Kapitel 6 – Ein Spion in Masontown
»Und du bist dir sicher, dass Lone Wolf an diesem Ort zu finden ist?«
»Nein, nicht unbedingt, aber hier fing alles an. Hier töteten die Soldaten der Todesschwadron alle Frauen und Kinder sowie die alten Männer des Dorfes. Selbst die Hunde und Pferde haben diese Schlächter damals nicht verschont. Es war ein grauenhaftes Massaker. Überall lagen die zerstückelten und teils verbrannten Leichen herum. Der Boden war überall mit dem Blut der Toten übersät...«
Judge schaltete auf Durchzug und hörte gar nicht mehr zu, was Logan sagte. Ihm gingen solche blutigen Beschreibungen immer an die Nieren. Anstatt weiter den Worten seines Freundes zu lauschen, untersuchte der Ira Dei die nähere Umgebung.
Wie viele Jahre mochte es wohl her sein, dass an diesem Ort das Massaker an den Indianern stattgefunden hatte? Viele Spuren waren nicht mehr zu entdecken, dass hier einst ein Dorf gestanden hatte.
Vereinzelt lagen noch verrostete Töpfe und anderes Geschirr oder die eine oder andere Speer- oder Pfeilspitze auf dem Boden herum. Doch den größten Teil des Areals hatte sich die Natur zurückerobert. Selbst die Brandflecken im Boden, die durch die angezündeten Zelte entstanden waren, wurden nun wieder über und über von Pflanzen bedeckt, so dass von der einstigen Bluttat, geschweige denn von dem ehemaligen Dorf, fast so gut wie nichts mehr zu sehen war.
Nur eine nicht zu definierende schwermütige Aura umgab diesen Ort, an dem so viele Menschen ihr Leben verloren hatten. Es war seltsam still. Kein Vogel, geschweige denn das Geräusch irgendeines anderen Bewohners des Waldes, war zu hören.
Selbst die Bewegungen des Windes schienen an diesem Ort nicht zu existieren und an den Bäumen abzuprallen. Trotz einer aufkommenden Windböe, war kein Rauschen der Blätter zu vernehmen, geschweige denn eine Bewegung der Äste zu beobachten.
»Spürst du das auch?«, fragte Judge seinen Freund Logan, der instinktiv zu seinem Armeecolt griff.
»Lass deine Waffe stecken. Gegen Geister nützen deine Kugeln nichts.« Der Colt wanderte daraufhin wieder zurück ins Halfter. Doch die Finger seiner rechten Hand beließ Judge auf dessen Griff. Man konnte schließlich nie wissen. Ein Versuch war es womöglich wert.
»Du hättest nicht hier her kommen sollen, Logan.« Der Angesprochene drehte sich zu der Stimme um, die ihn begrüßt hatte. Und als er genauer näher hinschaute, sah er eine schemenhafte Gestalt, die langsam die Gestalt des Häuptlings Lone Wolf annahm.
»Ich freue mich auch, dich zu wieder zu sehen, alter Freund«, begrüßte er den Geisterindianer, der anscheinend über die Anwesenheit seines einstigen Schwagers ganz und gar nicht erfreut war. »Warum bist du gekommen?«
»Du hast gesagt, wenn die Zeit gekommen ist, werden wir wieder Seite an Seite gegen unsere Feinde kämpfen. Und diese Zeit ist nun gekommen, Lone Wolf. Lass uns zusammen Rache nehmen an denen, die unsere Freunde und Verwandten, unsere Brüder und Schwestern auf dem Gewissen haben!«
»Und er wird uns begleiten?« Der Geisterhäuptling deutete mit seinem rechten Zeigefinger auf Judge.
»Natürlich wird er das. Er ist ein guter Freund, mit dem ich zusammen schon viele gefährliche Situationen gemeistert habe. Außerdem hat er auch noch ein Hühnchen mit William T. Sherman und seinen Männern zu rupfen.«
»Nun gut Logan. Es sind nur noch wenige Männer der Todesschwadron übrig. Und diese befinden sich alle bei diesem Sherman.«
»Dann haben wir ja das gleiche Ziel, Häuptling!«, sagte Judge.
Lone Wolf fixierte den Ira Dei. »Wir begegneten uns schon einmal. In Ellsworth, um genau zu sein, weißer Mann. Damals habe ich dein Leben verschont...«
»Und dafür danke ich dir. Und nun bin ich gekommen, um mich für deinen Großmut zu revanchieren und mit dir und deinen Kriegern zusammen gegen unsere gemeinsamen Feind zu kämpfen, großer Häuptling.«
Lone Wolf verzog seine weißlich schimmernden Lippen, was schwerlich als eine Art Lächeln zu identifizieren war.
»Du warst dabei, Judge, als die Welt sich für immer veränderte. Als die Toten in die Welt der Lebenden zurückkehrten, um ihr Fleisch zu essen?«
Judge erschauderte leicht. »Ja, das war ich. Und Sherman, der Schlächter von Atlanta, ist Schuld daran, dass es soweit gekommen ist!«
»Nein. Dieser Sherman ist zwar ein böser Mensch und sein Geist ist befleckt von seinen Untaten, aber die Schuld daran trägt er nicht allein. Es waren andere, die für diese Freveltat verantwortlich waren. Durch ihre Taten haben sie ein Tor der Finsternis geöffnet, wodurch noch mehr Böses in unsere Welt kam. Böses, das sich immer weiter ausbreiten wird, bis es die ganze Welt verschlungen hat.«
»Das werde ich zu verhindern wissen.«
Lone Wolf schaute Judge stumm an, so, als würde der Geisterhäuptling den weißen Mann abschätzen und in das Innerste seiner Seele blicken.
»Ein Mann allein wird diese Aufgabe nie bewältigen können, Judge. Jedoch mit den richtigen Verbündeten wäre dieser Mann in der Lage, das Böse wenigstens aufzuhalten und zurückzudrängen. Und das wäre schon weit mehr, als viele andere in ihrem Leben gegen die Mächte des Bösen und ihrer Diener erreicht haben.«
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Just in dem Moment als Lone Wolf und seine Krieger auf Logan und Judge trafen, befand sich William T. Sherman im Fort Robinson im Staate Nebraska, das nach Leutnant Levi H. Robinson benannt wurde, der einst von Indianern getötet worden war.
Im Fort, das eher einem unbefestigten Militärposten glich, als einem befestigten militärischen Ort, befand sich einer der Stützpunkte von Shermans Spezialeinheit, der sogenannten Todesschwadron, von wo aus er im Auftrag der Regierung der Union seinen Ausrottungskrieg gegen die Indianer in Wyoming, South Dakota und Iowa koordinierte.
Ein weiterer Stützpunkt und ein weiteres Ausbildungscamp der Todesschwadron befand sich im Idaho Territorium, das der Union wohl bald als neuer Staat beitreten würde.
Dort galt der Kampf Shermans und seinen Männern besonders den Nez Percé-Indianern, die sich erdreisteten, immer noch erbitterten Widerstand gegen die Unionstruppen zu leisten und nicht gewillt waren, ihr Land kampflos zu räumen, um es den Weißen zu überlassen, die begannen, sich dort ungehemmt auszubreiten, und alles ohne Rücksicht auf Verluste in Besitz zu nehmen.
Einige der Nez Percés waren vor den Weißen nach Montana ausgewichen oder hatten die Grenzen der Konföderierten Staaten von Amerika überschritten, wohin sie mit Kind und Kegel über Colorado ins Indianer-Territorium gezogen waren, das wohl bald als eigenständiger und unabhängiger indianischer Staat von den Konföderierten Staaten von Amerika aufgenommen werden würde.
Sherman wusste unterdessen noch nichts von den Ereignissen in Ellsworth, geschweige denn vom Ableben seiner beiden Neffen. Hätte er es gewusst, hätte er vermutlich einen Tobsuchtsanfall erlitten und alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Judge ausfindig zu machen und ihn für die Ermordung seiner Neffen zu bestrafen.
Doch stattdessen war er von seinen Pflichten durch einen unerwarteten Besuch abgelenkt worden. Albert Pike, sein Verbündeter, hatte ihm ein Dutzend Krieger seines Indianerregimentes zur Verfügung gestellt, deren Gesichter mit ebensolchen mysteriösen Tätowierungen verziert waren, wie die seiner beiden Leibwächter.
Warum Pike ihm diese Indianer geschickt hatte, war Sherman allerdings ein Rätsel. Aus einem Schreiben von Pike, das ihm Wattan, der Anführer der kleinen Gruppe, ausgehändigt hatte, war zu entnehmen, dass er deren Hilfe bei seiner nächsten Strafaktion dringend benötigen würde.
Mit diesen kryptischen Worten konnte Sherman allerdings so wenig anfangen wie mit dem ein Dutzend Indianern, die Pike ihm zur Verfügung gestellt hatte.
Doch ihm blieb nichts anderes übrig, als Wattan und seine Wilden bei der nächsten Strafaktion gegen ein weiteres indianisches Dorf mitzunehmen. Auch um das momentane Bündnis mit Pike nicht zu gefährden, was derzeit sehr wichtig für die Regierung der Union war. Die Gründe hierfür erschlossen sich für Sherman aber nach wie vor nicht so ganz.
Was hatte Pike, was für Präsident Grant von so großer Wichtigkeit war, dass er mit diesem Kriegsverbrecher und Rebellenschwein ein Bündnis geschlossen hatte und dessen Hilfe benötigte?
Nachdem Sherman seine Gäste in einer leerstehenden Baracke untergebracht hatte, beobachtete der Ex-General stumm die Ausbildung der neuen Rekruten, die erst vor wenigen Tagen im Fort Robinson eingetroffen waren.
Diese jungen Männer waren ausgewählt worden, um seinen Spezialeinheiten beizutreten. Jedenfalls die, die es schafften, die Ausbildung mit der vollen Punktzahl abzuschließen. Denn darauf legte Sherman großen Wert.
Präsident Grant hatte ihn schließlich für eine ganz bestimmte Aufgabe persönlich aus seinem Ruhestand zurückgeholt und ihm Vollmachten gegeben, deren Macht und Befugnisse weit über die eines normalen Generals der Union gingen, und die eher denen eines Geheimdienstchefs glichen. Was nicht nur beim Militär zu einigen Irritationen führte. Doch die hatte Präsident Grant nach einigen persönlichen Gesprächen mit den zuständigen Stellen und Offizieren schließlich alle ausräumen können.
Sherman betrachtete die Rekruten, wie sie mit aufgepflanzten Bajonetten Strohpuppen bearbeiteten oder mit Messern und Tomahawks im Nahkampf Mann gegen Mann übten und kämpften. Einige der jungen Männer waren durchaus begabt. Aus ihnen konnten die Ausbilder, die sie hart drillten, noch einiges herausholen.
Hinter sich hörte er Schüsse aus Gewehren und Colts. Der Ex-General drehte sich um und sah, wie zwei Dutzend Rekruten in verschiedenen Positionen, sie standen, knieten oder lagen, die hölzernen Zielscheiben mit mehr oder weniger Erfolg mit ihren Schusswaffen bearbeiteten.
Sherman erinnerte sich dabei an seine eigene Schießausbildung. Er war damals auch kein besonders guter Schütze gewesen und hatte es auch nicht besser oder schlechter gemacht als die jungen Männer, die er interessiert beobachtete. Doch Übung machte bekanntlich den Meister. Und selbst aus den schlechtesten Schützen war noch etwas herauszuholen. Dafür war er das beste Beispiel.
Sherman wendete sich von dem Geschehen ab, als er Schritte hörte. Ein Bote mit einer Depesche kam auf ihn zu, salutierte und übergab ihm ein Schreiben. Nachdem er die Zeilen gelesen hatte, zögerte er keine Sekunde und ließ die Kompanien Alpha und Beta antreten.
Während die Rekruten weiter gedrillt wurden und ihre anstrengende Ausbildung fortsetzten, las er den Soldaten der beiden Kompanien den Befehl von Präsident Grant vor. Sie hatten nun den offiziellen und unterschriebenen Befehl des Präsidenten der Union, ein weiteres Indianerdorf anzugreifen und dem Erdboden gleichzumachen.
Einhundertundsechzig Mann nebst den dazugehörigen Offizieren hörten ausdruckslos zu. Keine Regung war in ihren Gesichtern zu erkennen, während ihnen Sherman den Befehl Grants vorlas. Nicht mal ein Augenlid oder ein Mundwinkel zuckte. Sie wirkten wie seelenlose Schaufensterpuppen, wie man sie neuerdings in den Läden einiger Städte der Union sah.
Nachdem der Ex-General die Zeilen zu Ende gelesen hatte, machten sich die Soldaten der Kompanien Alpha und Beta zum Abmarsch bereit. In einer Stunde ging es los. Sie nahmen nur leichtes Gepäck mit, das sie beim Marschieren durch die Wälder nicht behinderte oder verriet.
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Seit dem Kampf gegen die Zombies in der Schlacht um Atlanta hatte sich Judge nicht mehr so unwohl in seiner Haut gefühlt wie in der Begleitung der Geisterindianer.
Zwar waren Lone Wolf und seine Krieger ihre Verbündeten, doch nichtsdestotrotz war es für ihn ein mulmiges Gefühl, sich in der Nähe von Geistern zu befinden, obwohl er ja mit ihnen zusammenarbeitete.
Logan schaute zu seinem alten Freund und schien zu wissen, was Judge gerade dachte. »Lone Wolf und seine Krieger waren Männer von Ehre, als sie noch menschliche Wesen waren. Daran hat sich auch nichts geändert, seitdem sie sich in Bewohner der Geisterwelt verwandelt haben.«
»Und wie wurde sie zu dem, was sie heute sind?«
»Es gibt da ein bestimmtes Ritual. Die Indianer nennen es das »Ritual der Seelen«. Wenn Krieger so schwer verwundet werden, dass sie den nächsten Tag nicht überleben, können diejenigen, so heißt es jedenfalls in diversen indianischen Legenden, die das Wissen über dieses Ritual haben, ihre Seelen in eine andere Welt hinübergleiten lassen.
Durch das Ritual der Seelen gelingt es den Wissenden, ihre Körper zu verlassen und in die Welt der Geister zu gelangen. Dort bekommen sie die Macht und speziellen Kräfte verliehen, um in die Welt der Lebenden zurückzukehren, um dort ihre Aufgabe zu erfüllen, die sie als Lebende nicht mehr beenden konnten.«
»Und was passiert, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben? Hören sie dann auf zu existieren?«
»Keine Ahnung, Judge. Möglich wäre es. Möglich wäre es aber auch, dass sie in die Welt der Geister zurückkehren und dort weiterleben. Jedenfalls, wenn man eine solche Existenz, leben nennen will.«
»Warst du schon einmal bei einem solchen Ritual dabei?« Logan verneinte. »Nein, es ist weißen Männern und nicht Eingeweihten strengstens verboten, sich überhaupt in der Nähe eines solchen Rituals aufzuhalten, geschweige denn die Kultplätze der Seelen zu betreten. Wer dabei dennoch erwischt wird, wird umgehend getötet. Die kennen bei solchen Sachen kein Pardon!«
»Das kann ich mir vorstelle«, erwiderte Judge und dachte dabei an die Ermordung von Jeremiah und Samuel Grant. Judge wollte jedenfalls solche Wesen nicht zu Feinden haben. »Gibt es eine Möglichkeit Geister wie Lone Wolf und seine Krieger aufzuhalten oder gar zu vernichten?«
Logan überlegte. »Ich denke schon, dass es Waffen gibt, die selbst Geister vernichten können. Ich werde mit Lone Wolf darüber sprechen. Es kann nicht schaden, darüber Bescheid zu wissen, um eventuell Gegenmaßnahmen einzuleiten, sollte Sherman über solche Kenntnisse oder gar Waffen verfügen, die gegen Geister wirksam sind.«
»Vielleicht ist Silber oder Eisen ein gutes Mittel gegen Geister.«
»Aus dir spricht wohl immer der Ira Dei.«
»Natürlich. Als Ira Dei muss ich auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Jederzeit kann man mit Wesen der Finsternis konfrontiert werden. Und dann heißt es, nicht lange zu fackeln. Es geht schließlich ums Überleben.
Am Sattel hängt meine Schrotflinte, die mit Silberschrot geladen ist. Wenn man damit einen Werwolf aus nächster Nähe trifft, hat dieser keine Chance. Die Biester sind sowieso ziemlich widerstandsfähig und flink. Aus größerer Entfernung sind diese Viecher so gut wie nicht zu treffen. Da muss man sie schon frontal ins Visier nehmen.
Dann wäre da noch mein silberner Tomahawk und mein silbernes Bowie-Messer, die Meister Van Schooten, der beste Silberschmied in South Carolina, hergestellt hat.«
»Aha. Und was ist mit silbernen Kreuzen oder Pentagrammen aus Silber?«
»Davon müsste ich auch noch einige in meiner Satteltasche verstaut haben. Aber wo war ich stehen geblieben? Ach ja, richtig. Zudem habe ich auch immer einen Vorrat an Kugeln, die mit Silber ummantelt sind dabei. Passend für meine beiden Revolver sowie für mein Scharfschützengewehr. Die sind speziell geformt, und dadurch extrem treffsicher. Normal geformte Kugeln aus Silber sind dagegen eher nicht zu gebrauchen. Die sind nämlich schon nach weniger Metern äußerst ungenau...«
»Und was heißt speziell geformt?«, fragte ihn Logan.
»Frag mich nicht. Ich bin kein Fachmann. Ich benutze die Patronen nur. Hergestellt hat sie jemand anderer. Aber ich zeige dir nachher eine dieser Spezialpatronen. Dann kannst du dich beim Testen von ihrer Treffsicherheit selbst überzeugen. Hast du übrigens Lone Wolf erzählt, dass wir einen kleinen Abstecher nach Masontown machen müssen?«
»Ja.«
»Und?«
»Was und?«
»Hat er nicht gefragt, warum?«
»Nein.«
»Und warum nicht?«, fragte Judge erstaunt.
»Das liegt vermutlich daran, dass er es bereits wusste. Geister scheinen wohl besondere Fähigkeiten zu haben. Vielleicht können sie sogar Gedanken lesen oder in die Zukunft blicken. Wer weiß das schon zu sagen.«
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Während Sherman den Befehl seinen Männern vorlas, waren Lone Wolf und seine Geisterkrieger zurückgeblieben, um auf Judge und Logan zu warten, die einen Abstecher in die nahegelegene Stadt Masontown unternommen hatten.
Um auf dem Laufenden zu bleiben, trafen sie sich mit einem Spion der Konföderierten Staaten von Amerika, der im Ort unter dem Deckmantel eines Kaufmannes eingeschleust worden war und dort nicht nur lebte, sondern auch recht profitabel seinen Geschäften als Kaufmann nachging.
Der Spion, nennen wir ihn mal Mr. Smith, war in den letzten Jahren in Masontown nicht nur zu einem respektablen und angesehenen Bürger der Gemeinde geworden, sondern war auch, wie der Name des Ortes verriet, ein bekennendes und praktizierendes Mitglied der Freimaurer, was ebenfalls dafür sorgte, dass Mr. Smith immer über alles, was in der Stadt geschah, Bescheid wusste und auf dem Laufenden war.
»Präsident Jackson ist sehr ungehalten über das Ableben von Jeremiah und Samuel Grant«, begann Mr. Smith ungehalten und versuchte damit Judge gleich zu Anfang ihres Gespräches ein schlechtes Gewissen einzureden. »Nichtsdestotrotz sind sowohl der Präsident als auch der Vizepräsident weiterhin bereit, Sie mit allen Mitteln zu unterstützen, Mister Judge! Die Gründe hierfür sind mir zwar schleierhaft, da sie nun vermutlich nicht mehr an die Unterlagen von Sherman herankommen, aber ich habe als ausführendes Organ der Regierung in Masontown nicht die Befehle meiner Vorgesetzten zu hinterfragen, sondern mich nach ihnen zu richten.«
Mr. Smith überreichte Judge ein Schreiben, dessen Inhalt weniger interessant für den Spion, als für den entsprechenden Empfänger war, der nachdem er die Zeilen gelesen hatte, das Papier an Logan weiterreichte.
»Und die Informationen im Brief sind korrekt?«
»Natürlich«, schnaubte Mr. Smith leicht erbost auf, der sich zudem durch die Frage von Judge in seiner Berufsehre gekränkt fühlte. »Das Spionagenetz der Konföderierten Staaten ist eines der besten auf der ganzen Welt. Zudem ist der Spion, der diese Nachricht verfasst hat, und der sich in der direkten Nähe von Sherman befindet, einer unserer besten Leute und absolut zuverlässig und vertrauenswürdig.«
»Das heißt also, dass Sherman wieder ein Massaker plant?«
»Wenn dies so im Schreiben steht, dann wird es wohl so sein«, erwiderte Mr. Smith immer noch etwas ungehalten.
»Sehr gut. Damit ist endlich die Zeit gekommen, sich an Sherman für seine Untaten zu rächen!«
»Ja, aber damit wissen wir nur, dass Sherman irgendwo in Wyoming ein Indianerdorf angreifen wird. Wir wissen aber nicht, wo genau sich dieses Dorf befindet«, erwiderte Logan.
»Dann muss uns Lone Wolf dabei helfen, dieses Dorf ausfindig zu machen. Und zwar so schnell wie möglich! Lone Wolf ist schließlich ein Geist. Oder etwa nicht?«
»Und?«
»Als Geist verfügt er doch über besondere Fähigkeiten, wie du mir selbst erzählt hast. Also müsste Lone Wolf doch bekanntlich über Dinge Bescheid wissen, über die kein menschliches Wesen Kenntnis hat...«
Bei Logan schien der Groschen gefallen zu sein. Und während sich Judge und Logan weiter über Geister unterhielten, sah sie Mr. Smith, der das Gespräch stumm belauschte, fassungslos an. Hatte ihm Präsident Jackson da etwa zwei Verrückte geschickt?
Der Spion wusste zwar durchaus, dass Zombies, Vampire, Werwesen und andere Wesenheiten aus ihm unbekannten Gründen in den Staaten der Union und der Konföderation ihr Unwesen trieben, aber von Geistern hatte Mr. Smith bisher noch nie etwas gehört, geschweige denn waren sie ihm persönlich begegnet.
Und solange Mr.Smith diese nicht persönlich gesehen hatte oder sie seitens des Geheimdienstes nicht bestätigt worden waren, existierten Geister für ihn nicht.
»Ich möchte die beiden Herren zwar nicht unnötig stören, aber Sie wissen doch hoffentlich, was sie mit dem geheimdienstlichen Schreiben nachher zu tun haben, Mister Judge?«
Judge sah Mr.Smith nur stumm an, ohne dem Spion eine Antwort zu geben. Das reichte aber schon aus, dass der Spion zurückruderte. »Ich wollte es ja nur gesagt haben. Das Papier darf unter keinen Umständen in die Hände von Fremden oder die des Feindes geraten! Ich hoffe, wir haben uns verstanden, Mister Judge.«
»Halten Sie mich für schwachsinnig, Mann?«
»Wollen Sie darauf eine ehrliche Antwort?«
Judge durchsuchte mit seinen beiden Händen die Taschen seines langen Mantels. Wurde aber nicht fündig.
»Haben Sie zufällig ein Streichholz bei sich?« Mr. Smith kramte in seiner Weste herum. Nach einer Weile tauchte seine rechte Hand wieder auf, die eine Schachtel Streichhölzer umschlossen hielt. Die warf er Judge zu, die dieser geschickt auffing.
Nachdem der Ira Dei ein Streichholz ausgewählt hatte, das ihm anscheinend besonders gut gefiel, entzündete er das kleine Stück Holz an seinem linken Stiefel. Sekunden später setzte er mit der Flamme das Papier des geheimdienstlichen Schreibens in Brand.
»Sind Sie nun zufrieden?«
Mr. Smith nickte. »Ja, mehr als Sie denken, Mister Judge. Und jetzt darf ich mich von Ihnen verabschieden. Ich muss mich noch um einige lukrative Geschäfte in Masontown und Umgebung kümmern. Schließlich soll wegen Ihnen, meine Herren, meine Tarnung nicht auffliegen.«
Logan und Judge sahen dem Mann kopfschüttelnd nach, nachdem sich dieser ohne ein weiteres Wort an Judge und Logan gerichtet zu haben, umdrehte und mit langsamen Schritten verschwand.
»Eine seltsame Type«, stellte Logan fest. »Aber kompetent scheint er zu sein. Nur etwas pingelig, der Knabe.«
»Sonst würde er wohl nicht als Spion, geschweige denn als getarnter Kaufmann in Masontown arbeiten können."
»Wohl wahr. Aber komisch ist diese Type trotzdem«, bestand Logan.
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Diesmal rückten gleich zwei Spezialeinheiten der Todesschwadron in Kompaniestärke mit insgesamt einhundertundachtzig Mann aus Fort Robinson aus. Die Unionssoldaten hatten den Auftrag, das vermutlich letzte große Indianerdorf der Pawnee im Staate Wyoming dem Erdboden gleichzumachen.
Laut Berichten der Späher war zu vermuten, dass sich dorthin auch die letzten Lakota- und Arapaho-Indianer zurückgezogen hatten, die mit den Pawnee verbündet waren.
Wenn dieses Dorf vernichtet war, war der Widerstand der Rothäute in Wyoming endgültig gebrochen. Mit dieser Befriedung war dann der Weg auch endlich frei, das Land durch die Weißen besiedeln zu lassen.
William T. Sherman atmete sichtlich auf, als er daran dachte. Von Wyoming aus konnten sich die weißen Siedler ungehemmt nach Montana und Idaho ausbreiten. Auch dort waren die Indianer bis auf wenige Widerstandsnester ebenfalls vertrieben oder ausgerottet worden.
Doch bevor dieses Ziel erreicht war, stand den Männern seiner Todesschwadron erst einmal ein Marsch von mehreren Tagen bevor, bis sie die nähere Umgebung des Indianerdorfes erreicht hatten.
Nachdem Sherman den Befehl zum Abmarsch gegeben hatte, rückten die Unionssoldaten unter seiner Führung aus, um den blutigen Auftrag des Präsidenten Grant zu erledigen.