein. Leider nein. Warum fragst du?«
»Ich weiß nicht. Dichter nehmen das Wetter immer so persönlich. Sie hängen ihre Gefühle immer an Dinge, die keine Gefühle haben.«
Nicholson lächelte und zog aus der Jackentasche Zigaretten und Streichhölzer. »Ich würde doch meinen, dass das zu ihrem Handwerkszeug gehört«, sagte er. »Beschäftigen sich Dichter nicht vorrangig mit Gefühlen?«
Teddy hörte ihn offenbar nicht oder hörte ihm nicht zu. Abwesend schaute er auf die Zwillingsschornsteine auf dem Sportdeck oder darüber hinweg.
Nicholson bekam mit einigen Schwierigkeiten seine Zigarette angezündet, denn von Norden her wehte eine leichte Brise. Er lehnte sich zurück und sagte: »Anscheinend hast du ein ziemlich verstörtes Häufchen –«
»›Nichts in der Stimme der Zikade verrät, wie bald sie sterben wird‹«, sagte Teddy unvermittelt. »›Auf dieser Straße geht an diesem Herbstabend niemand.‹«
»Was war das denn?«, fragte Nicholson lächelnd. »Sag das noch mal.«
»Das sind zwei japanische Gedichte. Die sind nicht sehr voll mit Gefühlszeug«, sagte Teddy. Er beugte sich abrupt nach vorn, neigte den Kopf nach rechts und versetzte seinem rechten Ohr einen leichten Klaps mit der Hand. »Ich habe immer noch Wasser im Ohr vom Schwimmunterricht gestern«, sagte er. Er versetzte seinem Ohr noch einige weitere Klapse, lehnte sich dann zurück und legte beide Arme auf die Armlehnen. Natürlich war es ein normaler Erwachsenen-Liegestuhl, und Teddy wirkte ausgesprochen klein darauf, gleichzeitig aber auch vollkommen entspannt, ja heiter.
»Anscheinend hast du in Boston ein ziemlich verstörtes Häufchen Pedanten zurückgelassen«, sagte Nicholson und musterte ihn. »Nach dieser letzten kleinen Auseinandersetzung. Mehr oder weniger die ganze Leidekker-Prüfungsgruppe, wie ich das sehe. Ich glaube, ich habe dir erzählt, dass ich mich im letzten Juni ziemlich lange mit Al Babcock unterhalten habe. Und am selben Abend habe ich dann auch dein Band abgehört.«
»Ja, stimmt. Das haben Sie mir gesagt.«
»Anscheinend war es ein ziemlich verstörtes Häufchen«, drängte Nicholson. »Nach dem, was Al mir erzählt hat, hattet ihr alle spätabends ein ganz schön tödliches kleines Gespräch unter Männern – in derselben Nacht, in der du das Band gemacht hast, glaube ich.«
Er zog an seiner Zigarette. »Nach dem, was ich höre, hast du einige kleine Voraussagen getroffen, die die Jungs ohne Ende verstört haben. Stimmt das?«
»Ich würde gern einmal wissen, warum die Leute es für so wichtig halten, emotional zu sein«, sagte Teddy. »Meine Mutter und mein Vater glauben, ein Mensch wird erst richtig menschlich, wenn er alle möglichen Sachen sehr traurig oder sehr ärgerlich und sehr – irgendwie sehr ungerecht findet. Mein Vater wird, schon wenn er Zeitung liest, sehr emotional. Er findet mich unmenschlich.«
Nicholson schnippte die Zigarettenasche zur Seite. »Dann hast du also keine Emotionen?«, fragte er.
Teddy überlegte, bevor er antwortete. »Falls ich welche habe, erinnere ich mich nicht, wann ich sie jemals gebraucht habe«, sagte er. »Ich begreife nicht, wozu sie gut sein sollen.«
»Du liebst aber doch Gott?«, fragte Nicholson mit leicht übermäßiger Ruhe. »Ist das nicht sozusagen deine Stärke? Nach dem, was ich auf dem Band gehört habe, und nach dem, was Al Babcock –«
»Ja, schon, ich liebe ihn. Aber ich liebe ihn nicht sentimental. Er hat nie gesagt, man soll ihn sentimental lieben«, sagte Teddy. »Wenn ich Gott wäre, wollte ich jedenfalls nicht, dass man mich sentimental liebt. Das ist zu unzuverlässig.«
»Du liebst aber doch deine Eltern?«
»Ja – sehr sogar«, sagte Teddy, »aber Sie wollen, dass ich das Wort so benutze, dass es das bedeutet, was es für Sie bedeutet – das merke ich.«
»Na schön. In welchem Sinn möchtest du es denn benutzen?«
Teddy überlegte. »Wissen Sie, was das Wort ›Affinität‹ bedeutet?«, fragte er, an Nicholson gewandt.
»Ich habe eine grobe Vorstellung«, sagte Nicholson rocken.
»Ich empfinde eine starke Affinität zu ihnen. Immerhin sind sie ja meine Eltern, und wir sind alle Teil der Harmonie des anderen und so weiter«, sagte Teddy. »Ich möchte gern, dass sie es nett haben, solange sie leben, weil sie es gern nett haben … Aber so lieben sie Booper und mich nicht – das ist meine Schwester. Ich meine, sie sind offener nicht in der Lage, uns so zu lieben, wie wir sind. Sie sind offenbar nur dann in der Lage, uns zu lieben, wenn sie uns ständig ein wenig verändern. Sie lieben die Gründe, uns zu lieben, fast genauso sehr, wie sie uns lieben, und meistens mehr. Das ist nicht so gut.« Wieder wandte er ich an Nicholson und beugte sich ein wenig vor. »Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist?«, fragte er. »Ich habe um halb elf Schwimmunterricht.«
»Es ist noch Zeit«, sagte Nicholson, ohne vorher auf seine Armbanduhr zu schauen. Er schob die Manschette zurück. »Es ist erst zehn nach zehn«, sagte er.
»Danke«, sagte Teddy und lehnte sich zurück. »Dann können wir unser Gespräch noch ungefähr zehn Minuten genießen.«
Nicholson ließ ein Bein über den Rand des Liegestuhls fallen, beugte sich vor und trat auf seinen Zigarettenstummel. »Wie ich es sehe«, sagte er und lehnte sich wieder zurück, »hältst du ziemlich an der vedantischen Theorie der Wiedergeburt fest.«
»Das ist keine Theorie, das ist ebenso Teil –«
»Na schön«, sagte Nicholson rasch. Er lächelte und hob sanft die Handflächen zu einer Art ironischer Segnung. »Im Moment wollen wir uns darüber nicht streiten. Lass mich ausreden.«
Wieder legte er die kräftigen, ausgestreckten Beine übereinander. »Wie ich es sehe, bist du durch Meditation zu einer gewissen Information gekommen, die dich einigermaßen davon überzeugt hat, dass du in deiner letzten Inkarnation ein Heiliger in Indien warst, aber mehr oder weniger in Ungnade gefallen bist –«
»Ich war kein Heiliger«, sagte Teddy. »Ich war nur ein Mensch, der sehr schöne spirituelle Fortschritte gemacht hat.«
»Na schön – wie auch immer«, sagte Nicholson. »Aber der Punkt ist doch, dass du glaubst, du bist in deiner letzten Inkarnation vor der endgültigen Erleuchtung mehr oder weniger in Ungnade gefallen. Stimmt das, oder habe ich –«
»Das stimmt«, sagte Teddy. »Ich habe eine Dame kennengelernt, und dann habe ich irgendwie aufgehört zu meditieren.« Er nahm die Arme von den Armlehnen und steckte die Hände, wie um sie warm zu halten, unter die Oberschenkel. »Ich hätte ohnehin einen anderen Körper annehmen und zur Erde zurückkommen müssen – ich meine, so spirituell fortgeschritten war ich nicht, dass ich, wenn ich diese Dame nicht kennengelernt hätte, hätte sterben können und dann direkt zu Brahma gehen und nie wieder auf die Erde kommen müssen. Aber ich hätte auch nicht in einen amerikanischen Körper inkarniert werden müssen, wenn ich diese Dame nicht kennengelernt hätte. Ich meine, es ist schon sehr schwierig, in Amerika zu meditieren und ein spirituelles Leben zu führen. Wenn man das versucht, halten die Leute einen für einen Spinner. In gewisser Hinsicht hält mich auch mein Vater für einen Spinner. Und meine Mutter – also, die findet, es tut mir nicht gut, die ganze Zeit über Gott nachzudenken. Sie findet, es ist nicht gut für meine Gesundheit.«
Nicholson sah ihn an und musterte ihn. »Ich glaube, auf diesem letzten Band hast du gesagt, dass du deine erste mystische Erfahrung mit sechs hattest. Stimmt das?«
»Mit sechs habe ich gesehen, dass alles Gott ist, und mir standen die Haare zu Berge und so weiter«, sagte Teddy. »Es war an einem Sonntag, das weiß ich noch. Da war meine Schwester noch ein sehr kleines Kind, und sie trank ihre Milch, und auf einmal habe ich gesehen, dass meine Schwester Gott war und dass die Milch Gott war. Ich meine, sie hat ja bloß Gott in Gott gegossen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Nicholson sagte nichts.
»Aber aus den endlichen Dimensionen konnte ich schon mit vier recht häufig heraus«, fügte Teddy noch hinzu. »Nicht ständig oder so, aber recht häufig.«
Nicholson nickte. »Tatsächlich?«, sagte er. »Das könnest du?«
»Ja«, sagte Teddy. »Das war auf dem Band … Vielleicht war es aber auch auf dem, das ich letzten April gemacht habe. Ich weiß nicht genau.«
Wieder holte Nicholson seine Zigaretten hervor, ohne dabei aber den Blick von Teddy zu nehmen. »Wie kommt man denn aus den endlichen Dimensionen heraus?«, fragte er und lachte kurz auf. »Ich meine, um ganz grundsätzlich zu beginnen, beispielsweise ist ein Holzklotz ein Holzklotz. Er hat eine Länge, eine Breite –«
»Nein. Da irren Sie sich«, sagte Teddy. »Alle glauben nur, dass die Dinge irgendwo aufhören. Aber so ist das nicht. Das habe ich auch versucht, Professor Peet zu sagen.« Er setzte sich anders hin, zog ein widerliches Taschentuch hervor – ein graues, zusammengeknülltes Gebilde – und putzte sich die Nase. »Dass die Dinge irgendwo aufzuhören scheinen, liegt nur daran, dass die meisten Leute die Dinge nur so betrachten können«, sagte er. »Das heißt aber nicht, dass es auch so ist.«
Er steckte das Taschentuch weg und sah Nicholson an. »Würden Sie bitte einmal kurz den Arm heben?«, bat er.
»Den Arm? Warum?«
»Einfach so. Einfach mal kurz.«
Nicholson hob den Unterarm vier, fünf Zentimeter über die Armlehne hoch. »Den?«, fragte er.
Teddy nickte. »Wie nennen Sie das?«, fragte er.
»Was meinst du? Das ist mein Arm. Es ist ein Arm.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Teddy. »Sie wissen, dass man das Arm nennt, aber woher wissen Sie, dass es auch einer ist? Haben Sie einen Beweis dafür, dass es ein Arm ist?«
Nicholson nahm eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. »Ehrlich gesagt finde ich, das riecht nach der schlimmsten Form von Sophisterei«, sagte er, Rauch ausstoßend. »Es ist ein Arm, Herrgott, weil es ein Arm ist. Zunächst einmal braucht er einen Namen, damit man ihn von anderen Dingen unterscheiden kann. Ich meine, man kann doch nicht einfach –«
»Sie sind einfach bloß logisch«, sagte Teddy ausdruckslos zu ihm.
»Ich bin einfach bloß was?«, fragte Nicholson ein wenig übertrieben höflich.
»Logisch. Sie geben mir einfach bloß eine normale, intelligente Antwort«, sagte Teddy. »Ich habe versucht, Ihnen zu helfen. Sie haben mich gefragt, wie ich aus den endlichen Dimensionen herauskomme, wenn mir danach ist. Logik benutze ich dabei jedenfalls nicht. Als Erstes muss man die Logik loswerden.«
Nicholson entfernte mit den Fingern einen Tabakkrümel von der Zunge.
»Kennen Sie Adam?«, fragte Teddy ihn.
»Ob ich wen kenne?«
»Adam. Aus der Bibel.«
Nicholson lächelte. »Nicht persönlich«, sagte er trogen.
Teddy zögerte. »Seien Sie mir nicht böse«, sagte er. »Sie laben mich etwas gefragt, und ich –«
»Ich bin dir nicht böse, um Gottes willen.«
»Na gut«, sagte Teddy. Er saß zurückgelehnt auf seinem Liegestuhl, sein Kopf aber war Nicholson zugewandt. »Sie wissen doch, der Apfel, der in der Bibel erwähnt wird, den Adam im Garten Eden aß?«, fragte er. »Wissen Sie, was in dem Apfel war? Logik. Logik und intellektuelles Zeug. Mehr war da nicht drin. Daher – und das ist mein Punkt – muss man das erbrechen, wenn man die Dinge so sehen will, wie sie wirklich sind. Ich meine, wenn man es erbricht, hat man mit Holzklötzen und so Zeug kein Problem mehr. Dann sieht man nicht mehr ständig, wie alles aufhört. Und dann weiß man auch, was der Arm wirklich ist, wenn man daran interessiert ist. Wissen Sie, was ich meine? Können Sie mir folgen?«
»Ich kann dir folgen«, sagte Nicholson ziemlich knapp.
»Das Problem ist nur«, sagte Teddy, »die meisten wollen die Dinge nicht so sehen, wie sie wirklich sind. Sie wollen nicht einmal damit aufhören, ständig geboren zu werden und zu sterben. Sie wollen einfach ständig neue Körper, statt innezuhalten und bei Gott zu bleiben, wo es richtig nett ist.«
Er überlegte. »So einen Haufen Apfelesser habe ich noch nie gesehen«, sagte er. Er schüttelte den Kopf.
In dem Moment blieb ein Decksteward in weißer Jacke, der in dem Bereich seine Runde machte, vor Teddy und Nicholson stehen und fragte sie, ob sie gern eine Morgenbrühe hätten. Nicholson gab auf die Frage gar keine Antwort. Teddy sagte: »Nein danke«, und der Decksteward ging weiter.
»Wenn du das lieber nicht erörtern möchtest, musst du es auch nicht«, sagte Nicholson abrupt und ziemlich brüsk. Er schnippte seine Zigarettenasche weg. »Aber stimmt es oder stimmt es nicht, dass du dem ganzen Leidekker-Prüfungshaufen – Walton, Peet, Larsen, Samuels und diesem Haufen – mitgeteilt hast, wann und wo und wie sie sterben würden? Stimmt es oder stimmt es nicht? Du musst das nicht erörtern, wenn du nicht willst, aber so wie die Gerüchte in Boston –«
»Nein, es stimmt nicht«, sagte Teddy emphatisch. »Ich habe ihnen den Ort genannt und die Zeit, wenn sie sehr, sehr vorsichtig sein sollten. Und ich habe ihnen gewisse Dinge genannt, die zu tun vielleicht nicht schlecht wären … Aber so etwas habe ich nicht gesagt. Ich habe nicht gesagt, dass etwas unausweichlich sei, in der Art.«
Wieder zog er sein Taschentuch heraus und schnäuzte sich. Nicholson wartete so lange, den Blick auf ihn gerichtet. »Und zu Professor Peet habe ich so etwas überhaupt nicht gesagt. Erstens war er nicht einer von denen, die herumgealbert und mir einen Haufen Fragen gestellt haben. Ich meine, zu Professor Peet habe ich nur gesagt, dass er von Februar an nicht mehr Lehrer sein sollte – mehr habe ich ihm nicht gesagt.« Teddy lehnte sich wieder zurück und schwieg einen Moment. »Diese ganzen anderen Professoren, die haben mich praktisch gezwungen, ihnen dieses ganze Zeug zu sagen. Das kam erst, nachdem wir mit dem Interview und der Bandaufnahme fertig waren, und es war schon ziemlich spät, und sie haben alle dagesessen und Zigaretten geraucht und sind ganz läppisch geworden.«
»Aber du hast beispielsweise Walton oder Larsen nicht gesagt, wann oder wo oder wie der Tod käme?«, drängte Nicholson.
»Nein. Keinesfalls«, sagte Teddy fest. »Ich hätte denen kein solches Zeug erzählt, aber sie haben ständig darüber geredet. Irgendwie fing Professor Walton damit an. Er sagte, er wüsste wirklich gern, wann er sterben würde, weil er dann wüsste, welche Arbeit er machen müsste und welche lieber nicht und wie er seine Zeit am sinnvollsten nützte und solche Dinge. Und dann haben alle gemeint, dass … Also habe ich ihnen ein bisschen was gesagt.«
Nicholson sagte nichts.
»Aber ich habe ihnen nicht gesagt, wann sie denn sterben würden. Das ist ein ganz falsches Gerücht«, sagte Teddy. »Ich hätte es tun können, aber ich wusste, dass sie es im Grunde eigentlich nicht wissen wollten. Ich meine, ich wusste, dass sie, obwohl sie Religion und Philosophie und so weiter lehren, dass sie trotzdem ziemliche Angst vorm Sterben haben.« Teddy saß oder lag eine Weile schweigend da. »Das ist doch so albern«, sagte er. »Wenn man stirbt, verlässt man doch verflucht nur seinen Körper. Meine Güte, das hat doch jeder schon tausend und abertausend Mal gemacht. Bloß weil sie sich nicht mehr daran erinnern, heißt das doch nicht, dass sie es nicht gemacht haben. Das ist so albern.«
»Mag ja sein. Mag ja sein«, sagte Nicholson. »Aber dennoch bleibt das logische Faktum bestehen, dass, egal, wie intelligent –«
»Das ist albern«, sagte Teddy erneut. »Beispielsweise habe ich in fünf Minuten Schwimmunterricht. Ich könnte jetzt die Treppe zum Pool hinuntergehen, und es könnte kein Wasser drin sein. Es könnte der Tag sein, an dem sie das Wasser erneuern. Allerdings könnte beispielsweise passieren, dass ich an den Rand trete, nur um auf den Boden zu schauen, und meine Schwester könnte von hinten kommen und mich irgendwie reinschubsen. Ich könnte mir den Schädel brechen und auf der Stelle sterben.« Teddy sah Nicholson an. »Das könnte passieren«, sagte er. »Meine Schwester ist erst sechs, und sie ist noch nicht viele Leben lang ein Mensch, und sie mag mich nicht besonders. Das könnte also schon passieren. Aber was wäre daran so tragisch? Wovor müsste man sich da fürchten, meine ich? Ich würde doch nur das tun, was für mich vorgesehen war, weiter nichts, oder?«
Nicholson schnaubte milde. »Von deiner Warte aus müsste das keine Tragödie sein, aber für deine Mutter und deinen Vater wäre das bestimmt ein trauriges Ereignis«, sagte er. »Schon mal daran gedacht?«
»Ja, selbstverständlich«, sagte Teddy. »Aber das wäre doch nur so, weil sie für alles, was passiert, Namen und Emotionen haben.«
Er hatte die Hände wieder unter den Beinen stecken. Er zog sie nun heraus, legte die Arme auf die Armlehnen und sah Nicholson an. »Kennen Sie Sven? Den Mann, der für den Sportraum zuständig ist?«, fragte er. Er wartete, bis Nicholson nickte. »Also, wenn Sven eines Tages träumt, sein Hund sei gestorben, dann würde er sehr, sehr schlecht schlafen, weil er diesen Hund sehr mag. Aber wenn er dann am nächsten Morgen aufwacht, ist alles in Ordnung. Dann weiß er, dass alles nur ein Traum war.«
Nicholson nickte. »Und was genau ist der Punkt?«
»Der Punkt ist, wenn sein Hund wirklich gestorben wäre, wäre es exakt dasselbe. Bloß dass er es nicht wüsste. Ich meine, er würde erst aufwachen, wenn er selbst stirbt.«
Nicholson schaute unbeteiligt und verabreichte sich im Nacken mit der rechten Hand eine langsame, sinnliche Massage. Seine linke Hand, die reglos auf der Armlehne lag, zwischen den Fingern eine neue, unangezündete Zigarette, sah in dem blendenden Sonnenlicht merkwürdig weiß und unorganisch aus.
Plötzlich stand Teddy auf. »Leider muss ich jetzt wirklich los«, sagte er. Zögernd setzte er sich auf die ausgezogene Beinstütze seines Liegestuhls, blickte Nicholson an und stopfte sich sein T-Shirt in die Hose. »Ich habe schätzungsweise rund anderthalb Minuten, um zu meinem Schwimmunterricht zu kommen«, sagte er. »Er ist ganz unten auf Deck E.«
»Darf ich noch fragen, warum du Professor Peet gesagt hast, er solle vom ersten Tag des Jahres nicht mehr lehren?«, fragte Nicholson ziemlich unverblümt. »Ich kenne Bob Peet. Deshalb frage ich.«
Teddy zog seinen Krokogürtel fester. »Nur weil er ziemlich spirituell ist und er im Moment eine Menge Zeug lehrt, das ihm nicht sonderlich guttut, wenn er spirituell echte Fortschritte machen will. Es regt ihn zu sehr an. Es wird Zeit, dass er alles aus seinem Kopf entfernt, statt noch mehr Zeug hineinzutun. Er könnte allein in diesem einen Leben eine ganze Menge Apfel loswerden, wenn er wollte. Er kann sehr gut meditieren.«
Teddy stand auf. »Ich gehe jetzt mal. Ich möchte nicht zu spät kommen.«
Nicholson schaute zu ihm hoch und hielt den Blick erhoben – hielt Teddy zurück. »Was würdest du tun, wenn du das Bildungssystem ändern könntest?«, fragte er mehrdeutig. »Hast du dir das schon mal überlegt?«
»Ich muss wirklich los«, sagte Teddy.
»Beantworte mir nur diese eine Frage«, sagte Nicholson. »Bildung ist nämlich mein großes Thema – das unterrichte ich. Deshalb frage ich.«
»Hm … ich weiß nicht recht, was ich täte«, sagte Teddy. »Ich weiß ziemlich genau, dass ich nicht mit den Sachen anfangen würde, mit denen die Schulen meistens anfangen.« Er verschränkte die Arme und überlegte kurz. »Ich glaube, als Erstes würde ich einfach alle Kinder zusammenrufen und ihnen zeigen, wie man meditiert. Ich würde versuchen, ihnen zu zeigen, wie sie herausfinden, wer sie sind, nicht nur, wie sie heißen und dergleichen … Wahrscheinlich würde ich vorher noch dafür sorgen, dass sie alles ausleeren, was ihre Eltern und auch sonst alle ihnen je gesagt haben. Ich meine, selbst wenn ihre Eltern ihnen nur gesagt haben, dass ein Elefant groß ist, würde ich dafür sorgen, dass sie auch das ausleeren. Ein Elefant ist nur groß, wenn er neben etwas anderem steht – beispielsweise einem Hund oder einer Dame.« Wieder überlegte Teddy kurz. »Ich würde ihnen nicht einmal sagen, dass ein Elefant einen Rüssel hat. Vielleicht würde ich ihnen einen Elefanten zeigen, wenn ich einen parat hätte, aber ich würde sie einfach bloß zu dem Elefanten hingehen lassen, ohne dass sie mehr über ihn wüssten, als der Elefant über sie wüsste. Dasselbe bei Gras und anderen Dingen. Ich würde ihnen nicht einmal sagen, dass Gras grün ist. Farben sind nur Namen. Ich meine, wenn ich ihnen sage, dass Gras grün ist, erwarten sie deshalb, dass Gras auf eine bestimmte Art aussieht – auf meine Art –, statt sonst einer Art, die vielleicht genauso gut ist, vielleicht sogar viel besser … ich weiß nicht. Ich würde nur dafür sorgen, dass sie jedes Stückchen des Apfels erbrechen, von dem ihre Eltern und sonst jeder sie haben abbeißen lassen.«
»Bestünde nicht die Gefahr, dass du damit eine kleine Generation von Ignoranten heranziehst?«
»Warum denn? Sie wären keine größeren Ignoranten als ein Elefant. Oder ein Vogel. Oder ein Baum«, sagte Teddy. »Nur weil etwas auf eine bestimmte Art ist, statt sich auf eine bestimmte Art zu verhalten, heißt das doch nicht, dass es ignorant ist.«
»Nicht?«
»Nein!«, sagte Teddy. »Außerdem, wenn sie das ganze andere Zeug lernen wollten – Namen, Farben, Dinge –, dann könnten sie es doch, wenn ihnen danach ist, auch noch später tun, wenn sie älter sind. Aber mir geht es darum, dass sie die Dinge als Erstes ganz auf die echte Art betrachten, nicht nur auf die Art, wie all die anderen Apfelesser die Dinge sehen – das meine ich.« Er ging näher an Nicholson heran und streckte die Hand zu ihm hinunter. »Ich muss jetzt gehen. Ehrlich. Es hat mich gefreut –«
»Einen Moment noch – setz dich noch mal einen Augenblick hin«, sagte Nicholson. »Hast du schon mal daran gedacht, in die Forschung zu gehen, wenn du groß bist? Medizinische Forschung oder etwas dergleichen? Mir scheint, mit deinem Kopf könntest du irgendwann –«
Teddy antwortete, aber ohne sich zu setzen. »Einmal habe ich daran gedacht, vor zwei Jahren«, sagte er. »Ich habe mit einigen Ärzten gesprochen.« Er schüttelte den Kopf. »Mich würde das nicht sehr interessieren. Die Ärzte bleiben zu dicht an der Oberfläche. Sie reden immerzu von Zellen und solchen Sachen.«
»Ach? Du misst der Zellstruktur keine Bedeutung bei?«
»Doch, natürlich. Aber die Ärzte reden über die Zellen, als hätten die allein für sich so eine grenzenlose Bedeutung. Als gehörten sie gar nicht zu der Person, die sie hat.« Teddy strich sich mit einer Hand die Haare aus der Stirn. »Ich habe meinen Körper wachsen lassen«, sagte er. »Das hat niemand sonst für mich getan. Wenn ich ihn also habe wachsen lassen, muss ich ja auch gewusst haben, wie ich ihn wachsen lasse. Unbewusst wenigstens. Ich mag irgendwann in den letzten paar Hunderttausend Jahren das bewusste Wissen verloren haben, wie ich ihn wachsen lasse, trotzdem ist das Wissen noch da, denn ich habe es ja – offensichtlich – benutzt .… Es würde eine ganze Menge Meditieren und Ausleeren erfordern, um das Ganze zurückzuholen – ich meine, das bewusste Wissen –, aber wenn man es wollte, könnte man es auch. Wenn man sich weit genug öffnen würde.« Unvermittelt langte er nach unten und nahm Nicholsons rechte Hand von der Armlehne. Er schüttelte sie nur einmal, herzlich, und sagte: »Auf Wiedersehen. Ich muss los.« Und dieses Mal konnte Nicholson ihn nicht mehr zurückhalten, so schnell bahnte er sich seinen Weg durch den Gang.
Nicholson saß, nachdem er gegangen war, noch einige Minuten regungslos da, die Hände auf den Armlehnen des Liegestuhls, die unangezündete Zigarette noch immer zwischen den Fingern seiner linken Hand. Schließlich hob er die rechte und gebrauchte sie, als wollte er prüfen, ob sein Kragen noch offen war. Dann zündete er sich die Zigarette an und saß wieder ganz still da.
Er rauchte die Zigarette bis zum Ende, schwenkte dann abrupt einen Fuß über die Liegestuhlkante, trat auf die Zigarette, stand auf und lief ziemlich schnell aus dem Gang hinaus.
Über die Vorschiffstreppe stieg er einigermaßen rasch zum Promenadendeck hinunter. Ohne dort stehen zu bleiben, ging er weiter hinunter, noch immer recht schnell, aufs Hauptdeck. Dann auf Deck A. Dann auf Deck B. Dann auf Deck C. Dann auf Deck D.
Auf Deck D endete die Vorschiffstreppe, und Nicholson blieb einen Augenblick stehen, anscheinend ratlos, wohin er sich wenden sollte. Dann aber erspähte er jemanden, der imstande schien, ihm weiterzuhelfen. Auf halbem Weg den Gang entlang saß eine Stewardess vor einer Kombüse auf einem Stuhl, las eine Illustrierte und rauchte eine Zigarette. Nicholson ging zu ihr, befragte sie kurz, dankte ihr, ging dann einige Schritte weiter Richtung Vorschiff und öffnete eine schwere Metalltür, auf der stand: ZUM SCHWIMMBAD. Sie führte auf eine schmale, teppichlose Treppe.
Er war wenig mehr als die Hälfte der Treppe hinabgegangen, als er einen alles durchdringenden, anhaltenden Schrei hörte – eindeutig von einem kleinen, weiblichen Kind. Es war ein heftig schwingender Ton, als hallte er zwischen vier gefliesten Wänden.
Zentaur 12-07-01